10
Teresa hatte ihm einen Zettel hinterlassen mit genauen Angaben, welche Lebensmittel im Kühlschrank lagerten und dass noch Brot da sei. Baltasar entdeckte Reste einer Salami, etwas Schinken und ein angebrochenes Glas Himbeermarmelade. Sein Magen meldete sich und protestierte, er wollte nicht warten, bis Teresa von ihren Einkäufen zurück war. Baltasar beschloss, das Mittagessen ins Gasthaus »Einkehr« zu verlagern.
Die Wirtsstube war leer, nur in einer Ecke nippte ein Paar ehrfürchtig an seinen Weißbiergläsern, als sei es der Heilige Gral und jeder Tropfen das Blut Christi. Das konnten nur Touristen sein. Baltasar wollte schon zu ihnen gehen und raten, einen ordentlichen Schluck zu nehmen, um den Geschmack des Bieres genießen zu können, dann hörte er die norddeutsche Aussprache und ließ es bleiben.
Er setzte sich an einen Ecktisch und studierte die Speisekarte. Eigentlich konnte er sich ein Essen gar nicht leisten, er hatte sich vorgenommen, von seinem Gehalt so viel wie möglich für die Kirchturmrenovierung zurückzulegen. Aber seine Kindheit meldete sich, das Spielen im Feinkostenladen seines Vaters, die Lehrstunden, die er dem kleinen Baltasar erteilt hatte, wie man gute Würste von mittelmäßigen unterscheiden konnte, was das Besondere von Gelees ausmachte oder wie man die Frische von Obst und Gemüse feststellte. Und über allem die Mahnung seines Vaters: Iss nur, was dir wirklich schmeckt.
Er entschied sich für ein neues Gericht auf der Karte, einen Jägerbraten indonesischer Art mit Wok-Gemüse und glasierten Kartoffelröllchen. Dazu passte ein Silvaner aus Würzburg.
»Schon was gefunden?« Victoria Stowasser lächelte ihn an. Sie hatte eine Seite ihres Haares hinters Ohr geschoben. Ihre Schürze war in der Mitte gebunden, was ihre Hüften betonte, wie Baltasar registrierte. Er überlegte, ob er ihr ein Kompliment machen sollte, unterließ es aber aus Angst, es könnte falsch aufgefasst werden. Er gab seine Bestellung auf und bat sie, sich zu ihm zu setzen. Sie sprachen über seinen Unfall und den Mord an Anton Graf. Er erzählte von dem letzten Zusammentreffen und seinem Plan, selbst einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten.
»Seien Sie bloß vorsichtig, Herr Senner. Immerhin läuft der Mörder noch frei herum und wird es vermutlich nicht lustig finden, wenn ihm jemand in die Quere kommt.«
»Nett, dass Sie sich um mich Sorgen machen. Ich passe schon auf mich auf.«
»Ich würde ungern einen meiner Stammgäste verlieren.« Sie lachte.
»Übrigens, gehen die Geschäfte wieder besser?«
»Sie sehen es ja selbst, nichts los. Und ich glaube, das liegt nicht nur an meinen exotischen Speisekreationen. Sondern es kommen weniger Urlauber in den Ort, und die Einheimischen teilen sich ihre Haushaltskasse genau ein. Die bleiben lieber daheim und kochen selbst, statt auszugehen.«
»Das ist lediglich eine Episode, Flauten sind normal. Ihr Essen ist einfach himmlisch.«
»Das mag schon sein. Aber ich bin nicht der Typ, der nur allein auf die Hoffnung baut.«
»Wie ich Sie kenne, haben Sie etwas vor.«
»Erraten. Ich überlege, ob ich’s mit Übernachtungen probieren soll. Im Obergeschoss gibt es einige Räume, die ich nicht nutze. Mein Vorgänger hatte das Gasthaus mit Zimmervermietung betrieben. Könnte also funktionieren.«
»Einfach wird das nicht. Dazu braucht es Werbung, um Ihr Angebot bekannt zu machen, und Investitionen für die Ausstattung der Zimmer. Außerdem – liegt Ihnen das frühe Aufstehen? Die Gäste brauchen nämlich ein Frühstück.«
»Ich hab noch die Sachen meines Vorgängers eingelagert, zur Not kaufe ich was Neues. Die Ausgaben halten sich in Grenzen. Nur das Aufstehen … Zusätzliche Arbeit wird’s sicher, ich kann mir keinen Festangestellten leisten, allenfalls Aushilfen.«
Nach dem Essen hatte Baltasar keine Lust, sofort zurück ins Pfarrheim zu gehen, stattdessen lenkte er sein Fahrrad wieder mal zum Haus seines Freundes Philipp Vallerot.
»Meine Überwachungssensoren haben dich bereits gemeldet«, begrüßte Philipp ihn. »Komm rein.«
Im Wohnzimmer stand ein Fernseher mit Flachbildschirm, wuchtig wie eine Plakatwand. »Meine neueste Errungenschaft.«
Eine Szene aus Tarzan lief gerade, Hauptdarsteller Johnny Weissmüller stieß seinen berühmten Ruf aus.
»Die Lautsprecheranlage habe ich auch ausgewechselt. Willst du mal hören?« Er drückte einen Knopf der Fernbedienung, und sofort fühlte Baltasar sich wie in ein Klangbad getaucht, die Stimmen der Schauspieler, die Hintergrundgeräusche, alles erschien überdimensioniert. Er machte ein Zeichen, den Ton wieder abzuschalten.
»Wow, das reinigt die Gehörgänge. Dagegen klingt jedes Rockkonzert wie mit Wattestöpseln im Ohr«, sagte Baltasar. »Ich frage mich, wie die Menschheit früher ohne solche Soundkanonen ausgekommen ist.«
»Das Arrangement wirkt noch lange nicht wie im Kino, ist aber immerhin schon eine kleine Version davon.«
»Selbst wenn du die Wände deines Hauses durchbrichst und einen noch größeren Bildschirm installierst – wobei ich bezweifle, dass Derartiges momentan auf dem Markt zu haben ist –, die Atmosphäre eines Kinosaales wirst du damit nicht erreichen.«
»Stimmt schon, es ist ein Kompromiss. Aber welches Kino macht um zwei Uhr morgens auf, wenn mir gerade danach ist, einen bestimmten Film sehen zu wollen, sagen wir, ›Die Nacht des Jägers‹?«
»Deine Technikbegeisterung, die brauche ich jetzt.« Baltasar gab Philipp das Mobiltelefon. »Da sind Aufnahmen von einem Glassplitter drauf. Ich befürchte, das Meiste ist verwackelt und unscharf. Das musst du irgendwie korrigieren, ich brauche ordentliche Fotos.«
»Was interessiert dich denn an einem Stück Glas?«
»Ich weiß auch nicht. Einfach ein Gefühl. Mir erscheint das Ding reichlich seltsam, vielleicht ist es ein erster Ansatzpunkt, Anton Grafs Tod aufzuklären. Denn mit diesem Teil wurde er ermordet.«
»Vermute ich richtig? Du hast die Bilder mittels krummer Touren geschossen? Hoffentlich stecken sie mich deswegen nicht in den Knast.« Sein Freund grinste. »Na, dann werfe ich mal den Computer an.«
Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis das Ergebnis am Monitor zu sehen war. »Ganz passabel. Ich mache dir Ausdrucke. Der Splitter ist wirklich seltsam, einerseits wirkt die Form wie zufällig, andererseits fallen die Kanten sehr unterschiedlich aus.«
»Was glaubst du, was könnte es sein?«
»Vielleicht Industrieabfall einer Glasfabrik. Oder von einer Glaserei. Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als einige Firmen abzuklappern. Ich versuche im Internet Hinweise zu finden, aber ob ich fündig werde? Da fehlt mir der Glaube.«
»Das war schon immer dein Problem. Ein wenig mehr Glaube, und dein Leben wäre einfacher.«
»Ich glaube schon, nur nicht an deinen Großen Außerirdischen. Oder an deine Kirchenverwaltung und den Oberaufseher in Rom. Ich glaube an die Menschheit und den gesunden Menschenverstand. Obwohl ich selbst da manchmal Zweifel habe, wenn ich mir einzelne Exemplare dieser Spezies anschaue. Was macht deine Renovierung?«
Baltasar berichtete von der Idee des Spendenaufrufes.
»Auch wenn du nicht an den lieben Gott glaubst, so würde ich doch deinen Scheck nehmen. Und dir wird es bestimmt nicht schaden, wie du weißt, konnte man sich im Mittelalter mit guten Gaben von allen Sünden freikaufen.«
»So viel Geld besitze ich nicht, dass es für alle meine Sünden reichen würde.«
»Wenn du beichtest und deine Sünden bereust, erhältst du die Absolution kostenlos. Wobei ich dir bei deiner gottlosen Vergangenheit mindestens 1000 Vaterunser und 1000 Ave-Marias aufbrummen müsste.«
»Das wäre Folter und verstößt gegen die Menschenrechte. Lieber zahle ich freiwillig, um mir diese Quälerei zu ersparen.«
»Fürs Erste würde es schon reichen, wenn du bei Gelegenheit den Kirchturm hochkletterst und Aufnahmen von den Schäden machst. Ich befürchte nämlich, das Thema wird mich noch länger beschäftigen.«
11
Die Vorbereitungen für die Morgenmesse am nächsten Tag waren abgeschlossen, zum Abendessen war es noch zu früh, und zu Büroarbeiten hatte Baltasar keine Lust. Was tun?
Das war eine der angenehmen Seiten des Priesterberufs: Niemand machte einem Vorschriften, wie man seinen Job zu erledigen hatte. Eine Stunde Mittagsschlaf oder nicht? Es war seine Entscheidung. Sich länger mit dem Frühstück aufhalten? Niemand erhob Einspruch, genau so wenig, wenn man sich selbst früher in den Feierabend schickte.
Gut, es gab Pflichtveranstaltungen, die Gottesdienste beispielsweise. Oder Krankenbesuche, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Aber selbst da war man frei, den Termin zu bestimmen. Welcher Gläubige wagte es schon, einem zu widersprechen, wenn man erklärte, dann und dann eben gerade keine Zeit zu haben, weil andere Verpflichtungen riefen? Kein Vorgesetzter und kein Gemeindemitglied zweifelten solche Behauptungen an, man musste keine Stechuhr bedienen, kurz: Es war alles viel einfacher, als früher die Schule zu schwänzen.
Und auch das blieb ein unbestreitbarer Vorteil als katholischer Pfarrer im Bayerischen Wald: Die Autorität des Amtes war ungebrochen, ein Geistlicher galt als Respektsperson, als jemand, dessen Wort zählte, und dieses ungeschriebene Gesetz herrschte in dieser Region schon seit Hunderten von Jahren, niemand dachte auch nur entfernt daran, das in Frage zu stellen. Ein Pfarrer gehörte zur Tradition wie Schweinsbraten und Bier.
Eigentlich war es ein freier Beruf, wenn nur die lästige Diözese nicht wäre. Baltasar probierte nochmals, Bischof Siebenhaar telefonisch zu erreichen, die Reparatur des Kirchturms konnte nicht länger warten, aber der Sekretär vertröstete ihn mit dem Hinweis, Seine Exzellenz sei gerade bei einem Termin, würde aber sicher zurückrufen.
Baltasar beschloss, dass sein Arbeitstag damit für heute beendet war. Sein oberster Dienstherr im Himmel würde sicher nichts dagegen haben. Er wusste auch schon, was er machen würde, schnappte sich den Autoschlüssel und fuhr los.
*
Sein Ziel war Zwiesel. Es zog ihn zurück an den Tatort, er hätte niemandem erklären können, was genau er dort suchte. Vielleicht wollte er in Ruhe nochmals die Stelle besichtigen, wo er seinen Nachbarn das letzte Mal gesehen hatte. Er fand eine Parklücke in der Oberzwieselauer Straße und schlenderte den Stadtplatz hinunter, genau genommen eine lang gezogene Durchgangsstraße, die leicht bergab führte, umrahmt von Häusern mit schmucken Fassaden und am anderen Ende übergehend in die B 11. Quer über die Straße waren Fähnchen gespannt, Blumentröge schmückten die Gehsteige.
Die Stadt setzte in ihrem Bemühen, Urlauber anzulocken, auf die Reize als Luftkurort und auf ihre glänzende Vergangenheit als ein Zentrum der bayerischen Glasindustrie. Dennoch konnte dies die Tatsache nicht überdecken, dass das Ortszentrum unter schleichender Auszehrung litt, wie jemand, der nur hustete, bei dem man aber schlimmere Krankheiten vermutete. Denn die gewachsenen Strukturen hatten sich abgeschliffen und waren kaum noch erkennbar. Wo einst alteingesessene Geschäfte gewesen waren, hatten sich jetzt Imbissbuden, Kettenläden und einfache Cafés breitgemacht.
Bei seinem Spaziergang stieß Baltasar immer wieder auf leere Schaufensterfronten mit »Zu vermieten«-Schildern.
Er betrat das Rathaus und ließ sich in der Touristeninformation einen Stadtplan geben. Ein Prospekt warb mit Führungen durch die unterirdischen Gänge. Baltasar vergegenwärtigte sich, dass das Erdreich unter dem Gehweg löchrig war wie ein Schwamm, ein Erbe des Mittelalters, als die Einwohner kreuz und quer unter dem Stadtplatz geheime Stollen gegraben hatten, um vor Feinden unbemerkt fliehen zu können.
Bei der Brücke über den Großen Regen bog er nach rechts und nahm den Weg zum Stadtpark. Er stieß auf einen Spielplatz, der am Wasser angelegt war. Eine Mutter beaufsichtigte ihren Kleinen, der einen Kletterturm bestiegen hatte. Sie blickte sich immer wieder nervös um zu einer Gruppe von Jugendlichen, die auf einer Bank saßen oder auf der Wiese lagen und jede Bewegung des Kindes mit Gejohle und Kommentaren begleiteten, dabei prosteten sie der Frau mit ihren Bieren zu. Leere Flaschen, Zigarettenkippen und Reste von Chipstüten lagen überall herum.
Baltasar ging auf die Frau zu. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
Sie sah ihn dankbar an. »Nein, danke, geht schon, ich verschwinde gleich von hier.«
»Besser so, Mutti! Mach, dass du nach Hause kommst, dein Alter wartet schon auf dich, der will heute noch seinen Spaß!«
Gelächter. Es kam von der Gruppe. Baltasar drehte sich um und ging auf die Clique zu. Einige der Jugendlichen trugen Jogginghosen, die ihnen halb in der Kniekehle hingen und die Unterhosen freilegten, dazu Sweatshirts und Wollmützen mit dem Emblem einer amerikanischen Football-Mannschaft. Andere steckten in Lederjacken und zerrissenen Jeans, wobei Baltasar nicht wusste, ob die Schlitze schon beim Kauf existiert hatten oder versehentlich aufgerissen worden waren. Als Schmuck hatten sie sich Nietengürtel und Stahlketten umgewickelt. Es ging laut zu, ein Radio wummerte einen Rocksong mit aufreizend monotonem Rhythmus. Offensichtlich hatte die Gruppe bereits ein ausgiebigeres Bierpicknick hinter sich.
Ein junger Mann baute sich vor ihm auf, er mochte 16, 17 Jahre alt sein, die Haare waren seitlich ausrasiert, ein Tattoo mit einem abstrakten Muster schlängelte sich um seinen Hals. Er roch nach Alkohol und Zigaretten.
