Für Wolfgang, der mein Leben gut macht.

1. Auflage Oktober 2005 2. Auflage November 2005

© 2005  

Bindungen sind Ketten, geschmiedet aus Liebe und Schwermut. Besonders in jüdischen Familien.

Die haben zu viel hergeben müssen. Die Winken nicht und sie lächeln nicht, wenn sie Abschied nehmen. Denen bricht auch die kleinste Trennung das Herz.

Die lange Reise

Nairobi 1967

»Gemütlich«, sagte David Procter, als er den mit Zebrafell bezogenen Hocker am Fenster entdeckte. Wie sonst auch blieb das seltsame deutsche Wort mit dem verrückten Umlaut in seinem Hals stecken. Auch wusste er nie so recht, was es wirklich bedeutete. Trotzdem fand er es lustig und vielleicht gar treffend für ein schwarz-weiß gestreiftes Sitzmöbel in einem Hotel in Afrika. Selbst für einen Gnom erschien ihm der Hocker zu niedrig. Um ein Haar hätte er sich für den banalen kleinen Scherz selbst Beifall geklatscht. David wurde ärgerlich, als ihm aufging, dass er sich bereits die Hände rieb und in welche Richtung seine Gedanken trieben, denn er neigte sonst nicht dazu, seine Person oder seine Leistungen zu überschätzen. Im Gegenteil. Der früh gereifte Vierzehnjährige hielt sich für beklagenswert unvollkommen und die Welt erst recht, und er ließ selten eine Gelegenheit aus, seinen Zuhörern das klar zu machen - so er irgendjemanden fand, der bereit war, sich mit ihm länger zu beschäftigen, als es die Höflichkeit gegenüber einem enervierend eloquenten Teenager erforderte.

Seine geduldige Großmutter fiel ihm ein und dass sie ihm zum Abschied zwischen Haustür und Gartentor in ihrem schwer zu verstehenden Gemisch aus Englisch und Deutsch

eine Mahnung - oder war es eine Beschwörung? - zugeflüstert hatte. Wie meistens, hatte David höchstens jedes dritte Wort verstanden, doch das hatte er sich, ebenfalls wie gewohnt, nicht anmerken lassen. Er hatte sie besonders herzlich an sich gedrückt und sich ohne eine Geste der Abwehr küssen lassen. Er wusste, dass sie Abschiede hasste, doch nun glaubte er zum ersten Mal zu wissen, was der Satz bedeutete.

David hatte bereits als Vierjähriger die Gewohnheit entwickelt, so zu tun, als wäre seine Großmutter wie die anderen alten Frauen, die er in der Synagoge oder auf jenen jüdischen Veranstaltungen und Feiern sah, an denen mehrere Generationen einer Familie teilnahmen. Ohne dass ihn je einer dazu hatte anhalten müssen, hörte er seiner Großmutter mit einem Ernst und einer Geduld zu, die sie sehr rührten. Er zappelte nicht und schnitt keine Grimassen, wenn er nicht sofort begriff, was sie von ihm wollte, und er bemühte sich, nicht zu lachen, wenn sie einen besonders komischen Fehler machte. Seine Mutter, die nie etwas erklärte, wenn sie nicht eigens darum gebeten wurde, tat so, als wäre Davids Ritterlichkeit eine selbstverständliche Tugend bei einem kleinen Jungen. Sein Vater war da anders. Der geizte nie mit Bewunderung oder Lob und sagte meistens genau das, was ein Kind entzückte. »Die Rücksichtsvollen marschieren immer mit schwerem Gepäck durchs Leben, David«, erkannte er, als er zum ersten Mal im Detail eine der zweisprachigen, stolpernden Unterhaltungen zwischen Großmutter und Enkelsohn mitbekam. »Ich beneide mich sehr.«

»Warum?«, hatte David wissen wollen.

»Kannst du dir vorstellen, dass es noch mehr Männer gibt, die einen Sohn haben wie ich?«

Als seine Gedanken ohne die Spur einer Vorwarnung zurück nach London flogen, fühlte David sich nicht ganz wohl. Umso tröstlicher empfand er es, an seine Kindheit zu denken. Rückblicke und Erinnerungen waren wie gute Freunde, vertraut und zuverlässig und nie fordernd. Er nahm sich vor, in den nächsten vier Wochen für alle Leute, mit denen er zu tun haben würde, so viel Verständnis zu haben wie für »Granny Gram Gramps«. Den Spitznamen, den die Großmutter ihr Lebtag nicht als ein Verballhornen aus Oma und Brummbär erkennen würde, hatte seine Schwester Rose erfunden. Rose war eine Meisterin im Erfinden von Spitznamen. Besonders für ihren Bruder.

David stellte sich vor, Rose würde neben ihm sitzen. Um ihr zu beweisen, dass er auch zu ihr freundlich und sanft sein konnte, wenn er nur wollte, probierte er, wie sein Vater zu lächeln. Er fand es immer wieder bewundernswert, dass sein Vater selbst in solchen Momenten gut gelaunt blieb, die es wahrhaftig nicht verdienten, mit einem Lächeln bedacht zu werden. Das Lächeln, das der Sohn dieses liebenswürdigen Vaters zuwege brachte, geriet allerdings zur Grimasse, und David wäre erschrocken gewesen, hätte er sein blasses Gesicht mit den roten Flecken auf Wangen und Stirn und die zusammengekniffenen kleinen Augen gesehen. Zudem war ihm schwindlig. Die bei Kindergeburtstagen beliebten Spiele fielen ihm ein und dass er sie immer albern gefunden hatte - die Kleinen liefen so lange im Kreis herum, bis sie umfielen und hechelnd auf dem Rasen liegen blieben. Davids Kopf schmerzte, denn auch seine Gedanken begannen, einander zu jagen. Die wirbelten herum wie Schneeflocken in Märchenfilmen. Er zählte alle ihm bekannten Kinderkrankheiten auf, überlegte, welche ihm erspart geblieben waren und auf welche er - zum passenden Zeitpunkt, natürlich! - noch hoffen konnte. Scharlach fiel ihm ein, indes sofort auch, dass er nicht einen einzigen Menschen auf der Welt kannte, der je an Scharlach erkrankt war.

Nicht ohne Wehmut erinnerte er sich an die leichte Lungenentzündung und den schweren Fall von Masern, die ihm jeden Tag Götterspeise mit Vanillesauce und die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von Mutter und Großmutter beschert hatten. David war gerade dabei, sich die Einzelheiten seiner Blinddarmoperation ins Gedächtnis zu rufen, als ihm bewusst wurde, dass es ihn drängte, sich durch Würgen Erleichterung zu verschaffen. Genau wie im Flugzeug. Er versuchte, ruhig zu atmen, wie im Juni vor zwei Jahren, als er beim Kricket den Ball in den Rücken bekommen hatte und der miese alte Cripps ganz aufgeregt und besorgt gewesen war. Zwischen dem dritten und vierten Atemzug glaubte David gar, das Gesicht des verhassten Sportlehrers zu sehen, doch dann begriff er, dass sein Würgen nicht Teil der Vergangenheit, sondern ein ganz übles Stück Gegenwart war.

