SEIN GRÖSSTES PROBLEM, so dachte er in seinen trübsten Momenten, war, dass er nicht tot war. Wäre er tot gewesen, hätte niemand in England sich darüber aufregen müssen, wie viel sein Schutz kostete und ob er diese andauernde Sonderbehandlung überhaupt verdiene. Er hätte nicht um sein Recht kämpfen müssen, in ein Flugzeug einzusteigen, noch darum, dass höhere Polizeibeamte ihm ein Quäntchen mehr persönliche Freiheit gewährten. Er müsste sich nicht mehr um die Sicherheit seiner Mutter, seiner Schwestern oder seines Kindes sorgen. Er würde nicht mehr mit Politikern reden müssen ( Riesen vorteil). Seine Verbannung aus Indien würde nicht mehr wehtun. Und der Stress wäre definitiv geringer.

Er sollte tot sein, doch offensichtlich hatte er das nicht begriffen. Die Schlagzeile wartete nur darauf, gedruckt zu werden. Die Nachrufe waren geschrieben. In Tragödien und selbst in Tragikomödien war es dem Helden nicht erlaubt, das Szenario umzuschreiben. Doch er bestand hartnäckig darauf, zu leben und – schlimmer noch – zu reden, für seine Sache zu streiten, zu glauben, nicht er habe unrecht getan, sondern ihm sei unrecht getan worden, seine Arbeit zu verteidigen und – ist das zu fassen? – sein Leben zurückzuverlangen, Stückchen für Stückchen, Schritt für Schritt. »Was ist blond, hat dicke Titten und lebt in Tasmanien? Salman Rushdie!«, lautete ein beliebter Witz, und hätte er einem Zeugenschutzprogramm zugestimmt und unter falschem Namen an irgendeinem unbekannten Ort sein trostloses Dasein gefristet, wäre das auch in Ordnung gewesen. Doch Joseph Anton wollte wieder Salman Rushdie werden, und das war schlicht unerhört. Dies durfte keine Erfolgsgeschichte sein, Annehmlichkeiten hatten darin nichts zu suchen. Tot ließe er sich vielleicht noch als Märtyrer der Meinungsfreiheit würdigen. Lebendig war er öde und geradezu nervtötend lästig.

Wenn er allein in seinem Zimmer saß, sich einredete, dies sei lediglich die übliche schriftstellerische Einsamkeit, und zu vergessen versuchte, dass unten bewaffnete Männer saßen und Karten spielten und er sein Haus nicht ohne Erlaubnis verlassen durfte, war es leicht, in Trübsal zu versinken. Doch glücklicherweise schien ihm etwas zu eigen zu sein, das sich sogleich gegen diesen mutlos selbstmitleidigen Tran wehrte. Er bläute sich die wichtigsten Regeln ein, die er für sich selbst aufgestellt hatte: nie der Wirklichkeitsbeschreibung von Sicherheitsleuten, Politikern und Geistlichen zu trauen. Nur dem eigenen Urteilsvermögen und dem eigenen Instinkt zu glauben. Einer Wiedergeburt oder zumindest einer Erneuerung zuzustreben. Als er selbst und in seinem eigenen Leben wiedergeboren zu werden: Das war das Ziel. Und wenn er tatsächlich ein ›Toter auf Urlaub‹ war, nun ja, Tote gingen auch auf die Suche. Die alten Ägypter glaubten, der Tod sei eine Suche, eine Reise zur Wiedergeburt. Auch er würde vom Totenbuch zum ›hellen Buch des Lebens‹ zurückreisen.

Und wie ließe sich das Leben, dessen Macht über den Tod, und seine eigene Entschlossenheit, die gegen ihn verbündeten Kräfte zu besiegen, besser bekräftigen als mit der Zeugung eines neuen Lebens? Plötzlich war er bereit. Er sagte Elizabeth, er sei einverstanden; sie sollten versuchen, ein Kind zu bekommen. Sämtliche Probleme blieben bestehen, die Sicherheitsfragen, die chromosomale Translokation, aber das war ihm egal. Das neugeborene Leben würde seine eigenen Regeln aufstellen und das einfordern, was er oder sie brauchte. Ja! Er wollte ein zweites Kind. Es wäre sowieso nicht fair, Elizabeth davon abzuhalten, Mutter zu werden. Sie waren seit dreieinhalb Jahren zusammen, und sie hatte ihn geliebt und es mit ihm ausgehalten, und das von ganzem Herzen. Doch jetzt war sie nicht mehr die Einzige, die ein Kind wollte. Nachdem er Ja, lass es uns tun , gesagt hatte, strahlte sie ihn immerfort an und konnte den ganzen Abend nicht aufhören, ihn zu umarmen und zu küssen. Zur Feier des Tages tranken sie zum Abendessen eine Flasche Tignanello, als Erinnerung an ihr erstes ›Date‹. Er zog sie immer wieder damit auf, dass sie sich an dem Abend in Liz Calders Wohnung nach dem Abendessen auf ihn gestürzt habe. »Ganz im Gegenteil«, meinte sie, »du hast dich auf mich gestürzt.« Und nun, dreieinhalb merkwürdige Jahre später, saßen sie nach einem guten Abendessen in ihrem eigenen Heim vor einer fast leeren Flasche köstlichen toskanischen Weines. »Ich finde, du könntest dich jetzt auch wieder auf mich stürzen«, sagte er.

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Das Jahr 1994 begann mit einer Schlappe. Das New York Times Syndicate zog das Kolumnen-Angebot zurück. Das französische Büro hatte sich beschwert, Mitarbeiter und Redaktionen würden dadurch gefährdet. Zunächst war unklar, ob die Zeitungseigentümer überhaupt von der Entscheidung wussten und ihr zugestimmt hatten. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass die Sulzbergers im Bilde waren und das Angebot definitiv zurückgezogen war. Die New Yorker Syndikatsvorsitzende Gloria B. Anderson bedauerte das, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Sie sagte Andrew, ursprünglich habe sie das Angebot nur aus kommerziellen Zwecken gemacht, doch dann habe sie angefangen, Rushdie zu lesen, und sei jetzt ein Fan. Das war nett, aber nutzlos. Es sollten über vier Jahre vergehen, ehe Gloria erneut anrief.

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Malachite war der coolste Posten. Von den anderen Mitgliedern des ›A‹-Kommandos wurde es der ›Königsjob‹ genannt, und obwohl die Malachite-Veteranen Bob Major und Stanley Doll bescheiden abwinkten, traf das vollkommen zu. In den Augen der Kollegen machte das Malachite-Team den gefährlichsten und wichtigsten Job. Die anderen schützten ›nur‹ Politiker. Malachite verteidigte eine Überzeugung. Das war den Beamten vollkommen klar. Dem Rest des Landes leider weniger. In London wollten zwei Tory-MPs im Unterhaus eine Fragestunde zu den Kosten der Schutzmaßnahmen durchführen. Ganz offensichtlich waren die meisten konservativen Abgeordneten überzeugt, der Schutz sei rausgeschmissenes Geld und müsse enden. Wie gern hätte er ihnen gesagt, dass er es genauso sah. Er war der Erste, der wieder zu einem normalen Leben zurückkehren wollte. Doch der neue Verantwortliche für die Operation Malachite, Dick Wood, ließ ihn wissen, der iranische Geheimdienst ›setze noch immer alles daran‹, sein Ziel zu treffen. Rafsandschani habe dem Mord schon vor langem zugestimmt, und die Killer müssten sich nicht mehr mit ihm kurzschließen. Dies bleibe ihr oberstes Anliegen. Kurz darauf erklärte die Direktorin des MI5, Stella Rimington, in der jährlich von der BBC ausgestrahlten Dibleby Lecture: »Die gezielten Versuche, den Autor Salman Rushdie ausfindig zu machen und zu töten, gehen allem Anschein nach weiter.«

Wieder einmal fand das Special-Branch-Fest statt. Elizabeth versuchte John Major zu becircen, doch der blieb unbeeindruckt und ›ließ sie stehen‹, um es mit Sameen zu sagen. Sie war darüber erbittert und sagte: »Ich hab das Gefühl, dich im Stich gelassen zu haben«, was natürlich lächerlich war. Major versprach Frances D’Souza, er werde am 14. Februar eine Erklärung abgeben, und so hatte der Abend doch etwas gebracht. Innenminister Michael Howard zeigte sich ebenfalls freundlich. Irgendwann während des Festes machte das Schutzteam mit ihnen eine Besichtigungstour durch die Special-Branch-Abteilung. Sie warfen einen Blick in den ›Reserve room‹, in dem der diensthabende Beamte ihm das ›Buch der Spinner‹ zeigte und er den schmierigen Anruf eines Telefonspinners beantworten durfte. Sie sahen den Archivraum im neunzehnten Stock mit einem herrlichen Blick über London, die Geheimakten, die sich nicht öffnen ließen, und das Buch mit den aktuellen IRA-Codewörtern, die, wenn ein anonymer Anrufer sie benutzte, vor einem tatsächlichen Bombenanschlag warnten. Es war interessant, dass trotz Computerisierung noch immer so viel in kleinen Karteikästen aufbewahrt wurde.

