Die Tücke der Erinnerungen

London 1971, Londiani 1967

Als David im Januar 1971 ansetzte, die Weichen seines Lebens bindend zu stellen, und er außer im Bücherschrank seiner Eltern und in der Kollektion nicht mehr benutzter Koffer und Reisetaschen auch in der Garage nach Spuren seiner Jugend fahndete, stieß er auf ein paar moosgrüne Gummistiefel. Er hatte sie einen ganzen Herbst lang vergebens gesucht, ihr Verschwinden zunächst allen weiblichen Mitgliedern der Familie angelastet, dann jedoch den Verlust als einen Wink des Himmels gewertet, sich von seiner Pfadfindergruppe zu trennen und seine Freizeit endlich gemäß den eigenen Bedürfnissen zu verbringen.

Um den Schaft des linken Stiefels war ein kleiner, mehrfach verschnürter Gegenstand in Packpapier gebunden. Der entpuppte sich als ein schwarzes Holzkästchen, das sorgsam in Watte und Zeitungspapier gebettet und mit einem winzigen goldfarbenen Schloss ausgestattet war. Zwei Schlüssel, durch ein Pflaster befestigt, klebten auf dem Deckel. »Granny Gram Gramps«, murmelte David. Auf einem Paketanhänger aus dünner Pappe standen sein Name und die Adresse - in der steilen, deutlichen Handschrift seiner Großmutter, die er immer als typisch deutsch empfunden hatte. Ihr Enkel, vier Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag besonders empfänglich für seine Ver-

gangenheit, war so gerührt, dass er die Tränen nicht zurückhalten konnte.

Voller Verlangen nach der Unbeschwertheit seiner frühen Jugend strich er über den kleinen Kasten aus Ebenholz. Der war eine handwerklich beeindruckende Arbeit. Sein Vater hatte ihn unmittelbar vor dem Abflug aus Nairobi gekauft. Als wäre seitdem kein Tag verstrichen, hörte ihn David sagen: »Für deine Erinnerungen, mein Sohn. Mach es besser als deine Eltern und sperr bei Zeiten ein, was in dein Herz gehört.« Der Satz, stellte David mit der Befriedigung derer fest, die sich nicht durch schöne Worte täuschen lassen, war immer noch ein Rätsel. Schon in Nairobi hatte er sich gefragt, ob sein Vater tatsächlich der Meinung wäre, Erinnerungen ließen sich wie zahme Hamster in Käfige sperren, oder ob er nur seine Frau hatte necken wollen, die sich auf der ganzen Reise so fühlbar schwer mit der Rückschau auf Vergangenes getan hatte.

Das schwarze Kästchen hatte nicht nur vier Jahre lang die klimatischen Zumutungen in einem spartanisch geheizten englischen Heim überstanden; es war auch der für Andenken tödlichen Ordnungsliebe von eifernden Hausfrauenhänden entkommen. Liesel begann nämlich erst als angehende Großmutter zu begreifen, dass der Zugriff auf das Eigentum der leiblichen Kinder zu den Kränkungen gehört, die Müttern bis zum Jüngsten Tag nicht verziehen werden. In der afrikanischen Schatztruhe fanden sich außer den üblichen Postkarten, Adressen und Eintrittsbillets, die Touristen in fernen Ländern mit Hingabe sammeln und die sie nach der Heimkehr nie wieder anschauen, ein entzückendes Foto von Rose mit leuchtenden Augen und einer Banane mit roter Schale in der Hand. Sie hatte eine tief ausgeschnittene zitronengelbe Bluse an und um den

Hals eine Kette aus vielen Strängen von kleinen farbigen Perlen. Der Schmuck, den David nie wieder bei seiner Schwester gesehen hatte, war nach zähen Verhandlungen auf dem Weg zwischen Nakuru und Londiani einem einbeinigen Mann abgekauft worden, der ihn »Sir« und seinen Vater »Papa« genannt hatte. Das Foto hatte nichts von seinem Charme eingebüßt. Rose saß auf einer Kiste am Frühstückstisch und wurde von einem großen schwarzweißen Hund abgeschleckt. Der stand auf seinen Hinterläufen und hatte seine massige rechte Vorderpfote auf Rose’ Schoß gelegt.

In dem Moment, da er das Bild betrachtete, erinnerte sich David so gut an das freundliche, sabbernde Tier, dass er meinte, dessen feuchtes Fell riechen zu können. Abermals war er tief bewegt. Je älter er wurde, desto mehr erschien ihm die afrikanische Safari ein Traum, als Erfüllung und Harmonie und als das Geschenk, mit dem nur diejenigen beglückt werden, deren Augen Gott mit besonderem Wohlwollen bedacht hat. Auf der Reise in die Heimat seiner Mutter war es David gewesen, der auf Fragen Antworten gefunden hatte, die er noch immer keinem Menschen zu stellen wagte.

Unter dem Foto von Rose lag, auf hellblauem Papier geschrieben, das aus ihrem Tagebuch herausgerissen und bestimmt dem Bruder nicht freiwillig überlassen worden war, ein kurzer Text des mittelalterlichen Philosophen Moses Maimonides. David, zu Beginn der Reise noch in Sorge, das Erlebnis Afrika würde ihn zu weit abführen vom Pfad seiner religiösen Pflichten und geistigen Übungen, hatte einige Abschnitte der Abhandlung, um deren Interpretation er sich schon seit längerer Zeit bemühte, aus dem Gedächtnis rekapitulieren wollen. Augenscheinlich war dem eifrigen jungen Gelehrten entweder der Papiervorrat ausgegangen, oder die Taschenlampe war auf einen Schlag erloschen; der Text endete abrupt und mit drei Ausrufezeichen. Noch verblüffender, weil völlig seinem Gedächtnis entflohen, war für David der dritte Fund. Es waren Tagebuchnotizen auf zehn eng beschriebenen Seiten - kein schriftstellerisches Meisterwerk, doch gaben sie die Stimmung jener afrikanischen Tage sehr anschaulich wieder. Viele Ausdrücke waren unbeholfen, andere schwülstig und unverkennbar an den Gedichten der englischen Romantiker geschult, doch das spürbare Bemühen um Akkuratesse gefiel David, und mit größtem Genuss las er das kurze Kapitel »Haus Zufall«. Beim Lesen des letzten Satzes hörte er sein Herz heftig schlagen. »Ich habe«, hatte er geschrieben, »noch nie so sehr das Bedürfnis gehabt wie heute, dem Allmächtigen für die Welt zu danken, die er uns überlassen hat.«

Beim Lesen seiner afrikanischen Erkenntnisse saß David auf einem ausgeblichenen Zweisitzersofa, das jahrelang in Rose’ Zimmer gestanden hatte. Das spärliche Licht in der Garage beleuchtete hauptsächlich die Stockflecken an der Wand. Ein Haufen alter Zeitungen lag in der Ecke des Raums. Ölspuren waren in den Boden eingedrungen. In einem Tontopf war eine Geranie gestorben. Die Vergänglichkeit war allgegenwärtig, und doch war Afrika nah. Es lebten selbst die Bilder, die kein Fotoapparat festgehalten hatte. »Haus Zufall« würde für immer Zeit und Vergessen widerstehen. David brauchte nur einen Wimpernschlag, um in die Welt einzutauchen, die einen vierzehnjährigen Schuljungen zum ersten Mal hatte wissen lassen, was Schönheit ist und wie es um Menschen bestellt ist, die sie zu erkennen vermögen. Eine kleine, zierliche Meerkatze, olivgrün, mit staunenden Augen und einer tropfenden Mango unter den Achseln, kletterte durch den breiten Strom der Erinnerungen auf einen hohen Baum. David streckte seine Arme aus. Waren es damals noch Kinderarme gewesen oder schon die des Mannes? »Bleib doch«, flüsterte er.

»Er denkt, er ist der komische griechische Heilige, der mit den Tieren reden kann«, spottete Rose.