Als Einziger in der Maschine hatte David den Flug nicht gut und die Landung absolut nicht vertragen. Das verübelte er seinem Körper immer noch. Seine Mutter hatte ihn wie ein Kleinkind behandelt und ihm immerzu das braune Fläschchen mit den Tropfen unter die Nase gehalten, das sonst bei den Mahlzeiten am Platz der Großmutter stand. Das Medikament roch nach allen Dingen, die David zuwider waren. Ab dem Moment des Abflugs in London hatte er sich nach festem Boden unter den Füßen gesehnt, doch nun dämmerte es ihm erstmals, dass das Schicksal weder Uhr noch Kalender hat und Wünsche meistens zur falschen Zeit erfüllt werden. Jedenfalls hatte der Reisende aus London kein bisschen Freude am Fußboden des New Stanley Hotel in Nairobi. Missgelaunt starrte er die neue blaue Reisetasche an. Der Mann an der Gepäckkontrolle hatte sie mit drei riesigen weißen Kreidekreuzen beschmiert. Eins sah aus wie ein Galgen. David gab der Tasche einen Tritt und ballte die Faust. Er zuckte mit den Schultern, denn er fand seine Faust zu klein und total lächerlich. Alle sagten, er hätte Mädchenhände. Eine Zeit lang beschäftigte er sich mit der Frage, weshalb er so war, wie er war. Er erkannte, dass er selten so umgänglich, fröhlich und unbeschwert wie andere Teenager war, sondern meistens zu kritisch und zu oft unzufrieden. Auch neigte er dazu, undankbar zu sein. Seine Eltern monierten das nie, David hatte jedoch oft das Gefühl, sie hätten es gern getan.

Wie üblich, war er viel zu pessimistisch. Liesel und Emil Procter waren absolut überzeugt, dass die Glücksgöttin sie mit den besten, schönsten und klügsten Kindern der Welt bedacht hatte. Vor allem waren sie entschlossen, allzeit verständnisvolle und geduldige Eltern zu sein und das Leben so wenig wie möglich nur aus der eigenen Perspektive zu sehen. So werteten sie den außergewöhnlich gut entwickelten Hang ihres Sohnes zur Skepsis als eine natürliche Entwicklungsstufe im Leben eines männlichen Wesens. Rabbiner Samuel White, der diesen frühen Skeptiker zur Bar-mitzwa vorbereitet hatte, sah die Dinge noch rosiger. Für ihn war auch der kleinste Beweis von geistiger Regsamkeit bei einem dreizehnjährigen Jungen ein Geschenk, für das dem Schöpfer nicht genug zu danken sei. Dies ließ er David häufig wissen, womit er nicht nur dessen Selbstbewusstsein stärkte, sondern ihm auch eine Lebensrichtung anwies, von der vorerst weder der Junge noch seine Eltern etwas ahnten.

Nirgendwo anders bekam David solch uneingeschränkte Zustimmung. Seine Mitschüler fanden ihn streberhaft, unsportlich und skurril - mit Ausnahme von Nat Glueck, der ein schwaches Herz hatte und nicht mitturnen durfte. Auch Nat war von Rabbi White zur Barmitzwa vorbereitet worden. Seitdem waren die beiden Jungen Freunde, genierten sich jedoch meistens, das Wort zu gebrauchen. Die Lehrer von Pinewood School, an deren Achtung den Schülern am meisten gelegen war, setzten auf die Ideale aus der Glanzzeit britischer Gentlemen. Sie hatten in Oxford studiert und waren im Krieg gewesen, interessierten sich für Pferde, Jagd und Wassersport und bedachten nur solche Jungen mit ihrer Aufmerksamkeit, deren sportliche Leistungen der Schule zur Ehre gereichten. David stuften sie als zu ernst für sein Alter und körperlich unterentwickelt ein. Zudem war er nach Einschätzung der pädagogischen Mehrheit ein Individualist, der sich keine Gedanken machte, wie er der Gemeinschaft von Nutzen sein könnte. Obwohl der Mathematiklehrer in Glaubensdingen heikel war, erkannte er als Einziger Davids Intelligenz und Beharrungsvermögen, und nur in Ausnahmefällen ließ er den Jungen fühlen, dass er Schüler lästig fand, die mehr zu empfangen begehrten, als ein Lehrer zu geben bereit war. In dieser Beziehung war David allerdings bemerkenswert unempfindlich. Sein Wunsch zu gefallen stand in keiner Relation zu seiner geistigen Regsamkeit und Wissbegierde. »Dein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen«, hatte Rose ihm einmal in einem Streit beim Abendessen entgegengeschleudert, »und darauf bist du auch noch stolz, du Wicht.« »Stimmt«, sagte David. Diesmal klatschte er tatsächlich, als ihm der Novemberabend vor sechs Monaten einfiel. »Bravo, Miss Procter«, rief er. So johlend wie damals. Die Erinnerung an die Szene bei Tisch, an seine unglückliche Mutter und seinen feixenden Vater, erschien ihm in Nairobi noch komischer als in London. Er drückte seinen rechten Fuß fest auf den Zebrahocker und stemmte seine Hände in die Hüften. Einen herrlichen Augenblick stellte er sich vor, er wäre Lord Nelson und müsste die Schlacht von Trafalgar gewinnen. Schon kniete der Seeheld vor seinem König. Als er wieder aufstand, erinnerte er sich wunderbar bildhaft an die unerwartete Kriegserklärung seiner allerorten als liebenswürdig gelobten Schwester. Geheult wie ein Kindergartenkind hatte die gute Rose und dann auch noch Curryketchup auf die weiße Bluse ihrer Schuluniform gegossen. Die halbe Flasche.

»Tor«, hatte ihr Bruder geschrien, »du musst die Flasche noch kräftiger schütteln, Baby.«

Rose hatte aufs Neue zu schluchzen angefangen, und die Mutter hatte David getreten. Ganz fest. Unter dem Tisch. Sein Vater aber hatte das Feuer noch geschürt und dem Sohn zugezwinkert.

David liebte solche Männerkumpanei, doch es war typisch für ihn, dass er sich nun nicht genug Zeit gönnte, um die heitere Szene, die so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, entsprechend lange zu genießen. Unmittelbar nach dem Geschwisterkampf fiel ihm nämlich abermals Rabbiner White ein. David begann zu schwitzen. Seine Gedankensprünge ängstigten ihn. Er neigte sonst nicht dazu, gleichzeitig in mehreren Welten zu leben. Die Atmosphäre im Hotelzimmer hatte doch nichts mit jener in der düsteren Bibliothek seines Tutors gemein. Dort sah jedes Buch so aus, als wäre es auf der Wüstenwanderung der Kinder Israels mitgeführt worden. Versehentlich hatte David das einmal sogar ausgesprochen und sich prompt entsetzlich geschämt, weil ihm die Bemerkung recht unpassend für einen vorkam, der in einigen Monaten ein Mann sein würde, doch der Rabbiner hatte sich nicht kränken lassen. Schon gar nicht von einem überaus sympathischen Schüler, der so berührend interessiert war an dem, was er für seine Barmitzwa zu lernen hatte.