Nach der Party spendierte das Team ihm und Elizabeth noch einen Drink im Exchange, seiner Stammweinbar. Ihm wurde klar, wie nahe sie sich inzwischen standen. Am Ende des Abends warnten sie ihn, ›ein ziemlich übler Schurke‹ sei gerade in der Stadt, sie wollten ganz offen zu ihm sein, die nächsten Tage sei ›ganz besondere Vorsicht‹ geboten. Eine Woche später kam ihm zu Ohren, dass der ›Schurke‹ andere Schurken aus ihrem schurkischen Schlaf geweckt und sie instruiert habe, wie er zu töten sei. Das bedeutete, dass jetzt mehrere Schurken auf ihn angesetzt waren, um zu tun, was Schurken nun einmal taten.

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Der fünfte Jahrestag der Fatwa näherte sich. Er rief Frances an, um sich mit ihr und Carmel zu versöhnen, doch war ihm der Appetit auf weitere Aktionen vergangen. In dem Jahr waren seine Freunde bemüht, ihm einen Teil der Last abzunehmen. Julian Barnes schrieb einen großartigen Beitrag für The New Yorker, eine geistreiche und fundierte Analyse der Geschehnisse von einem Menschen, den er kannte und mochte. Christopher Hitchens schrieb in The London Review of Books und John Diamond in der Boulevardpresse, um gegen deren Rufmordversuche in den Ring zu steigen. Der Bühnenautor Ronald Harwood traf sich mit UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali. »Boo-Boo war sehr sympathisch«, erzählte Ronnie ihm. »Er frage, ob die Briten es mal durch die diplomatische Hintertür über Indien und Japan versucht hätten, denn auf die würden die Iraner hören.« Er wusste es nicht, vermutete aber, die Antwort lautete Nein. »Er meinte, wenn die Briten wollten, dass er es versuche, sollte Douglas Hurd einen formalen Antrag stellen.« Er fragte sich, warum das nicht passiert war.

Unterdessen fiel die europäische Berichterstattung anlässlich des näher rückenden Jahrestages durchweg positiv aus. Außerhalb Großbritanniens galt er als liebenswert, lustig, unerschrocken, begabt und respektabel. Der große William Klein machte Fotos von ihm und erzählte Caroline Michel hinterher, wie sehr er das Shooting genossen habe: »Er ist so nett und lustig.« – »Könnte ich die ganze Welt unter vier Augen treffen«, sagte er zu Caroline, »könnte ich all diesem Hass und dieser Verachtung vielleicht ein Ende setzen. Das wäre doch eine Superlösung: Ein kleines intimes Abendessen für Khamenei, Rafsandschani und mich.« – »Ich werde mich sofort drum kümmern«, antwortete Caroline.

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Das Internationale Schriftstellerparlament in Straßburg hatte ihn zum Vorsitzenden gewählt und ihn gebeten, eine Art Absichtserklärung zu verfassen. »Wir [Schriftsteller] sind Bergleute und Juweliere«, schrieb er, »Wahrheitsliebende und Lügner, Spaßmacher und Befehlshaber, Mischlinge und Bastarde, Eltern und Liebende, Architekten und Abbrucharbeiter. Wir sind Bürger vieler Länder: des von Grenzen umschlossenen, endlichen Landes der wahrnehmbaren Realität und des Alltags, der vereinigten Staaten des Geistes, der himmlischen und höllischen Nationen der Sehnsucht und der freien Republik der Sprache. Zusammen umfassen sie ein größeres Gebiet als irgendein von einer weltlichen Macht regiertes, doch ihre Schutzwälle gegen diese Macht können sehr schwach sein. Deshalb wird der kreative Geist nur allzu oft als Feind behandelt von jenen großen oder kleinen Potentaten, die sich an der Fähigkeit der Kunst stören, Bilder von der Welt zu schaffen, die mit ihren eigenen simpleren und weniger aufrichtigen Sichtweisen im Widerstreit liegen oder sie untergraben. Das Beste dieser Literatur wird überleben, aber wir können nicht abwarten, bis die Zukunft es aus den Ketten der Zensur befreit.«

Eine große Errungenschaft des Schriftstellerparlamentes war die Gründung des International Cities of Refuge Network (ICORN), das in den kommenden fünfzehn Jahren auf sechsunddreißig Städte anwachsen und von Ljubljana über Amsterdam, Barcelona und Las Vegas bis Mexiko-Stadt reichen sollte. Es gab viele Gründe, weshalb Länder verfolgten Schriftstellern kein Asyl boten – man fürchtete, dass, nähme man beispielsweise einen chinesischen Schriftsteller in Not auf, ein Handelsabkommen platzen könnte –, doch auf städtischer Ebene hatten Bürgermeister mit dieser Initiative keine Schwierigkeiten. Es kostete nicht viel, einem bedrohten Autor ein paar Jahre lang eine kleine Wohnung und ein Grundeinkommen zur Verfügung zu stellen. Er war stolz, an der Entwicklung dieser Idee beteiligt gewesen zu sein, und es gab keinen Zweifel, dass seine Unterschrift auf den Briefen des Parlaments einen Unterschied machte. Er war froh, dass sein Name, der eine so seltsame, dunkle Berühmtheit erlangt hatte, für andere, hilfsbedürftige Autoren eintreten konnte.

Am 14. Februar erschien seine ›Erklärung‹ in The Independent. Er hatte befürchtet, dass diese Zeitung, die sich in islamischem Appeasement besonders hervorgetan hatte, dem Beitrag irgendeinen negativen Dreh verpassen könnte, und er behielt recht. Am Valentinstag entdeckte er seinen Text auf Seite drei neben dem Bericht über den Jahrestag, derweil die gesamte Meinungsseite dem unsäglichen Stück von Yasmin Alibhai-Brown überlassen war, die über die vielen guten, positiven Effekte der Fatwa schrieb, dank deren die britischen Muslime zu einer Identität und einer öffentlichen Stimme gefunden hätten. »Wäre dieser schicksalhafte 14. Februar 1989 nicht gewesen«, schrieb sie, »würde die Welt auf das unveräußerliche Recht zutreiben, Jeans zu tragen und McDonald’s-Hamburger zu essen.« Wie gut, dass Khomeini eine neue Debatte über islamische und westliche Werte angestoßen hatte, dachte er, das war es wert, ein paar Schriftsteller zu Hamburgern zu verwursten.

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»Frohen Jahrestag!« Es war zu einem makabren Dauerwitz geworden, dass seine Freunde ihn anriefen, um zu seinem großen Tag zu gratulieren. Elizabeth bastelte ihm eine Valentinskarte, auf der ihr Gesicht sich mit dem Frida Kahlos überlagerte. Hanif Kureishi war auf dem Weg nach Pakistan und erbot sich, einen Brief für die Mutter des Jubilars in Karatschi mitzunehmen. Caroline Lang rief aus Paris an und teilte ihm mit, der unerbittliche Innenminister Charles Pasqua habe sich dazu erweichen lassen, dass Mr Rushdie in Frankreich übernachten dürfe, und das nicht nur in Privatunterkünften, sondern auch in Hotels. (Später wurde Pasqua illegaler Waffengeschäfte mit Angola überführt und bekam ein Jahr auf Bewährung. Der belgische Außenminister Willy Claes wurde wegen Korruption verurteilt.)

Die Kampagne der vergangenen zwei Jahre trug Früchte: Führende Politiker der Welt gaben Erklärungen ab. Diesmal wurde John Major sehr deutlich: Wir alle wollen der iranischen Regierung unmissverständlich zu verstehen geben, dass gute und funktionierende Beziehungen mit dem Rest der internationalen Gemeinschaft erst möglich sind, wenn …, und der Oppositionsführer John Smith sagte: Ich verurteile zutiefst … es ist nicht hinnehmbar, dass … Ich fordere die iranische Regierung auf … Und der norwegische Kultusminister Ase Kleveland sagte: Wir werden unsere Bemühungen verstärken, und wir verlangen, dass die Fatwa widerrufen wird, und Dick Spring in Irland sagte, inakzeptabel und extreme Verletzung, und der kanadische Außenminister André Ouellet sagte: Die Tatsache, dass Rushdie überlebt hat, gibt der Welt Hoffnung auf Freiheit.