»Italienisch«, korrigierte ihr Vater mechanisch, »Franz von Assisi hieß er. Kennst du dich nur mit Engländern aus? Warum soll mein Sohn nicht mit den Tieren reden können? Doktor Dolittle hat es doch auch getan. Ich hab genau gehört, wie dein sabbernder Hundefreund dir gesagt hat, dass du schöner bist als der Morgenstern. Und ich weiß auch, was du ihm geantwortet hast.«

Schon auf dem Weg nach Londiani hatte keiner mehr sagen können, wer den Begriff »Haus Zufall« gefunden hatte. Die Bezeichnung hätte treffender nicht sein können. Lange Zeit pflegte David, seine Vorstellungen von Zufall und Zufälligkeit an dem verwunschenen Haus im Hochland von Kenia zu definieren. Es stand in einer Landschaft, die verwunschener nicht hätte sein können. Ohne die Reifenpanne, die ausgezeichneten Ortskenntnisse ihres Retters, der in einem Jeep unterwegs war und aus einer roten Staubwolke auftauchte wie in der alten Sage der Phönix aus der Asche, und ohne Liesels scharfe Augen hätten die vier Procters nie die vergessene Lodge und ihre unvergesslichen Bewohner entdeckt.

Einige üppige Baumeuphorbien und hohe Kakteen mit roten und gelben Blüten wuchsen um das von Sonne, Wind, vom Tropenregen und der Zeit gebeutelte Häuschen. Davor standen ein Fahrrad ohne Sattel und Reifen und eine

Schubkarre, der die Griffe fehlten. Außerdem ein verrosteter Eimer, der nach Moder und Verwesung stank, und ein Aluminiumtopf, zur Hälfte mit Wasser gefüllt. In die Erde gerammt war ein Bambusstab mit einer umgestülpten Colaflasche. Und doch hatte die Wohnstätte vier Gästezimmer und einen großen Essraum mit Tisch, fünf Holzstühlen und einer vertikal stehenden Kiste, allerdings keine Eingangstür mehr. Im Türrahmen hing, ab und zu von einer Brise leicht bewegt, ein zerlöcherter Sack mit dem Aufdruck »Best Kenya Coffee«. Die Scheiben an den Fenstern waren blind geworden, die weiße Farbe vom Holzwerk nur noch zu ahnen. Im Fußboden fehlten einige Bretter. Über die, die geblieben waren, zog eine Kolonie fetter roter Ameisen in ihre Höhlen. Der Rahmen eines Feldbetts, mit Sacktuch bespannt, stand an der Wand.

»Das Extrabett fürs Kinderzimmer«, sagte Emil gut gelaunt, »soll es in der Suite aufgestellt werden, Mylady, oder schlafen die entzückenden Kleinen bei den Eltern?« »Deinen Humor möchte ich haben.«

»Du hast ihn, meine Liebe. Nur machst du zu selten Gebrauch davon. Ich habe immer das Gefühl, dass du Heiterkeit für schlechte Zeiten aufsparst. Aber ich hab gelernt, beizeiten zu lachen. Man kann sich ja später immer noch fragen, ob es was zu lachen gab.«

Das Gras vor dem Haus war vertrocknet und mit kleinen Steinbrocken und hoch stehenden Wurzeln durchsetzt. In einer Ecke war eine längliche, mit bräunlichem Wasser voll gelaufene Anlage zementiert worden. Dort döste der schwarz-weiße Hund, der es am nächsten Tag durch seine Versessenheit auf eine streichelnde Frauenhand zu einem eigenen Bildnis bringen sollte. Das Tier hatte eine eiternde Wunde am Ohr und verkrustete Narben entlang des

Rückens. Auf seinen Lefzen lagerten dicke schwarze Fliegen. Unweit des schnarchenden Hüters von Haus und Feld stand ein verrottetes Holzschild zwischen zwei großen weißen Steinen. In Zeiten von Wohlstand hatte es auf einen Swimmingpool hingewiesen, doch ein des Lesens kundiger Schalk hatte es so geschickt beschnitten und neu beschriftet, dass nun »No Swimming« befohlen wurde. Mit einem auf dem Kopf stehenden Ausrufezeichen. Im trüben Wasser dümpelte eine aufgeregte Ente mit flaschengrünem Kopfgefieder und vier goldgelben Küken. Auf einem ursprünglich grünen Blechschild, befestigt am Skelett eines Holzzauns, stand »Farmer’s Delight« in Blockschrift - ein untrüglicher Beweis, dass die Lodge aus kolonialen Zeiten stammte. Sobald es ihnen nach Jagdbeute und der Gesellschaft von Gleichgesinnten verlangte, pflegten sich die englischen Farmer in den Lodges des Hochlands zu treffen.

»Farmers Delight«, erinnerte sich Liesel, »habe ich schon mal gehört. Bestimmt sogar. Ich glaub sogar, unser Direktor ist manchmal hierher gefahren. Ich bin nur nie draufgekommen, dass das Haus so nahe an Londiani liegt.« »Worauf kommt man schon als Kind?«

Der muntere indische Straßenengel im Jeep, der einen Reifen ebenso rasch wechseln konnte, wie er redete, hatte nicht nur ausgiebige Erfahrungen mit gestrandeten Touristen. Er versorgte entlegene Dörfer und verstreut lebende Wohngemeinschaften mit Stoffen, Decken, Haushaltsgerät, Rattenfallen und Nahrungsmitteln. Die ungewöhnliche Herberge mit dem ehemaligen Swimmingpool steuerte er mindestens zweimal im Jahr an; er belieferte die Bewohner mit preisgünstigen Schüsseln, Töpfen und Eimern und vor allem mit Medikamenten, die er vorteil-haft in einer Apotheke in Kisumu als Ausschussware kaufen konnte. Dem eigenwilligen Hausvater von »Farmers Delight« und den Verwaltern von ähnlichen Unterkünften redete der indische Händler bei seinen Besuchen stets gut zu, eventuell aufkreuzende Touristen freundlich zu empfangen, ihnen Wasser zum Trinken und Waschen anzubieten, ihre Autos auch nachts nicht zu durchwühlen und nichts aus ihren Koffern zu stehlen.

Trotzdem hatten es die Procters nicht leicht, in »Farmer’s Delight« Obdach zu bekommen. Ein breitschultriger, barfüßiger Mann, um die vierzig Jahre alt, der schon zu ergrauen begann, beäugte sie misstrauisch und bohrte in seinen Zähnen - mit einem Schweizer Offiziersmesser, wie es sich David immer als Kind gewünscht und nie bekommen hatte. Der Mann hatte ein hellblaues, mit grünem Filz geflicktes Hemd an und trug eine khakifarbene Schildmütze, wie sie zu kolonialen Zeiten beim britischen Militär üblich waren. Durch Mimik und Gestik und einen kräftigen Schlag auf die Haube des Ford machte der Mützenträger klar, dass er im Haus das Sagen hatte. Er war, als die Procters abwechselnd »Hello« und »Jambo« gebrüllt hatten, aus einem Gebüsch aufgetaucht und hatte jedes Mitglied der Familie so grimmig und so lange fixiert, dass schließlich alle vier betreten zu Boden geblickt hatten. Nach dem dritten Schlag auf den Wagen lächelte der Mann indes so liebenswürdig, als würde er jeden Tag dafür sorgen, dass Fremde sich heimisch fühlten, aber er gönnte sich noch eine weitere Viertelstunde, ehe er wissen ließ, dass er Englisch verstand und, wie sich noch später herausstellte, auch verständlich sprechen konnte.

Erst der Blick auf einen Geldschein in Emils Hand brachte die Wende. Der bekehrte Schweiger holte seine Rechte aus der Tasche, lief vom Schatten in die Sonne und hielt den Schein gegen das Licht. Er lachte herzhaft, als ihn die Prüfung überzeugte, wandte sich an seinen Gönner und gestattete ihm und den Seinen, »so lange hier zu wohnen, bis eure Beine Krieg machen«. Unmittelbar darauf fegte der Bekehrte zwei der vier Zimmer aus. Mit einem riesigen Strohbesen und einem ebenso enormen Aufwand an Stimme. Es hatte einen Bass und konnte wunderbar singen.