»Und den Kaktus«, hatte er vorgeschlagen und auf den Blumentopf am Fenster gezeigt, »hat unser Moses zusammen mit den Zehn Geboten gegen den Felsen geschleudert. Siehst du noch, dass das große Blatt eine Narbe hat?« »Ja«, hatte David gesagt. »Warum soll ich etwas nicht sehen, was Sie sehen? Und er auch gesehen hat.«

Dieser kleine Scherz und wie aus ihm ein großes Gespräch über Moses, die Kraft im Glauben und das Vertrauen auf Gott geworden war wurde in der Erinnerung so lebendig, dass David für die Dauer eines erregten Herzschlags die Orientierung verlor. Er hörte sogar des Rabbis gutturale Stimme. Sein langer Bart leuchtete hell, die Augen waren so gütig wie an dem Tag, da sie beide von Moses gesprochen hatten, als würde er noch leben.

»Warum nicht?«, fragte David, doch sosehr er sich bemühte, er konnte nicht herausfinden, mit wem er geredet und was er gemeint hatte.

Er war zu diesem Zeitpunkt erst zwei Stunden in Nairobi. Zum ersten Mal seitdem ein gut gelaunter Hotelangestellter mit einer geblümten Stoffweste und einem roten Fes die Tür aufgeschlossen hatte, sah er sich um. Endlich fiel ihm das breite Bett auf. Der Rahmen war aus hellem Holz, die hohe, geschwungene Kopfstütze mit leuchtender schwarzweiß gestreifter Seide bezogen. David war nie weiter als nach Bournemouth an der englischen Südküste und zu einem Pfadfindertreffen nach Perth in Schottland gereist. Eine so pompöse Schlafstatt hatte er noch nicht einmal im Museum gesehen. Im Moment der staunenden Bewunderung nahm er sich gar vor, es seiner Schwester gleichzutun und auf der Reise Tagebuch zu führen. In seiner Hemdtasche entdeckte er den lange vermissten Kuli mit der glänzenden Kappe. Die Suche nach einem Ausdruck, um das Bett zu beschreiben, war weniger erfolgreich.

»Kannst du fliegen?«, fragte er schließlich. Seine Stimme war dünn, fast weinerlich. Er hatte das Bedürfnis nach Dunkelheit und Kühle.

Das Bett, von der Sonne bestrahlt, wurde von zwei Stehlampen mit weißen Schirmen flankiert. Es war prächtig und eines Königs würdig. David aber starrte das exquisite Stück mit dem Trotz eines Kindes an, das sich mit keinem Genuss der Welt für eine erlittene Kränkung entschädigen lässt. In seinen Augen war das Bett provozierend lang und viel zu breit. Durch sein bloßes Dasein erinnerte es David an den Umstand, dass er seit seiner Einschulung der Kleinste und Schmächtigste in der Klasse war. Seitdem hatte er zwar beachtenswerte Erfolge auf allen Gebieten verbuchen dürfen, bei denen es nicht auf einige Inches oder die Schuhgröße ankam, doch seine guten Zeugnisse und der Stolz seiner Familie hatten ihn nie auf Dauer mit seiner zierlichen Statur versöhnen können.

Einen Moment verlangte es David, ins Nebenzimmer zu seinen Eltern zu gehen, nur Sohn und wieder Kind zu sein, gestreichelt zu werden und die Nelkenseife zu riechen, mit der sich seine Mutter wusch, soweit sich seine Nase zurückerinnern konnte. Sosehr er jedoch sein Hirn antrieb, um einen passenden Auftritt zu finden, es fiel ihm nicht ein, wie er den Eltern sein unerwartetes Erscheinen hätte erklären können, ohne dass sie ihn wie einen bedauernswerten Schwächling behandelten und ihm wieder die Tropfen vom Flugzeug aufdrängten. Es quälte David, dass es ihm nicht gelang, sich gegen seine schlechte Laune und gegen Ängste zu wehren, die noch nicht einmal konkret genug wurden, um sich ihnen zu stellen. Abermals fiel ihm auf, wie undankbar er war. Selbst die reichsten Jungen in der Klasse, die alle Ferien im Ausland verbrachten, hatten ihn beneidet, als sie von der Reise nach Kenia erfahren hatten.

»Afrika«, hatte Jeffrey Gladbourne gesagt, »ist doch ganz was anderes als die Riviera. Die ist schon beim zweiten Mal so interessant wie ein Wadenkrampf.« Gladbournes Vater war hoher Beamter im Kolonialministerium.

»Stopp, kehrt Marsch«, befahl David. Er hielt drei Finger in die Höhe - wie beim Pfadfindereid - und gelobte dem Besserung, dem er dienen wollte. Dann wurde er tatsächlich wieder Kind. Als wäre er Zentner schwer, warf er sich aufs Bett, drehte sich auf den Rücken, hielt kurz die Luft an, atmete prustend aus und schlug einen Purzelbaum, so plötzlich, dass er selbst staunte. »Tarzan is coming«, kreischte er.

Davids Stimme überschlug sich; er fand sie aufgekratzt und anwidernd kindisch, dachte an fauchende Katzen und an die Mickymausfilme im Kino, die er nicht ausstehen konnte. Die Beine erlahmten. Ein Stechen in den Rippen, die Arme schwer, der Nacken steif wie ein Brett, keine Spur von der körperlichen Kraft und Behendigkeit, die er hatte demonstrieren wollen. Zwar überraschte ihn das Ergebnis nicht, doch er war immer wieder enttäuscht, wenn die Din-ge aus dem Lot zu laufen begannen. Seit dem Kindergarten übte der Unglückliche Purzelbäume, und jedes Mal hatte er dabei nur ein Ziel: so eindrucksvoll athletisch zu wirken wie seine Schwester. Bei Rose sah jeder Salto so aus, als wäre sie im Zirkus aufgewachsen. Ihr Bruder aber produzierte, wie die grazile Akrobatin jedes Mal angeekelt diagnostizierte, wenn er sie nicht rechtzeitig als ungebetene Zeugin wahrnahm und seine sportlichen Bemühungen vertagte, immer eine »Lachnummer von einem voll gefressenen Mops«. Diesmal gab David seiner unbarmherzigen Kritikerin sogar Recht.

Statt elegant und ruhig atmend am Fußende des Bettes zu landen, stürzte er plump zu Boden, blieb liegen, die Augen geschlossen, die Arme über dem Kopf, einem Käfer ähnlich, den nur noch ein Flügelschlag vom Tod trennt. Dem Holz, unmittelbar vor der Ankunft der Gäste geschrubbt und noch feucht, entströmte der stechende Geruch von den scharfen Desinfektionsmitteln, die in den Tropen benutzt werden, um die Hygienebedürfnisse der Menschen aus Europa zu befriedigen. David wurde noch übler als bei der Landung. Mit zugehaltener Nase stand er auf. Hustend und steifbeinig ging er zum Fenster. Nach einer Weile schob er eine grasgrüne Gardine zur Seite, jedoch kam ihm nur flüchtig der Gedanke, seine optimale Aussichtsposition im zweiten Stock zu nutzen, um sich dem Leben auf der Straße zuzuwenden. Es war ein erregtes, erregendes, wildes, wirbelndes Leben zwischen Jacarandabäumen, die blaue Blüten flaggten, und wehendem Zeitungspapier, das im weißen Sonnenlicht Ballett tanzte. Müll türmte sich vor den Häusern. Blechdosen und rottende Gummireifen waren von bräunlichen Wassergassen umgeben, in denen barfüßige Kinder plantschten.