»He, Mann, hast du was mit der Frau, oder machst du nur auf Macker? Verschwinde von hier!«
»Guten Tag, mein Name ist Senner. Pfarrer Baltasar Senner. Und wie heißt du?«
»Geht dich gar nichts an, Alter.« Er wandte sich an seine Kumpels. »Schaut euch diesen Macker an, ist ein Pfaffe, sagt er.« Die Jugendlichen grinsten und hoben ihre Bierflaschen, als ob sie ihm zuprosten wollten. »Ich kenn dich aber nicht, Alter. Solchen Schmarrn könnte jeder Dahergelaufene erzählen, Pfarrer willst du sein? So, so. Kannst du denn die Zehn Gebote auswendig aufsagen?«
Wie zur Bestätigung ließ er einen Rülpser hören, die anderen klatschten Beifall.
»Und wo genau ist jetzt dein Problem?« Baltasar sprach die Frage in einem beruhigenden Tonfall aus.
»Hör mal, Alter, komm mir jetzt bloß nicht blöd.« Der Jugendliche stupste ihn an. »Wenn du weiter so dein Maul aufreißt, bekommst du gleich was drauf, kapiert?«
Baltasar spürte seine unverhohlene Aggression. Er sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. »Schon gut, schon gut. Ich will keinen Streit.«
»Was du willst, ist mir scheißegal, hörst du? Scheißegal ist mir das!« Er schrie die Worte heraus. »Mach mich bloß nicht an, Alter. Mir ist gleich, ob du Pfaffe bist oder nicht!«
»Keine Sorge, junger Mann, ich will dich nicht bekehren. Obwohl es nicht schlecht wäre, wenn du die Zehn Gebote noch mal nachliest. Da findest du einige gute Anregungen für richtiges Verhalten.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, war ihm klar, dass er zu weit gegangen war. Aber er wollte auf die Provokationen reagieren und nicht nur alles wie ein Schaf hinnehmen.
Der Jugendliche packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich her. »Alter, bist du lebensmüde? Beleidigst mich vor meinen Freunden. Glaubst du, ich lass das mit mir machen?«
»Lass mich los, bitte.«
Das Gesicht des anderen war nur Zentimeter von seinem entfernt.
»Du machst mir keine Vorschriften, Alter. Kommt her und spielt sich auf, der Mann.«
»Ich sage, was ich für richtig halte. Und wenn du mich endlich loslässt …«
»Du legst es darauf an, was? Solche Wichser wie dich stampf ich einfach in den Boden, genau, das tu ich.«
»Das glaube ich dir gerne. Aber lass mich jetzt los.« Baltasar ergriff die Handgelenke des Jugendlichen und schob sie weg.
Als Reaktion darauf ließ der Tätowierte los und machte einen Schritt zurück. Baltasar wollte weggehen, als er in der Hand des Jugendlichen einen Schlagring aufblitzen sah, eines dieser Modelle, deren Außenseite mit Dornen gespickt war. Der Jugendliche fuhr mit dem Metall über Baltasars Wange, als wollte er Abdrücke in der Haut hinterlassen.
»Na, gleich machst du dir in die Hose, Alter, was? Wo sind nun deine klugen Sprüche, Pfaffe? Hilft dir der liebe Gott jetzt?«
Baltasar wusste, dass Gefahr drohte, sein Gegner war betrunken und unberechenbar. »Nicht sehr mutig, Unbewaffnete mit einem Schlagring zu bedrohen. Wenige Meter von hier wurde erst vor Kurzem ein Mensch umgebracht, ein Mann, der ebenfalls unbewaffnet und friedliebend war.«
Der Jugendliche zeigte keine Reaktion.
Baltasar entschied, einen Versuch zu wagen, um ihn zu verunsichern. »Anscheinend bist du schnell mit einer Waffe zur Hand. Hast du diesen Mann etwa auch angemacht? Weiß die Mordkommission schon davon?«
Der Jugendliche zuckte zurück und ließ die Hand sinken. »Was … was fällt dir ein, Alter? Spinnst … spinnst du jetzt?«
Seine Stimme stockte. Er war offenbar unschlüssig, wie er sich nun weiter verhalten sollte.
»Lass gut sein.«
Ein Mädchen war aufgestanden und zog ihn weg.
»Lass dich doch von so einem Typen nicht provozieren.«
Sie trug kurz geschnittene, schwarze Haare, schwarzen Lidschatten und eine schwarze Jacke. In ihrer Nase und ihrer Lippe steckten Kugeln, die von der Ferne aussahen wie Pickel, in Wirklichkeit aber Piercings waren.
»Komm, wir suchen uns einen anderen Platz, der weniger von solchen Spießern verseucht ist.«
Der Jugendliche war unschlüssig. Aber seine Freunde waren bereits aufgestanden und trollten sich Richtung Stadtplatz.
»Lass doch den alten Sack«, riefen einige und machten dabei obszöne Gesten in Richtung Baltasar. Ein anderer Junge mit kurzrasiertem Haar und Ohrsteckern, schmächtig wirkend, stand auf und wankte auf sie zu. »Lass den Typen, diese Kerle sind doch alle gleich.« Er wandte sich an Baltasar. »Warum müsst ihr Typen euch immer so wichtig machen? Ihr habt hier nichts verloren. Das ist unser Revier. Hier riecht’s nach Spießer. Hauen Sie ab, sonst setzt’s was!« Zu seinem Freund sagte er: »Der hat die Hosen voll, lass uns die Location wechseln.«
Der Jugendliche steckte seinen Schlagring ein und schloss sich den anderen an. »Arschloch«, zischte er zum Abschied.
»Du mich auch.« Baltasar machte, dass er wegkam. Er war überrascht, wie wirkungsvoll seine Sätze gewesen waren, als ob plötzlich der Heilige Geist in die jungen Leute gefahren wäre.
An den Spielplatz grenzte ein Teich, dessen auffälligstes Merkmal ein Drache auf dem Wasser war, eine Skulptur aus Edelstahlelementen. Am Ufer waren Tafeln aufgestellt, die über Tierwelt und Pflanzen informierten. Als er zu dem Hirtenbrunnen kam, erinnerte nichts mehr an das Verbrechen, lediglich ein dunkler Fleck auf dem Holz markierte die Stelle, wo Anton Graf gesessen hatte. Baltasar nahm auf der Bank Platz und grübelte darüber nach, warum sein Nachbar wohl hier gewesen sein mochte. Kommissar Dix hatte berichtet, Grafs Auto sei an einer ganz anderen Stelle gefunden worden. Hatte er einfach einen Spaziergang gemacht und auf der Parkbank eine Pause eingelegt? Traf er sich mit jemandem an einem Ort, wo man ungestört reden konnte? Oder war es nur ein fataler Zufall gewesen? Hatte Graf etwas beobachtet und musste deshalb sterben?
Es war riskant von dem Mörder gewesen, hier zuzuschlagen. Eine Straße führte vorbei, mit Spaziergängern war zu rechnen, auch wenn Büsche und Bäume einen gewissen Sichtschutz boten. Baltasar ging zu dem Baum, unter dem die Leiche gefunden worden war. Ein kaum erkennbarer Pfad führte in Richtung einer Fußgängerbrücke. Im Gestrüpp war die Erde niedergedrückt, Dosen und Fetzen weißen Papiers lagen herum, es sah aus, als wäre dieses Stück zum Campen benutzt worden – und als Toilette.
Auf der anderen Seite des Flussufers, versteckt zwischen den Ästen, sah man Fabrikschornsteine, Gewerbegebäude und Wohnhäuser. Konnte jemand von dort aus den Brunnen sehen? Vermutlich hatte die Polizei alle Anwohner längst befragt. Baltasar ging den Fluss entlang. Das Wasser war kristallklar und erlaubte den Blick auf den Grund, die Strömung verwirbelte den Fluss, an einigen Stellen hatte sich Gischt gebildet.
Eine Zeitlang folgte er der Strömung, es hatte etwas Beruhigendes, dem Fließen des Wassers zuzusehen, ein ewiges, sich immer wiederholendes Schauspiel, und doch war es jede Sekunde anders, die Oberfläche veränderte ihr Bild, mal hier, mal da, in aller Gleichgültigkeit von Raum und Zeit bahnte sich der Strom seinen Weg durch das Flussbett. Als Begleitmusik gurgelte und blubberte es, nie war völlige Ruhe, das Geräusch des fließenden Wassers hatte eine eigene Melodie, leise und doch unüberhörbar. Vom Grunde her glänzte es silbern.
Baltasar hielt inne. Der Glanz war unnatürlich, es schien ein Stück Metall zu sein. Da lag etwas auf dem Grund, eingekeilt durch einen Stein. Er beugte sich über das Wasser, konnte jedoch noch immer nicht erkennen, was es war, und wechselte seinen Standort. Er brach einen kleinen Ast von einem Baum am Ufer ab und benutzte ihn als Stock. Aber sosehr er auch stocherte, er bekam das Metall nicht zu fassen.
Der Ehrgeiz hatte ihn nun gepackt. Er wollte unbedingt herausfinden, was das für ein Stück Metall war, ein Ehrgeiz wie in seiner Kindheit, als er davon geträumt hatte, einen Schatz zu finden, und mit Taucherbrille und Schnorchel einen Weiher abgesucht hatte. Der einzige Fund war damals ein verrostetes Fahrradgestell gewesen.
Es blieb nur ein Weg. Baltasar sah sich um, ob ihn jemand beobachtete, und zog dann seine Schuhe und seine Hose aus. Fast hätte er aufgeschrien, als er seinen Fuß ins kalte Wasser tauchte. Das sollte angeblich gesund sein, Wassertreten nach Art des bayerischen Priesters Sebastian Kneipp half gegen Tuberkulose, Cholera und Impotenz, hieß es, und gegen die Zipperlein des Alters.
Seine Zehen tasteten sich vor bis zu der Stelle, wo das Metall liegen musste.
»Können Sie sich keine Eintrittskarte fürs Bad leisten?«
Baltasar schreckte hoch. Auf der anderen Seite des Flusses stand eine Frau, an der Leine führte sie einen Golden Retriever.
»Ich … äh … ich suche etwas.«
»Schämen Sie sich nicht, hier in Unterhosen zu baden? Das ist unhygienisch, total unhygienisch!«
Die Frau trug eine Jeans und ein T-Shirt, ihre Arme hatte sie in die Hüften gestemmt wie eine Lehrerin, die ihren Zögling zurechtwies. »Wenn Sie zu Hause kein Bad haben und sich keine Eintrittskarte leisten können, gehen S’ doch zum Sozialamt. Die helfen Ihnen sicher weiter.«
»Ich … Mir ist etwas ins Wasser gefallen. Das will ich wieder herausholen. Ich kann doch nicht komplett angezogen reinspringen.« Baltasar fühlte sich wie ein ertappter Schulbub. Er wusste selbst, wie albern seine Ausrede war.
»Und denken Sie doch an die Familien mit Kindern, die hier vorbeigehen. Was sollen die von Ihnen halten? Für die Kleinen ist es doch ein Schock, unvermittelt einen halbnackten Mann anzutreffen.«
»Ich bin nicht halbnackt«, protestierte Baltasar.
»Sie wissen schon, was ich meine. Es gibt genug Perverslinge, die sich in öffentlichen Parks herumtreiben. Ich will damit nicht unbedingt sagen, dass Sie einer sind, aber Sie wissen ja selbst …«
»Sie können mir gerne zusehen, wie ich …«
»So weit kommt’s noch!«, unterbrach sie ihn. »Jetzt soll ich Ihnen auch noch zugucken. Schau’n Sie, dass Sie Ihr Geschäft verrichten oder was auch immer Sie da tun, und dann verschwinden Sie!«
Die Frau warf ihm noch einen Blick zu, der Stahlwände durchbohren konnte, und ging weiter.
Endlich spürte Baltasar das Metall an seinen Füßen. Er umkrallte es mit den Zehen und hob es aus dem Wasser, wobei er fast das Gleichgewicht verloren und tatsächlich noch ein Bad genommen hätte.
Er watete, so rasch er konnte, zurück ans Ufer. In der Hand hielt er eine Halskette mit einem Anhänger. Vermutlich nicht wertvoll, aber zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen Schatz gefunden. Er zog sich fröstelnd seine trockene Hose, Socken und Schuhe wieder an.
12
Baltasar überquerte die Fußgängerbrücke und spazierte am anderen Ufer des Flusses entlang. Vom Gehweg aus war der Stadtpark nur an einigen Stellen zu sehen, der Tatort am Hirtenbrunnen lag versteckt, die Stelle, wohin sich Anton Graf geschleppt hatte, war überhaupt nicht zu entdecken. Allenfalls die oberen Stockwerke eines Wohnhauses boten die Möglichkeit eines besseren Blickwinkels, waren jedoch weiter entfernt vom Ort des Verbrechens.
Er bog ein in die Doktor-Schott-Straße und ging zu einem Parkplatz, der an drei Seiten von Geschäften eingefasst war. Eine Glaspyramide zog den Blick auf sich, deren Besonderheit Unmengen von Weingläsern waren, die sich im Innern acht Meter hoch zu einer zweiten Pyramide stapelten, ein Werbegag der Glasfabrik, deren Gebäude sich über eine ganze Seite des Platzes hinzog und zu der auch die Schornsteine gehörten, die er vom Park aus gesehen hatte.
Baltasar hätte gerne ausprobiert, ob das Bauwerk in sich zusammenfiel, wenn er ganz unten einige Gläser herauszog, aber leider machten Barrieren solche Pläne unmöglich. Er fand den Anblick ein wenig trostlos: so viele Gläser, aber nicht ein einziges mit Wein gefüllt.
Eine Traube Menschen quoll aus einem Bus und steuerte zielstrebig auf den Fabrikshop zu.
Das brachte Baltasar auf die Idee zu versuchen, hier etwas über die seltsame Mordwaffe aus Glas in Erfahrung zu bringen. Er betrat ebenfalls den Shop, kramte die Fotos hervor und ging direkt vor zur Kasse. Dort sprach er eine Frau an, die gerade ihre Abrechnung machte. Sie hatte ihr Haar hochtoupiert, ihre Körperfülle steckte in einer viel zu engen Bluse, so dass Baltasar bei jedem Atemzug Sorge hatte, die Knöpfe könnten aufspringen.
»Guten Tag. Ich bräuchte eine Auskunft.«
»Wenn S’ was umtauschen wollen, gehn S’ zur Information.« Sie sah nicht einmal auf.
»Ich habe eine Frage zu einem besonderen Stück.«
»Dann gehn S’ zu einem Verkäufer.« Noch immer beschäftigte sich die Frau mit ihren Papieren.
»Es dauert nicht lange. Schauen Sie sich das bitte an.« Er legte die Fotos direkt auf die Unterlagen der Frau. Die Reaktion erfolgte augenblicklich.
»Himmelherrgottsakrament!«
Die Kassiererin sah ihn nun an. Ihre Knöpfe zitterten bedrohlich. Reste guter Erziehung mussten sie unbewusst bremsen, sonst hätte sie Baltasar wohl gewürgt, so, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte.
»Sind Sie komplett wahnsinnig? Jetzt haben Sie mich abgelenkt, und ich muss wieder von vorn beginnen, Sie Hamperer!«
»Entschuldigung.«
»Sie reden sich leicht, Sie müssen auch nicht meine Arbeit machen. Was glauben Sie, wie viele Menschen täglich was von mir wollen?«
»Keine Ahnung.«
»Genau, das denke ich auch, Sie haben keine Ahnung. Hocken Sie sich doch den ganzen Tag an die Kasse, dann wüssten Sie, wovon ich rede.«
»Könnten Sie wenigstens …« Baltasar tippte auf die Fotos.