»Ich glaube, wir gefallen ihm«, mutmaßte Emil.

»Yes, Sir«, bestätigte der Hausherr, »das ist so.«

Eine Stunde später packte Liesel auf dem runden Holztisch im Essraum die Lunchpakete aus, die noch aus dem New Stanley Hotel in Nairobi stammten und an die sie bei der Suche nach dem Eukalyptusbaum vor der Nakuru School nicht mehr gedacht hatte. Der singende Besenmeister, der schon seit einiger Zeit im Raum stand, das Schweizer Offiziersmesser geöffnet auf den Tisch gelegt hatte und nun seine Fingernägel mit einer Gabel reinigte, reagierte spontan und unerwartet. Durch Klatschen und laute, sehr dringend klingende Rufe befahl er seine Familie herbei - zwei Frauen und sieben Kinder. Das jüngste war ein etwa acht Monate altes Baby, gut genährt und mit zwei Zähnen. Das Kind saß, mit einem weißen Tuch fest gezurrt, auf dem Rücken der jüngeren Mutter und kaute gurgelnd an einer kurzen, weißen Wurzel. »Oh«, flüsterte Rose, »ist das süß. Das würde ich am liebsten gleich mitnehmen.«

»Sieh mal einer an«, lachte ihr Vater, »unsere Rose. Uns lässt sie seit Jahren in dem Glauben, sie mache sich nichts aus Brüdern.«

»Es ist ein Mädchen«, sagte Liesel. »Wir Frauen sehen so etwas sofort, nicht wahr, Rose?« Sie freute sich an den Augen ihrer Tochter, lächelte ihr zu und drückte unter dem Tisch ihre Hand. Noch beim Schlafengehen fragte sie sich, weshalb diese Einvernehmlichkeit zwischen Rose und ihr nicht immer so sein konnte.

Die Frauen und Kinder umzingelten den Tisch, an dem die Gäste aus einer fremden Welt schneeweißes, dünn geschnittenes Brot aßen. Zunächst flüsterten nur die Kinder, bald trauten sich auch die Mütter, leise miteinander zu reden, doch dann ging der ganzen Gesellschaft gleichzeitig auf, dass die glücklichen Besitzer von Sandwiches, golden glänzenden Hähnchenkeulen und Obst sie nicht verstanden. Auf einen Schlag hörte das Getuschel auf. Frauen und Kinder redeten laut miteinander und lachten. Die Kleinsten der neugierigen Gruppe kicherten; es klang, als wären die Töne vom Wind durch das offene Fenster hereingeweht worden. Es war offensichtlich, dass die beiden Frauen und die älteren Kinder jede Bewegung der Procters registrierten und sie kommentierten, wobei sie in einer Sprache redeten, von der Liesel ganz sicher war, sie hätte sie noch nie gehört. »Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich, »hier gibt es so viele verschiedene Sprachen. Die kann kein Mensch alle kennen.«

»Ich möchte bloß wissen, was du die ganzen Jahre als Kind getrieben hast?«, grummelte David. »Du kannst doch nicht immer nur mit dir selbst geredet haben oder mit deinen Eltern.«

Er hielt einem etwa vierjährigen Buben mit triefender Nase und verklebten Augen, der unmittelbar vor ihm stand, einen Apfel und den gegrillten Hähnchenschlegel hin, den er gerade erst aus dem Butterbrotpapier gewickelt hatte. Der Junge wich erschrocken zurück; er presste seine

Hände vor die Augen und schniefte leise, doch das unerwartete Angebot hatte bereits eine Kettenreaktion ausgelöst. Zehn Hände von im Chor schmatzenden Kindern kamen entschlossen auf David zu. Graziös wiegten die Frauen ihre Körper, das krähende Baby verstummte und öffnete seinen Mund. Der scheue kleine Junge, für den David die Leckerbissen gedacht hatte, gab sein Gesicht frei. Er brachte seine Arme in Kampfstellung, ballte seine Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß leuchteten, brüllte zornig, sprang mit einem Satz nach vorn und sicherte sich den Apfel. Der Kleine hatte noch nie einen gesehen, und er verlor zu viel kostbare Zeit, indem er an der Frucht roch. Das älteste der Geschwister, auch ein Junge, etwa elf Jahre alt, groß und hager, gab seinem Bruder einen Schubs. Noch ehe der zu torkeln anfing, griff der Sieger nach dem Apfel und steckte ihn in die Tasche seiner zerlumpten Hose. Schon hielt er auch die Hähnchenkeule in seiner Linken. Sein Vater sagte einige Worte, die viele Vokale hatten und deshalb besonders liebenswürdig klangen, doch er nahm seinem reaktionsschnellen Sohn die Beute weg und übergab das Fleisch der Mutter mit dem Säugling auf dem Rücken. Sie ließ das Baby, das sie mit einer einzigen Bewegung auf ihren Bauch geholt hatte und das sofort begriff, was es tun sollte, und ein kleines Mädchen, das zwischen den Beinen der anderen Frau stand, lecken und fing dann selbst zu essen an. Sie hatte Zähne, die besonders hell in ihrem dunklen Gesicht leuchteten.

»Schön«, sagte Emil und errötete.

»Jedenfalls wäre ich«, schimpfte Liesel, »in deinem Alter nicht so blöd gewesen, einem Kind etwas zu geben, wenn ich nicht allen anderen auch etwas hätte geben können. Zählen konnte ich immer. In jeder Sprache, mein Lieber.«

»Meinst du mich?«, flachste ihr Mann. »Ich kann auch ganz gut zählen. Sogar auf Deutsch und Holländisch.« »Verschließe nicht die Hand vor deinem Bruder«, zitierte David.

»Wer sagt das? Dein geliebter Rabbi White?«

»Nein. Außerdem ist er nicht mein Rabbi. Mit anderen zu teilen, hat Moses schon den Kindern Israels ans Herz gelegt, als er sie in das Gelobte Land führte.«

»Bravo, mein Sohn«, lobte Emil, »man kann nicht früh genug damit beginnen, seine Eltern zu erziehen. Deine haben besonders pädagogisch begabte Kinder.« Er packte seinen Käsesandwich zurück in eine grüne Serviette, stand auf und brachte ihn der Frau, an deren Rock ein hustendes Krabbelkind hing. Der Rock war aus einem durchsichtigen roten Stoff. Sie duftete nach frischer Milch und lachte so lockend, dass Emil sich abermals seiner Gedanken schämte. Die Scham reichte jedoch nicht aus, um allen Bildern der Sehnsucht zu entsagen, denn als er beim Würfeln um die Zimmerverteilung gewann, wählte er David als Kompagnon für die Nacht.

»Ich hab die ganze Zeit schon gemerkt«, schwindelte er, »dass Rose so gern mit dir das Zimmer teilen würde.« »Ich auch«, schwindelte Liesel zurück. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag nicht mehr Rose’ Jeans anzuziehen und in London eine Nachtcreme zu besorgen, die unmittelbar nach dem Auftragen in die Haut einzog.

Weil die Lampe zu flackern begann und sie sich gut erinnerte, was das zu bedeuten hatte, gingen alle vier vor Mondaufgang zu Bett. Obwohl sie tagsüber so wenig gegessen hatten und auch am Abend nicht genug, schliefen sie satt und zufrieden ein, noch ehe die Klänge der afrikanischen Nacht einsetzten. Geweckt wurden sie von einem schrill balzenden Vogelpaar und einem kraftvollen Hahn, der noch nicht einmal die ersten Sonnenstrahlen abwartete, ehe er sich daranmachte, lebensfroh den neuen Tag zu verkünden. Die Reisenden erwartete in ihrer Unterkunft weder Wasser zum Waschen noch ein Frühstück; sie planten, sich unmittelbar nach dem Aufstehen nach Lon-diani aufzumachen und sich unterwegs bei erster Gelegenheit mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Um sieben Uhr früh jedoch trugen der mit Kindern so reich gesegnete Familienvater und der Sohn, dem im schönen Moment des Sieges die Hähnchenkeule entgangen war, einen halb mit Wasser gefüllten Eimer in den Raum, in dem David gerade seinem Vater erklärt hatte, dass er nach den Ferien gern vier- statt nur dreimal wöchentlich Einzelunterricht bei Rabbi White nehmen würde.