Davids Augen waren nur gewöhnt, sich auf das Vertraute, auf die abgenutzte Welt unter dem heimischen Himmel einzulassen; solche Augen wussten nichts vom Rausch der Farben. Nichts ahnten sie von der Magie der Fremde. In der Familie Procter galten das geschriebene Wort und die bestimmende Zahl mehr als die Phantasie von Träumern. »Kenia«, hatte seine Mutter gesagt, als zum ersten Mal von der Reise die Rede war, »wird dir gefallen. Die Bananen dort sind herrlich.«

»Aber ich mag doch gar keine Bananen«, hatte David eingewandt.

»Irgendetwas wird selbst dir schmecken, Sir. Da bin ich bombensicher.«

Der empfindsame Sohn dieser nüchternen Mutter, die eine Kindheit auf einer Farm in Afrika nicht mit der Seele sehen gelehrt hatte, lächelte, als ihm die seltsame Unterhaltung einfiel. Noch wandelte er in den Fußstapfen der Mutter, misstraute den Malern und glaubte an Pythagoras. Die farbige Glut jenseits der Fensterscheibe war für ihn nur grauer Dunst. Er sah alles und doch nichts. Der gewaltigen Geräuschkulisse konnte er sich jedoch nicht verschließen. Sie war eine Übermacht, die nicht mit sich handeln ließ - eine Kakophonie aus andauernden, bösartigen Hup-tönen, zornig quietschenden Reifen, lustvoll brüllenden Männerstimmen und schrillem Kindergeschrei. Zwei Frauen mit Babys auf dem Rücken und hoch erhobenen Händen stritten sich mit überschlagender Stimme. Trommeln wurden gedroschen. Ein Mann spielte Trompete. Hunde keiften. Glas klirrte, als ein alter Fensterrahmen auf die Straße geworfen wurde. Eine Motorsäge brüllte. David drückte seine Hände fest an die Ohren. So schuf er für einen kurzen Moment Stille, und doch holten ihn das Leben, die Vergangenheit und Gespenster ein, die er Mühe hatte zu erkennen.

Er spürte die gleiche Erschöpfung wie nach der Blinddarmoperation, als das Fieber plötzlich so gestiegen war, dass das Hospital nach seinen Eltern geschickt hatte. Nur diesmal hatte der Arzt ein schwarzes Dreieck auf der Stirn und einen Speer statt einen weißen Kittel. »Nein, nein«, rief David entsetzt, weil die Erinnerung ansetzte, seine Kehle zuzudrücken. Eine Hand, von der er nicht wusste, wem sie gehörte, berührte seinen Kopf. Die Kraft der verhexten Bilder ließ nach, so barmherzig schnell, dass sich David seiner Angst schämte. Verwirrt berührte er seine Stirn, er fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes Haar, und dann grinste er, ein wenig benommen und sehr verlegen, aber befreit und zufrieden.

»Schon gut«, raunte er.

Sein Blick ging zurück zum Bett. Er fand es seltsam, dass die phantasievolle Tagesdecke ihm nicht schon vor dem misslungenen Purzelbaum aufgefallen war. Auf moosgrüner Fläche marschierte eine blaue Elefantenmutter mit zwei Jungen. Über dem erhobenen Rüssel des Muttertiers war ein gelb gesticktes Quadrat, in dem in roter Blockschrift das Wort »Jambo« mit einem dicken Ausrufezeichen geschrieben stand. »Jambo«, sagte David gut gelaunt.

Er wiederholte das Ohren schmeichelnde Wort, nickte zweimal und salutierte. Es tat ihm gut, nach den vielen fremden Stimmen so deutlich die eigene zu hören. Das war wie Heimkommen am Freitagabend, wenn er müde von der rigorosen Schuldisziplin war und das Haus in Hampstead nach frisch gebackenem Rührkuchen, Hühnersuppe und gehackter Kalbsleber roch. Er dachte an seine Großmutter und dass eine Sabbatsuppe, die sie kochte, besser als jede andere war. Ihr Enkel hätte sie gern wissen lassen, dass er an sie dachte und was. »Sehr gemütlich ist es hier Granny Gram Gramps«, entwarf er seinen ersten Brief nach Hause. Mit einem Mal war er durchdrungen von einer Lebensfreude, wie er sie nur selten erlebte. »Bravo«, rief er. Er hob die Hände wie ein siegreicher Boxer. Ihm war es, als hätte er eine ähnliche Szene schon einmal gesehen, und es tat ihm Leid, dass er keine weiteren Bilder aus der Dunkelheit hervorholen konnte. Die Heiterkeit hielt aber an, sie machte ihn so unbeschwert wie diejenigen seiner Mitschüler, die im Unterricht nie zu lachen aufhören konnten, ohne dass ihnen ein Lehrer mit Repressalien drohte. David zwinkerte mit dem rechten Auge; er stand auf und wippte mit den Hüften.

Weltmännisch zu zwinkern und die Hüften so zu schwingen, als wäre der Körper aus Gummi, waren Tricks, die er Morty verdankte und seit Wochen im Badezimmer übte. Mortimer McMillan war König der Klasse. Der genoss Freiheiten, an die andere Jungen nur in der Dunkelheit zu denken wagten. King Morty wohnte allein mit seinem Großvater in einem winzigen Haus in der Nähe der Pine-wood School. Das einzige Fach, in dem er in der Schule auf Lob hoffen durfte, war Kunst. Zusätzlichen Beifall holte er sich als Klassenclown und als erfahrener Kenner von Frauen. Seit drei Wochen behauptete Morty der Supermann, er hätte in einer warmen Mainacht in Hampstead Heath beide Teile eines fünfzehnjährigen Zwillingspaars verführt. Für Bewunderer, die ihn nicht mit den logischen Fragen der Zweifler belästigten, war er jeder Zeit bereit, das Thema zu vertiefen. Obwohl es David in einem Hotelzimmer in Nairobi Mühe machte, sich Mortys Gesicht auf dem Schulhof der Pinewood School vorzustellen, wenn der im Schutze eines Maulbeerbusches von seinen Abenteuern und Eroberungen erzählte, konnte er sich sehr genau an die Erfolgsberichte des viel beneideten Filous erinnern. David wurde heiß, als ihm Details von Mortys letzter Begegnung mit dem weiblichen Teil der Welt einfielen.