»Soll ich mir jetzt Ihr Fotoalbum anschauen oder was? Und als Nächstes zeigen Sie mir Ihre Briefmarkensammlung.«
»Besonders nett sind Sie nicht zu Ihren Kunden.«
»Ein Kunde wollen Sie sein? Wo ist Ihr Einkaufswagen, wo sind Ihre Waren? Ich sehe nichts.« Sie atmete schwerer, der oberste Knopf ihrer Bluse war bereits aufgesprungen. »Es tut mir leid, wenn ich das so direkt sagen muss, Leute wie Sie sind lästige Wimmerl. Jetzt können Sie sich ruhig bei meinem Chef über mich beschweren, aber ich sag’s Ihnen gleich: Das ist mir blunzn.«
»Ich will mich nicht beschweren, sondern nur eine einzige Frage stellen: Wo finde ich so etwas?« Wieder wies er auf die Bilder.
Die Frau nahm ein Foto in die Hand und tat so, als berühre sie etwas Schmutziges. »Kenn ich nicht, noch nie gesehen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, das ist doch hier ein riesiger Laden.«
»Haben Sie sich schon bei uns umgeschaut?«
Baltasar setzte zu einer Bemerkung an, aber die Frau fuhr fort: »Sehen Sie, wir haben Gläser, Vasen und Schüsseln. Das nennt man Hohlglas. Weil es innen hohl ist, kapiert?«
Er nickte.
»Das Teil auf dem Foto sieht nicht hohl aus, sondern eher flach. Das nennt man Flachglas, eben weil es flach ist, so wie Fensterscheiben. Und Flachglas führen wir nicht. Grüß Gott.«
Sie gab ihm die Bilder zurück und beugte sich demonstrativ über ihre Abrechnung, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
*
Baltasar war froh, als er endlich wieder draußen war, und atmete ein paarmal tief ein und aus. Für heute hatte er genug erlebt, das reichte für den Rest der Woche. Über Seitenstraßen ging er zurück zu seinem Auto. Als er an der Pfarrkirche Sankt Nikolaus vorbeikam, entschloss er sich zu einem Besuch.
Das Gotteshaus war ein Backsteinbau, erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Stil gotischer Vorbilder errichtet, nachdem die alte Kirche einem Stadtbrand zum Opfer gefallen war. Der Stolz der Gemeinde war der über 80 Meter hohe Kirchturm, der sogar den Turm des Passauer Stephansdoms überragte. Deshalb lobten Einheimische ihr Wahrzeichen als den wahren »Dom des Bayerischen Waldes«, was Baltasar insgeheim freute, vor allem weil er wusste, wie sehr das Bischof Siebenhaar missfallen musste.
Von innen wirkte die Kirche auf ihn noch mächtiger als von außen. Die Säulen lenkten den Blick in die Höhe gen Himmel, es war wie ein zu Stein gewordenes Lob Gottes. Die Ausstattung war eine Mischung verschiedener Stile, schlichte Holzbänke, im Seitenaltar eine Pietà aus dem 16. Jahrhundert, Marias Gewand bemalt mit blau und rot, eine Christus-Statue aus dem 18. Jahrhundert und ein moderner Mittelaltar.
Baltasar setzte sich in die erste Reihe und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Die Unruhe fiel allmählich von ihm ab, seine Gedanken schweiften umher, er entspannte sich. Nach einiger Zeit kam ein Priester aus der Sakristei, betrat den Mittelgang und ging zum Altar.
»Herr Weinberger?« Baltasar hatte den Stadtpfarrer nur einmal bei einer Veranstaltung der Diözese getroffen. Der Mann sah auf.
»Oh, Herr Senner, Sie besuchen uns, das ist aber eine Ehre.«
Baltasar begrüßte ihn. Sie kamen ins Plaudern, natürlich hatte die Nachricht von seinem Unfall auf dem Kirchturm längst die Runde gemacht. Auch der Mord an Anton Graf war ein großes Thema in der Gemeinde.
»Kannten Sie Herrn Graf? Er soll hier aus der Gegend kommen«, meinte Baltasar.
»Auf dem Friedhof liegen seine Eltern, wenn ich mich nicht irre. Ein schönes Familiengrab. Ihm selbst bin ich nie begegnet, was nicht verwunderlich ist, denn die Außengemeinden betreue ich nicht. Der Herr hatte mich in seiner Gnade nach Zwiesel geschickt.«
»Sie meinen einen gewissen Herrn in Passau, vermute ich.«
»Ich sehe, wir verstehen uns. Hatten Sie jüngst mit unserem Bischof Kontakt?«
»Ich hätte ihn gern gesprochen, wegen der Finanzierung der Reparatur. Aber Seine Exzellenz hat immer furchtbar viel zu tun.«
»Ach.«
Baltasar berichtete von seinem Abenteuer mit den Jugendlichen im Stadtpark.
»Ich kenne die Gruppe, die treffen sich mal hier, mal da, an Tankstellen, im Park, sogar am Kirchenvorplatz haben sie sich eine Zeitlang verabredet, von dort habe ich sie aber gleich wieder weggescheucht, ich will nämlich nicht, dass sie die Kirchenbesucher verschrecken.«
»Jedenfalls sind sie auf Dauerparty abonniert. Und einer von ihnen hatte ruckzuck einen Schlagring in der Hand.«
»Ich hätte an Ihrer Stelle die Polizei eingeschaltet. Das sind ja kriminelle Methoden wie die einer amerikanischen Straßengang. Und diese Clique ist bereits durch ihre hohe Gewaltbereitschaft aufgefallen. Ich habe gehört, dass einige von den Jungs schon mehrmals in Schlägereien verwickelt waren.«
»Hat noch niemand versucht, mal mit ihnen zu reden? Oder mit den Eltern?«
»Wo denken Sie hin? Es gab Anzeigen wegen Körperverletzung, Ruhestörung und Beleidigung, die Polizei hat sie jedes Mal nach Hause gebracht, aber genutzt hat das wenig. Die meisten Eltern sind schlicht überfordert. Und ich als Pfarrer kann nichts tun, die jungen Leute gehen heute nicht mehr in die Kirche, und sie sind taub für alles, was Erwachsene ihnen sagen.«
»Und wo haben sie das Geld für Bier und Schlagringe und Chips her, wenn sie nicht arbeiten? Von ihren Eltern?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht drehen sie krumme Dinger, vielleicht auch nicht. Sie gehen zum Teil ja noch zur Schule.«
»Gehören sie denn zu Ihrer Gemeinde?«
»Die meisten waren früher bei mir Firmlinge. Ich hatte sie als nette Kinder in Erinnerung. Aber wenn sie größer werden … Sie hängen einfach herum, sind arbeitslos, fangen schon mittags an zu trinken … Es ist traurig.«
Baltasar beschrieb den Angreifer mit der Tätowierung. »Kennen Sie den?«
Weinberger schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts. Aber wenn die jungen Menschen ihr Äußeres extrem verändern, sich Farbe ins Gesicht malen oder sich Ringe in die Haut stechen, dazu noch ihre gruselige Aufmachung – das ist wie eine Verkleidung, bei denen ist das ganze Jahr Halloween.«
»Ein einziges Mädchen war mit dabei, kurze Haare und Piercings, die hat schließlich ihre Freunde beschwichtigen können und die Situation entschärft.«
»Das Mädchen kenne ich, glaube ich, mir fällt bloß der Name nicht ein. Sie hat mich sogar gegrüßt, als ich sie vor Kurzem getroffen habe. Das will schon was heißen heutzutage. Ihre Eltern haben früher im Kirchenchor gesungen und gehen noch heute regelmäßig zur Messe.«
»Und die Namen der anderen?«
»Ich müsste die Gesichter sehen, dann könnte ich Ihnen weiterhelfen. Wenn Sie es für eine Anzeige brauchen, kann ich mich erkundigen. So groß ist Zwiesel auch wieder nicht.«
»Nein danke, ich werde nicht zur Polizei gehen. Es interessiert mich nur persönlich, ist aber nicht so wichtig.«
13
Die Messe am Sonntagvormittag sollte die große Spendengala werden. In der Zeitung war der Termin als »besondere Gemeindefeier« angekündigt worden. Baltasar hatte die Kirche zu diesem Zweck herausgeputzt, über den Mittelgang führte ein roter Teppich bis zum Altar, zusätzliche Vasen mit Glockenblumen schmückten die Seitengänge, am Eingang grüßten Girlanden die Besucher. Er hatte die doppelte Anzahl von Ministranten eingeteilt und ihnen eingeschärft, bloß kein griesgrämiges Gesicht zu machen.
Die Kirche war zu zwei Dritteln gefüllt, Baltasar hatte sich mehr erhofft. Der Bürgermeister saß in der ersten Reihe neben dem Sparkassendirektor, weiter hinten Metzger Hollerbach mit seiner Frau, ansonsten die üblichen Verdächtigen aus dem Dorf.
Als besonderen Effekt zum Auftakt hatte Baltasar neben dem Altar eine Stereoanlage aufgestellt. Er blieb ganz ruhig vor dem Altar stehen und wartete, bis das Getuschel, Niesen und Husten abebbte. Noch immer machte er keine Bewegung, sondern blickte freundlich in die Menge. Nun hatte er die Aufmerksamkeit, die er brauchte. Alle Blicke richteten sich auf ihn, einige reckten die Hälse aus Sorge, etwas zu verpassen.
Baltasars Kunst bestand nun darin, diese Spannung noch einige Momente aufrechtzuerhalten. Denn ob Taufe, Beerdigung oder Hochzeit: Dies war das Geheimnis einer erfolgreichen Inszenierung, die jeder Pfarrer beherrschen sollte. Das Herunterleiern des Standardprogramms aus Gebeten, Predigt und Liedern warf heute niemanden mehr um, lieber blieb man länger im Bett oder vertrieb sich die Zeit bis zum Mittagessen mit Fernsehen oder Frühschoppen. Auch wenn es seine Kollegen nicht gerne hörten, wenn es so unumwunden ausgesprochen wurde: Es war immer Theater dabei, der Altarbereich glich einer Bühne. Sollte man die Gesetze erfolgreicher Aufführungen ignorieren, nur weil man für die katholische Kirche arbeitete? Jede Messe folgte den dramaturgischen Regeln von Einleitung, Höhepunkt und Schluss – und der Priester fungierte als Schauspieler in einem Ein-Mann-Stück. Oder war der Gottesdienst doch eher ein Musical, in Anbetracht der vielen Gesangseinlagen?
Baltasar ging langsam zu der Stereoanlage und drückte auf Start. Er zählte leise bis fünf und schaltete dann das Gerät ein.
Glockengeläut ertönte. Es war das Läuten der Dicken Martha, erbärmlich im Vergleich zum Original. Nach zwei Minuten drehte Baltasar den Ton ab und trat vor.
Er hielt eine Ansprache, die nicht zur Liturgie gehörte. Er erklärte, warum er auf Tonkonserven ausweichen musste, wie traurig es sei, dass die Glocken der Gemeinde verstummt waren, er sprach von der Aufgabe, den Klang wieder zum Leben zu erwecken, und dass dazu die tätige Mithilfe jedes einzelnen Gemeindemitglieds gefordert sei. Er schloss mit dem Appell, am Ende der Messe die Herzen und Geldbeutel zu öffnen und für die Restaurierungsarbeiten am Kirchturm zu spenden, gerne auch per Überweisung.
Die Gesichter der Kirchenbesucher blieben unbewegt. Weder begeistertes Strahlen noch zustimmendes Nicken. Eine Frau in der vorletzten Reihe gähnte, ihre Nachbarin nestelte an ihrem Kragen. Und ein Mann – Baltasar kannte ihn nicht – stand sogar auf und stahl sich hinaus. Unverschämt! Das hatte er noch nie erlebt!
In seiner Predigt legte er nach und sprach von der Nächstenliebe und der christlichen Barmherzigkeit des Teilens, so wie der heilige Martin seinen Mantel teilte. Die Kirche wäre nichts ohne ihre Mitglieder und könnte nur überleben, wenn die Gläubigen sie unterstützten. Jesus habe Bedürftigen geholfen und den Reichtum verdammt. Im Stillen fügte Baltasar hinzu, diese Botschaft sei leider bei Bischof Siebenhaar bisher nicht angekommen.
Während die Gemeinde sang, ließ Baltasar die Ministranten mit dem Klingelbeutel herumgehen. Er hatte sie angewiesen, länger als sonst vor den Besuchern stehenzubleiben und jeden aufmunternd anzusehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie die Besucher in ihren Börsen kramten und sich umsahen, ob die Nachbarn begutachteten, wie viel man gab.
Nach dem Segen eilte Baltasar zum Portal, stellte sich neben den Opferstock und verabschiedete die Gäste. Kaum jemand gab ein zweites Mal Geld, die meisten verdrückten sich nach einem kurzen Gruß.
Bürgermeister Xaver Wohlrab zog ihn zur Seite.
»Schöne Predigt, Hochwürden, wirklich ergreifend. Jeder Marketingmanager würde Sie bewundern. Ich entdecke immer wieder neue Seiten an Ihnen.«
»Unser Kirchturm ist mir ein Anliegen. Dafür lohnt der Einsatz. Oder soll ich künftig auf dem Dach Lautsprecher installieren und den Ort damit beschallen?«
»Sie haben schon recht, die Glocken sind unsere Tradition. Obwohl manchmal am frühen Morgen, wenn man noch schläft …«
»Das ist nur sonntags der Fall. Und so bald erklangen die Glocken nun auch wieder nicht.«
»Stimmt schon, stimmt schon, ich mein ja nur … Übrigens habe ich eine Idee, wie die Gemeinde Ihnen bei der Reparatur noch mehr unter die Arme greifen könnte.«
»Tatsächlich?« Baltasar misstraute den scheinbar großzügigen Angeboten des Bürgermeisters, er hatte in der Vergangenheit so seine Erfahrungen damit gemacht.
»Nun, dazu bräuchte ich lediglich Ihre tatkräftige Mithilfe, Herr Pfarrer.« Wohlrab setzte sein Verkäuferlächeln auf. »Es ist nichts Besonderes, im Gegenteil. Sie erhalten die Chance, Ihre Pfarrgemeinde deutlich auszudehnen. Wo passiert das noch in der heutigen Zeit, in der alle aus der Kirche austreten? Das ist doch eine elementare Aufgabe für jeden Priester, oder nicht?«
»Wollen Sie Kaffeefahrten organisieren? Soll ich einen Vortrag halten?«
»Immer einen Scherz auf den Lippen, der Herr Senner. Ich mache Ihnen ein einmaliges Angebot, um die Zahl Ihrer Schäfchen zu erhöhen. Denken Sie nur daran: neue Kirchensteuerzahler. Das wird Ihren Dienstherrn in Passau freuen, da gibt es sicher ein dickes Lob.«
»Sie haben mir immer noch nicht erzählt, um was es eigentlich geht.«
»Nun, dazu muss ich ein wenig ausholen. Sie wissen, Hochwürden, dass mir als Bürgermeister dieses Ortes alles daran gelegen ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen.«
Baltasar antwortete nicht darauf.
»Deshalb bin ich ständig auf der Suche nach Investoren, die sich in unserer Gemeinde niederlassen wollen.« Wohlrab hob beschwörend die Hände. »Ich muss Ihnen nicht sagen, wie schwierig das ist, Geldgeber für uns zu begeistern. Sie wissen es selber: Die Bayerwälder sind gläubig und gutmütig, aber wenn’s um ihre Finanzen geht …«
Der Bürgermeister spielte auf die Eigenheit der Bewohner an, ihre Kirche zu lieben, aber noch mehr das Geld, vom dem sie sich nur schwer trennten. Wahrscheinlich war dieser Charakterzug auch deshalb so tief in den Menschen verwurzelt, weil der Landstrich zu den ärmeren Gegenden zählte, seit Jahrhunderten geprägt von Landwirtschaft, Holzverarbeitung und Glashütten. Gut bezahlte Arbeit war seit jeher selten gewesen.
»Es ist eine Befriedigung für mich, eine neue Chance für unseren Ort erschlossen zu haben«, sagte Wohlrab.