Eine halbe Million Exemplare des Auster-DeLillo-Flyers (das Geld dafür war schließlich doch noch zusammengekommen) waren an dem Tag verteilt worden. Pour Rushdie erschien in den Vereinigten Staaten unter dem Titel For Rushdie. Und Frances und Carmel zogen mit Michael Foot, Julian Barnes und anderen zur iranischen Botschaft und überbrachten ein Protestschreiben, hatten aber versäumt, Journalisten davon in Kenntnis zu setzen. Außerdem sagte Carmel dem BBC-Radio, die Fatwa sei auf seine Familie und seine Freunde ausgeweitet worden. Eine ungeschickte und unzutreffende Aussage, welche die ihm am nächsten stehenden Menschen in Gefahr bringen konnte. Eine Minute nachdem die Meldung in den Nachrichten kam, rief Clarissa an, um zu fragen, was los sei. John Diamond war der Nächste, und für den Rest des Tages musste er alles daransetzen, die BBC zu einem Widerruf zu überreden.

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Gillon hatte versucht, den britischen Druck und Vertrieb für die Verse auf die Beine zu stellen, und konnte jetzt einen Erfolg vermelden. Bill Norris, der Chef der Vertriebsgesellschaft Central Books mit der literarischen Abteilung Troika Books, übernahm die Aufgabe freudig und ohne Angst. Weil Central antifaschistische Literatur vertrieb, bekämen sie dauernd Drohungen, sagte Norris. Der Firmensitz stand bereits unter Schutz. Ihnen war am Vertrieb des Buches gelegen, nicht am Skandal. Norris atmete tief durch und sagte Ja. Wir machen das. Wir lassen uns von diesen Mistkerlen nicht unterkriegen.

Dass er so lange nicht mehr im Land der Literatur gelebt hatte, machte ihm schwer zu schaffen. Fast vier Jahre waren vergangen, seit er Harun und das Meer der Geschichten beendet hatte, und mit dem Schreiben ging es nach wie vor nur mühsam voran, er konnte sich nicht konzentrieren und wurde allmählich panisch. Panik konnte gut sein, sie hatte ihn schon bei anderen Gelegenheiten ans Arbeiten gekriegt, doch dies war die längste – ja, der Begriff traf zu – Schreibblockade seines Lebens. Sie machte ihm Angst, und er wusste, dass er sie durchbrechen musste. Im März musste es sich entscheiden. Frances Coady, seine Verlegerin von Random House UK, hatte vorgeschlagen, »vielleicht ein kleiner Erzählungsband, um den Lesern die Zeit nicht lang werden zu lassen«, das könnte ihm wieder auf die Sprünge helfen. Das Wichtigste war, zu schreiben, und er schrieb nicht. Nicht wirklich. Überhaupt nicht.

Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sich das Schreiben anfühlte, und zwang sich, die alten Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen. Das in sich Hineinhorchen, das Warten, das Vertrauen in die Erzählung. Die zögerliche oder zügige Entdeckung, wie der Korpus einer fiktionalen Welt zu zerlegen ist, wo man in ihn eindringt, wie man ihn durchreist und wie man ihn wieder verlässt. Und der Zauber der Konzentration, als fiele man in einen tiefen Brunnen oder in ein Zeitloch. Als fiele man zwischen die geschriebenen Zeilen, auf der Suche nach der allzu seltenen Ekstase. Und die harte Arbeit der Selbstkritik, die gnadenlose Durchleuchtung der Sätze mit dem, was Hemingway seinen Shit Detector nannte. Der Frust, an die Grenzen von Können und Verstand zu stoßen. »Öffne das Universum ein wenig mehr.« Ja, er war Bellows Hund.

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Es gab seltsame Neuigkeiten: Es stellte sich heraus, das er bereits vor zwei Jahren den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur erhalten hatte, doch die österreichische Regierung hatte die Information unterm Deckel gehalten. Jetzt ging ein Aufschrei der Empörung durch die österreichische Presse. Der österreichische Kultusminister Rudolf Scholten räumte ein, blauäugig gewesen zu sein, und bat um ein Telefongespräch mit Dr. Rushdie. Als Dr. Rushdie ihn anrief, zeigte sich der Minister freundlich und reumütig: Es sei ein Fehler gewesen, und schon bald werde man alle nötigen Vorkehrungen treffen. Das Rätsel um den ›geheimen‹ österreichischen Preis sorgte in ganz Europa für Aufmerksamkeit. Lediglich die englischen Zeitungen hielten es nicht für nötig, darüber zu berichten. Einzig der gute alte Independent brachte einen Artikel, in dem er Taslima Nasrins mutige Entscheidung, ›offen‹ zu leben (das hieß, sie konnte ihre schwerbewachte Wohnung den ganzen Tag nicht verlassen und sich nur im Schutz der Dunkelheit und in einem Wagen mit verdunkelten Scheiben hinauswagen), mit dem feigen Bedürfnis des Verfassers von Die satanischen Verse verglich, ›versteckt‹ zu leben (was bedeutete, entgegen polizeilicher Auflagen für seine Freiheit zu kämpfen und trotz allen Tadels am helllichten Tag in die Öffentlichkeit zu gehen).

Im Schattenreich der Phantomkiller ließ der iranische Außenminister Ali Akbar Velayati verlauten, die Fatwa könne nicht widerrufen werden. Tatsächlich sprach Velayati in Wien, und sofort teilte die Polizei dem Hauptziel der Fatwa mit, sein geplanter Wienbesuch zur Entgegennahme des Preises, sei ›zu gefährlich‹. Zu viele Menschen wüssten bereits zu viel darüber. Dick Wood zufolge lautete der offizielle Standpunkt des Auswärtigen Amtes, es wäre unklug von ihm, zu fahren. Doch würden sie die Entscheidung ihm überlassen, obgleich sie ›wüssten‹, dass ›etwas im Busche sei‹. Er sagte, er wolle vor Schatten nicht davonlaufen, und Dick stimmte ihm zu. »So einen Anschlag zu planen braucht Zeit, und die hatten sie nicht.«

In Wien begrüßten ihn Rudolf Scholten und seine Frau Christine, eine Ärztin, wie alte Freunde. Der Chef des Sicherheitsdienstes sagte, im islamischen Kulturzentrum gebe es ›gewisse verdächtige Aktivitäten‹, weshalb seine Freiheit bedauerlicherweise eingeschränkt sei. Da sie nicht durch die Straßen laufen durften, wurde ihnen die Stadt vom Dach des Burgtheaters aus gezeigt, dessen Direktor Claus Peymann, ein stattlicher Bohemien, ihn einlud, bald wiederzukommen und ein Event zu veranstalten. Sie wurden durch den Wienerwald gefahren – lieblich, schwarz und tief wie in Robert Frosts berühmtem ›halluzinatorischen‹ Gedicht –, und da er das Auto nicht verlassen durfte, empfand er den Wald umso mehr als Halluzination. Nach dem Abendessen blieb Elizabeth bei den Scholtens, und er wurde mit dem Hubschrauber zum Hauptquartier der österreichischen Sicherheitspolizei außerhalb Wiens gebracht, wo er die Nacht verbringen musste. Und Meilen gehn, bevor ich schlaf. Ein Mann, der das Wohnhaus der Scholtens beobachtet hatte, wurde nicht in die iranische, sondern in die irakische Botschaft zurückverfolgt. Womöglich gehörte er zur Modschahedin-e Chalgh, die ihr Hauptquartier im Irak hatte. (Den Feinden seines Feindes Khomeini bot Saddam Hussein gern einen sicheren Hafen.) Am nächsten Tag bildete die österreichische Polizei eine Phalanx um ihn und geleitete ihn in den Saal, in dem die feierliche Preisverleihung stattfinden sollte. Am Himmel dröhnten Polizeihubschrauber. Doch alles ging ohne Zwischenfälle über die Bühne. Er bekam seinen Preis und fuhr nach Hause.