»Breakfast is ready«, meldete der Herbergsvater von »Far-mer’s Delight«. Er zeigte beim Lachen alle Zähne. Das bräunliche Wasser goss er so langsam, dass kein Tropfen verschwendet wurde, in eine verbeulte Blechschüssel, die ihm sein Sohn hinhielt. Auch der Junge lachte. Von der Schüssel befreit, klatschte er in die Hände und stellte sich einen Moment auf ein Bein. Seine Zehen waren kräftig und standen weit auseinander. David hatte das Bedürfnis, dem Jungen über den kahlen Kopf zu streicheln, doch er unterdrückte seine Zärtlichkeit, denn er war zu scheu und zu britisch erzogen, um sich einem Fremden mehr als notwendig zu nähern, aber er lachte und klatschte ebenfalls.

»Ich glaube, du hast schon einen Freund gefunden, David.« »Komisch, in London würde es mir nie einfallen, mich mit Kindern abzugeben.«

»Es kann sein, dass sich englische Kinder nicht für Emotionen eignen«, sagte Emil nachdenklich. Er nahm sich vor, zu Hause mit David öfters über die eigene Kindheit zu sprechen. Weil er seinen Augen nicht traute, schaute er so lange zum Fenster hinaus, bis der Nebel der Erinnerung licht wurde. Im Gestrüpp sah er eine große gelbe Kaktusblüte, die von violetten Schmetterlingen mit weißen Punkten umflogen wurde, und einen stahlblauen Vogel, der auf einem dürren Zweig wippte. Sein Sohn, machte sich Emil klar, wusste so gut wie nichts über die Jahre, die der Vater als Pflegekind bei dem Pfarrer in Stevenage verbracht hatte, und wie schwer der Kampf um die eigene Identität gewesen war. Wie immer, wenn die Vergangenheit ihn einholte, spürte Emil den Druck in der Brust, der ihm Angst machte. Erst als er David ohne das Schuldgefühl des Kindes anschauen konnte, dessen Eltern ermordet wurden, ohne dass er ihnen beistehen konnte, kehrte seine Sicherheit zurück.

»Ich glaube«, seufzte er, »Afrika ist tückisch.«

»Das Leben ist tückisch«, antwortete der Sohn. Er war weder altklug noch aufdringlich, nur einer, der den Jahren voraus war und früh erkannte.

Das nie mehr vergessene Frühstück wurde im Freien serviert. Unter einem reich mit Früchten bestückten Mangobaum, der in den ersten Tagesstunden noch Schatten spendete, standen die vier Sitzgelegenheiten aus dem Essraum und ein langes, über zwei Kisten gelegtes Brett. Eingedeckt war diese praktische Tafel mit einzelnen bunten Blättern aus der Illustrierten »Life«, vier gelben Tellern, einem Blechbecher für jeden, drei Löffeln und dem alten Schweizer Offiziersmesser, mit dem sich der Wirt am Vortag die Zähne gereinigt hatte. Mangos, von Schale und Kern bereits befreit, lockten vom großen Deckel eines

Eimers. Neben den in der Sonne glänzenden Fruchtwürfeln lagen große Bananen. Sie hatten eine dunkelrote Schale und waren zu einer Pyramide arrangiert worden. In einer angeschlagenen Schüssel aus blauem Steingut dampfte ein grünes Wurzelgemüse. Liesel identifizierte es als Okra, Rose - so fröhlich wie zu Hause nur an Tagen mit Geschenken oder einer neuen Jeansjacke - als die Nahrung, die sie vor Jahren in ihren ersten Malversuchen für die Kinder einer Schneckenfamilie kreiert hatte. Ein hoher Blechtopf war mit heißem Maisbrei gefüllt, der zu einem steifen Berg gekocht worden war.

»Ugali«, staunte Liesel. »Sie nannten es Ugali. Unsere Boys auf der Farm haben das Zeugs jeden Abend gegessen. Man könnte mir die Augen verbinden, und ich würde Ugali am Geruch erkennen. Du lieber Himmel, im Leben hätte ich nicht an ein solches Wiedersehen gedacht.«

»Habt ihr erwachsene Männer wirklich Boys genannt?«, wollte David wissen. »Tut mir Leid«, fügte er sofort hinzu und schlug sich an die Stirn. »Ich weiß auch nicht, warum ich immerzu Sachen sage, die ich nicht sagen will. Ich hab mir extra vorgenommen, das in den Ferien nicht zu tun.« »Macht fast gar nichts. Ich kann damit leben«, zwinkerte seine Mutter großzügig, »einer unserer Boys war genau wie du. Hauptsache dagegen.«

Den ersten Bissen sicherte sich ein Marabu, der noch so jung war, dass er Federn auf dem Kopf hatte. Schnabel und Hals waren lang und kräftig. Der gefiederte Dieb zeigte keine Scheu, auf den zweiten Blick war er sogar eine Vogelschönheit; er wirkte umsichtig und so, als würde er die Menschen genau prüfen, mit denen er das Mahl teilte. Ohne Hast holte er das Gemüse, bei dem es sich tatsächlich um Okra handelte, vom Tisch und stolzierte erst nach dem dritten Happen davon. In den Ästen des Mangobaums raschelte es, ein feines, flüchtiges Geräusch.

»Gibt es Engel in Afrika?«, fragte David.

»Ich hab als Kind nichts davon gemerkt«, antwortete seine Mutter. Ihre Erinnerungen gaben ihre Tanten und Onkel und June frei und entschieden sich für ihre Eltern. In der Vertrautheit von Hampstead mit dem grauen Nebel am Morgen und den bequemen Polstermöbeln im Wohnzimmer hatte sie keinen Moment gezweifelt, dass die Reise nach Kenia für eine fast sechzigjährige Frau zu anstrengend sein würde, aber nun kam sie sich vor, als hätte sie ihre Mutter hintergangen. Vielleicht hätte die Londiani doch gern noch einmal gesehen. Sie sprach ja immer wieder von der Farm und den letzten Jahren ihrer Ehe. Auf alle Fälle, das machte sich Liesel klar und seufzte ins Okragemüse, hätte der Mutter die Safari in die Vergangenheit mehr Spaß gemacht als der Tochter.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Emil.

»Bestens, mein Lieber.«

»Schmeckt es dir?«

»Auch bestens.«

»Da kann man mal sehen, was die Macht der Gewohnheit bedeutet. Ich glaube, ich werde bei Toast und Orangenmarmelade bleiben, wenn ich wieder zu Hause bin.« Kaum war der Marabu weg, zwängte sich der Hund vom Vortag durch das Gebüsch. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen, schaute aufmerksam, um die Situation zu klären, ehe er einen Entschluss fasste, lief dann auf Rose zu, heulte kurz auf wie ein hungernder Wolf in einer Winternacht und schlug mit seiner kräftigen Rute gegen ihren Becher. Einen Moment schien er Emils Gelächter und dem scheppernden Ton, den er selbst verursacht hatte, nicht zu trauen, denn er spitzte die Ohren, kaute Luft und schluckte geräuschvoll. Er hängte die Zunge heraus, holte sie sofort wieder herein, schüttelte einige Tropfen Wasser aus seinem massigen Körper und stellte sich auf die Hinterläufe. Mit einem Laut, der aus seinem Bauch zu kommen schien, legte er seinen breiten Kopf auf Rose’ Schoß.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

»Du musst ihn küssen, schöne Schwester, dann wird er ein Prinz. Prinz Charming. Hat dich Granny denn nicht aufgeklärt?«