»Nun rücken Sie schon damit raus.«
»Ich will Senioren eine neue Heimat geben. Die Menschen leben immer länger, und sie fallen ihren Verwandten oft zur Last. Das muss nicht sein.« Sein Tonfall nahm etwas Salbungsvolles an. »Die alten Leute haben etwas Besseres verdient als griesgrämige Angehörige. Hier bei uns werden sie wieder aufleben, die gute Luft, jede Menge Natur, Wiesen, Felder … da ist auch was fürs Auge geboten.«
»Aber Wiesen und Felder finden die Besucher überall im Bayerischen Wald, und Berge obendrein. Warum sollten sie gerade zu uns kommen?«
»Infrastruktur, Herr Pfarrer, Infrastruktur ist das Zauberwort. Alles an einem Fleck, kurze Wege, Service. Dienstleistungen sind die Zukunft der Arbeitswelt, und Senioren sind der Megatrend des Jahrzehnts.«
»Das heißt, jemand will hier ein Altersheim bauen.«
»Al-ten-heim.« Der Bürgermeister dehnte die Silben, als hätte er Zahnschmerzen. »Was für ein schreckliches Wort. Die Leute sind nicht alt, sie haben nur mehr Lebenserfahrung. Das sind … wie nennt man sie doch gleich … genau, Silbersurfer oder Best Ager, wie es auf Englisch heißt. Sie haben Geld und wissen nicht, wie sie es ausgeben sollen. Man kann schließlich nicht alles an die Enkel überweisen und muss auch mal an sich selbst denken. Bei uns finden sie den Luxus im Ruhestand, gehobenes Level, kostet auch ein wenig mehr, dafür beste Dienstleistungen, optimale Versorgung.«
»Und meine Rolle dabei?«
»Die Leute haben selbstverständlich auch ein Bedürfnis nach spiritueller Betreuung, geistiges Leben, das ganze Programm, Sie wissen schon. Ich stelle mir eine eigene Kapelle in diesem Silberparadies vor, dazu bräuchte man natürlich einen Priester, der alles managt und Gottesdienste abhält, am besten interkonfessionell, auch wenn wir als gute Katholiken die Lutheraner links liegen lassen, aber wir wollen in diesem Fall tolerant sein, oder nicht?«
»Wir haben doch schon eine Kirche. Ihre Kundschaft braucht bloß in die Messe zu gehen.«
»Die Senioren sind oft nicht gut zu Fuß, bis in den Ort ist es ein Stück zu gehen. Da ist es besser, gleich alles im Haus zu haben. Außerdem wirkt es exklusiver, wenn für die Bewohner ein eigener Pfarrer zur Verfügung steht. Natürlich müssten wir den Friedhof erweitern, auch Best Ager leben nicht ewig.«
»Warum weit zu gehen? Wo soll denn diese Anlage hinkommen?«
»In den Planungen ist eine Bebauung am Waldrand vorgesehen.«
»So weit weg? Ist das da draußen denn überhaupt Bauland?«
»Die entsprechenden Anträge liegen schon beim Landratsamt. Sie brauchen sich nicht gleich zu entscheiden, Herr Senner, schlafen Sie ruhig drüber, aber denken Sie dran, die Gemeinde kann Ihnen bei der Reparatur helfen, wir haben unsere Möglichkeiten, und am Ende sind beide Seiten glücklich.« Wohlrab zog Baltasar zur Seite. »Mal ganz im Vertrauen, haben Sie von der Polizei Neues über den Mord an Ihrem Nachbarn gehört, gibt es schon Verdächtige? Sie müssen wissen, ich habe erst vor einer Woche mit Herrn Graf gesprochen, und jetzt ist er … Das erschüttert einen schon.«
Der abrupte Themenwechsel irritierte Baltasar. Er berichtete von den Ermittlungen, aber der Bürgermeister schien nur halb zuzuhören.
»Und Erben? Ist schon klar, wer das Vermögen von Herrn Graf erben wird?«
»Von einem Testament weiß ich nichts. Aber es gibt offenbar einen leiblichen Sohn.«
»Ein Sohn? Das ist interessant. Haben Sie seine Adresse?«
14
Der Kassensturz fiel ernüchternd aus. Exakt 421 Euro und 16 Cent waren im Klingelbeutel, nicht gezählt die tschechischen Kronen, die ein Scherzbold hineingeworfen hatte. Dazu ein Verrechnungsscheck über 1200 Euro von der Sparkasse, der Bankdirektor hatte »Bitte Spendenquittung ausstellen« darauf geschrieben und »Viel Erfolg«.
Baltasar fühlte sich wie von einem Felsbrocken getroffen. Mit solchen Summen brauchte er an die Sanierung des Kirchturms gar nicht weiter zu denken. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Er beschloss, einen Ausflug nach Frauenau zu machen. Schließlich mussten die Einzelheiten von Anton Grafs Beerdigung geklärt werden, und dazu wollte er mit dessen Sohn Quirin Eder sprechen.
*
Quirin Eders Wohnung lag am Rande des Ortes, ein schmuckloses Mehrfamilienhaus aus den Siebzigerjahren. Baltasar klingelte, nichts rührte sich. Er hätte seinen Besuch wohl besser vorher ankündigen sollen. Vielleicht war der junge Mann gerade bei Kunden.
Baltasar läutete erneut, diesmal länger. Keine Reaktion. Eine Frau kam aus dem Gebäude heraus. Er nutzte die Gelegenheit und schlüpfte durch die Eingangstür. Zumindest wollte er Grafs Sohn eine Nachricht hinterlassen.
Eder wohnte im Dachgeschoss. Baltasar suchte nach einem Stift, als er laute Geräusche aus Eders Wohnung hörte, es klang wie ein Presslufthammer, doch nach genauerem Hinhören erwies der Lärm sich als Musik. War doch jemand zu Hause? Baltasar überlegte, was er tun sollte, dann klopfte er laut an die Tür.
»Herr Eder?«
Die Musik dröhnte weiter. Baltasar hämmerte mit der Faust gegen das Holz der Wohnungstür.
»Hallo!«
Nach einer Ewigkeit hörte er ein Rumpeln im Inneren, als ob jemand über einen Stuhl gestolpert wäre. Die Tür öffnete sich. Vor ihm stand Quirin Eder, in Boxershorts und T-Shirt. Er hatte einen entrückten Blick und brauchte einige Zeit, Baltasar zu fokussieren. Ein süßlicher Geruch drang aus der Wohnung, wie verbranntes Gras.
Quirin formte seinen Mund zu einem Wort, Baltasar registrierte, wie sich die Lippen bewegten, aber er konnte nichts verstehen, die laute Musik verhinderte jeden Ansatz einer Unterhaltung. Er gab Eder ein Zeichen, den Ton leiser zu stellen. Der verschwand wieder in seiner Wohnung, und Baltasar folgte ihm.
Zwei Dachfenster spendeten nur Dämmerlicht. In der Mitte des Zimmers stand eine Ledercouch, deren Design an die Siebzigerjahre erinnerte, daneben ein Umzugskarton, der mit einer Glasplatte zu einem Tisch umfunktioniert worden war. Aus einem Aschenbecher verrauchte der Rest einer selbst gedrehten Zigarette. Mehrere Fichtenbretter waren zwischen Ziegelsteine geklemmt worden und dienten als Regal. Mannshohe Lautsprecherboxen rahmten einen Turm aus verschiedenen Stereogeräten, Lichter blinkten und signalisierten ihre Einsatzkraft.
Quirin schaltete den Ton ab und öffnete die Fenster. Frischluft strömte in den Raum.
»’tschuldigung, Hochwürden, ich habe keinen Besuch erwartet. Muss ein wenig eingedöst sein.« Er räumte eine Decke und ein Kissen beiseite. »Nehmen Sie Platz.«
»Müssen Sie nicht arbeiten?«
Vorsichtig ließ sich Baltasar auf der Couch nieder, aus Angst, sie womöglich durchzubrechen, aber das Polster hielt.
»Ich bin Versicherungsberater und selbstständig, verstehen Sie? Dieser Job hat den Vorteil, dass man sich seine Arbeitszeit selber einteilen kann. Und ich hab mir heute eine kleine Pause gegönnt, Heimarbeitsplatz sozusagen.«
»Kann man davon leben?«
»Vom Versicherungen verkaufen? Kommt drauf an. Die Leute brauchen eigentlich Versicherungsschutz, aber keiner kümmert sich aktiv darum. Deshalb muss man nachhelfen und den Menschen klarmachen, warum das wichtig für sie ist. Je überzeugender man auftritt, desto mehr Policen schließt man ab. Anders formuliert: kein Abschluss, keine Provision, kein Gehalt. Eben Marktwirtschaft pur.«
»Klingt nicht nach einer Arbeit, die man bis zur Rente macht.«
»Kommt drauf an. Derzeit läuft’s einigermaßen, ich will mich nicht beklagen.«
»War das Ihr Wunschberuf?«
»Ursprünglich habe ich Schreiner gelernt. Hab sogar den Abschluss als Geselle. Aber wegen Holzstaub konnte ich nicht weiterarbeiten, hab ständig gehustet, es war wie Asthma, verstehen Sie? Deshalb hab ich’s mit Versicherungen probiert. Aber ich bin unhöflich, Hochwürden, kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?«
»Eigentlich bin ich wegen der Beisetzungsformalitäten Ihres Vaters gekommen. Vermutlich haben Sie als nächster Verwandter zu entscheiden, wie und wo Herr Graf beigesetzt werden soll.«
»Hat das nicht noch Zeit?«
»Die Polizei wird die Leiche bald freigeben. Dann sollte Anton ein christliches Begräbnis erhalten.«
»Können wir nicht warten bis nach der Testamentseröffnung?«
Baltasar richtete sich auf. »Wie … Ich verstehe nicht. Warum warten?«
»Es wird doch der letzte Wille meines Vaters verkündet werden, oder nicht?«
»Das weiß ich nicht. Wenn Sie meinen, ob Anton ein Testament aufgesetzt hat, bin ich überfragt. Mir hat er nie Derartiges erzählt. Ansonsten wird der Nachlass wohl nach der gesetzlichen Erbfolge geregelt werden.«
»Kein Testament? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Mein Vater war doch ein vermögender Mann, allein schon die Immobilie neben dem Pfarrhaus ist einiges wert.«
»Ich verstehe nicht ganz. Was hat das denn mit der Beerdigung zu tun?«
Quirin Eder schnitt eine Grimasse. »Die Summe für die Beisetzung kann ich derzeit nicht vorstrecken. Meine Barmittel sind begrenzt, ich erwarte noch einige Provisionszahlungen, aber das dauert.«
»Das kriegen wir schon irgendwie hin. Genug Erbe ist da, wie Sie richtig bemerkt haben. Da wird auch etwas für die Beerdigung übrig sein.«
»Wenn Sie das sagen, Hochwürden. Dann möchte ich, dass mein Vater verbrannt wird und er auf Ihrem Friedhof die letzte Ruhe findet, Herr Senner, ganz in der Nähe des Ortes, wo er zuletzt gelebt hat. Das war seine Heimat, die hat er sich selbst gewählt.«
»Gut, dann müssten Sie der Kriminalpolizei Bescheid sagen. Ich kümmere mich um alles Weitere.«
»Diesem Herrn Dix und seinem hochnäsigen Kollegen? Wenn’s denn sein muss.«
»Sie scheinen keine gute Meinung von den beiden Beamten zu haben. War das Gespräch denn so schlimm?«
»Gespräch? Das war ein Verhör! Und ich kam mir vor wie ein Verbrecher, die haben mich wie einen Verdächtigen behandelt! Als ob ich meinen Vater umbringen könnte!«
»Was wollten sie wissen?«
Quirin erzählte von der Befragung und wie Dix und Mirwald auf dem Thema Alibi herumgeritten waren.
»Aber ich war zur Tatzeit nach einem Termin gerade wieder in meiner Wohnung, bin von dort dann losgefahren zum nächsten Kunden. Der kann bezeugen, von wann bis wann ich bei ihm war.«
»Und haben Sie dem ersten Kunden eine Versicherung verkauft?«
»Ging nicht, der Herr war zu der vereinbarten Zeit nicht zu Hause. Das war ärgerlich, ich hab ein paar Minuten gewartet und bin dann wieder abgerauscht.«
»Was hat die Kripo dazu gesagt?«
»Sie hielten mir vor, ich würde mir die Wahrheit zurechtlegen, denn sie hätten mit dem fraglichen Kunden gesprochen, und der könne sich nicht an eine Verabredung mit mir erinnern.« Quirin tippte sich an die Stirn. »Dieser zugedröhnte Schafszipfel! Da telefoniere ich extra mit ihm, weil er etwas zu einer Unfallversicherung wissen will, fahre hin, und dieser Dätschenkopf hat einen Filmriss und ist nicht anzutreffen. Und mir wird das so ausgelegt, als fantasiere ich mir ein Alibi zusammen.«
»Konnten Sie das mit dem Einbruch aus der Welt schaffen?«
»Die hat nur interessiert, was ich in dem Haus wollte. Denen konnte ich nur dasselbe herbeten, was ich Ihnen schon gesagt habe, Hochwürden.« Er zeigte seine Hände. »Sehen Sie her, sogar meine Fingerabdrücke wollten sie, und eine Speichelprobe, angeblich wegen der Spurensicherung und um Missverständnisse auszuschließen. So ein Gschmarr! Hat grad noch gefehlt, dass ich wie auf einem Verbrecherfoto posieren musste. Dabei wollte ich doch nur helfen. Aber so kommt’s, wenn man sich mit der Polizei einlässt!«
»Was sagt denn Ihre Mutter dazu? Haben Sie schon mit ihr gesprochen?« Baltasar veränderte seine Sitzposition.
»Charlotte, meiner Mutter, hab ich natürlich längst Bescheid gesagt.«
»Und wie hat sie es aufgenommen?«
»Wegen Anton Graf, dass er tot ist, meinen Sie? Wie sollte sie schon groß darauf reagieren? Hat von dem Mann über 15 Jahre nichts mehr gehört, davor gab’s nur Streit um Unterhalt und das alles, sie redet nicht gern darüber, wissen Sie, sie hat damit abgeschlossen.«
»Ist Ihre Mutter berufstätig?«
»Zurzeit ist sie auf Jobsuche. Aber Sie wissen selbst, wie schwer es heute für eine ältere Frau ist, etwas zu finden, was wenigstens einigermaßen bezahlt wird. Sie hat bisher als Sekretärin gearbeitet. Bei der Gelegenheit hatte sie damals in irgendeinem Büro Anton kennengelernt.«
»Mal ganz persönlich gefragt, Herr Eder, wie waren denn Ihre Gefühle Ihrem Vater gegenüber?«
Quirin lehnte sich zurück und schwieg eine Weile.
»Anton Graf war mein Vater, ja, das ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt. Er war wie ein Wesen aus einer anderen Welt für mich, einer, von dem man gehört hat, den man nur aus der Ferne kennt oder aus Erzählungen.« Sein Blick schweifte zur Decke. »Jeder wünscht sich einen Vater, der für einen da ist, der einen manchmal in den Arm nimmt, mit dem man quatschen kann. Sie wissen schon, was ich meine.« Quirin sah Baltasar an. »Für mich war Anton Graf ein unsichtbarer Mensch, und ich frage Sie, Herr Senner: Kann man so jemanden überhaupt hassen oder lieben?«
15
Im Haus roch es nach Vergorenem. Baltasar konnte nicht ausmachen, woher der Geruch kam. Er schnupperte auf der Toilette, in der Abstellkammer, sogar im Arbeitszimmer. Erst als er sich der Küche näherte, identifizierte er die Quelle. Geräusche von Tellern und Töpfen bestätigten seinen Verdacht: Teresa kochte Abendessen.