In London hatte er eine spätabendliche Unterredung mit dem Chef der amerikanischen Antiterroreinheit, Robert Gelbard, der ›beunruhigende und konkrete‹ Informationen über anhaltende ›Bestrebungen‹ der Iraner gegen ihn hatte: »Ein Zeichen für ihren Frust«, meinte er, »doch da es sich um etwas Neues handelt, sollten Sie darüber im Bilde sein.« Schreib deinen verdammten Roman fertig, Salman, sagte er sich. Womöglich bleibt dir nicht mehr viel Zeit. The Observer brachte eine Geschichte über einen Streit zwischen Rafsandschani und Khamenei über den Fall Rushdie. Rafsandschani wollte die Stiftung des 15. Khordad, Kopfgeld-Saneis Machtbasis, abschaffen und den Einsatz von Todesschwadronen verbieten. Khamenei hatte beide Vorstöße verhindert und die Fatwa bekräftigt. Alles blieb beim Alten.

Die Schriftstellervereinigung in Norwegen kündigte an, sie wolle ihn als Ehrengast zu ihrer Jahreskonferenz in Stavanger einladen. Das Oberhaupt der örtlichen Muslimorganisation ließ sofort verlauten, wenn Rushdie nach Stavanger komme, werde er getötet. »Wenn sich mir die Waffen und die Gelegenheit bieten, lasse ich ihn nicht davonkommen.«

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Er hatte bemerkt, dass kleinere Summen Geld aus seiner Schreibtischschublade fehlten, in der er die Portokasse aufbewahrte – und das in einem Haus mit vier bewaffneten Polizisten! –, und wusste nicht, was er davon halten sollte. Dann rief Clarissa an und sagte, Zafars Konto verzeichne viel zu viel Geld und große Ausgaben. Zafar hatte ihr erzählt, ein Junge aus der Schule (er wollte seinen Namen nicht nennen) habe »etwas von zu Hause verkauft, was er nicht nehmen durfte«, und habe ihn gebeten, das Geld auf seinem Konto zu parken. Das war ganz offensichtlich gelogen. Er hatte Clarissa auch gesagt, er sei »die Soll-und-Habenliste mit Dad durchgegangen«, doch dass stimmte nicht. Noch eine Lüge.

Sie verhängten größere Sanktionen. Das Konto würde geschlossen, das Geld konfisziert und das Taschengeld so lange gestrichen, bis er mit der Wahrheit herausrückte. Eine halbe Stunde später – wer hatte eigentlich behauptet, Wirtschaftssanktionen funktionierten nicht? – packte Zafar aus. Er hatte das Geld aus der Schreibtischschublade seines Vaters geklaut. Das Dingi, das er sich wünschte, hatte mehr gekostet, als er dachte, 250 statt 150 Pfund, und außerdem waren da noch Sachen, die er an Bord brauchte, darauf zu sparen hätte ewig gedauert, und er wollte das Boot ganz dringend. Er wurde ziemlich hart bestraft – kein Fernsehen, kein Konto mehr, er würde monatlich 30 Pfund von seinen 50 Pfund Taschengeld zurückzahlen müssen, und er durfte das Boot (ein Mirror-Dingi, das er bereits gekauft hatte, wie seine Eltern jetzt herausfanden) erst benutzen, wenn er es ehrlich bezahlt hatte. Clarissa und er hofften, all das würde ihm eine Lehre in Ehrlichkeit sein. Er musste auch lernen, dass seine Eltern ihm blind vertraut hatten und er sich dieses Vertrauen zurückerarbeiten musste. Doch an ihrer unbedingten Liebe musste er nicht zweifeln. Zafar war geschockt und schämte sich schrecklich. Er nahm die Strafe klaglos an.

Fünf Tage später bemerkte Elizabeth, dass ihr liebstes Schmuckstück, ein goldenes Bettelarmband aus dem Besitz ihrer Mutter, nicht mehr in seinem aus mehreren Schachteln bestehenden Versteck in ihrem Kleiderschrank war. Sonst fehlte nichts. Er bat sie zu suchen, doch sie schien beschlossen zu haben, dass Zafar es genommen hatte. Sie unternahm eine halbherzige, erfolglose Suche. Zafar schlief in seinem Zimmer, und sie bestand darauf, dass er ihn weckte und dazu befragte. Er bat sie, das Haus erst noch einmal auf den Kopf zu stellen, doch sie meinte, sie habe überall nachgeschaut, es sei nicht da. Also musste er sein Kind aus dem Schlaf reißen und ihn mit dieser Anschuldigung konfrontieren, obwohl alles in ihm sich dagegen auflehnte und ihm sagte, dass sein Junge so etwas nicht tun würde, er wusste noch nicht einmal, wo Elizabeth ihren Schmuck aufbewahrte, es war völlig absurd. Zafar war außer sich und bestritt alles. Und während der Junge in tiefster Nacht hellwach und verzweifelt in seinem Bett lag, fand Elizabeth das Armband, das die ganze Zeit an seinem Platz gewesen war.

Jetzt schämte er sich vor seinem Sohn, und zwischen Elizabeth und ihm blieb ein Schatten, der sich nur langsam auflöste.

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Sie waren bei Ronnie und Natasha Harwood, um deren fünfunddreißigsten Hochzeitstag zu feiern, und Richter Stephen Tumim, der HM Chief Inspector of Prisons, ein lachender, rotgesichtiger Herr, der gerade auf der Abschussliste der IRA gelandet war, redete über Personenschutz und darüber, was es bedeutete, sein Heim nach dreißig Jahren verlassen zu müssen. Seine Frau Winifred erzählte, sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Eine Polizeieskorte habe sie in ihr Haus begleitet, damit sie das Nötigste zusammenpacken konnte, und als sie die gemachten Betten gesehen habe, in denen nie wieder jemand schlafen würde, war ihr, als besichtigte sie einen Leichnam. Sie waren beide am Boden zerstört gewesen, und das Schlimmste war, dass man nicht wusste, wann es endete. »Als hätte man lebenslänglich«, sagte Richter Tumim. »Wenn man nach dem Belieben Ihrer Majestät festgehalten wird, weiß man auch nicht, wie lange man sitzt. Das ist fast genauso.« Stephen und Winifred mussten in den Militärbaracken in der Albany Street unweit des Regent’s Park wohnen, wo er und Elizabeth beinahe auch gelandet wären. Doch für Stephen waren Dinge unternommen worden, die man ihm niemals angeboten hatte. Der Staat hatte den Wert seines Hauses schätzen lassen und es ihm abgekauft, denn, meinte der gute Richter, »Leute, die unter Polizeischutz stehen, finden niemanden, der so blöd ist, ihr Haus zu kaufen«. – »Ich schon«, entgegnete er. « –Ja, meinen Verleger Robert McCrum«, sagte Ronnie Harwood mit einem hämischen Grinsen.

Tumim war ein wundervoller Erzähler. Bei einem Gefängnisbesuch war er dem berüchtigten Serienkiller Dennis Nilson begegnet und »ein bisschen unruhig« geworden, als der um ein Gespräch unter vier Augen bat. »Doch er wollte nur damit angeben, wie belesen er inzwischen war.« Nilsen wurde geschnappt, weil menschliche Fleischreste und Gedärme seine Abwasserrohre verstopften. Er hatte mindestens fünfzehn Männer und Jungen umgebracht und sich an ihren Leichen vergangen. Auf Tumim hatte Nilsen einen ›sehr unheimlichen‹ Eindruck gemacht, was naheliegend schien. Da sie einige Schutzleute gemeinsam gehabt hatten, konnten sie ein wenig über sie tratschen. »Der perfekte Job, um ein heimliches Verhältnis zu haben«, stimmte Tumim zu. »Ich kann dir nicht sagen, wo ich bin oder wann ich wieder zurück sein werde, Schatz, das ist alles sehr geheim, verstehst du. Natürlich haben die alle Affären. Hätten wir wahrscheinlich auch.« Er erzählte Tumim die Geschichte seines bigamistischen Schutzbeamten. »Tja, das sind ziemlich attraktive Kerle«, sagte der Richter verständnisvoll.