Rose hatte noch nie ein Tier berührt. Als Neunjährige hatte sie sich heulend geweigert, das Meerschweinchen ihrer Freundin anzufassen, und auch später, wann immer sie Betsy besuchte, hatte sie einen Bogen um den Kanarienvogel gemacht, der in seinem Käfig sang und von Besuchern Salatblätter als Gage erwartete. Doch nur in dem allerersten Moment, als sie der Druck des Hundekopfes auf ihrem Oberschenkel noch ängstigte, empfand sie das Bedürfnis zur Abwehr. Der Hund streckte sich. Rose schaute dem freundlichen, schwanzwedelnden Tier in die großen, sanften, bernsteinfarbenen Augen. Sie schnalzte mit der Zunge und war fassungslos, dass sie es getan hatte. Wie ein scheuendes Kind presste sie ihre Lippen zusammen. Da merkte sie, dass sie ihre Augen nicht mehr schließen konnte und dass die des Hundes immer größer und fordernder wurden. Das Tier winselte - einmal kurz und kläglich wie ein hungriger Welpe auf der Suche nach den Zitzen der Mutter. Behutsam legte Rose ihre Hand auf seinen kräftigen Nacken. »Ist schon gut, du Dummer«, tröstete sie. »Mir geht das oft genauso.«

Durch das dichte, von der Sonne erwärmte Fell spürte Rose den Pulsschlag des Lebens. Ein Gefühl von einer noch nie erlebten Beglückung durchströmte sie, als die Wärme des feuchten Hundekörpers in ihr eine Glut entfachte, die ihren Körper vibrieren ließ; schon atmete sie im gleichen Takt wie der hechelnde Hund. Dann beugte sie sich zu ihm herab und drückte ihr Kinn gegen seinen Kopf. Seine Zunge war lang, die Zähne Furcht erregend, und doch wirkte der Hund unendlich freundlich in seiner Zutraulichkeit. »Bitte«, bat Rose, als sie zurückkehrte aus dem Tagtraum vom Frieden im Herzen und der ewigen Zufriedenheit der Seele, »lacht mich jetzt bloß nicht aus. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich weiß nur, dass ich am liebsten aufstehen und auf dem Rücken dieses Hundes ans Ende der Welt reiten würde.« Ihre Stimme war anders als sonst, eher die einer entschlossenen Frau als die eines quengelnden jungen Mädchens, das Zerstreuung und Genuss als das Recht der Jugend einfordert.

»Das kenne ich«, nickte David. »Und wie! Ich will auch oft aufbrechen und weiß nicht, wieso. Ich weiß immer nur, wohin ich will und dass ich auf jemanden warte, der mir den Weg zeigt.«

Bruder und Schwester sahen sich an, verblüfft, auch erschrocken, doch ohne Verlegenheit und ohne den Spott, der lebenslange Rivalen davon abhält, zueinander zu finden. Beide kniffen sie ein Auge zu, als wollten sie Maß nehmen. Zu gleicher Zeit senkten sie den Kopf, und nun entflammte doch Hitze ihr Gesicht und ihre Arme; ihre Hände wurden heiß. Unter dem Tisch machten sie sich zum Aufbruch bereit. Davids Turnschuh berührte Rose’ Sandale. Noch wagten sie nicht, ihren Emotionen zu vertrauen und sich wie Verschwörer anzulächeln, die sich an der Gewissheit stärken, dass sie gemeinsam den Weg aus dem Irrgarten finden werden. Sie waren nicht mehr Bru-der und Schwester, nicht die hitzköpfigen Geschwister mit den geballten Fäusten und den Flammen in den Augen; nichts wussten sie mehr von Kain und Abel, die - jeder für sich - um Gottes Wohlwollen buhlten. Für einen Augenblick, gelebt im Paradies, waren ihre Herzen und ihre Seelen zusammengeschweißt. Als David seine Schwester anschaute und der Wind eine Rüsche ihrer tief ausgeschnittenen Bluse bewegte, dämmerte es ihm zum ersten Mal, dass sie eine Frau war und schön. »Cheers«, sagte er und schwenkte seinen Becher.

Rose erwiderte seinen Blick und erkannte - auch zum ersten Mal -, dass ihr Bruder kein rothaariger kleiner Satan mit Sommersprossen war, der es als des Lebens Saft empfand, andere zu peinigen und Zwietracht zu säen. Sie begriff, dass bei ihm nicht die Jahre zählten, sondern seine Reife und Klugheit. Die ungleichen Geschwister standen an einer Kreuzung und hielten sich an den Händen. Stumm waren sie, doch nicht taub, denn sie wussten, dass Außergewöhnliches geschehen war. Es war Rose, von der damals alle wähnten, sie wäre leichtfertig und hätte kein Gespür für Ernst und Wert, die nie die Erinnerung an den Moment vergaß, da sie den schwer zu findenden Hafen der vorbehaltlosen Geschwisterliebe hatte aufleuchten sehen. Nur hat sie nie erkannt, dass es einen lebenslangen Einsatz erfordert, einen Hafen zu sichern.

»Schade«, bedauerte David, »das Granny Gram Gramps nicht hier ist.«

»Komisch, das habe ich auch gerade gedacht«, wunderte sich Rose.

»Was ist heute bloß mit euch beiden los? Seid ihr krank oder in der Nacht heilig gesprochen worden? Ihr habt mindestens seit einer halben Stunde nicht mehr gestritten«, bohrte Liesel. Ihr Ton passte nicht zu ihrem Scherz. Er hatte zu lange Stacheln und davon zu viele, und er verriet die Missgunst und den Neid, die Frauen nicht als eine mütterliche Charaktereigenschaft zulassen mögen. Wie immer machte es Liesel unruhig, wenn ihre Kinder, ohne dass Anlass dazu gegeben war, von der Großmutter sprachen.

Wieder raschelte es im Mangobaum. Es war ein leises, schnell flüchtendes Geräusch, gefolgt von dem kurzen Schrei eines Tieres und dem Fallen einer überreifen Mango. Die Frucht schlug auf der Erde auf und zerplatzte mit einem dumpfen Klang. Das orangefarbene Fruchtfleisch in dem Sonnenfleck war von einer so intensiven Leuchtkraft, dass alle vier instinktiv ihre Augen mit den Händen schützten. David war der Erste, der wieder in den Fluss des Lebens spähte. So sah zunächst nur er, wie die kleine olivgrüne Meerkatze vom Baum sprang. Sie war ein fliegender Pfeil. Ihr Schwanz blähte sich im Wind, doch auf der Erde angekommen, setzte sie sich so ruhig hin, dass nur noch das feine Fell auf dem Kopf in Bewegung war. Mit zart-gliedrigen Händen scharrte sie die einzelnen Teile der geplatzten Mango zusammen, nahm das größte, schaute aufmerksam um sich und begann, das Fruchtfleisch entlang des Kerns abzubeißen. Das Äffchen hatte bezwingend schöne Augen, die noch im Schatten glühten, und einen Gesichtsausdruck, der bei Menschen als ernst und nachdenklich interpretiert wird. Jede Bewegung des possierlichen Tiers war graziös und flink. Obgleich es nun so unmittelbar in der Nähe von Menschen hockte, störte es sich weder an deren Stimmen noch an den schnalzenden Lauten, die es anlocken sollten. Trotzdem gönnte sich die grüne Diva nur wenige Herzschläge, um aus der überreifen Frucht Süße zu schlürfen. Dann sprang sie, aufgeregt schnatternd und die tropfenden Stücke der Mango an sich drückend, zurück in den Baum. Das war der Moment, in dem David die Vergänglichkeit als einen Schmerz empfand, der nie vergeht. Noch während er »Bleib doch« flüsterte, spürte er, was Wehmut vermag. Es machte ihn unsicher, seine Stimme zu hören. Er hatte keine Erfahrung mit der Melancholie, und er wusste nicht, dass sie dem Menschen das Ur-vertrauen nimmt. Noch nie hatte es ihm nach Natur oder Schönheit verlangt. Erschrocken nahm er sich vor, künftig vorsichtiger mit den Gedanken und Emotionen zu sein, die er laut werden ließ. Rose hatte sein Flüstern gehört und grinste. Erfrischt und tatenfroh verließ sie das Paradies der Geschwisterliebe. Nun stichelte sie mit der gewohnten Lust an der Provokation und verspottete gut gelaunt denjenigen, der zurückmutiert war vom Geliebten zum kleinen Bruder.