Er wollte sich gerade aus dem Haus schleichen, als er hinter sich eine Stimme hörte.
»Herr Senner, ich auf Sie gewartet. Es geben heute etwas Besonderes, Sie werden staunen. Kommen Sie, setzen Sie sich, bevor alles kalt wird!«
Baltasar wusste, dass es kein Entrinnen gab. Vorsichtshalber stellte er einen Krug Wasser und eine Flasche Weißburgunder aus Baden in Reichweite. Wie ein Verurteilter vor der Verkündung der Strafe nahm er am Küchentisch Platz und harrte der Dinge.
»Was gibt es denn heute?« Er versuchte, freundlich zu klingen.
»Ich gemacht polnisches Nationalgericht, Bigos, Rezept meiner Großmutter, mit meinen eigenen Verfeinerungen, das sein Ideen aus dem Bayerischen Wald. Also das Beste aus beiden Ländern zusammengerührt.«
Sie hob den Deckel des Kochtopfes ab. Dampf stieg auf und verbreitete einen säuerlichen Geruch im Raum. Ohne dass Baltasar es verhindern konnte, setzte sich dieser saure Dampf in seiner Nase fest und blockierte für einen Moment die Atemwege. Er versuchte, die Luft anzuhalten, gab es jedoch bald wieder auf. Denn mittlerweile hatte Teresa seinen Teller mit der Masse gefüllt: braune Wollfasern, die sich bei näherer Untersuchung als Sauerkraut herausstellten, und undefinierbare Stücke von fester Konsistenz, es konnten Fleischbrocken sein, aber auch gepresster Torf oder eingeweichte Holzschnitze. Dazwischen verbargen sich kleinere Brösel von dunkler Färbung. Baltasar tippte auf Erdklumpen oder gefrorene Rosinen.
Schon der erste Bissen führte dazu, dass sich sein Mund wie bei einem Vakuum zusammenzog, zu streng war die Säure. Das hatte zumindest den Vorteil, dass er den zweiten Bissen gar nicht mehr schmeckte, die Geschmackssensoren hatten ihren Widerstand aufgegeben und ihre Arbeit einfach eingestellt.
»Gut, nicht?« Teresa beobachtete seine verzweifelten Schluckbewegungen. »Nicht so schnell, Sie können sonst das nicht richtig genießen.«
Baltasar nickte und versuchte ein Lächeln, brachte aber nur eine Fratze zustande. »Das schmeckt … wie soll ich sagen … ganz … ganz … mir fällt das passende Wort nicht ein … ungewöhnlich.« Er achtete darauf, möglichst gleichmäßig zu atmen.
»Wusst ich doch, dass Sie Bigos lieben, so wie alle Polen.« Sie klatschte in die Hände. »Noch einen Nachschlag?«
»Was … Was ist denn da alles drin?«
»Na, Schweinefleisch eben, und Krakauer und Schlesische Wurst, was ganz Leckeres, haben ich früher immer gegessen. Nur das Brot fehlt noch. Möchten Sie eine Scheibe?«
Baltasar winkte ab. Das Kraut fühlte sich glitschig auf der Zunge an, wie in Fett gebadet, seine Zähne hatten Mühe, die Würste zu durchdringen, immer wieder stießen sie auf elastische Teile, die sich dem Zerkleinern widersetzten.
»Sie haben sich wirklich Mühe gegeben.« Er brachte es nicht übers Herz, Teresa die Wahrheit zu sagen. »Was ist an dem Rezept eigentlich typisch niederbayerisch?«
»Das Schweinerne hab ich auf dem Markt gekauft, auch die getrockneten Pilze, die sollen aus der Gegend vom Großen Arber stammen, sagt die Verkäuferin.«
Die Marktfrau hat nur nicht verraten, aus welchem Jahrhundert das Fleisch war, dachte Baltasar.
»Herr Senner, wie steht es denn mit Neuigkeiten zu unserem Nachbarn, hat die Polizei den Mörder schon gefasst?« Teresa setzte sich zu ihm an den Tisch. »Traurig sein das mit Herrn Graf. War so ein netter Mensch, hat immer so freundlich gegrüßt, Komplimente gemacht, wenn ich ihn getroffen habe.«
Baltasar berichtete von den Ermittlungen. »Aber ich weiß nicht, ob die Polizei schon neue Erkenntnisse hat. Die sind nicht sehr mitteilungsfreudig. Wann haben Sie denn Anton das letzte Mal gesehen?«
»Einen Tag, bevor er … ums Leben gekommen ist. Er stand am Gartenzaun und winkte mir zu. Und natürlich beim Unfall auf dem Kirchturm, als wir Sie heruntergetragen haben.«
»Mir ist eigentlich nie aufgefallen, ob Anton viel Besuch hatte, von seinem Sohn Quirin beispielsweise«, sagte Baltasar. »Das klingt komisch, aber irgendwie habe ich nicht darauf geachtet.«
»Also der junge Mann, der der Sohn unseres Nachbarn sein soll, den habe ich nie vorher gesehen, ganz bestimmt nicht. Erst nachdem Sie ihn in dem Haus erwischt haben, sein diebische Elster, dieser Sohn.«
»Er hat doch gar nichts mitgenommen. Wahrscheinlich gehört ihm sowieso bald alles.«
»Doch, dieser Mann sein kurz danach noch mal mit dem Fahrrad zurückgekommen, ich hab’s aus dem Fenster im ersten Stock gesehen.«
»Er wird was vergessen haben.«
»Trotzdem, ich glaube, sein diebische Elster. Einbrechen in ein fremdes Haus tut man nicht!«
»Seien Sie nicht so streng mit ihm. Er ist noch jung.«
»Seien Sie nicht zu milde mit ihm, er ist noch jung.«
Baltasar nahm einen Schluck Wasser. »Bei Anton hatte ich immer den Eindruck, er führte ein stilles Leben, zurückgezogen in seinem Schneckenhaus.«
»Die Leute, die ich gesehen habe, waren alles Fremde. Meist ältere Herren, gut gekleidet.«
»Und Frauen?«
»Tagsüber könnte ich mich nicht erinnern, jemanden bemerkt zu haben, andererseits habe ich nicht darauf geachtet. Und Herr Graf ist viel mit dem Auto weggefahren.«
»Was meinen Sie damit, Teresa, war es abends anders?«
»Ich mehrmals mitgekriegt, wie nachts Auto vorfuhr und Frauen ins Haus gegangen sind.«
»Und?«
»Ich nicht wissen, ich nicht auf die Lauer gelegt.«
»Ich meine, waren es private Besuche oder geschäftliche?«
»Meinen Sie Damen, die gegen Bezahlung arbeiten?« Teresa gluckste.
»Äh … Ich meine, hatten Sie den Eindruck, dass es Freundinnen von Anton waren?«
»Einmal, zweimal ich zufällig gesehen, wie Frau erst am nächsten Morgen wieder weggefahren ist.«
»Hatte er ein Verhältnis? Wirkte es so auf Sie?«
»Es waren mindestens zwei verschiedene Damen. Und bedeutet ein Abschiedskuss ein Verhältnis?«
»Mir hat Anton nie was von einer Frau oder einer Freundin erzählt. Warum diese Heimlichtuerei? Er hatte doch nichts zu verbergen.«
»Vielleicht aber die Frauen?«
»Aber das hätte ich doch erkennen müssen, sei es aus Andeutungen oder aus Bemerkungen, aber da war nichts.«
»Männer sein nicht immer besonders sensibel bei solchen Themen.« Die Haushälterin hob die Hände, als wollte sie den lieben Gott als Zeugen anrufen. »Männer und Frauen, das ist wie Wodka und Kräutertee. Zeigen Sie mir einen sensiblen Mann, und ich pilgern nach Tschenstochau!«
»Warum hat die Polizei dann noch keine Hinweise auf geheime Freundinnen gefunden? Die Frauen müssten sich längst gemeldet haben, schließlich haben die Zeitungen ausgiebig über den Fall berichtet.«
»Das Sie müssen die Herren aus Passau fragen. Außerdem, wer weiß, vielleicht ist die Beziehung längst beendet, oder die Frauen wohnen gar nicht hier.«
»Oder sie stammen von hier und haben Angst aufzufliegen«, entgegnete Baltasar. »Möglicherweise sind sie verheiratet und sorgen sich wegen der Konsequenzen.«
»Sie doch in Herrn Grafs Haus waren. Ist Ihnen da was aufgefallen? Frauen brauchen auch eine Zahnbürste oder Unterwäsche oder Schminksachen, die lebensnotwendigen Dinge eben.«
»Nein, bemerkt habe ich nichts, aber auch nicht danach geschaut.«
»Herr Senner …« Teresa zupfte an dem Ärmel ihres Pullovers. »Herr Senner … Ich …«
»Was ist, Teresa?« Diese plötzliche Verlegenheit passte gar nicht zu ihr.
»Ich haben eine Frage, eine Bitte.« Sie blickte an ihm vorbei. »Ich mich nicht trauen …«
»So schlimm wird’s doch nicht sein. Oder wollen Sie beichten?«
»Nein, nein«, antwortete die Haushälterin. »Es ist nur … ich …«
»Also raus damit.«
»Ich habe Post bekommen von … von meinen Cousin aus Krakau …«
»Wie nett, dass er Ihnen schreibt.«
»Er … Er wollen mich besuchen.«
Baltasar gab Teresa einen Klaps auf den Arm. »Wunderbar, da können Sie was Feines aus der Heimat für ihn kochen, sich mal richtig ausleben mit Ihren Rezeptkreationen. Das wird Ihren Cousin sicher freuen.«
Er gestand sich ein, dass diese Vorstellung ihn hoffen ließ: Wenn Teresa genug mit Gerichten herumexperimentiert hatte, mit ihrem Cousin als ahnungslosem Versuchskandidaten, dann würde ihre Lust auf polnische Speisen ja vielleicht nachlassen – vorübergehend zumindest.
»Sie müssen wissen, er haben wenig Geld, sein arbeitslos. Deshalb braucht er … eine Unterkunft.«
»Sie meinen, ob er bei uns übernachten kann? Wir haben doch ein Gästezimmer, ich sehe da kein Problem. Ihr Cousin ist herzlich willkommen.«
»Wirklich?« Sie sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Dann ich gleich heraussuchen Originalrezepte aus dem Bayerischen Wald! Mein Cousin sicher nicht kennen!«
16
Der Anruf des Zwieseler Stadtpfarrers hatte Baltasar überrascht. Er habe Informationen für ihn, wegen des Angriffs im Stadtpark, hatte der Kollege gesagt, Baltasar möge doch bitte vorbeischauen, dann erfahre er mehr.
Also hatte sich Baltasar ins Auto gesetzt und war nach Zwiesel gefahren.
Hans Weinberger erwartete ihn in einem Café am Stadtplatz. Er hatte einen Tisch in der Ecke gewählt, das Lokal war fast leer, nur zwei Rentnerinnen saßen am Fenster und schauten hinaus, kommentierten die Kleidung der Passanten, nebenbei immer wieder an ihrem Tee nippend.
»Grüß Gott, Sie machen’s ja richtig spannend.« Baltasar schüttelte seinem Gegenüber die Hand. »Sie haben meine Neugierde geweckt.«
»Mir ist nicht aus dem Kopf gegangen, was Sie über die Jugendlichen im Park berichtet haben, Herr Senner. So etwas darf bei uns nicht passieren.« Seine Stimme nahm an Lautstärke zu. Die beiden Damen am Fenster drehten sich zu ihnen um und steckten danach tuschelnd die Köpfe zusammen. Vermutlich liefern wir ihnen jetzt Gesprächsstoff für den Rest des Tages, dachte Baltasar.
»Wahrscheinlich war dieser Junge mit dem Schlagring betrunken«, antwortete er, »das soll bei Menschen gelegentlich vorkommen – und nicht nur bei Jugendlichen.«
»Wir sind hier im Bayerischen Wald, nicht in einer Favela in Rio de Janeiro«, fuhr Weinberger fort, diesmal leiser. »Raufereien meinetwegen, und dass bei einem Volksfest jemand im Suff mit dem Bierkrug zuschlägt, na ja, das ist nicht schön, gehört aber irgendwie auch dazu. Doch Attacken mit einem Schlagring, das geht entschieden zu weit. Dagegen muss man einschreiten.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Zur Polizei gehen und Anzeige erstatten?«
»Genau das wäre das Richtige. Jemand muss diese jungen Leute zur Rechenschaft ziehen und ihnen die Grenzen aufzeigen, bevor es zu spät ist. Ich hab viel Verständnis für die Flausen von Jugendlichen, schließlich war ich selbst mal jung. Aber genug ist genug, bei Gott.«
»Spricht Gott nicht auch von Barmherzigkeit und Vergebung?«
»Vorher muss jedoch die Einsicht und die Reue stehen. Die sehe ich in diesem Fall allerdings nicht. Sie als Betroffener, besser gesagt als Opfer, Sie sollten reagieren und nicht passiv bleiben.«
»Selbst wenn ich zur Polizei gehen würde, käme wahrscheinlich nichts dabei heraus, denn es ist fraglich, ob die sich bemühen, die Angreifer ausfindig zu machen.« Baltasar schüttelte den Kopf. »Außerdem stünde immer noch Aussage gegen Aussage. Und die Mitglieder der Clique werden wohl kaum einen aus ihren Reihen anschwärzen.«
»Aber es wäre ein Warnschuss für die Jugendlichen. Sie würden sich künftig zweimal überlegen, ob sie einfach so Unbeteiligte attackieren.« Weinberger beugte sich über den Tisch. »Deshalb habe ich mich diskret umgehört, bei Mitgliedern meiner Gemeinde und den Ministranten. Und ich habe Namen für Sie.« Selbstzufriedenheit troff aus seinen Worten.
»Tatsächlich? Respekt, Sie sollten sich bei der Kripo bewerben.« Baltasar lächelte.
Der Pfarrer tat es mit einer Geste ab. »Das ist meine Christenpflicht. Also, der Schlagringbesitzer heißt Jonas Lippert, wohnt allein und ist arbeitslos. Bei dem Mädchen handelt es sich wahrscheinlich um Marlies Angerer, sie macht gerade eine Ausbildung auf unserer Glasfachschule hier in Zwiesel.«
»Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben. Ich werde mich darum kümmern, versprochen.«
»Sie gehen also zur Polizei?«
»Ich werde zuerst einige Erkundigungen einziehen. Eine Anzeige wäre für mich erst ein letzter Schritt, Herr Weinberger. Haben Sie auch Informationen darüber, wann sich die Gruppe normalerweise trifft?«
»Das ändert sich ständig. Die jungen Leute verabreden sich heutzutage über ihre Handys und über diese Internetangebote, mir fällt gerade der Name nicht ein, Sie wissen schon.«
»Vielleicht habe ich Glück und erwische sie jetzt.«
»Bloß nicht! Haben Sie vergessen, wie es Ihnen ergangen ist? Plötzlich haben Sie dann ein Messer im Bauch, nicht auszudenken, so was.«
»Ich passe schon auf mich auf. Es ist ja kein Naturgesetz, dass die Menschen immer auf dieselbe Weise reagieren.«
»Sie sind erwachsen, Herr Senner, da müssen Sie selbst wissen, was Sie tun, obwohl ich, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, Ihr Verhalten nicht gerade als erwachsen bezeichnen kann. Ich werde für Sie beten.«
Weinberger rief die Bedienung und zahlte.
*
Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, überlegte Baltasar, wo er mit der Suche beginnen sollte. Die Gasthäuser und Cafés am Stadtplatz fielen aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Jugendlichen seelenruhig beim Schweinsbraten saßen oder Buttercremetorte löffelten.