Als der Direktor des Maze-Gefängnisses im nordirischen Long Kesh, in dem der IRA-Mann Bobby Sands am Hungerstreik gegen die Haftbedingungen in den ›H-Blocks‹ gestorben war, Tumim mitteilte, dass er nicht mehr auf der IRA-Liste stand, durfte er sich wieder sicher fühlen. Er war von der Liste gestrichen worden. »Im Grunde haben die Leute vom Geheimdienst nicht besonders viel Durchblick«, meinte er. »Doch wenn ich mich damals geweigert hätte, mein Haus zu verlassen, wäre ich womöglich erschossen worden. Ich saß gern am Fenster und schaute zum Fluss hinüber. Das andere Flussufer war mit Büschen bewachsen, perfekt für einen Scharfschützen. Ich wäre ein leichtes Ziel gewesen. Die Jungs von der Schutztruppe sagten mir, jedes Mal, wenn Sie in den Garten gehen, werden Sie sich fragen, ob vielleicht jemand im Gestrüpp lauert. Doch inzwischen ist es okay.«

Ronnie erzählte ihm am nächsten Tag, inzwischen würde der Richter darüber Witze machen, doch damals sei es für ihn und seine Familie schrecklich gewesen. Eine seiner Töchter hatte es nicht ertragen, mit so vielen bewaffneten Männern unter einem Dach zu leben, und hatte angefangen, in jedem Zimmer Schilder aufzuhängen, Anweisungen wie RAUCHEN VERBOTEN und dergleichen. Der Verlust von Privatsphäre und Spontaneität: Damit wurde man am schwersten fertig. Es hatte gutgetan, mit jemandem zu reden, der das Gleiche durchlebt hatte und dessen Geschichte zu einem guten Ende gefunden hatte. Elizabeth und Winifred Tumim klagten einander ihr Leid über die schweren Türen der kugelsicheren Wagen. Es gab nicht viele, mit denen man sich darüber austauschen konnte. »Man lernt, stolz auf die Polizei und sehr viel weniger tolerant gegenüber diesen Mistkerlen zu sein«, sagte der Richter. »Ich hab’s mit der IRA zu tun. Es gibt alle möglichen Arten von Mistkerlen, nicht alle sind Muslime.«

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Mr Anton stellte fest, dass die Polizei ihre Einstellung zu Operation Malachite änderte. Zum einen planten sie eine gelegentliche ›versteckte Überwachung‹ von Zafars und Clarissas Wohnung, und er war froh darüber, denn es hatte ihm stets Sorgen bereitet, dass die Burma Road völlig unbewacht blieb. Dick Wood meinte, womöglich müssten sie einen Teamwechsel vornehmen, wenn er das Haus verließ, und sei es nur, um ins Kino zu gehen, denn er wolle nicht, dass die Gesichter aus der Bishop’s Avenue allzu bekannt würden. Zum anderen zeigte man sich dem ›Kunden‹ gegenüber nachgiebiger. »Ich finde, wir sollten den Iranern nicht die Arbeit abnehmen, indem wir Sie hinter Schloss und Riegel halten«, meinte der Beamte Tony Dunblane im Vertrauen. Kurz darauf pflichtete sein Vorgesetzter Dick Wood ihm bei. »Ich habe den Eindruck, man hat Sie über drei Jahre lang wie ein ungezogenes Kind behandelt«, sagte Dick. Viele der Einschränkungen, auf die Mr Greenup bestanden hatte, hätten sich als unnötig erwiesen. Und das sagen Sie mir jetzt, entgegnete er. Über drei Jahre meines Lebens waren unerfreulicher als nötig, weil Greenup mich nicht leiden konnte. Um jeden Zentimeter Freiraum musste ich kämpfen. »Ich weiß nicht, wie Sie das ausgehalten haben«, sagte Dick. »Von uns hätte das keiner geschafft.«

Auch Helen Hammington war milder geworden und bereit, dem Malachite-Klienten das Leben ein wenig zu erleichtern. Vielleicht hatten all seine Treffen mit bedeutenden Weltpolitikern ihre Einstellung geändert. Oder seine Argumente hatten endlich Früchte getragen. Er fragte nicht nach.

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1982 hatte er in Kerala die alte Synagoge von Kochi besucht, ein kleines, mit blauen chinesischen Kacheln ausgelegtes Juwel (FLIESEN AUS KANTON & KEINE ZWEI SIND IDENTISCH, stand auf einem Schild zu lesen). Die Geschichte der beinahe ausgelöschten Cochin-Juden regte seine Fantasie an, und er sprach den winzigen Hausmeister der Synagoge an, einen ältereren Herrn mit dem hübschen südindischen Namen Jackie Cohen, und bombardierte ihn mit Fragen.

Nach ein paar Minuten wurde der alte Mr Cohen ungeduldig. »Wieso fragen Sie so viel?«, raunzte er. »Na ja, ich bin Schriftsteller und möchte vielleicht etwas über diesen Ort schreiben«, antwortete er. Jackie Cohens knochiger Arm winkte ab. »Das ist nicht nötig«, sagte der Hausmeister leicht von oben herab. »Wir haben bereits ein Faltblatt.«

Über den Besuch in Kerala hatte er Tagebuch geführt, denn irgendeine schriftstellerische Eingebung hatte ihm geraten, ihn festzuhalten. Nun brachte ihn dieses Tagebuch, das er aus der St. Peter’s Street zurückbekommen hatte, zu seiner Arbeit zurück. Tagelang versenkte er sich hinein und ließ die Erinnerungen an den herrlichen Hafen von Kochi, an die Pfefferhallen, in denen das ›schwarze Gold von Malabar‹ gelagert wurde, und an die großen Pankhas in der Kirche, in der Vasco da Gama begraben worden war, wiederauferstehen. Während er im Geiste die Straßen des jüdischen Viertels durchwanderte, wurde der Kochi-Teil von Des Mauren letzter Seufzer in ihm lebendig. Aurora Zogoiby und ihr Sohn Moraes entführten ihn in ihre Welt.

Sein Albtraum war lang und die Rückeroberung der Literatur zäh gewesen. Jeden Tag dachte er an William Nygaard und dessen Schussverletzungen, an den getretenen, niedergestochenen Ettore Capriolo, an Hitoshi Igarashi, der tot neben einem Aufzugschacht in einer Blutlache lag. Nicht nur er, der infame Autor, sondern die ganze Welt der Bücher – die Literatur selbst – war gedemütigt, beschossen, getreten, mit dem Messer attackiert, getötet und gebrandmarkt worden. Doch das wahre Leben der Bücher hatte mit dieser Welt der Gewalt nichts zu tun und ließ ihn den von ihm so geliebten Diskurs neu entdecken. Er trat aus seinem fremden Alltag und versank in der Figur der Aurora, in ihrem Glamour, ihrem bohemehaften Exzess, ihren malerischen Betrachtungen von Sehnsucht und Begehren, und verschlang sie wie ein Verhungernder ein Festmahl.

Er hatte einmal gelesen, Lenin habe Doubles angeheuert, die an seiner Stelle durch die Sowjetunion reisten und Reden hielten, und überlegte, dass es lustig wäre, wenn die Leninisten in Kerala, wo der Kommunismus viele Anhänger hatte, zu demselben Zweck indische Lenins anwerben würden. Der Too-Tall-Lenin, der Too-Short-Lenin, der Too-Fat-Lenin, der Too-Skinny-Lenin, der Too-Lame-Lenin, der Too-Bald-Lenin und der Too-Thless-Lenin zogen in seine Seiten ein und verliehen ihnen Schwung und Leichtigkeit. Vielleicht würde es doch noch ein gutes Buch werden. Des Mauren letzter Seufzer würde sein erster Erwachsenenroman seit Die satanischen Verse sein. Es hing sehr viel davon ab, wie es aufgenommen wurde. Er versuchte solche Gedanken zu verdrängen.

Obwohl sein tägliches Leben jetzt weniger chaotisch war als zu der Zeit, als er Harun und das Meer der Geschichten geschrieben hatte, war es schwer, zu tiefer Konzentration zurückzufinden. Sein Versprechen an Zafar hatte Harun trotz aller Umzüge und Unsicherheiten vorangebracht. Jetzt hatte er ein Heim und ein schönes Arbeitszimmer und war dennoch abgelenkt. Er zwang sich zu seinen alten Gewohnheiten. Morgens gleich nach dem Aufstehen setzte er sich ohne zu duschen oder sich anzuziehen an den Schreibtisch, manchmal sogar ohne sich die Zähne putzen, und zwang sich, dort sitzen zu bleiben, bis er mit seiner Arbeit begonnen hatte. »Die Kunst des Schreibens besteht darin, seinen Hosenboden auf den Stuhl zu drücken«, hatte Hemingway gesagt. Setz dich hin, befahl er sich. Wehe, du stehst auf. Und ganz allmählich kehrte seine alte Stärke zurück. Die Welt verschwand. Die Zeit stand still. Glücklich sank er der verborgenen Tiefe entgegen, in der ungeschriebene Bücher ihrer Entdeckung harrten wie Geliebte, die einen Beweis vollkommener Hingabe einforderten, ehe sie sich zeigten. Er war wieder Schriftsteller.