Für die Abschiedsszene des afrikanischen Schauspiels ließ der heitere Regisseur von seinen vielen Darstellern nur den Sohn auftreten, mit dem er morgens das Waschwasser in die beiden Zimmer getragen hatte. Der Vater schwenkte den Strohbesen vom Vortag und klopfte mit dem Stiel eine kampfesfreudige Melodie auf das Brett, das als Frühstückstisch diente. Emil überreichte dem Besenartisten statt der zehn Dollar, die sie bei der Ankunft vereinbart hatten, fünfzehn. »Fünf mehr«, murmelte er mit der Verlegenheit derer, die sich ihrer Gutherzigkeit genieren, »das Geld ist für deine Kinder.« Wenn der Bedachte überrascht war, so zeigte er es nicht. Er dankte, wie es sich für einen Mann gehört, der eine Schule hat besuchen dürfen und der nicht mit einer einzigen Zunge reden muss - erst in Suaheli, dann in Englisch, schließlich in seiner melodischen

Stammessprache, alle drei Mal mit weit ausholenden Gesten. Das schöne Entgelt für seine Gastfreundschaft zählte er trotzdem wie ein Realist, der jedes Risiko vermeidet und der sich stets vergegenwärtigt, dass Vertrauen sich nicht für die Klugen ziemt. Er hielt jeden einzelnen Schein gegen das Licht und biss auf die Münzen. »Wir haben dein Auto gewaschen«, sagte er, wobei er besonders deutlich artikulierte. »Es hat noch alle Spiegel und vier Räder. Hast du die Reifen schon gezählt, Papa?«

»Zweimal«, lachte Emil. »Eins, zwei, drei und vier. Und der kaputte Ersatzreifen ist fünf. Wenn du willst, halte ich die Reifen auch in die Sonne.«

»Warum sollte ich wollen, dass du deine Reifen in die Sonne hältst?«

Rose stieg als Letzte in den Wagen, zögernd wie ein scheues kleines Mädchen, das sich auf Drängen der Eltern beim Gastgeber für die schöne Zeit bedanken soll und nicht weiß, wie. Seit der Ankunft in Nairobi hatte sie nur mit ihren Eltern und ihrem Bruder gesprochen. Anders als David, dem es sonst sehr viel schwerer fiel als ihr, mit Fremden in Kontakt zu kommen, hatte Rose sich nicht getraut, das Wort an die Afrikaner zu richten. Sie hatte noch nicht einmal mit dem Baby auf dem Rücken der Mutter geredet, das mit einem einzigen Schmatzer ihr Herz erobert hatte. Nun sprach sie endlich doch, zu leise und mit glühenden Backen. »Wie heißt der Hund?«, stammelte sie.

Ihr Wirt für eine Nacht, der großherzige Spender von Maisbrei, Bananen und Okragemüse, in einer Hand den Besen, in der linken die Dollarscheine, schien sie nicht gehört zu haben. Oder er sprach, was Liesel in einer blitzartigen Erinnerung an den Vorarbeiter auf der Farm in Londiani vermutete, überhaupt nicht mit Frauen, mit denen er nicht die Liegestatt teilte. Rose’ Kinderfrage erstarb im Wind. Sie biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie die vier Worte zurück ins Schweigen holen. Als aber der Wagen angelassen wurde, gab der frohgemute Eigner einer Währung, die in es in Kenia zu der größten Verehrung gebracht hatte, seinem großen Sohn einen energischen Schubs in Richtung Haus. Seine Absicht machte er noch deutlicher, indem er dem Kind etwas nachrief, das es zu einem Hühner verschreckenden Tempo beflügelte. Der Vater nickte Zustimmung. Dann umkreiste er den Wagen. Er hielt auf Rose’ Seite an und gab ihr ein Zeichen. »Hunde«, sagte er und stemmte seine Hände in die Hüften, »haben keine Namen.«

»Sorry«, wisperte Rose.

»Nein«, grinste der Mann, »er heißt nicht Sorry. Er heißt gar nicht. Er ist ein Hund. Nur ein Hund. Wir reden nicht mit Hunden.«

Er stieß einen Laut hervor, der wie das Bellen eines aufgeregten Hundes klang, klimperte mit den Münzen in seiner Tasche, pfiff zwei schrille Töne, auf die eine der Meerkatzen im Mangobaum ihm Antwort gab, und wandte sich ab. Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Vater seinen Sohn noch einholen, der fast schon das Haus erreicht hatte, denn er warf den Besen auf die Erde und machte ein paar lange, entschlossene Schritte, doch er lief nur bis zu einem wuchernden Gebüsch mit Dornen, Blumen und violett leuchtenden Beeren, die die Vögel anlockten. Dort pflückte er eine langstielige Blume mit großen roten Blütenblättern, eine stolze afrikanische Verwandte der europäischen Rose. Der Mann hielt die eindrucksvolle Schönheit vor seine Brust, eilte zurück zum Auto und überreichte Rose die Blume.

»Von Sorry«, sagte er. Sein Gelächter klang wie Donnergrollen. Das englische R machte ihm Schwierigkeiten, und er musste es mit einigem Räuspern aus der Kehle rollen, doch als er zum zweiten Mal bellte, dieses Mal tief und freundlich, klang der Rosenkavalier durchaus wie der Hund ohne Namen.

Rose steckte die Blume ins Haar. Als es ihr gelang, ihr Gesicht im Rückspiegel des Wagens auszumachen, verliebte sie sich endgültig in das Mädchen mit den strahlenden Augen und der knospenden Brust. Ihre Mutter seufzte tief; für ihr Missbehagen machte sie das ungewöhnliche Frühstück verantwortlich. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte Liesel immer davon geträumt, einmal im Monat und an ihrem Geburtstag mit ihrem Mann in die Oper zu gehen, sobald die Kinder alt genug wären, um abends allein zu Hause zu bleiben. Emil hatte aber ausgerechnet nach dem Eklat wegen June Andeutungen gemacht, dass er sich in klassischen Konzerten nicht wohl fühlte und in der Oper tödlich langweilte und im Übrigen schon immer für Swing geschwärmt hätte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Die Berge in der Ferne waren sanft und blau.

»Natürlich. Warum fragst du denn?«

»Nur so«, murmelte Emil.

»Findest du nicht, dass deine Tochter wie Carmen aussieht?«

»Carmen wer? Du kannst doch nicht die Tochter vom spanischen Gemüsehändler meinen. Die schielt und spuckt. Aber nur beim Sprechen.«

»Und hinkt«, kicherte Rose.

Ihr Vater, der als Junge für Captain Cook geschwärmt und sich entschlossen hatte, jede Reise seines Idols zu wiederholen, sobald es seine finanziellen Möglichkeiten zuließen, drehte sich beim Fahren um. Rose, sagte er, sehe aus wie ein Hawaiimädchen. Obgleich er selten betete und nie mitten am Tag und schon gar nicht am Steuer oder in Momenten der vollkommenen Zufriedenheit, bat er Gott, er möge sich viel Zeit lassen, ehe er Emil Procter aus Hampstead mit einem Schwiegersohn bedachte.

Aus der Frische des Morgens wurde Tageshitze. Die Schatten waren hell, das Licht blendete. Eine Herde Zebras schnitt ein schwarz-weißes Muster in die Landschaft. Die Unterhaltung beschränkte sich auf kleine Scherze und gut gelaunte Neckereien. Ein jeder der vier mutmaßte, er allein wäre verzaubert von der Welt und den Gedanken, die zu den Wolken flogen, ehe sie dazu kamen, das Gemüt zu attackieren.