»Der eine Zwilling trug einen schwarzen Büstenhalter mit einem kleinen goldenen Schlüssel«, hatte Morty berichtet, »und dreimal darfst du raten, was der andere anhatte.« Dem berauschten Zuhörer war zum Zeitpunkt des Geschehens, zwischen Französischstunde und Fußballtraining, kein Vorschlag eingefallen, mit dem er sich nicht blamiert hätte, aber nun, Mortys forschendem Blick nicht ausgesetzt, sagte er mit herzhaftem Männerlachen: »Mensch, das glaubst du doch selbst nicht.«

Anders als beim Purzelbaum und auch, weil seine Gedanken so tief in eine Welt abgetaucht waren, in der er noch nicht ein regelmäßiger Gast zu sein pflegte, fiel David doch auf, dass seine Stimme sich in den letzten beiden Monaten verändert hatte. Er hustete zur Probe und registrierte befriedigt eine neue Tiefe. Der Anflug von Optimismus, eine für ihn atypische Gemütslage, machte ihn verwegen. Schon suchte er sein Kinn nach dem Bartflaum ab, der bei vielen Gleichaltrigen immerhin zu ahnen war, aber ihm ging sofort auf, dass in dieser Beziehung jeder Anflug von Hoffnung ein Euphemismus wäre. Körperlich hinkte der kleine David gewaltig hinter Morty dem großen Verführer her.

»Marmaduke«, fluchte er.

Er war niedergeschlagen, als ihm dämmerte, was geschehen war. Seine Phantasie hatte ihn in eine heimtückische Falle gelockt und zurück in die Abgründe der Kindheit katapultiert. Das hübsche Spielchen längst entschwundener Zeiten, mit Worten herumzualbern, deren Bedeutung nur ihm bekannt war und die er je nach Stimmungslage interpretieren konnte, passte wahrlich nicht mehr zu einem Menschen mitten im Stimmbruch. Nach jüdischer Lehre war David schon seit dreizehn Monaten und fünf Tagen ein Mann. »Dreizehn Monate und sechs Tage«, rechnete er nach, und dann gab er abermals, wie ein bockiges Kind, der Freude am Widerspruch nach. In einem singenden Tonfall holte er aus den Tiefen der Erinnerung den wunderlichen Satz: »So gemutlich wie in der Bibliothek von Lord Marmaduke«.

Er war noch ratloser als wütend. Zum zweiten Mal war er die Beute seiner Phantasie geworden, ein bemitleidenswerter Zwerg, der sich nicht gegen Versuchungen zu wehren wusste, die ihn noch kleiner machten, als er war. Er schalt sich einfältig und unreif, beschimpfte sich als einen undankbaren, geistlosen Tropf, der nicht würdig wäre, auch nur ein einziges Buch aus der Bibliothek von Rabbi White anzufassen. Noch nicht mal mit einem Finger. »Unsere Bücher«, flüsterte David. Sie waren die Magie seines Lebens. Jedes Buch, das er las, war eine kostbare Leihgabe seines Tutors, war Teil eines heiligen Paktes.

Jeden Abend, wenn sich David für die Nacht verabschiedete, lächelten seine Eltern einander verschwörerisch zu, und sie ahnten nicht, wie sehr sie sich irrten. Sie kannten ihr Kind so wenig wie andere Eltern auch. Was ihr zweitgeborenes Kind betraf, waren Liesel und Emil Procter ahnungslos. Abend für Abend waren sie sicher, ihr Sohn würde nachts heimlich in jenen Aufklärungspamphleten schmökern, die in bürgerlichen Familien als die unumgänglichen Begleiterscheinungen der Pubertät galten. Es war nicht so. David brütete sehr wohl über Büchern, die ihn aufklärten, aber sie befriedigten nicht die Bedürfnisse des Körpers, von denen Morty McMillan so verlockend zu erzählen wusste. Es waren die Bedürfnisse des Geistes und der Seele, die David nachts beschäftigten. Nur sie führten ihn in die Welt der Männer ein. Hatte ein solcher Mann, der nach Wahrheit, Weisheit und Erkenntnis strebte, hatte der das Recht, wie ein einfältiges Kind zu plappern, zu spielen, dem Allmächtigen die Zeit zu stehlen?

Mit gesenktem Kopf schlich David zurück zum Bett; er setzte sich ächzend und zog die Strümpfe aus. Seine Füße waren noch vom langen Flug geschwollen, die Haut juckte. Zum zweiten Mal innerhalb von einer halben Stunde spürte er ein starkes Verlangen, ins Nebenzimmer zu seinen Eltern zu laufen, von seiner Verwirrung zu berichten, sich am Gleichmut der Mutter und der guten Laune des Vaters zu stärken, doch er blieb sitzen. Selbst wenn die Eltern nicht sofort mutmaßen würden, er fühle sich verloren und einsam oder krank und auf der Suche nach Zuspruch, Rose mit ihrem allerorten gelobten Blick für das Wesentliche würde die Situation spontan durchschauen. Seine Schwester, von der jeder behauptete, sie sei so sanft und engelhaft, wusste immer und über alles Bescheid - wenn es um ihren Bruder ging, brauchte der schöne strahlende Engel die Hälfte der Zeit, die andere benötigten, um aus einem Jungen einen Narren zu machen. Die liebenswert sanfte Rose hatte nicht allein die Augen eines Adlers und ein Gedächtnis wie ein Elefant. Aus der Sicht ihres Bruders war sie eine eitle, neugierige Person, die die lästige Eigenschaft hatte, ungebeten ihre Meinung unter die Menschheit zu bringen.

Über dem Schreibtisch, auf dem eine Mappe aus bordeauxrotem Leder und zwei Bleistifte lagen, hing ein runder Spiegel an einem großen goldenen Haken. David stand auf und stellte sich davor. Als er sich erblickte, verdorrte das, was von seinem Selbstbewusstsein noch übrig geblieben war. Tomatenrot glühte sein Gesicht. Das Haar, in London noch rötlich schimmernd, flammte Feuer und klebte feucht am Kopf. Obwohl David mit Afrikas Sonne bisher nur auf dem Weg vom Flugzeug zum Taxi in Berührung gekommen war, hatte sich seiner Einschätzung nach die Anzahl der Sommersprossen verdoppelt. Er versuchte, die Fröhlichkeit zurückzuholen, die ihn ein paar Minuten zuvor wenigstens so weit belebt hatte, dass er lächeln konnte, streckte seinem Spiegelbild die Zunge entgegen und füllte seine Backen mit Luft. Der Anblick erinnerte ihn prompt an die Ballons der Kinderpartys zu seinen Geburtstagen und sofort daran, dass er sich bei denen nie so richtig wohl gefühlt hatte. Von dem Gelächter, das er ins Zimmer hatte schießen wollen, blieb nur ein Krächzen. Er wollte Edgar Alan Poes Gedicht vom Raben aufsagen, doch außer dem Refrain »Nimmermehr« fiel ihm nichts ein.

»Und jetzt gerade«, drohte David dem Spiegel und nahm Boxerhaltung an.