Wenn er nicht am Roman schrieb, ging er alte Geschichten durch und überlegte sich neue für seinen Erzählungsband Osten, Wes ten – das Komma stand für ihn selbst. Die drei ›Osten‹- und die drei ›Westen‹-Geschichten waren bereits fertig, jetzt galt es, die drei abschließenden Erzählungen kulturellen Crossovers zu entwickeln. ›Chekov und Zulu‹ handelte von Star Trek-besessenen indischen Diplomaten zur Zeit von Indira Gandhis Ermordung, und seine Freundschaft mit Salman Haidar beim indischen Hochkommissariat lieferte ihm nützliche Anregungen. ›Die Harmonie der Sphären‹ war eine fast wahre Geschichte, angelehnt am Selbstmord seines engen Cambridge-Freundes Jamie Webb, der über okkulte Themen schrieb, schizophren wurde und sich schließlich erschoss. Die längste Geschichte, ›Der Courter‹, war noch in Arbeit. Mitte der Sechziger, als seine Eltern von Bombay nach Kensington zogen, nahmen sie seine alte mangalorische ayah Mary Menezes mit, damit sie sich um seine jüngste Schwester kümmerte, die damals erst zwei Jahre alt war. Doch Mary bekam schreckliches Heimweh, ihre Sehnsucht, woanders zu sein, zerbrach ihr das Herz. Sie bekam tatsächlich Herzprobleme und ging schließlich nach Indien zurück. Kaum war sie dort, hörten die Herzprobleme auf und kehrten nie wieder. Sie wurde weit über hundert Jahre alt. Die Vorstellung, dass man an einem gebrochenen Herzen tatsächlich sterben konnte, war es wert, darüber zu schreiben. Er verquickte Marys Geschichte mit der eines osteuropäischen Hausmeisters, dem er bei der Londoner Werbeagentur Ogilvy & Mather begegnet war, ein älterer Herr, der kaum Englisch konnte und an den Nachwirkungen eines Schlaganfalls litt, aber ein derart geschickter Schachspieler war, dass ihm nur wenige Gegner gewachsen waren. In seiner Erzählung verliebten sich der wortlose Schachspieler und die heimwehkranke ayah ineinander.

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Die Polizei hatte sich für ihn und Elizabeth eine kleine Überraschung ausgedacht. Sie durften das legendäre Black Museum von Scotland Yard besuchen, das der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich war. Er fror, als er das Museum betrat, denn die Temperatur wurde sehr niedrig gehalten. Der Kurator John Ross, der sich um die bizarre Sammlung von Mordinstrumenten und anderen Verbrechens-Memorabilien kümmerte, sagte, er wünschte, die britische Polizei dürfte Menschen töten. Vielleicht war ihm die lange Nähe zu diesen Tötungsinstrumenten aufs Gehirn geschlagen. Das Museum besaß zahlreiche versteckte Waffen – als Regenschirm getarnte Feuerwaffen, als Gummiknüppel getarnte Feuerwaffen, Messer, mit denen man schießen konnte. Sämtliche Fantasiewaffen aus Krimis und Spionageromanen lagen hier säuberlich aufgereiht und hatten allesamt jemanden getötet. »Damit schulen wir unseren Nachwuchs«, sagte Mr Ross. »So kapieren sie, dass alles Mögliche eine Pistole sein kann.« Hier lag die Pistole, mit der Ruth Ellis, die letzte durch den Strang gestorbene Frau Englands, ihren Liebhaber David Blakely ermordet hatte. Hier lag die Pistole, mit der der Sikh Udham Singh den ehemaligen Gouverneur des Punjab, Sir Michael O’Dwyer, erschossen hatte, um das einundzwanzig Jahre zuvor verübte Amritsar-Massaker vom 13. April 1919 zu rächen. Hier standen der Herd und die Wanne des Serienmörders Dennis Nilsen, der seine Opfer in seiner Wohnung gekocht und zerlegt hatte. Und hier war Heinrich Himmlers Totenmaske.

Mr Ross erzählte, Dennis Nilsen habe kurz bei der Polizei gedient, war aber nach einem Jahr wieder rausgeschmissen worden, weil er schwul war. »Tja, heute wäre das nicht mehr möglich«, sinnierte Mr Ross. »Heute könnten wir das nicht mehr machen.«

In einem Einmachglas stand ein Paar menschlicher Unterarme. Sie gehörten zu einem britischen Mörder, der auf seiner Flucht nach Deutschland erschossen worden war. Scotland Yard hatte die deutschen Kollegen gebeten, ihnen die Fingerabdrücke der Leiche zukommen zu lassen, um den Toten zu identifizieren und den Fall damit abzuschließen. Stattdessen hatten die Deutschen die Unterarme geschickt. » Sie nehmen die Fingerabdrücke«, sagte Mr Ross mit überzogenem deutschem Akzent. »Da blitzt der gute alte deutsche Humor auf.« Als kleines Schmankerl hatte man ihm, dem potentiellen Mordopfer, eine Führung durch die Welt des Mordens gegeben. Tja, da blitzt der gute alte britische Humor auf, dachte er.

Mit den lebhaften Bildern aus dem Black Museum im Kopf, nahm er am Abend mit John Walsh, Melvyn Bragg, D. J. Enright und Lorna Sage an einer Gedenklesung für Anthony Burgess im Royal Court Theatre teil. Er las den Teil aus Clockwork Orange , in dem Alex und seine Droogs den Verfasser eines Buches namens Die Uhrwerk-Orange überfallen. Er hatte viel über das nachgedacht, was Burgess ›Ultragewalt‹ nannte (einschließlich der Gewalt gegen Schriftsteller), über den Glamour des Terrorismus, der verlorenen, hoffnungslosen jungen Männern das Gefühl von Macht und Einfluss gab. Der russisch inspirierte Slang, den Burgess für sein Buch erfunden hatte, umschrieb diese Art von Gewalt, verherrlichte sie, erstickte jegliche Reaktion darauf und wurde dadurch zu einer brillanten Metapher dafür, was Gewalt cool werden ließ. Die Lektüre von A Clockwork Orange gab Aufschluss über die Feinde von Die satanischen Verse.

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›Der Courter‹ war beendet, die Osten-, Westen-Sammlung komplett. Auch der rund vierzigtausend Wörter lange erste Teil von Des Mauren letzter Seufzer, ›Ein geteiltes Haus‹, war fertig. Die Blockade war überwunden. Er war tief in seinem Traum. Er war nicht länger in Kochi. Vor seinem inneren Auge wurde die Stadt seiner Kindheit lebendig, die einen anderen Namen annehmen musste, genau wie er selbst. Mitternachtskinder war sein Roman über Bombay gewesen. Dieses Buch würde von einem dunkleren, verdorbeneren, gewaltsameren Ort erzählen, gesehen nicht durch Kinderaugen, sondern mit dem vorbelasteten Blick des Erwachsenen. Ein Roman über Mumbai.

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Er hatte in Indien ein Gerichtsverfahren eingeleitet, um ein Stück Familiengrundbesitz zurückzuerhalten, nämlich das Sommerhaus seines Großvaters in Solan in den Hügeln von Shimla, welches von der Regierung des Himachal Pradesh illegal beschlagnahmt worden war. Als die Sache in London bekannt wurde, brachte die Daily Mail einen Leitartikel, in dem es hieß, wenn er gern nach Solon ziehen wolle, kämen bestimmt genug Spenden zusammen, um ihm die Reise zu zahlen, was schließlich viel billiger sei, als für seinen Schutz aufzukommen. Wäre irgendeinem anderen indischen Einwanderer in Großbritannien gesagt worden, er solle dahin zurückgehen, wo er hergekommen sei, hätte man das Rassismus genannt, doch über diesen speziellen Einwanderer durfte man offenbar reden, wie man wollte.

Ende Juni reiste er nach Norwegen, um William Nygaard zu besuchen, der sich ganz allmählich von seinen Verletzungen erholte und ihn in die Arme schloss. Im Juli schrieb er für die Berliner tageszeitung den ersten einer Reihe von offenen Briefen an die bedrohte bangladeschische Autorin Taslima Nasrin. Es folgten Briefe von Mario Vargas Llosa, Milan Kundera, Czesław Miłosz und vielen anderen. Am 7. August bestand die Fatwa seit zweitausend Tagen. Am 9. August traf Taslima Nasrin dank der Hilfe Gabi Gleichmanns vom Schwedischen P.E.N.-Club in Stockholm ein und bekam von der schwedischen Regierung Asyl gewährt. Neun Tage später erhielt sie den Kurt-Tucholsky-Preis. Sie war in Sicherheit; verbannt, ihrer Sprache, ihres Landes und ihrer Kultur beraubt, aber am Leben. »Das Exil«, so hatte er in Die satanischen Verse geschrieben, »ist ein Traum von glorreicher Rückkehr.« Er hatte über das Exil eines Khomeini-ähnlichen Imam geschrieben, doch der Satz erwies sich als Bumerang und beschrieb seinen Verfasser und nun auch Taslima. Er konnte nicht nach Indien und Taslima nicht nach Bangladesch zurückkehren; sie konnten nur träumen.