Selbst Liesel erwischte sich bei dem Wunsch, die Reise würde noch lange währen. Sie spürte ausschließlich Zustimmung für das Leben, und sie schaute animiert in eine Flut von Bildern, die das Auge verwöhnten, ohne die Seele zu belasten. Als sie sich an das Quartier der Nacht erinnerte und an den Säugling auf dem Rücken der Mutter, fühlte sie eine Zärtlichkeit ihren Körper durchströmen, wie sie sie lange nicht mehr erlebt hatte. Zum ersten Mal seit Davids Einschulung überlegte sie, wie ihr Leben wohl mit einem dritten Kind aussehen würde. Sie legte ihre Hand auf Emils Knie und nahm sich vor, ihn spätestens beim Zubettgehen zu fragen, ob er Gedanken lesen könnte oder ob er nur ein guter Schauspieler war. Sie holte die Hand zurück von seinem Knie und streichelte seinen Arm. Er nickte und sagte: »Ja.«

»Unser Eltern flirten miteinander«, schmollte Rose, »wie findest du das?« »Widerlich«, stimmte ihr David zu, »aber wir müssen Geduld mit ihnen haben. Alte Leute können sich oft nicht beherrschen.«

»Wann hast du deine letzte Ohrfeige bekommen, mein Sohn?«

»Von dir müsste ich noch die erste bekommen, mein Vater.«

Anders als in Nakuru fürchtete Liesel nicht, ihre Erinnerungen würden sie schwach machen und Rechenschaft für kindliche Unterlassungssünden fordern. Ohne Vorbehalte genoss sie das Vergnügen an den kleinen, unerwarteten Erfolgen. Es machte ihr Spaß, wie gut sie sich an die Farmen von Kericho und unmittelbar danach an den Weg nach Londiani erinnern konnte. Stolz steckte sie die Karte ins Handschuhfach. Mit einem Mal war es ihr, als würde sie Bäume, Sträucher, jede Kurve und alle Steigungen kennen. Selbst ihre Kinder lobten sie. Emil pfiff Anerkennung. Ihre Nase machte lange Vergessenes aus. Nur einmal ließ ihre beflügelnde Konzentration nach. Da verwechselte Liesel die Zeiten und glaubte, sie würde nicht mehr neben ihrem Mann sitzen, sondern mit ihrem Vater nach Hause fahren. Die Züge seines Gesichts waren ihr nicht mehr präsent, aber sie sah seinen Hut, einen grauen Filzhut mit einem schmalen Rand, wie ihn viele Männer in den Fotoalben ihrer Mutter trugen. Sie hörte auch die Stimme des Vaters, und ein paar furchtbare Sekunden, die ihr wie Stunden erschienen, genierte sie sich, dass er Deutsch und nicht Englisch sprach und dass er zu viel gestikulierte.

Sie atmete tief ein und setzte an, über die verschlungenen Pfade des Gedächtnisses zu sprechen. Da sah sie den Teich und die Dornakazien, in deren spärlichen Schatten schon immer in der Mittagszeit die Kühe gelegen hatten. Die

Bäume schienen ihr kleiner geworden und kümmerlich, doch zweifelte sie nicht einen Lidschlag, dass der Teich genau jener war, den ihre beiden Onkel und der Vater im Jahre 1939 angelegt hatten, unmittelbar nachdem die Familie nach Londiani gekommen war. Das Wasser, in Lie-sels Gedächtnis eine silbern glänzende Fläche, entweder von der Sonne verschönt oder dem Vollmond bestrahlt und von wogenden Zedern umgeben, die an die Wolken stießen, war ohne Farbe, ohne Bewegung und ohne Leben. »Schade«, sagte Liesel. Sie dachte an die Enten, die sie als Kind und später mit einer jubelnden June gefüttert hatte. Eines der Entenküken war ein Schwan geworden. Mit langem Hals und schneeweißem Federkleid.

»Werde ich auch ein Schwan?«, hatte June gefragt.

»Du bist schon einer, meine Süße, der schönste Schwan von Afrika.«

»Und du, Liesel? Was bist du?«

»Ich werde immer eine Ente sein.«

»Enten sind auch schön«, tröstete June.

Dass sich Stimmen nie veränderten, nie alt wurden, nicht höher noch tiefer. Sie schlugen Nägel ins Gedächtnis und streuten Salz in die Wunden, und von der Zeit ließen sie sich nicht in die Irre führen. »Willst du anhalten?«, fragte Liesel.

»Ich glaube«, entschied Emil.

Er fuhr noch drei Minuten weiter, langsam wie einer, der am Ziel ist und dem Ziel nicht vertraut. Der Weg war verkrustet, obgleich es augenscheinlich lange nicht geregnet hatte. Reifenspuren waren nirgends zu sehen, nur ein Benzinkanister mit Dellen und ohne Deckel, die verrostete Lenkstange eines Fahrrads und ein von der Sonne gebleichter Tierschädel. Bis auf eine kleine Anpflanzung, in der sich kümmerliche Maispflanzen aus der Erde quälten, war der Boden der ehemals fruchtbaren Felder lange nicht mehr gepflügt worden. Die Hütten, in denen das Personal gewohnt hatte, waren zerfallen, die kleinen Gemüsegärten erdrosselt von wucherndem Gras. Das alte Wohnhaus kam sehr plötzlich in Sicht - wenigstens das war geblieben, dieses unmittelbare Auftauchen des Hauses aus einer Wand von dichtem grauen Licht. Tränen verbrannten Lie-sels Augen. Im Wirbel von sich überschlagenden Erinnerungen flossen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Ihre Familie, in Deutschland den Mördern entkommen, hatte das Haus gebaut - im bayerischen Stil und befrachtet mit Gefühlen, die ihre Eltern, die Tanten und Onkel als steinschweres Erbe in ihr afrikanisches Leben schleppten. Sie hatten Blumen um die Fensterrahmen malen lassen und Balkons vor die Schlafräume gebaut, und dort waren Geranien in Tontöpfen aus Cham gewachsen. Liesels Mutter hatte ihrem Schwiegersohn erzählt, dass sie einmal in einer schlaflosen Nacht in den Garten gegangen war und einen bangen Moment lang geglaubt hätte, sie wäre noch in Cham. »So sentimental war man in der ersten Zeit der Emigration«, hatte sie gesagt, »und so verdammt dämlich.« »So liebenswert wie heute«, hatte Emil widersprochen, »und so verdammt klug.« Er dachte an das Gespräch, während er abwechselnd das Haus und seine Frau anschaute, und er grübelte, welche von seinen Empfindungen er in London mit seiner Schwiegermutter teilen würde.

Von den gemalten Blumen um die Fensterrahmen war nichts mehr zu sehen, die Balkons waren abgehackt, der Garten, einst das Schmuckstück der Region, nicht wiederzuerkennen. Nach dem Krieg, als die Ressentiments gegen die jüdischen Einwanderer aus Deutschland allmählich nachzulassen begannen, war der Garten der Familie Freund sogar in der Wochenendausgabe vom »East African Standard« abgebildet worden. Als June und ihre Mutter die Farm Ende der fünfziger Jahre verließen, waren in den veilchenumsäumten Beeten Rosen, Nelken, riesiges Löwenmaul, Hibiskus und mannshohe Feuerlilien gewachsen. Liesel kannte das Foto, das letzte, das Junes Vater vor seinem Tod aufgenommen hatte. Sie dachte an die Passionsfrüchte, die zu ihrer Zeit am Vorderzaun hochgeklettert waren, und an die Ananas hinter dem Haus, aus denen ihre Mutter »Apfelküchlein wie zu Hause« gebacken und das Kompott für den Sabbat gekocht hatte.