So aufgedreht und albern wollte er sein wie die Jungen in seiner Klasse beim Siegestor der Fußballmannschaft. Sosehr er aber sein Gedächtnis motivierte, um das Bild von den berauschten Gesichtern seiner Mitschüler ins Visier zu bekommen, er fand nicht den kleinsten Ansatz, seine Sinne mit jener Lebensfreude voll zu pumpen, von der alle behaupteten, sie sei das Vorrecht der Jugend. Auf schwerfällige, plumpe Art ahmte David zum zweiten Mal die Bewegungen eines Boxers nach, doch er ließ sich keinen

Augenblick blenden. Er fand sich hässlich und lächerlich, stampfte mit dem rechten Fuß auf, registrierte befriedigt, wie der Holzfußboden erzitterte, knirschte mit den Zähnen, drückte die Lippen nach vorn und den Kopf zwischen die Schultern. Was als Spiel begonnen hatte, wurde Wirklichkeit, aus Aggression eine hilflose Wut, die ihn zu ersticken schien. Plötzlich musste der umnebelte Kämpfer im Reich der Schatten niesen. Zweimal hintereinander. Laut wie ein Mann, meckernd wie eine Ziege.

Der Spuk war vorbei, die Flammen des Zorns erstarben. Wohlerzogen entschuldigte sich ein artiger kleiner Junge in einem selbst gestrickten grünen Pullover mit Zopfmuster. Klein-David konnte seine Schuhe noch nicht richtig zubinden, und er war wieder im Kindergarten bei Nanny Mildred. Sie hatte einen lila Wollrock und einen dicken grauen Zopf. Die von den jungen Müttern als Pädagogin verehrte Erzieherin pflegte jedes Kind, das beim Niesen und Husten nicht spontan »Entschuldigung« trompetete, am Genick zu packen und in die Ecke zu befördern. David schüttelte sich, als sich seine Nase erinnerte. Nanny Mildred roch selbst in Nairobi noch nach Mottenpulver und desinfizierender Seife. Marke Lifebuoy. Quadratisch und rosa.

»So wie der Fußboden hier«, rügte der Reisende.

Auf dem Schreibtisch standen zwei Gläser und eine mit Wasser gefüllte Karaffe. Sie waren ihm zuvor nicht aufgefallen. Eine Welle von Sehnsucht wallte auf. Auf einen Schlag erwärmte die Wehmut Kopf und Glieder, machte benommen, auch ein wenig unglücklich, auf alle Fälle schwindlig und unsicher. David, vor zwei Stunden in Afrika gelandet, aber noch nicht angekommen, kehrte zurück nach Hause. Er breitete die Arme aus und wusste nicht, was er tat und nach wem ihm verlangte. Es war Freitagabend. Auf dem gedeckten Tisch stand eine mit Wein gefüllte Kristallkaraffe. Sie war der früheste Zauber seiner Kinderjahre, ein rot funkelndes Prunkstück, das immer zwischen den beiden schlanken Silberleuchtern mit den Sabbatkerzen stand. Sobald der Wein vom Vater gesegnet und in einen silbernen Becher ausgeschenkt war, der in der Tischrunde herumgereicht wurde, leckte sich Granny Gram Gramps die Lippen. Sie pflegte darauf hinzuweisen, dass die Karaffe eigentlich ihr gehörte und das Hochzeitsgeschenk ihrer Tante Friederike gewesen war. Einst war die Flasche von Cham in Bayern nach Londiani in Kenia und zwölf Jahre später nach London gereist. Mrs Freund, für die fremde Sprachen zu den Herausforderungen gehörten, die den Menschen mehr Kraft nehmen als jede Anstrengung des Körpers, war eine ebenso genaue wie auskunftsfreudige Chronistin. Sie ließ keine Ortsangaben und nie eine Zahl aus, die zum Verständnis einer Geschichte dienten.

»Bavaria«, übersetzte diese akkurate Großmutter bereitwillig, obwohl das sperrige Wort ihr den Hals aufkratzte. Ihr war sehr daran gelegen, dass der Enkel, der von der Geographie der Welt nur die der heimischen Insel und die des Heiligen Landes zu Zeiten von Moses kannte, sie verstand.

War David gut gelaunt und wollte er die fürsorgliche Besitzerin der Karaffe zum Lachen bringen, versuchte er »Cham« und unmittelbar darauf »Bayern« zu sagen. Meistens kam bei der sprachlichen Hommage an die Seniorin der Tafel jedoch nur der Zungenstolperer »Chambayern« heraus. Granny, auch in den Repertoirevorstellungen noch so bewegt wie vor Jahren bei der Premiere, nannte ihren rot angelaufenen Enkelsohn »Spatzl«, was seine Mutter nicht ausstehen konnte. Die biss sich, wenn das Missliebige geschah, auf die Lippen und starrte an die Zimmerdecke, denn sie und nicht die Generation nach ihr empfand es als Belastung, in der Hauptstadt des britischen Empire fortwährend an den Umstand erinnert zu werden, dass der eigene Lebensbaum deutsche Wurzeln hatte.

»Cham«, sagte sie oft trotzig, und nicht für tausend Pfund hätte sie gefragt, weshalb Mann und Mutter einander zulächelten. Liesel Procter geborene Freund sprach nach fünfunddreißig Jahren Leben und einer in Kenia verlebten Schulzeit ihren Geburtsort nämlich immer noch mit einem bayerischen Zungenschlag aus.

Zum Sabbat und ebenso an den anderen Feiertagen wurde Großmutters Karaffe mit einem Süßwein gefüllt, den die Kinder schon hatten trinken dürfen, als sie bei Tisch noch auf Kissen hatten sitzen müssen, um an ihren Teller zu kommen. Davids Mutter behauptete aber noch im sechzehnten Lebensjahr ihrer Tochter, sie würde den Wein nicht mit Wasser verdünnen. Nach jedem solcher Hausfrauenschwüre zwinkerte der Vater männerjovial zu David hinüber und sagte: »Mummy braucht sich absolut nicht zu schämen. In der Bibel haben noch ganz andere Leute den Wein gepanscht.«

»Aber im Neuen Testament«, präzisierte der Sohn und zwinkerte zurück.

Als die Bilder, die er heraufbeschworen hatte, ihn immer energischer bedrängten, legte David beide Hände so entschlossen um den Flaschenhals, als wollte er das bescheidene afrikanische Pendant zu der roten weit Gereisten aus Chambayern erwürgen - mit dem Meistergriff eines Helden, dem er allerdings die Treue gebrochen hatte, seitdem er keine Comics mehr las. Einen Augenblick suchte David vergeblich nach dem Namen des verstoßenen Heroen. Dann trank er gierig und laut schluckend aus der Flasche. Obwohl das frisch abgekochte Wasser aus der Hotelküche noch warm war und es beim ersten Schluck auf sein Hemd tropfte, fühlte sich David erfrischt und erleichtert; es wunderte ihn, dass dies so war.