Er probierte es also zuerst bei den Tankstellen in Stadtnähe, die auch alkoholische Getränke verkauften. Er fragte die Angestellten, ob sie eine Gruppe Jugendlicher gesehen hätten, doch man begegnete ihm mit Verständnislosigkeit und Misstrauen.
Er ging langsam über den Parkplatz vor einem Supermarkt, bis Autos ihn laut hupend vertrieben. Bei zwei Kiosken machte er halt, kaufte Schokoriegel und hielt ein Schwätzchen mit den Verkäufern, doch auch sie konnten ihm nicht weiterhelfen.
Er wusste, dass es eine Schnapsidee war, einfach so durch die Stadt zu gehen, ohne zu wissen, wo und wann diese Jugendlichen anzutreffen waren. Doch jetzt war er schon einmal in Zwiesel und wollte die Zeit nutzen. Für heute standen keine anderen dringenden Termine mehr an. Nebenbei war es ein netter Spaziergang, der ihn in Seitenstraßen des Ortes führte, wo er noch nie gewesen war.
Schmucke Häuser wechselten mit trostlosen Fassaden vor sich hinbröckelnder Häuser, die für die jeweiligen Eigentümer offenbar nicht mehr interessant waren. Zum Teil war die frühere ländliche Struktur noch erkennbar, Anwesen, die aussahen wie ehemalige Bauernhäuser, Hinterhofgaragen, die einst Handwerksbetriebe beherbergten, leere Flächen, bei denen unklar war, ob früher dort ein Haus stand oder ob sie als Weide gedient hatten.
Doch wie auch immer er ging: Am Ende landete er an einem der beiden Flüsse Großer Regen oder Kleiner Regen, die sich mitten durch den Ort schlängelten. Diese Flüsse, die an mehreren Stellen wie zu groß geratene Bäche aussahen, teilten Zwiesel in mehrere ungleich große Tortenstücke. Baltasar schlug einen Weg am Ufer entlang ein. Bei der Angerstraße folgte er den Schildern zum Bahnhof von Zwiesel.
Einige Fahrgäste mit Rollkoffern warteten auf den Zug, die Angestellte eines Verkaufsstandes blätterte in einer Zeitschrift. Er fragte sie nach den Jugendlichen, sie kannte sie zwar, hatte sie jedoch schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.
Über die Doktor-Schott-Straße wanderte er zum Platz mit der Glaspyramide. Dann nahm er den Weg zurück zum Fluss, über eine Fußgängerbrücke gelangte er zum Spielplatz, wo er sie beim letzten Mal getroffen hatte.
Jetzt war das Gelände verwaist.
In der Ferne sah er einige Spaziergänger. Baltasar setzte sich auf eine Bank. Vor ihm plätscherte das Wasser, Bäume und Grünflächen machten den Stadtpark idyllisch. Es war wie ein Bild, friedlich und harmonisch, und niemand würde vermuten, dass hier vor Kurzem ein Mord geschehen war.
Anton Graf. Was hatte er in Zwiesel gewollt? Gab es etwas, das sein Nachbar vor der Öffentlichkeit geheim halten wollte? Hatte es mit Frauen zu tun? Baltasar ließ die Gedanken sich treiben, lauschte der Strömung, beobachtete die Spaziergänger. Er stellte sich vor, er wäre ein buddhistischer Mönch und könnte durch Meditation und durch das Abstreifen der irdischen Bedürfnisse zu Weisheit und Erkenntnis gelangen und möglicherweise sogar das Rätsel um den Tod seines Freundes lösen. Doch die einzige Vision, die er hatte, war die Vision einer Leberkassemmel, frisch und saftig, so wie sie Metzger Hollerbach zubereitete.
Schließlich erhob er sich, vertrat sich die Beine und ging noch einmal zu dem Hirtenbrunnen, wo Graf ums Leben gekommen war. Er hoffte auf eine Eingebung beim Anblick des Tatortes, doch vergebens. Es blieb ein Ort, der zum Rasten einlud, an dem man sich entspannen konnte – ein Anker für die Seele.
Die Schreckensbilder existierten nur in seinem Kopf, weil er wusste, was genau an dieser Stelle im Park geschehen war.
Baltasar kehrte zurück zum Spielplatz und beschloss, noch ein wenig zu bleiben.
Eine Frau kam hinzu, einen kleinen Jungen an der Hand. Der Kleine stürmte den Sandkasten, ließ sich auf sein Hinterteil fallen und buddelte eine Grube. Ein älteres Ehepaar mit Einkaufstüten in der Hand überquerte den Platz. An der Jahnstraße joggte eine Frau entlang, aus der Ferne sah sie in ihrem rosafarbenen Trainingsanzug aus wie in Geschenkpapier eingepackt.
»Entschuldigung, darf ich Sie stören?«
Die Mutter des Kindes stand vor Baltasar. Er nickte und lud sie ein, sich neben ihn zu setzen.
»Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern«, fuhr sie fort, »aber Sie haben mir neulich geholfen, als diese Jugendlichen mich angepöbelt haben.«
Er sah die Frau an. Sie war etwa Mitte 30, hatte braunes, kurz geschnittenes Haar und ein schmales Gesicht.
»Das war kein erfreuliches Zusammentreffen mit diesen jungen Menschen«, sagte er.
Baltasar stellte sich der Frau vor und erzählte, warum er nach Zwiesel gekommen war und dass der Mann, der im Stadtpark ermordet worden war, sein Freund und Nachbar gewesen war.
»Schrecklich, diese Tat.« Die Frau schüttelte sich. »So etwas bei uns in Zwiesel, schrecklich, an so was denkt doch niemand. Ich wollte danach zuerst gar nicht mehr in den Park, man stelle sich vor, am helllichten Tag wird bei uns jemand umgebracht. Aber dann habe ich mir gesagt, dass ich dann ja überhaupt nicht mehr aus dem Haus gehen dürfte.«
»Es ist unwahrscheinlich, dass der Täter hier nochmals zuschlägt.«
Kaum hatte Baltasar diese Worte ausgesprochen, war ihm klar, dass er die Frau nur beruhigen wollte. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, ob der Mörder es auf Anton Graf abgesehen hatte oder ob es Zufall gewesen war. Wenn man es aber mit einem Verrückten, einem Psychopathen zu tun hatte, war es doch möglich, dass er sich an demselben Ort ein nächstes Opfer suchen würde.
»Für mich liegt der Spielplatz ideal«, fuhr die Frau fort, »wir wohnen nur ein paar Straßen weiter, und mein Bub liebt den Sandkasten und das Klettergerüst.« Sie winkte dem Kleinen zu, der mittlerweile einen Berg aufgetürmt hatte.
»Sind diese Jugendlichen oft hier?«, fragte Baltasar.
»Nein, Gott sei Dank nicht. Sonst hätte ich uns schon einen anderen Platz gesucht. Ich war jedenfalls sehr froh, dass Sie sich eingemischt haben, mir war schon ziemlich mulmig geworden. Noch mal vielen Dank dafür.«
»Wann sind Sie denen denn sonst schon begegnet?«
»Einmal vorher, aber da war es mehr aus der Distanz. Es war an dem Tag, an dem der Mann, Ihr Nachbar, ermordet wurde.«
Baltasar horchte auf. »Erzählen Sie.«
»Ich war mit meinem Sohn auf dem Weg hierher. Da hörte ich von dort drüben«, sie zeigte auf einen weiter weg liegenden Punkt auf dem Gehweg, »das Gegröle, es waren sechs, sieben Halbwüchsige, glaube ich, und ein Mädchen, ja, genau, an sie kann ich mich erinnern, sie war das einzige weibliche Wesen unter lauter Buben. Sie hatten einen Mann umzingelt.«
»Konnten Sie das Gesicht des Mannes sehen?«
»Nein, er stand mit dem Rücken zu mir. Außerdem waren sie alle ziemlich weit entfernt von mir, und wie Sie sich vielleicht vorstellen können, hatte ich keine Lust, näher heranzugehen. Jedenfalls debattierten sie mit dem Mann über etwas, und dann fingen sie an herumzubrüllen. Plötzlich stieß einer der Jugendlichen den Mann, so dass der rückwärts auf die Bank stürzte. Einer der Jungs versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht.«
»Und dann?«
»Ich war total geschockt, wie Sie sich denken können, und kramte nach meinem Handy, als sie auf einmal von dem Mann abließen und Richtung Stadtplatz verschwanden. Der Mann stand auf und ging in die entgegengesetzte Richtung. Und ich machte mich mit meinem Kleinen schnellstens vom Acker.«
»Warum haben Sie denn die Polizei nicht verständigt?«
»Das wollte ich ja, aber so urplötzlich es begonnen hatte, so schnell war es dann wieder vorbei, und ich dachte mir, dass es wohl doch nicht so schlimm gewesen sein kann. Außerdem habe ich schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Als mir vor einem Jahr mein Fahrrad gestohlen wurde und ich Anzeige erstattete, musste ich mir von denen sogar noch Vorwürfe abholen, warum ich mein Rad nicht ordentlich abgesperrt hätte. Und das Zeugenprotokoll und das ganze Drumherum hat mich einen halben Tag Zeit gekostet, gebracht hat es nichts, bis heute hab ich mein Rad nicht wieder.«
»Aber am selben Tag des Mordes … Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass die Information für die Beamten vielleicht wichtig sein könnte?«
Die Frau schaute ihn verdutzt an. »Aber nein, warum? Das hat doch nichts miteinander zu tun. Wie ich in der Zeitung gelesen habe, ist der Mann viel später umgekommen. Da waren die Jugendlichen ja längst weg.«
»Um wie viel Uhr haben Sie den Vorfall denn beobachtet?«
»Es muss gegen elf am Vormittag gewesen sein. Und in der Zeitung stand, dass die Tatzeit erst ungefähr um zwölf Uhr gewesen sein kann. Sie sehen, das ist viel später.«
»Dennoch, ich bitte Sie, sagen Sie mir Ihre Adresse, damit ich die Kriminalpolizei informieren kann. Vielleicht haben Sie recht, und da ist nichts dran. Doch andernfalls …«
Baltasar holte Papier und einen Stift heraus und notierte sich die Adresse der Frau. Dann schrieb er ihr auch seine Handynummer auf.
»Falls Ihnen noch etwas einfällt. Bei mir als Pfarrer bleibt es streng vertraulich.«
17
Die Polizei hatte den Leichnam Anton Grafs freigegeben. Quirin Eder verfügte die Einäscherung seines Vaters und die Beisetzung der sterblichen Überreste auf dem Friedhof vor Ort.
Baltasar hatte die Einzelheiten der Beerdigung organisiert und den Gottesdienst auf den Mittwoch gelegt. Es war zwar noch unklar, wer für die Kosten aufkommen würde, doch Baltasar war optimistisch, dass die Erben seines Nachbarn dafür geradestehen würden.
Er hatte die Kirche mit Blumen aus Antons Garten geschmückt, Efeu und Buchszweige dazu gesteckt, ein Foto des Verstorbenen stand auf einer Staffelei neben dem Altar.
Als Weihrauch hatte er die Sorte Hourgari gewählt, erste Qualität aus dem Oman, vermischt mit zerriebenem Tulsikraut und einer Prise Kandea. Er hatte die Ministranten angewiesen, das Turibulum kräftig zu schwenken, der würzige Rauch erfüllte den Raum, jeder Atemzug war eine Wohltat. Und wenn man erst einige spezielle Substanzen untermischte, fühlte man sich wie einer der Heiligen Drei Könige. Ja, Weihrauch war ein Gottesgeschenk.
Die Kirche war gesteckt voll, kein Platz war mehr frei, was Baltasar überraschte, da es ja ein normaler Arbeitstag war. Aber vielleicht war eine Beerdigung ein willkommener Anlass, sich dienstfrei zu nehmen. Oder war es die Vorfreude auf den Leichenschmaus, die die Leute jetzt in die Kirche trieb? Doch Baltasar hatte bei Victoria Stowasser nur Kaffee und Kuchen bestellt und sie zugleich um Zahlungsaufschub gebeten, denn in der Gemeindekasse war dafür momentan kein Geld übrig.
Einige der Frauen nahmen die Beerdigung auch als willkommene Gelegenheit, ein besonderes Gewand aus dem Schrank zu holen und sich damit in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Solche Gelegenheiten waren selten, es gab weder Oper noch Theater in der Nähe, somit blieben nur kirchliche Trauungen, Taufen oder eben Begräbnisse.
Selbst Quirin Eder in der ersten Reihe trug der Zeremonie gemäß eine schwarze Jeans mit schwarzem Hemd. Neben ihm saß eine zierliche Frau mit halblangem Haar und hochgeschlossenem Kostüm, die Baltasar noch nie gesehen hatte, vermutlich Quirins Mutter. Er nahm sich vor, sie nach dem Gottesdienst anzusprechen.
Neben Eder saß Bürgermeister Xaver Wohlrab mit seiner Frau Agnes, die einen extravaganten Hut trug, auf den ersten Blick erinnerte er an ein Vogelnest. In der zweiten Reihe hatten es sich Sparkassendirektor Alexander Trumpisch und seine Gattin bequem gemacht. Auf den anderen Bänken saßen die üblichen Gottesdienstbesucher, Rentner, für die ein Begräbnis eine Abwechslung war, Landwirte, die es als willkommene Pause sahen, und natürlich die vielen Neugierigen, die selbst einmal dabei sein wollten, wenn ein Mordopfer beerdigt wurde, das war spannender als ein »Tatort« im Fernsehen.
Baltasar wiederholte seinen inszenierten Aufruf zur Spendenaktion und setzte die Stereoanlage mit dem Glockenläuten in Gang, ein unüberhörbarer Hinweis, doch bitte schön weiter für die Renovierung des Kirchturms zu sorgen.
Der Herr hat uns errettet vor unseren Feinden
und aus der Hand aller, die uns hassen.
Der Gesang hob an, und wie ein riesiger Klangkörper nahm der Raum die Musik auf, mischte das Orgelspiel hinzu und warf alles zurück auf die Kirchenbesucher, etwas Neues war entstanden, erhebend und erhaben.
Die Urne Anton Grafs stand auf einem Schemel mit roter Brokatdecke, darunter lagen Blumen.
Er hat uns geschenkt, dass wir, aus Feindeshand befreit,
ihm furchtlos dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit.
Der Weihrauch beschwingte Baltasar. Fast hätte er zum Takt des Liedes gewippt, doch ein Blick in die Bankreihen hielt ihn davon ab. In der Mitte sah er Kommissar Wolfram Dix und seinen Kollegen Oliver Mirwald. Was wollten die hier? Glaubten sie, der Mörder könnte sich unter den Trauergästen befinden?
Unwillkürlich musterte Baltasar die Gesichter, aber einen Verbrecher konnte er nicht ausmachen. Wie auch? Der Täter würde sich seine Tat wohl kaum auf die Stirn tätowieren.
Das aufstrahlende Licht aus der Höhe,
um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen
und im Schatten des Todes,
und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des
Friedens.
In der hintersten Reihe ganz am Rand erspähte er ein Mädchen, das ihm bekannt vorkam. Sie war im Stadtpark dabei gewesen, das Mädchen, das eingeschritten war, als der Junge ihn, Baltasar, mit dem Schlagring bedroht hatte. Sie war ungeschminkt, soweit er das aus der Distanz erkennen konnte, anders als beim letzten Mal.
Baltasar war so überrascht, dass er den Einsatz zum Gebet verpasste. Für die Besucher war das kaum zu bemerken, denn er verfügte wie alle Priester über Tricks, um den Fehler zu überspielen. Er wählte eine Variante, die ebenso simpel wie wirkungsvoll war: ein Kreuzzeichen, ohne dabei den Arm zu heben, so sah es aus, als wollte er etwas auf dem Altar segnen. Das eigentlich Wichtige war der nächste Schritt, nämlich mit einer eleganten Bewegung das Gebetbuch umzublättern und mit dem Finger die Stelle zu suchen, wo er steckengeblieben war. Er hob die Stimme und betete laut vor.