»Lass uns aussteigen«, schlug Emil vor. »Ich könnte mir denken, dass die neuen Besitzer es nicht gern sehen, wenn man bei ihnen wie eine Besatzungstruppe vorfährt.«

»Ich könnte mir denken, dass sie es überhaupt nicht gern sehen, wenn man bei ihnen vorfährt und erklärt, ich habe früher hier gewohnt«, sagte Liesel patzig. »Falls es deinem optimistischen Auge entgangen ist, mein so genanntes Elternhaus ist mit Stacheldraht verbarrikadiert.«

Sie konnte sich nicht entscheiden, welches Verlangen in ihr stärker brannte: Ihren Mann für seine Idee, nach Londiani zu fahren, wie einen nassen Teppich auszuklopfen, oder sich auf der Stelle in Luft aufzulösen. War sie nicht jahrelang auf der Nakuru School dazu erzogen worden, anderer Menschen Privatsphäre als höchstes Gut zu achten? »Wie hieß der Mensch, der sagte, >störe meine Kreise nicht<?«, schnappte sie übellaunig.

»Procter«, antwortete Emil munter. »Emil Procter, wenn er die Sonntagszeitung lesen will.«

Der Nelkenduft war verweht. Nun scharrten schwarzbraune Hühner zwischen Steinbrocken und Erdklumpen, eine Ziege meckerte dünn. Grüne Bohnen krochen an einem Drahtgitter empor, in den ehemaligen Blumenbeeten wuchs Mais. Küchenreste verfaulten in einem alten Reifen. In einem rostigen Fass hatte sich braunes Wasser angesammelt. Der Geruch von Verwesung war überall. Ein junges Mädchen kam mit einer breiten Schüssel aus dem Haus und schleuderte eine seifige Flüssigkeit auf die Bohnen. »Blöde Gans«, erregte sich Liesel. »Keine Pflanze auf der Welt verträgt so ein Wasser. Das wusste ich schon als Siebenjährige. Mensch, das sehe ich ja eben erst. Kaum eins der Fenster hat noch Glas.«

»Und dem Haus«, sekundierte Rose in genau dem gleichen Ton, »fehlt das Dach. Was haben wir hier eigentlich vor?« »Frag deinen Vater.«

»Wieso ihn? Ich denk, du warst mal hier zu Hause.«

»Und unsere liebe June«, sagte David. Seine Mutter bemerkte, dass er wie ein Mann grinste und nicht wie ein Knabe. Sie schaute Emil an, doch Emil war nie einer gewesen, der sich in eine Falle locken ließ und Fragen beantwortete, die nur die Augen stellten.

Ohne dass ihn einer der vier hatte kommen sehen, tauchte ein Mann am Stacheldrahtzaun auf. Er schien jung und kräftig. Sein Gesicht war von einer tief ins Gesicht gezogenen Wollmütze verdeckt. Am Kinn leuchtete eine lange Narbe. Von seinem Gürtel baumelte eine Panga mit blitzender Schneide. Liesel fiel spontan ein, dass Pangas zwei Seelen hatten: Die friedlichen schlugen Pfade durch unwegsames Gelände, die nach Blut dürstenden töteten ihr Opfer mit einem einzigen Hieb. Statt die Fremden mit dem üblichen willkommen heißenden »Jambo« zu begrüßen, fragte der Mann in einem harten Englisch: »Wer schickt euch?« Er nahm die Rechte aus der Tasche und zerschnitt die Luft mit der Panga. Auf seinem Handrücken eiterte eine Wunde. Zwei Zähne fehlten ihm.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Liesel bedauerte, sich nie die Mühe gemacht zu haben, Suaheli zu lernen, um mit den Menschen von Kenia in ihrer Sprache zu reden. Die Vorstellung machte ihr Angst, sie würde das klärende Wort zu spät finden, und sie musste sich sehr beherrschen, nicht zu Rose zu laufen, um sie im Falle eines Angriffs mit dem eigenen Körper zu schützen. Sie spürte, dass die Hände zitterten. Ihr wurde übel und schwindlig, und doch lähmte sie die Panik nicht länger als den Moment, den sie brauchte, um sich an die Kraft und die Courage ihrer Jugend zu erinnern.

Liesel begann, dem Mann von ihrer Familie zu berichten und wie die auf die Farm gekommen war. Sie erzählte von den Jahren der Arbeit und Hoffnung, von Ernten und Enttäuschungen. Ihre Zunge stolperte kein einziges Mal, obgleich sie so schnell sprach, dass ihr Zuhörer sich immer wieder die Ohren rieb. Sie segnete die Angst, die Rose stumm machte, und sie dankte dem Schicksal, dass Davids Instinkt seine Lippen versiegelte. Allerdings konzentrierte sie sich so sehr darauf, das Wort für den Aufstand der Kikuyu - »Mau-Mau« - zu vermeiden, dass sie es schließlich doch gebrauchte. Der Mann kniff die Augen zusammen.

»Und jetzt wollt ihr das Haus zurückhaben«, sagte er. Er fragte nicht, er stellte fest.

»Aber nein. Ich wollte nur einmal auf der Bank sitzen«, beruhigte ihn Liesel. Erst nach der Rückkehr nach Nairobi fragte sie sich, weshalb ihr ausgerechnet da die Bank eingefallen war, auf der sie und June den Tag zu verabschieden pflegten.

Der Mann lachte Hohn, und doch vergaß er nicht, die Stimme zu ölen, als er fragte: »Bist du aus London gekommen, um auf meiner Bank zu sitzen?« Er machte die Panga vom Gürtel los und zeigte auf Emil. »Kann der da auch sprechen?«

»Meine Frau hat vergessen, mich zu fragen«, sagte Emil. Er wollte mit dem rechten Auge zwinkern und einen weiteren Scherz machen, doch ihm fiel keiner mehr ein, und sein Auge gehorchte ihm nicht.

»Da«, sagte der Mann, »ist die Bank. Und da ist meine Uhr.« Er klopfte auf seinen Arm. »Fünf Minuten«, sagte er. »In Londiani mögen wir es nicht, wenn die Menschen von gestern vor unserer Tür stehen.« Er machte eine Bewegung, von der jeder der vier hoffte, er hätte sie falsch gedeutet.

Von den fünf Minuten vergeudete Liesel zwei. Sie dachte an die gackernden Truthähne, die Federbetten aus Cham, die in blau-weiß karierten Bezügen auf dem Rasen gelegen hatten, und dass sie in einer Silvesternacht einmal versucht hatte, »Blaukraut bleibt Blaukraut« zu sagen. Als sie sich an den Abschied von der schreienden June im Bahnhof von Nairobi erinnerte, zerriss ihr Herz. Wie damals.

»Wollt ihr nicht schon vorgehen zum Auto?«, schlug sie vor. David, der Feinfühlige, verstand. Er nahm Rose’ Hand, und weil die immer noch Angst hatte, ließ sie es geschehen und trottete mit.

Emil aber wusste, was ein Mann zu tun hat, dem der Ausweg versperrt ist. Trotzdem lächelte er. »Du hast an June gedacht, nicht wahr?«, fragte er.

»Ja, wie sie auf meinem Schoß gesessen hat und unsere Truthähne Wut spuckten.« »Bei mir hat sie auch nur auf dem Schoß gesessen.«

»Aber auf meinem Schoß war sie vier Jahre alt und auf deinem fast eine Frau.«

»Dafür hat bei mir kein Truthahn Wut gespuckt. Nur du. Glaub mir, das ist schlimmer. Aus Truthähnen werden wunderbare Braten, aus eifersüchtigen Frauen Monster, die ein Leben lang nicht vergessen.«

Sie wollte nicht lachen und tat es doch. Emil drückte sie an sich, obgleich der Mann mit der Panga keinen Meter von ihm entfernt war. »Ich war ein gottverdammter Trottel«, sagte er, »der zu viel getrunken hatte. Das wollte ich dir schon lange sagen. Manchmal bin ich ein bisschen umständlich. Aber ich gelobe, mich zu bessern.«

»Bloß nicht. Ich hasse Veränderungen.«