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In aller Umsicht hatte er eine mehrwöchige Flucht eingefädelt. Elizabeth und Zafar und er fuhren mit dem Nachtzug nach Schottland, wo die tags zuvor losgefahrenen Schutzfahrzeuge bereits warteten. Auf der kleinen Privatinsel Eriska vor Oban gab es ein verträumtes Hotel, und eine Woche lang taten sie Dinge, die man als normaler Urlauber tut – Inselwanderungen, Skeetschießen, Minigolf – und sich wie unbeschreiblicher Luxus anfühlten. Sie fuhren nach Iona, und auf dem Friedhof, auf dem die alten schottischen Könige lagen und Machbeth persönlich beerdigt war, sahen sie ein frisches Grab mit noch feuchter Erde darauf, in dem der Labour-Führer John Smith gerade beigesetzt worden war. Er war Smith einmal begegnet und hatte ihn bewundert. Er blieb vor dem Grab stehen und senkte sein Haupt.

Auf Schottland folgte die richtige Flucht. Elizabeth und Zafar flogen von London nach New York. Er musste abermals den langen Weg nehmen. Er flog nach Oslo, wartete, nahm den Scandinavian-Airlines-Flug nach JFK und kam im strömenden Regen an. Die US-Behörden hatten ihn gebeten, an Bord zu bleiben, und als alle anderen Passagiere das Flugzeug verlassen hatten, stiegen sie zu ihm in die Maschine und gingen die Einreiseformalitäten durch. Er wurde aus dem Flugzeug geleitet und über das Rollfeld zum verabredeten Treffpunkt mit Andrew Wylie gefahren. Dann saß er in Andrews Auto und die Welt der Bewachung blieb zurück und entließ ihn in die Freiheit. Es war keinerlei Schutz beantragt, angeboten oder auferlegt worden. Die Freiheitsstatue hatte ihr Versprechen gehalten.

Freiheit! Freiheit! Er fühlte sich fünfzig Kilo leichter und hätte am liebsten gesungen. Zafar und Elizabeth erwarteten ihn in Andrews Wohnung, und am Abend kamen Paul Auster und Siri Hustvedt, Susan Sontag und David Rieff vorbei und konnten es kaum fassen, ihn ohne Fesseln zu sehen. Mit Elizabeth, Zafar und Andrew Wylie unternahm er einen Hubschrauberrundflug über die Stadt, und die ganze Zeit über schrien Elizabeth und Andrew vor Angst, Andrew leise und Elizabeth laut. Danach mieteten sie bei Hertz ein Auto. Während das blonde Hertz-Mädchen seinen Namen tippte, zeigte sich in seinem rosigen Mondgesicht keinerlei Regung. Und dann hatten sie ein eigenes Lincoln Town Car! Er kam sich vor wie ein Kind, dem man den Schlüssel zum Spielzeugladen gegeben hatte. Sie gingen mit Jay McInerney und Erroll McDonald von Random House essen. Alles fühlte sich wahnsinnig aufregend an. Willie Nelson war da! Und Matthew Modine! Der Oberkellner machte ein besorgtes Gesicht, aber was sollte es. Zafar, inzwischen fünfzehn, zeigte sich von seiner besten Erwachsenenseite. Jay behandelte ihn wie einen Mann und plauderte mit ihm über Mädchen, und Zafar war beglückt. Er ging mit einem Grinsen ins Bett und wachte am nächsten Morgen wieder damit auf.

Sie fuhren zu Michael und Valerie Herr nach Cazenovia. Zwar hatten sie eine genaue Wegbeschreibung bekommen, doch ehe sie losfuhren, rief er Michael sicherheitshalber noch einmal an. »Mir ist nur noch nicht ganz klar, wie man aus New York rauskommt«, sagte er. »Tja, Salman, darüber zerbrechen sich die New Yorker schon seit Jahren den Kopf«, gab Michael schlagfertig zurück.

Jeder Moment war ein Geschenk. Die Fahrt über den Highway fühlte sich an wie eine Reise durchs All, vorbei am Albany-Sternhaufen und dem Schenectady-Nebel zur Syracuse-Konstellation. In Chittenango, das sich in einen Zauberer-von-Oz-Themenpark verwandelt hatte, legten sie eine Pause ein: gelbe Zigelsteinwege, Tante-Emmy-Café – entsetzlich. Sie fuhren weiter nach Cazenovia, und dann stand Michael vor ihnen, blinzelte sie durch seine kleinen, dicken Brillengläser an und grinste sein schiefes, spöttisches Grinsen, und Valerie strahlte. Die Töchter der Herrs waren zu Hause, und es gab einen Corgi namens Pablo, der ihm sofort den Kopf in den Schoß legte und sich nicht mehr wegbewegte. Hinter dem geräumigen Holzhaus lag ein von Wildnis umgebener Weiher. Im Licht des guten alten Mondes machten sie eine Nachtwanderung. Am nächsten Morgen schwamm ein totes Reh im Weiher.

Auf dem Weg zum Finger Lake, wo der Schriftsteller Tobias Wolff eine Hütte besaß, lernte er, ›Skaneateles‹ auszusprechen. Sie aßen Fisch in einer Bar, wanderten bis zum Ende des Piers, benahmen sich normal und waren abnorm glücklich. Abends hielten sie bei einer Buchhandlung, wo man ihn sofort erkannte. Michael wurde leicht nervös, doch niemand kümmerte sich weiter um sie. »Morgen mache ich einen Bogen um die Buchhandlung«, versprach er Michael. Am Sonntag blieben sie mit den Herrs zu Hause, Toby Wolff kam zum Mittagessen, und er und Michael tauschten sich über Vietnam aus.

Die Fahrt zu John Irving nach Vermont dauerte rund drei Stunden. Mittags machten sie bei der Bundesgrenze Rast. Das Restaurant wurde von einem Algerier namens Rouchdy geführt, der sofort ganz aus dem Häuschen war. »Rushdie! Wir haben den gleichen Namen! Ich werde dauernd mit Ihnen verwechselt! Nein, nein, sage ich dann, ich sehe viel besser aus!« (Während eines anderen Amerikaaufenthaltes geriet ein ägyptischer Oberkellner im Harry Cirpiani ähnlich ins Schwärmen. »Rushdie! Ich mag Sie! Dieses Buch, Ihr Buch, ich hab’s gelesen! Rushdie, ich mag Ihr Buch, dieses Buch! Ich komme aus Ägypten! Ägypten! In Ägypten ist dieses Buch verboten! Ihr Buch! Es ist total verboten! Aber jeder hat’s gelesen!«)

John und Janet Irving lebten in einem lang gestreckten Haus in den Hügeln oberhalb der Stadt Dorset. »Als ich mit dem Architekten geredet habe, haben wir ein paar Servietten aneinandergelegt und gesagt, bau es doch so, und er hat’s gemacht«, sagte John. An der Wand hing eine gerahmte Bestsellerliste der New York Times, auf der Die satanischen Verse einen Platz vor Johns Buch lagen. Es gab noch mehr gerahmte Bestsellerlisten, und auf allen stand John an erster Stelle. Zum Abendessen kamen Schriftsteller aus der Nachbarschaft, und es wurde lauthals debattiert und reichlich getrunken. Er erinnerte sich, dass er bei ihrer ersten Begegnung so kühn gewesen war, John zu fragen: »Weshalb all die Bären in Ihren Büchern? Haben Bären in Ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt?« Nein, hatte John geantwortet, mit Bären sei er jetzt eh durch – das war nach Hotel New Hampshire. Er schreibe gerade das Buch für ein Ballett von Baryschnikow, allerdings gebe es da ein Problem. – »Was für eins?« – »Baryschnikow will das Bärenkostüm nicht anziehen.«