Das Mädchen schien sich hinter ihrem Vordermann zu verstecken, ihr Gesicht war jetzt in der Menge nicht mehr auszumachen. Er musste nach der Beerdigung unbedingt mit ihr sprechen. Vielleicht konnte sie ihm erklären, was es mit der Auseinandersetzung im Park auf sich hatte, ausgerechnet am Tag des Mordes.
Seine Predigt widmete Baltasar der Person Anton Graf. Er schilderte seinen Nachbarn als liebenswerten Menschen, so wie er ihn persönlich erlebt hatte, als freundlich und hilfsbereit, und er wies wie nebenbei darauf hin, dass Anton großzügig für die zerstörten Glocken gespendet hatte – jeder möge sich daran ein Beispiel nehmen. Er sprach von dem unergründlichen Willen Gottes, diesen Mann zu sich zu rufen, die Gläubigen ratlos zurücklassend. Er wählte Verse aus dem Alten Testament und zitierte Stellen, die von Rache, Gerechtigkeit und Vergebung handelten. Er wies darauf hin, dass die Menschen selbst für Gerechtigkeit sorgen müssten und nicht allein auf die Weisheit des Herrn bauen dürften.
Von der Kanzel aus hatte er einen guten Überblick über seine Gemeinde. Ihm fiel auf, dass die Haare des Metzgers sich lichteten und dass ein Rentner die Augen geschlossen hatte. Sein Kopf war auf die Schulter seiner Nachbarin gesackt, die ihn mit einem Schubs wieder zurück in die Gegenwart brachte. Das Mädchen aus dem Stadtpark sah er nun auch wieder, sie wirkte irgendwie abwesend.
Victoria Stowasser war nicht gekommen. Sie musste wohl den Leichenschmaus vorbereiten, vermutete Baltasar. Insgeheim hatte er gehofft, sie in der Kirche zu sehen, es gab ihm einen Stich, wenn er an sie dachte. Er nahm sich vor, sie so bald wie möglich wieder zu besuchen.
*
Das Grab war von Anton Grafs Haus aus zu sehen. Man hatte ein größeres Loch in die Erde gegraben, das für die Urne vorgesehen war. Darum herum drapiert lagen einige Blumensträuße und ein einziger Kranz, der von Baltasar kam. Alles in allem wirkte es ein wenig armselig, es schien fast so, als ob die Einsamkeit seinen Nachbarn auch nach seinem Tod verfolgte.
Baltasar sprach ein Gebet und segnete die Urne, die Ministranten schwenkten den Weihrauchkessel, und in einer Prozession defilierten die Trauergäste an der Grabstelle vorbei. In den Gesichtern spiegelte sich Neugier oder auch nur geschickt verborgenes Desinteresse, niemand schien wirklich zu trauern, niemand weinte. Die meisten waren wohl in Gedanken bereits im Wirtshaus beim Leichenschmaus.
Die Besucherschlange hatte sich fast aufgelöst, als drei Männer ans Grab herantraten. Baltasar hatte sie vorher nicht bemerkt, beim Gottesdienst waren sie nicht gewesen, sie mussten weiter weg gestanden und gewartet haben. Einer der Männer trug einen Trachtenhut. Er blieb vor der offenen Grube stehen und schlenzte mit dem Schuh etwas Erde in Richtung Urne, eine Geste, die Baltasar wegen ihrer Respektlosigkeit ärgerte. Der Fremde, er mochte Anfang 50 sein, war zur Seite getreten. Sein Begleiter, der eine Sonnenbrille trug, drängte sich nach vorne, spuckte auf die Erde und zischte etwas Unfreundliches, das wie »Hadalump, greisliger« klang. Der Dritte, mit Dreitagebart und halblangem Haar, das nicht recht zu seinem fortgeschrittenen Alter passte, zog etwas Glitzerndes aus seiner Jackentasche und warf es in die Grube. Waren das Glassplitter? Eine Hand behielt er in der Tasche, was seinem Auftritt eine gestelzte Lässigkeit verlieh.
Baltasar wollte die Unbekannten zur Rede stellen, doch sie hatten ihm bereits den Rücken zugekehrt und gingen Richtung Ausgang.
Auch das Mädchen aus Zwiesel konnte Baltasar nirgends mehr sehen, wahrscheinlich war sie direkt nach dem Gottesdienst heimgefahren.
Lediglich die beiden Kriminalbeamten warteten auf ihn.
»Eine berührende Predigt, Hochwürden«, sagte Wolfram Dix. »Und über mangelndes Publikum können Sie sich auch nicht beklagen.«
»War wohl eher die Macht der Gewohnheit, die die Leute in die Kirche trieb«, sagte Mirwald. »So wie man sonntags Fußball schaut oder zum Frühschoppen geht, so besucht man Messen, ohne groß drüber nachzudenken.«
»Das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen haben sich vorher Gedanken gemacht. Und das tun sie weiter. Sie haben ihren Glauben und ihre Wertvorstellungen, deshalb fühlen sie sich in der Kirche gut aufgehoben.«
»Wenn Sie das sagen, Herr Senner. Ich glaube vor allem an mein Gehalt.« Mirwald lachte.
»Ihnen fehlt die Praxis im Glauben«, antwortete Baltasar. »Sie trauen nur Ihrem Verstand, nicht Ihrem Herzen, Herr Doktor Mirwald. Hat denn die Polizei inzwischen neue Erkenntnisse im Mordfall Anton Graf? Sind Sie hier, um jemanden zu verhaften?«
»Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, das wissen Sie doch.« Der Kripobeamte räusperte sich. »Wir sind keine Unmenschen, falls Sie das denken, Herr Senner. Der gewaltsame Tod Ihres Nachbarn berührt uns auch. Deshalb sind wir hier.«
»Und weil wir die Leute im Auge behalten wollen«, ergänzte Dix. »Es ist denkbar, dass der Täter aus dem Umfeld des Opfers stammt. Wir sammeln noch die Fakten. Eine heiße Spur oder einen Verdächtigen haben wir leider noch nicht.«
»Warum hätte jemand aus der Gemeinde meinem Nachbarn etwas antun sollen? Er hatte doch mit niemandem Streit, hielt sich immer zurück, war anderen gegenüber immer höflich.«
»Hochwürden, Sie mögen Ihre Gläubigen zwar kennen«, sagte Dix, »aber in Menschen schlummern oft Dinge, die nur selten an die Oberfläche gelangen.«
*
Baltasar ging zurück in die Kirche, um sich umzuziehen.
In der ersten Reihe saßen zwei Leute, die Köpfe nach vorne geneigt.
»Wollen Sie der Feier nicht beiwohnen?«
Erst als er näher kam, erkannte er die beiden Leute: Quirin Eder und die Frau.
»Das ist meine Mutter, Charlotte Eder.«
Die Frau weinte, ein Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. Die Schminke war von den Tränen verschmiert, sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Baltasar sprach ihr und Quirin sein Beileid aus. »Ich verstehe Ihren Schmerz.«
Charlotte Eder richtete sich auf. »Nichts verstehen Sie, Herr Pfarrer! Gar nichts! Ich weine nicht um Anton.«
Für einen Augenblick verschlug es Baltasar die Sprache. Er setzte sich neben sie auf die Bank und betete im Stillen für den Seelenfrieden der beiden.
»Ich weine unseretwegen«, fuhr die Frau fort. »Dieser Tag … Dieser Tag … hat mir bewusst gemacht, was wir alles verloren haben. Unser Leben … hätte ganz anders verlaufen können … wenn nicht Anton, dieser … dieser …«
»Mutter, lass gut sein.« Quirin nahm sie in die Arme. »Jetzt ist es vorbei. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen.«
»Er ist schuld an unserem Unglück. Er hat unser Leben zerstört, mit seiner Selbstsucht, ist nie zu uns gestanden, wollte keine Familie. Hat er mich je besucht? Wie oft hast du deinen Vater gesehen, Quirin? Dabei hat er früher von Liebe geredet. Es waren eben nur Worte, Lügen. Wie die Männer so sind, sie nehmen sich, was sie wollen …« Ihre Stimme war lauter geworden.
»Mutter, beruhig dich.« Quirin drückte sie an sich. »Es ist ja vorbei. Anton ist jetzt tot, er kann dir nichts mehr antun. Er ist nur noch Erinnerung.«
»Anton. Allein wenn ich den Namen höre, ist es wie ein Stich ins Herz.« Sie befreite sich aus Quirins Umarmung. »Ich kann das nicht zulassen. Es ist ungerecht.«
»Was ist ungerecht?«, fragte Baltasar.
»Das Schicksal ist ungerecht. Anton ist ungerecht, der liebe Gott ist ungerecht. Warum hat er Anton nicht für das bestraft, was er mir angetan hat, nach allem, was …« Sie sah Baltasar direkt in die Augen. »Hochwürden, sagen Sie mir, sorgt der Allmächtige im Himmel noch für Gerechtigkeit?«
»Gott ist gerecht. Und wie die Bibel sagt, wartet am Jüngsten Tag das göttliche Gericht auf jeden von uns.«
Quirin reichte seiner Mutter die Hand und half ihr auf. »Komm, lass uns gehen. Herr Senner, gibt es irgendwo einen Ort, wo sich meine Mutter ein wenig frischmachen kann? Mit dem verschmierten Gesicht kann sie nicht in die Öffentlichkeit.«
Baltasar bot ihnen die Sakristei an. »Ich muss mich auch umziehen. Kommen Sie doch einfach mit mir.«
18
Er wollte sich mit Victoria Stowasser über Anton Graf unterhalten. Die Idee war ihm am Vormittag gekommen. Vielleicht kannte die Wirtin seinen Nachbarn als Gast und wusste etwas über ihn und seine Bekannten. Zugleich war es eine gute Gelegenheit, das Mittagessen ins Gasthaus zu verlegen und Teresas Kartoffelsuppe auf den Abend zu verschieben.
Er bestellte eine Rindsroulade, und zwar in erster Linie wegen der Beilage: Kartoffelbrei.
Victoria brachte ihm auf seinen Wunsch hin eine extragroße Portion. Mit dem Löffel formte er einen Berg aus Brei, nannte ihn im Stillen den »Großen Arber«, baute einen kleinen Damm und Rinnen um den Berg und drückte eine Mulde in die Spitze: der »Arbersee«.
Es war eine Leidenschaft aus seiner Kindheit, Mutters frisch gestampfter Kartoffelbrei lockte zum Bearbeiten, das war besser als Sandburgen bauen. Perfekt wurde alles erst durch die Soße. Er füllte den Arbersee mit der braunen Flüssigkeit, stach einen Gang zur Rinne wie ein Arbeiter im Bergwerk, der einen Schacht anlegte. Die Soße suchte sich ihren Weg, verteilte sich, sickerte in die Masse. Er stach einen Löffel ab, ließ ihn auf die Zunge gleiten … Da war sie wieder, seine Vergangenheit, der Duft der Küche, das Brutzeln von Fleisch und Zwiebeln, der Geschmack des Kindseins.
»Sie müssen die Roulade auch essen, sie wird sonst kalt.« Victoria setzte sich zu ihm. »Wäre schade drum. Soll ich noch Soße bringen?«
»Danke, es ist genug. Schmeckt wunderbar.« Baltasar leckte den Löffel ab. »Sie waren gar nicht bei der Beerdigung. Ich hab Sie vermisst.«
Auf ihrer Stirn hatte sich eine Falte gebildet, eine dünne Linie, die dem Gesicht einen besonderen Reiz gab, wie Baltasar fand.
»Der Tod meines Nachbarn beschäftigt mich immer noch«, sagte er. »Ich muss mir darüber Klarheit verschaffen. Wie haben Sie Anton erlebt? Kam er manchmal hierher?«
»Sie können’s nicht lassen, Herr Senner. Ihre Neugierde bringt Sie noch mal in Schwierigkeiten.« Sie lachte. In ihren Wangen hatten sich Grübchen gebildet. Baltasar musste sich zusammenreißen, nicht ständig hinzuschauen.
»Das hat Anton nicht verdient, einfach so auf einer Parkbank umgebracht zu werden. Zumindest will ich wissen, warum. Und der Mörder muss zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Herrn Graf kannte ich nicht besonders gut«, sagte Victoria. »Ich traf ihn gelegentlich in Geschäften oder auf der Straße, wir grüßten einander, er war immer höflich, aber distanziert. Manchmal kehrte er mittags hier ein.«
»Hat er sich dann mit jemandem getroffen?«
Sie sah ihn nachdenklich an.
»Eigentlich kam er ganz selten, fast zu selten für einen Junggesellen. Ich frage mich, ob er regelmäßig gekocht hat oder eher so ein Tütensuppen- und Wurstbrot-Esser war.«
»Nun, jetzt, wo Sie es so sagen – gegessen habe ich mit ihm auch nie gemeinsam. Einmal habe ich ihn abends zu uns eingeladen, Teresa hatte etwas gekocht. Danach hat er Einladungen von mir immer ausgeschlagen. Ich dachte mir nichts weiter dabei. Ich war immer mal wieder bei ihm auf ein paar Gläschen Wein oder Bier mit Erdnüssen und Salzstangen.«
»Doch, seltene Male war Herr Graf in Begleitung da, wenn ich mich richtig erinnere. Er traf sich mit einem Mann. Wie der aussah, weiß ich allerdings nicht mehr. Aber es kam zu einer lauten Diskussion am Tisch.«
»Um was ging es?«
»Ich habe nicht weiter zugehört. Irgendwas Geschäftliches, glaube ich. Aber das ist schon Monate her.«
»Und sonst?«
»Mehrmals war er mit Bürgermeister Wohlrab zusammen hier, das war vor Kurzem, vielleicht vor zwei Wochen. Sie taten recht geheimnisvoll.«
»Der Bürgermeister? Interessant.«
»Sie wissen doch, Herr Wohlrab pflegt alle möglichen Beziehungen, vorausgesetzt, sie nutzen ihm.«
»Hat sich Anton nie mit Frauen verabredet?«
»Hm.« Victoria lehnte sich zurück und dachte nach. »Warten Sie mal, doch, an einem Abend … da war er zuerst allein da, er hatte nur etwas getrunken, ich weiß nicht mehr, was. Später kam eine Frau dazu, aber sie bestellte nichts. Die beiden sprachen kurz miteinander, dann zahlte er, und sie verließen gemeinsam mein Lokal.«
»Kannten Sie die Frau? War sie von hier?«
»Ich habe sie noch nie zuvor gesehen. Ich schätze, sie war Ende 30, Anfang 40, sie hatte schulterlanges Haar, insgesamt eine gepflegte Erscheinung.«
»Sah es so aus, als ob die beiden …«, Baltasar stockte, »… was … war er … waren sie miteinander liiert?«
»Jetzt wollen Sie’s aber genau wissen, oder? Also den Eindruck hatte ich nicht, da waren keine vertrauten Gesten, auch keine Berührung bei der Begrüßung. Aber das muss noch nichts heißen.«
*
Auf dem Nachhauseweg änderte Baltasar seine Pläne und entschied sich, statt die Sonntagspredigt vorzubereiten, seinen Freund Philipp Vallerot zu besuchen. Er brauchte Unterstützung von einem Spezialisten. Die Gang im Stadtpark von Zwiesel ging ihm nicht aus dem Kopf, auch der unbekannte Mann nicht. Hatte der etwas mit dem Mord zu tun? Die Zweifel ließen ihm keine Ruhe.
Philipp Vallerot war gerade damit beschäftigt, seine Langspielplatten mit einem Pinsel zu reinigen.