Er nahm seine religiösen Pflichten sehr ernst. Seine liberalen Eltern hatten andere Maßstäbe. Zweifelten sie auch nicht an Gott, so suchten sie ihn auch nicht. Es reichte ihnen, dass sie sich hatten jüdisch trauen lassen und dass ihr Sohn beschnitten war. Am Freitagabend wären sie lieber ins Kino gegangen, statt den Sabbat auf traditionelle Weise willkommen zu heißen. So hatten sie es bis zu Rose’ zweitem Geburtstag gehalten, dann jedoch der Kinder wegen beschlossen, sich an die jüdischen Feiertage zu halten. »Es soll«, hatte Emil Procter erkannt, »ihnen nicht so gehen wie mir. Sie sollen schon als Kind wissen, wohin sie gehören.« Für die Freitagabende kochte Granny Gram Gramps Hühnersuppe und machte, wie einst vor der Vertreibung aus Cham, einen Schmorbraten. Zu Pessach gab es acht Tage lang Matzot statt Brot, an Rosch Hashanah Apfel mit Honig. Jom Kippur wurde gefastet. »Ein Miniprogramm«, beschrieb es der Hausherr in dem Jahr, da das Wort Mini zum Schlager der Saison wurde.

Er und seine Frau waren nicht erfreut und sehr verunsichert, als ihnen aufging, wie eng sich David an Rabbi White angeschlossen hatte. Beide Eltern lasen die Spuren und runzelten öfters die Stirn, aber sie ahnten nichts vom Weg, den ihr Sohn einschlagen würde. Und doch war dieser David kein von Gott Auserkorener, kein Heiliger. Er rüttelte mit der gleichen Vehemenz und der gleichen Lust an den Fundamenten der Welt wie jeder andere vierzehnjährige Junge. Fremden schien er auffallend höflich und wohltuend bescheiden, doch diejenigen, die sich mit den jungen Wilden seiner Generation auskannten, merkten sofort, dass auch er ein unverdrossener, zu allem entschlossener Barrikadenstürmer war. Nur selten kam es dem jungen Mister Procter in den Sinn, den Wundern der Welt seine Reverenz zu erweisen.

Schönheit erreichte ihn nicht, weder in der Natur noch in der Kunst. Auch seine Seele suchte die Schönheit nicht. Er war ebenso ungeduldig mit sich selbst wie mit anderen, unzufrieden und schnell gelangweilt, beschämt und hilflos, wenn ihm aufging, wie sehr er andere Menschen kränkte, und dann erst recht aggressiv. Dieser David der vielen Widersprüche war vom Schicksal mit einem besonders liebenswerten Vater bedacht worden. Seine Stimme blieb selbst bei heftigen Auseinandersetzungen sanft. Ideale Ergänzung dazu war die immer kompromissbereite Mutter. Sie prüfte jeden Einwand, den sie machte, mit der Methodik der Mathematikerin, die sie hatte werden wollen, scheute sich nie, einen Fehler zuzugeben, und schon gar nicht, sich dafür zu entschuldigen. Vor allem kam es ihr nie in den Sinn zu glauben, die eigenen Erfahrungen wären pädagogisch wertvoll und für ihre Kinder von Interesse. Tochter Rose begriff beizeiten, welcher Glücksstern ihren Familienhorizont erhellte, doch David ließ sich nur selten eine Gelegenheit entgehen, sein Nein ins Leben hinauszuschreien.

Das Hotelzimmer war heiß, das Licht in der Ferne weiß und flirrend und auf eine irritierende Art erregend. Schwer atmend versuchte David, das Fenster zu öffnen, doch der Metallknopf, den er hätte drehen müssen, ließ sich nicht bewegen. Ein grüner Käfer, größer, als er je einen gesehen hatte, klebte an der beschlagenen Scheibe. Der Forscher aus europäischen Gefilden begann, die Beine zu zählen, kam erst auf fünf, dann auf sieben und drehte sich indigniert von seinem afrikanischen Herausforderer ab. Übellaunig starrte er ein in Ebenholz gerahmtes Farbfoto über dem Bett an. Es zeigte zwei mit Speeren bewaffnete Krieger, im Hintergrund den Kilimandscharo mit einer Decke aus leuchtendem Schnee, von der Sonne bestrahlt und vom Himmel gesegnet. Der Perlenschmuck der Massai war besonders prächtig, die Haut von Stirn und Armen leuchtete ockerrot; die Spitzen der Waffen funkelten im Licht einer Sonne, die noch nicht ihre volle Höhe erreicht hatte. David, der durch Raum und Zeit geflogen war, ließ sich keinen Wimpernschlag lang von der körperlichen Geschmeidigkeit afrikanischer Jugend beeindrucken. Er spürte weder des Lebens Schwung noch dessen Herzschlag. Keinen Blick hatte er für die Unendlichkeit und die einmalige Schönheit der Landschaft, in der die hoch gewachsenen Massai, einem Denkmal gleich, so dicht nebeneinander standen, dass aus zwei Körpern einer wurde. »Hallo«, sagte David trotzdem. »Sorry, Jambo«, verbesserte er und verneigte sich ironisch. Er kicherte - wie er fand, besonders albern und mädchenhaft. Es war die Verlegenheit eines Reisenden, der noch keinen Halt hat und der sich nach Schutz sehnt.

Die zwei Korbsessel, die vor einem kleinen runden Tisch mit drei gedrechselten Beinen standen, steigerten seine Aggressivität. Das leichte Sommermobiliar ließ ihn, was er seinem Gedächtnis besonders verübelte, an die Loggia im Elternhaus seines Mitschülers Ashley Kenneth Alan Pinkerton denken. Das Gehabe dieses feinen Knaben pflegte

David ebenso übertrieben zu erscheinen wie der Umstand, dass er zu Hause stets mit sämtlichen drei Vornamen angeredet wurde. David hielt sich die Nase zu, wippte ein bisschen mit seinem Oberkörper und klopfte mit zwei Fingern leicht an seine Stirn. Näselnd sagte er leise »Ashley« und laut »verdammter Bastard«.

Er überlegte manchmal, in welche Lage ihn eine solche Familientradition von Aufzählung bringen würde. Um die Großväter zu ehren, die lange vor seiner Geburt gestorben waren, hieß er außer David noch Siegfried und Ludwig. Als kleiner Junge hatte ihn das sehr geniert. Nun war ihm die Kuriosität in seinem Leben gleichgültig, doch acht in der Schule verbrachte Jahre hatten nicht ausgereicht, um seine beiden deutschen Vornamen schreiben zu lernen, ohne dass er nachschlagen musste.

Die Pinkertons lebten in Kensington; sie waren so vornehm wie ihre feine Wohngegend. Alle sechs Monate drängte es den Junior dieser angesehenen Familie ins gesellschaftliche Rampenlicht. Für David waren dessen Einladungen allerdings ebenso lästig wie die Einkäufe zu Beginn des Schuljahres, um Teile der Schuluniform zu erneuern, oder die Kurse in erster Hilfe, auf denen neuerdings der Leiter der Pfadfindergruppe bestand. Allgemein wurde empfunden, dass Festivitäten im Haus von Major Pinkerton das Sozialprestige von Gästen erhöhten, die zu Hause weder Butler noch Mütter hatten, die in der Bond Street einkauften. Bei fast allen Jungen in der Klasse galten die Einladungen durchaus als Vergnügen. Außerdem hätte keiner die Courage gehabt, Ashley Kenneth Alan einen Korb zu geben. Zu seinem Geburtstag und am ersten Weihnachtstag lud er sämtliche Mitschüler in das herrschaftliche Tu-dorhaus ein, in das einer seiner Vorfahren unmittelbar nach der Schlacht von Waterloo eingezogen war. Die Geburtstagsfeiern im Juni fanden entweder auf dem Prachtrasen oder in einem Pavillon mit nachempfundenen dorischen Säulen statt, und in diesem Ambiente hatten die paar Gäste, die sich weniger wohl fühlten als der Gastgeber, ausreichend Gelegenheit zum unauffälligen Rückzug. Weihnachten war für David und seinen Freund Nat Glueck sehr viel diffiziler. Je älter sie wurden, desto peinlicher war es ihnen, unter üppig dekorierten Tannenbäumen zu feiern und ausgelassen nach jungen Damen Ausschau zu halten, die sie gemäß englischer Weihnachtstradition unter dem Mistelzweig am Türbogen zum Esszimmer zu küssen hatten. Der junge Hausherr sorgte für weitere Irritation: Nach der umfangreichen Parade seiner eigenen Geschenke führte er den Anwesenden die Sammlung griechischer Ikonen seines Großvaters vor, anschließend die Jagdtrophäen seines Vaters, der außer einem Büffel und einem Leoparden im Vorjahr einen Tiger erlegt hatte.

»Entweder in China oder irgendwo in Indien«, hatte Pinkerton geschnieft, während er an einer Zigarette der Marke Craven A, die aus der mütterlichen Handtasche stammte, Selbstbewusstsein sog, »ich kann doch die beiden verdammten Länder nie auseinander halten.«

David seufzte. Wann immer er an Pinkerton junior dachte, beschämte es ihn, dass er nie den Mut aufbrachte, zur richtigen Zeit den Kopf zu schütteln. Er schaute noch mal zu den Massaikriegern hin. Sie gefielen ihm, was ihn erstaunte, besser als zuvor, und eine Weile grübelte er, ob jedes Land auf der Welt wohl seine spezifischen Rätsel hätte und wer alle diese Rätsel lösen sollte, ohne verrückt zu werden. Seine Phantasie, zu Hause meistens ein gut dressiertes Ross, trieb ihn nun immer weiter in einen Irrgarten, den er sich zu betreten scheute, doch verscheuchten die ungewohnten Exkursionen auch Grillen und die Düsternis des Gemüts. Einen Moment stellte sich David sogar Gott auf einem Stein sitzend mit einem riesigen Buch vor, in dem er die Lösungen zu den Welträtseln vermerkte.

Ihm gefiel das Bild, und er lächelte - unbefangen, unschuldig, erheitert. Er spürte das Leben, fühlte sich frei und leicht, auch von Ketten befreit, die er erst im Moment der Erlösung wahrgenommen hatte. Da jedoch hörte er sein Herz schlagen, schnell und dumpf, und nach jedem trommelnden Ton ging ihm auf, was tatsächlich geschehen war. David senkte den Kopf; er schämte sich seines Frevels. Wie ein Kind hatte er sich verhalten, hatte sich ein Bild gemacht von dem, der keine Bildnisse gestattete. Der Sünder hörte die Wände seine Schuld hinausschreien. Unsichtbare Botschaften wurden auf dem Spiegel sichtbar. Er las sie schaudernd und presste die Augen zu, wollte die Buchstaben im Feuerlicht für immer verbannen, doch die Lider konnten die Dunkelheit nicht lange genug halten. Schon sah der Gestrauchelte zuckende Pfeile mit sonnengelben Spitzen und schneeweiße Sterne an einem Himmel aus Speerspitzen. Mit Händen, die zitterten, schützte er sein schweißnasses Gesicht.

David hörte sich atmen. Unmittelbar darauf vernahm er ein wütendes Fauchen, das ihn taub und wehrlos und klein machte. Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte, umklammerte ihn. Das Furchtbare erdrückte ihn, machte seine Arme bleischwer, lähmte die Beine, schüttelte den Körper. Er wollte schreien, so laut, bis die Wände einstürzten wie die Mauern von Jericho. Nicht ein einziger Ton kam aus seiner Kehle, und doch ließ der wilde, fauchende Drache von ihm ab. Das Ungeheuer spie weder Feuer noch Rauch.

Es war besiegt. Nur ein Wimmern, ein kläglicher, lächerlicher weinender Ton, blieb zurück.

Wimmerte da ein Kind oder seufzte nur ein Stück Vergangenheit, das nie mehr wieder kommen würde? Der Jüngling, der seinen Bogen mit leuchtenden Pfeilen gespannt hatte, straffte seine Schultern. Er suchte seine Oberarme nach Muskeln ab. Mit dem Wasser des Lebens glättete er sein Haar, und er hatte Freude an dessen rötlicher Farbe. So sorgfältig, als wäre er in Schuluniform und müsste zum morgendlichen Appell antreten, stopfte er das Hemd in die Hose; er stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu prüfen, ob er gewachsen war. Seine grünen Augen signalisierten Zustimmung. Feixend salutierte er dem Beau im Spiegel. Mit festen Schritten verließ der Kämpfer die Arena, in der er ein Mann geworden war.

»Hello, St. George«, sagte der Sieger.

Einen Moment stand er unschlüssig im Flur. Schon hörte er die Eltern reden, Rose lachen. Alle drei hatten hohe, fröhliche, erwartungsvolle Stimmen, Ferienstimmen. Gut gelaunt lauschte der Drachenbezwinger den Gesprächsfetzen, zweimal hörte er seinen Namen. Stolz machte ihn groß, die Schultern breit und kräftig. Mit zwei Fingern klopfte er an die Tür, und ohne die Antwort abzuwarten, drehte er den Messingknauf, einen auf Hochglanz polierten Löwenkopf.

»Jambo«, sagte David.

Keiner der drei fragte, weshalb er schon ein Suaheliwort kannte und woher. Selbst Rose lächelte ihn an, als sei Geschwisterfreundlichkeit selbstverständlich. Nur seine Mutter musste noch lernen, dass sie einen erwachsenen Sohn hatte. Sie tastete seine Stirn ab, scheute auch nicht vor dem Seufzer aller erleichterten Mütter zurück und fragte: »Bist du wieder okay, David? Wir haben doch morgen eine weite Reise vor uns. Glaubst du, du wirst schon wieder was essen können?«

Der Vater wusste, weshalb er grinste. Als sein Sohn sich von dem Zugriff der besorgten Mutter befreite, fragte er: »Kommst du mit mir in den Garten, David? Vielleicht gelingt es dir, mir beizubringen, wie das Nest heißt, in das wir morgen fahren müssen. Und was wir dort wollen.« »Londiani, Dad. Das kann hier doch jedes Kind sagen. Deine Frau ist dort aufgewachsen. In Londiani steht sozusagen unser Familienschloss.«

»Stand«, verbesserte die, die das Ziel ausgesucht hatte.