»Brauchst du die fürs Museum?« Baltasar klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter. »Oder gehst du damit auf den Flohmarkt?«
»Du mit deinem antiken Auto musst gerade lästern«, antwortete sein Freund. »Diese Vinylscheiben sind Raritäten. Sammlerstücke, verstehst du? Das atmet die Geschichte des Rock’n’Roll. Außerdem klingen die Vinylscheiben irgendwie anders als ihre digitalen Zwillinge, direkter, authentischer. Ich kann meinen Plattenspieler anwerfen und dir Vergleichsaufnahmen vorspielen.«
»Lass nur, ich glaub’s dir auch so. Trotzdem wirken Schallplatten etwas antiquiert.«
»Und was ist mit deinem Katholizismus, mit deinem Großen Außerirdischen? Das ist altmodisch!«
»Im Gegenteil, das ist moderner denn je. Das gibt Halt in dieser Welt, ein Glaube, der seit 2000 Jahren funktioniert, wo findest du das sonst?«
»Deinen Glauben wirst du jetzt auch brauchen, denn 2000 Jahre darfst du wahrscheinlich warten, bis dir deine Kirchenoberen die Renovierung des Glockenturms finanzieren.«
»Mein Vertrauen in die Kirche ist ungebrochen.«
»Und in deinen Bischof?«
»Herr Siebenhaar hat seine Eigenheiten. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf – so wie bei dir. Lass uns dieses Thema beenden, sonst rege ich mich auf.«
Philipp schob die Platten wieder in die Hüllen. »Wie ich dich kenne, hast du was auf dem Herzen. Lass mich raten: Du spielst wieder Detektiv?«
»Ich bräuchte Informationen über ein paar Jugendliche.«
»Warum fragst du nicht die Polizei danach?«
»Ich weiß nicht, ob diese Jugendlichen überhaupt was mit der ganzen Sache zu tun haben. Ich will niemanden zu Unrecht verdächtigen. Es geht um diese Gang aus Zwiesel, wovon ich dir erzählt habe.«
»Mit diesem Schlagring-Typen?«
»Genau. Ich gebe dir die Namen, und du mit deinem Geschick sollst mehr über sie herausfinden.«
»Erkundige dich doch vor Ort bei den Nachbarn oder in der Schule.«
»Fürs Erste wäre mir eine Recherche im Internet lieber. Vermutlich werden die in Facebook oder auf anderen Online-Plattformen zu finden sein.«
»Warum recherchierst du nicht einfach selber?«
»Ich habe nicht den Nerv, mich stundenlang damit zu beschäftigen.«
»Und was springt für mich raus?«
»Materialist!«
»Nein, Realist.«
»Ich bete dafür, dass dir das Fegefeuer erspart bleibt. So hast du zumindest die Chance, doch noch in den Himmel zu kommen.«
»Wenn ich in den Himmel will, buche ich eine Ballonfahrt.«
»Ich gebe nicht auf, irgendwann werde ich dich noch bekehren.«
»Sicher, wenn du es schaffst, dass dein Großer Außerirdischer persönlich vor mir steht und mich einlädt. Dann glaube ich an Gott. Bis dahin …« Philipp räumte die Schallplatten zurück ins Regal. »Bis dahin mache ich lieber Frondienste für dich. Und damit du siehst, dass ich nicht nur auf meinen Vorteil aus bin, mache ich es umsonst. Normalerweise wäre eine Flasche Wein angemessen, aber da du momentan Probleme hast, Geld für deine Glocken aufzutreiben, will ich darauf verzichten. Übrigens, ein Flohmarkt wäre wirklich keine schlechte Idee für dein Finanzproblem.«
»Ich lade dich als Ausgleich zum Abendessen ein. Teresa kocht.«
Philipp erschrak. »Oh, nein danke. Dafür bin ich noch nicht reif. Also, wie heißen deine Teenies, die ich suchen soll?«
Baltasar schrieb ihm die Namen auf.
»Willst du warten?« Sein Freund steckte den Zettel ein. »Dauert aber etwas.«
»Nimm dir die Zeit und reinige erst mal deine Platten.«
»Zumindest Basisinfos wie Adressen kann ich dir gleich geben, das ist wenigstens mal ein Anfang. Falls du ernsthaft daran denkst, diesen jungen Mann mit dem Schlagring aufzusuchen, sag mir Bescheid. Dann werde ich dich begleiten.«
»Du machst dir unnötige Sorgen, Philipp.«
»Einer von uns beiden muss sich ja Sorgen machen, solange dein oberster Dienstherr dir keinen Schutz gewährt.«
19
Beim Aufräumen seines Büros fielen Baltasar die Fotos von der Mordwaffe in die Hände. Er studierte nochmals die Form des Glassplitters und versuchte, im Internet Hinweise zu finden, aber der Ursprung des Materials blieb ein Rätsel. Vielleicht war es einen Versuch wert, sich in einem Glaszentrum zu erkundigen. Ihm fiel das Einkaufsareal für Touristen in Bodenmais ein. Warum sollte er nicht auch einmal Urlauber spielen? Die Sonne schien, es war viel zu schön, um im Haus zu versauern.
*
Er fuhr die B 85 über Regen und Langdorf bis Bodenmais.
Der Ort zerfiel in mehrere Bezirke: das Zentrum mit der Kirche Mariä Himmelfahrt am Marktplatz, der Kurpark mit den Geschäftsstraßen und dann eine Ansammlung von Hotels, Pensionen und Zimmervermietungen. Glas gab es zwar überall in den Geschäften, das Glaszentrum selber jedoch war eine »Erlebniswelt« außerhalb von Bodenmais, ein riesiges Areal, das dazu diente, Besucher stundenlang wie in einem Vergnügungspark zu unterhalten – und natürlich zum Geldausgeben zu animieren.
Baltasar parkte sein Auto. Vor ihm stiegen Touristen aus einem Bus, ausgestattet mit Rucksäcken, Taschen und Digitalkameras in allen möglichen Größen.
Baltasar ging vor bis zu einer Halle, die sich als ein weitläufiges Selbstbedienungsrestaurant entpuppte, ähnlich einer Betriebskantine, nur mit mehr Auswahl. Er überlegte kurz, ob er sich einen Germknödel mit Mohn und Vanillesoße gönnen sollte, dachte an die Kalorien, und ihm verging die Lust daran. Stattdessen wählte er eine Apfelschorle.
Am Nebentisch spielten zwei Kinder U-Boot mit ihren Pommes Frites und der Tomatensoße, ihre Gesichter sahen wie blutverschmiert aus, und Baltasar musste augenblicklich an Grafs Leiche auf der Parkbank denken.
Um hinauszugelangen, musste er durch einen Nippes-Laden – eine Schatzkammer für Kitsch, bis unter die Decke vollgestopft mit sinnigen und sinnlosen Kleinigkeiten aus Glas; Seepferdchen und Delfine in transparentem Blau tummelten sich auf einer Konsole, daneben standen Miniaturausgaben von Schwänen, Enten, Schweinen, Schnecken und Elefanten, eine Farborgie in allen Schattierungen des Regenbogens, angeblich alles handgefertigt, so stand es jedenfalls auf einem Verkaufsschild.
Handgefertigt mochte schon stimmen, aber wohl kaum von Glasbläsern aus dem Bayerischen Wald, sondern vermutlich von Menschen aus Fabriken in Fernost. Genauso wie die Schnapskaraffen, Glücksamulette, Glasperlenketten und Buddhas, die ungefähr so viel Bayerisches ausstrahlten wie der chinesische Staatspräsident. Die Besucher stauten sich vor der Kasse, die Geldbörsen gezückt, Lächeln in den Gesichtern, als hätten sie soeben in einem Preisausschreiben gewonnen.
Draußen atmete Baltasar die würzige Luft ein, Glasskulpturen begrenzten den Weg zu einem noch größeren Flachbau, einem Glaskaufhaus, wie er nach dem Betreten feststellte. Damit verglichen wirkte der vorherige Laden wie ein Kiosk.
Er schlenderte durch die Reihen und ließ sich betören durch das Schimmern und Glitzern, das raffiniert angeordnete Lichtstrahler hervorzauberten.
Eine Abteilung bot Trinkgläser in allen Formen, glatt oder geschliffen, mit Goldrand oder geätzten Bildern. Auf einer Verkaufsinsel wurden derartig viele Bierkrüge präsentiert, als gelte es, die sechs Bierzelte des Karpfhamer Volksfestes auszurüsten.
Dabei legten viele Bayerwälder Wert auf den Gerstensaft einer bestimmten Brauerei – ob obergärig oder untergärig, ob goldgelb oder naturtrüb, ob hopfig oder süßlich. Jede Variante hatte ihre Liebhaber, die ihr Getränk genau so verteidigten wie Fußballfans ihren Verein gegenüber der Konkurrenz. Was mit daran liegen mochte, dass die Zahl der Bierbrauer über die Jahrhunderte drastisch geschrumpft war. Früher hatte jedes Dorf und jedes Kloster seine eigene Sudstätte, heute gab es in der ganzen Region noch etwa eine Handvoll. Dabei war Bier in der Geschichte des Bayerischen Waldes seit jeher ein idealer und kostengünstiger Durstlöscher, neben dem Wasser. Beim Holzfällen oder bei der Ernte auf dem Feld erhielten die Arbeiter einen Krug Leichtbier als Tagesration, was sich positiv auf ihre Gemütslage auswirkte. Heute trank man im Bayerischen Wald aus anderen Gründen, aber dafür mit mehr Vergnügen, und sorgte so dafür, dass Bier unangefochten das alkoholische Getränk Nummer eins blieb.
Baltasar bewunderte die Krüge aus Kristall, schwer wie Ziegel, glattwandig oder mit Schliff, mit Motiven von Jagdszenen, Berglandschaften oder idyllischen Bauernhäusern, selbst der ewige röhrende Hirsch, inzwischen meistens so tot wie das Mammut, feierte hier seine Auferstehung.
In einer Nische lagen grüne Objekte, die seine Aufmerksamkeit weckten. Sie sahen auf den ersten Blick aus wie Abfall, scharfkantige Stücke aus durchscheinenden Glas, es gab Versionen im Format von Felsbrocken, andere waren langgestreckt und gerundet. Baltasar holte die Fotos von der Mordwaffe heraus, und sein Puls schoss hoch. Die Teile glichen der Glasscherbe auf den Fotos, wenn auch in anderer Farbe und gröber in der Machart.
Nacheinander nahm er mehrere Stücke, wog sie in der Hand und überlegte, ob sie sich für ein Verbrechen eignen würden. Einige Ecken waren scharf wie Messerklingen.
Baltasar griff ein schmales Objekt wie einen Faustkeil und vollführte einige Hiebe in der Luft, was ihm die tadelnden Blicke einer Kundin einbrachte, die eine Vase gegen das Licht hielt.
Die Objekte wären in der Tat als Waffe zu gebrauchen, dachte Baltasar, auch wenn es einige Schwierigkeiten bereiten würde, sie mit Kraft in einen Menschen zu stoßen. Aber mit der nötigen Brutalität … Konnte auch eine Frau solch mörderische Hiebe ausführen? Baltasar bezweifelte es.
Er brauchte Rat. Er sprach einen Verkäufer an, der Regale einräumte, und bugsierte ihn zu den Glasbrocken.
»Können Sie mir weiterhelfen? Was sind das für Stücke? Wozu werden die gebraucht?«
Der Angestellte las die Hinweise auf dem Preisschild. »Da steht nix.«
»Genau«, sagte Baltasar, »deshalb hätte ich gern die Information.«
»Warum wollen S’ denn des wissen?« Der Mann zog die Worte wie Kaugummi.
»Mir ist nicht klar, wozu diese Objekte dienen, deshalb frage ich«, wiederholte Baltasar geduldig.
»Wenn Sie’s net wissen, dann brauchen Sie das Trumm eh net. Suchen S’ sich halt was anderes aus. Da finden S’ jede Menge für Ihren Geschmack.«
»Könnte doch ein schönes Geschenk sein, oder nicht?«
»Mal ganz unter uns.« Der Mann sprach plötzlich gedämpft. »Halten Sie so was für schön? Wollen S’ des wirklich herschenken? Damit beeindruckt man niemanden, schon gar keine Frauen. Wir haben viel bessere Sachen, ich könnte Ihnen was zeigen.«
»Mag schon sein, aber diese Objekte haben es mir angetan. Darüber möchte ich mehr erfahren.«
»Na gut.« Der Verkäufer nahm ein Stück in die Hand. »Also, es ist aus Glas.«
»Aha.«
»Ich meine, aus einem besonderen Glas. Das spürt man gleich, das fühlt sich an wie Qualität.«
»Und?«
»Es … Es ist schwer, was zeigt, dass wir es hier mit etwas Außergewöhnlichem zu tun haben, würde ich sagen.«
»So, so.«
»Und es ist grün. Eine schöne Farbe. Passt zu Blattpflanzen und grünen Tischdecken.«
»Und zu grünen Vorhängen«, rutschte es Baltasar heraus, doch der Angestellte schien die Ironie gar nicht zu bemerken. »Sie haben eine Wohnungseinrichtung in der Farbe? Sie lieben Grün? Ja, dann ist dieses Objekt geradezu ideal für Sie. Suchen Sie sich die passende Größe aus, ich lasse es Ihnen dann einpacken.«
»Welche Firma hat die Stücke denn hergestellt?«
»Na, Sie sind mir ein anspruchsvoller Kunde.« Der Mann kratzte sich am Kopf. »Ich glaub, es ist besser, wenn ich meine Chefin rufe. Warten S’ einen Moment.«
Der Moment dauerte eine Viertelstunde. Vielleicht hatte der Verkäufer gehofft, Baltasar würde aufgeben und verschwinden.
Schließlich kam eine große Frau mittleren Alters auf ihn zu.
»Sind Sie der Herr, der Näheres über unsere Angebote wissen will?«
Baltasar nickte und wiederholte seine Fragen.
»Es handelt sich um gegossene Objekte«, sagte die Frau. »Die unregelmäßige Gestalt entsteht beim Herstellungsprozess. Man bearbeitet die heiße Glasmasse mit Spezialwerkzeugen, um sie in die gewünschte Form zu bringen, und lässt sie danach erkalten. Selbstverständlich haben die Rohstoffe eine andere Zusammensetzung als beispielsweise Fensterglas.«
»Wer kauft so etwas?«
»Es wird gerne für die Gartendekoration genommen, etwa als Blickfang für die Terrasse. Manche platzieren es auch in der Wohnung, es hübscht Zimmerbrunnen auf, und durch Beleuchtung ergeben sich am Abend schöne Glanzeffekte. Haben Sie sich schon für ein Modell entschieden?«
Baltasar zeigte der Frau die Aufnahmen von der Tatwaffe, verschwieg aber diese Information.
»Eigentlich suche ich was in der Art.«
Die Frau studierte die Bilder. »Solche Objekte führen wir nicht.«
»Schade. Wo finde ich denn so etwas? Wer stellt das her?«
»Schwer zu sagen anhand der Fotos. Da müsste ich das Original sehen. Aber das …«, sie tippte auf einige Stellen des Splitters, »… sieht mir aus wie Lufteinschlüsse, die absichtlich eingebracht wurden. Die Qualität dieses Gegenstands würde ich als sehr gut bezeichnen, die Form ist zwar abstrakt, es erinnert mich an Eiszapfen, aber auf jeden Fall nachgearbeitet. Eindeutig ein Einzelstück. Ich tippe auf die Herstellung im Bayerischen Wald.«
»Wo würde ich da fündig?«
»Die Machart ist durchaus künstlerisch. Am besten fragen Sie in kleinen Glasfabriken, in privaten Glasbläsereien oder spezialisierten Galerien nach. Oder Sie probieren es in der Glasfachschule Zwiesel. Dort gibt es auf jeden Fall Experten zum Thema. Wenn nicht dort, wo sonst?«