Sie besuchten eine State Fair und versagten schmählich, als sie das Gewicht eines Schweins schätzen sollten. Schweine , sagte er. Hinreißend , antwortete Elizabeth. Sie blickten einander an und konnten kaum fassen, dass das alles wirklich passierte. Nach zwei Tagen bestieg er mit Elizabeth und Zafar wieder das Lincoln Town Car und fuhr nach New London, um mit der Fähre nach Orient Point und North Fork auf Long Island überzusetzen. Als die Fähre New London verließ, lief ein riesiges schwarzes Atom-U-Boot wie ein verirrter Wal in den Hafen ein. Abends erreichten sie Andrews Haus in Water Mill. Die einfachsten Dinge ließen sie fast in Verzückung geraten. Er und Zafar tobten in Andrews Pool herum, und selten hatte er seinen halbwüchsigen Sohn so glücklich gesehen. Auf Rollerblades sauste Zafar die laubbedeckten Straßen entlang, und er fuhr mit einem geliehenen Rad hinterher. Sie gingen an den Strand. In einem Restaurant bekamen Zafar und Andrews Tochter Erica ein Autogramm von Chevy Chase. Elizabeth kaufte sich Sommerkleider in Southampton. Dann war der Zauber vorüber, und es war Zeit, zurückzufliegen. Elizabeth und Zafar flogen mit einer der vielen Fluglinien, die für ihn verboten waren. Er flog nach Oslo und stieg um. Das machen wir wieder, und zwar sehr viel länger, schwor er sich. Für ein paar wertvolle Tage hatte Amerika ihm seine Freiheit zurückgegeben. Es gab keine betörendere Droge, und wie jeder Abhängige wollte er sofort mehr.

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Sein neuer Kontaktmann im Auswärtigen Amt war ein Arabist namens Andrew Green, doch als Green ihm ein Treffen vorschlug, lehnten er und Frances ab, da Green nichts Neues zu vermelden hatte. »Ist Salman sehr deprimiert? Ist das eine durchdachte oder eine emotionale Reaktion?«, fragte Green Frances. Nein, Mr Green, er ist nicht deprimiert, er ist es einfach nur leid, verschaukelt zu werden.

Frances hatte an Klaus Kinkel geschrieben, der die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hatte. Kinkels Antwort war eisern. Nein, nein und nochmals nein. Der neue Vorsitzende des Unterausschusses für Menschenrechte war ein Mitglied der konservativen CDU, was ebenfalls eine schlechte Nachricht war. Manchmal konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, die Deutschen machten dem Iran in Europa den Büttel. Sie hatten ihre Besen gezückt, um ihn wieder einmal unter den Teppich zu kehren.

Seine neun Erzählungen kamen gut an. Michael Dibdin von The Independent on Sunday schrieb, dieses Buch bringe ihm größere Sympathien ein als alle Reden und Erklärungen zusammen, und das klang richtig so. Dann blubberte Cat Stevens – Yusuf Islam – mit seinem Geschwätz in The Guardian an die Oberfläche wie ein Furz in der Badewanne und verlangte erneut, Rushdie müsse sein Buch zurücknehmen und ›bereuen‹, und seine Unterstützung für die Fatwa stehe im Einklang mit den zehn Geboten. (Jahre später sollte er behaupten, so etwas nie gesagt zu haben, er habe nie irgendjemandes Tod gefordert und das mit dem ›Gesetz‹ seiner Religion gerechtfertigt, habe sich nie im Fernsehen oder in der Presse zu Wort gemeldet, um seinen unverschämten, blutrünstigen Müll von sich zu geben, wohl wissend, dass er in einem Zeitalter ohne Gedächtnis lebte. Stritt man etwas nur oft genug ab, wurde daraus eine neue Wahrheit, die die alte verdrängte.)

Dick Woods neuer Handlanger Rab Connolly, ein scharfsinniger, hitziger Rothaariger, der in seiner Freizeit einen Studiengang in postkolonialer Literatur absolvierte, rief aufgeregt wegen einer Karikatur in The Guardian an, die ein ›Unternehmensnetzwerk‹ zeige, dessen Linien Mr Anton mit Alan Yentob, Melvyn Bragg, Ian McEwan, Martin Amis, Richard und Ruthie Rogers und dem River Café in Verbindung bringe. »All diese Leute gehen bei Ihnen ein und aus, und das könnte die verdeckte Überwachung gefährden.« Er gab zurück, die Londoner Medien wüssten schon lange, mit wem er befreundet sei, dies sei nichts Neues, und nach einer Weile willigte Connolly ein, dass seine Freunde ihn trotz der Karikatur auch weiterhin besuchen durften. Manchmal hatte er das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken. Wenn er versuchte, den Kopf aus seinem Loch zu strecken und sich sichtbarer zu machen, glaubte die Presse, er sei nicht mehr in Gefahr, und reagierte dementsprechend, was zuweilen (wie im Fall der Guardian-Karikatur) dazu führte, dass die Polizei meinte, ihr Malachite-Klient sei erhöhter Gefahr ausgesetzt, und ihn wieder in sein Loch zurückdrängte. Doch wenigstens diesmal verlor Rab Connolly nicht die Nerven. »Ich werde mich Ihnen nicht in den Weg stellen«, sagte er.

Aus heiterem Himmel bekam er eine Nachricht von Marianne, die Gillon ihm weiterfaxte. »Ohne es zu wollen, habe ich dich heute Abend bei Face to Face gesehen und bin froh darüber. Du warst genau so, wie ich dich einst kannte – liebenswert und aufrecht und ehrlich hast du über die Liebe geredet. Bitte, lass uns begraben, was wir getan haben.« Auf mit Briefkopf versehenem Papier und ohne Unterschrift. Er schrieb zurück, sehr gern würde er das Kriegsbeil begraben, wenn sie ihm nur die Fotos wiedergebe. Es kam keine Antwort.

Weil man mit vier Polizisten unter einem Dach zu leben gezwungen war, kam es zu Hause zu zahlreichen winzigen Spannungen. Als zwei Teenager glotzend vorm Haus standen, zog die Polizei sofort den Schluss, Zafar müsse seinen Schulkameraden etwas erzählt haben. (Das hatte er nicht, und die Teenager gingen nicht auf die Highgate School.) Das Haus wurde mit immer mehr elektronischen Sicherheitsvorkehrungen versehen, die sich untereinander nicht grün waren. War der Alarm eingeschaltet, funktionierten die Polizeifunkgeräte nicht mehr, und wurden die Funkgeräte benutzt, setzten die Alarmsysteme aus. Ein perimetrische ›Außenrand‹-Alarmanlage wurde entlang der Gartengrenzen installiert, die bei jedem vorbeihuschenden Eichhörchen und jedem fallenden Blatt losjaulte. »Manchmal ist es hier wie bei den Keystone Cops«, sagte er zu Elizabeth, die sich ein mühsames Lächeln abrang; die ersehnte Schwangerschaft hatte sich noch immer nicht eingestellt. Die Spannung im Schlafzimmer stieg, und das machte es nicht besser.

Als er und Elizabeth nach der London Review of Books-Party mit Hitch, Carol, Martin und Isabel zu Abend aßen, war Martin in besonders emphatischer Stimmung. »Dostojewski ist beschissen.« – »Beckett ist total beschissen.« Nach zu viel Wein und Whiskey lieferte er sich mit seinem Freund einen erbitterten Streit. Als sie laut wurden und Isabel sich einzuschalten versuchte, drehte er sich zu ihr um und sagte, »Ach, leck mich, Isabel.« Er hatte das nicht gewollt, der Alkohol hatte es rausgelassen. Sofort war Martin wieder nüchtern. »So redest du nicht mit meiner Freundin. Entschuldige dich.« – »Ich kenne sie doppelt so lange wie du, sie ist kein bisschen beleidigt«, sagte er. »Bist du beleidigt, Isabel?« – »Natürlich nicht«, entgegnete sie, doch Martin blieb stur: »Entschuldige dich.«

»Und wenn nicht? Was passiert dann, Martin? Gehen wir dann vor die Tür, oder was? Na schön, ich entschuldige mich. Isabel, entschuldige bitte. Und jetzt musst du etwas für mich tun, Martin.« – »Und was?« – »Ich will, dass du nie mehr auch nur ein einziges Wort mit mir redest.«

Am nächsten Tag fühlte er sich schrecklich, und es ging ihm erst besser, als er mit Martin gesprochen hatte, um den Streit beizulegen und mit ihm übereinzustimmen, dass so etwas nun einmal passiere und der Zuneigung, die sie füreinander empfanden, nichts anhaben könne. Er erzählte Martin, in ihm habe sich ein riesiger ungeschriener Schrei aufgestaut, von dem letzte Nacht am falschen Ort und zur falschen Zeit ein winziger Bruchteil nach außen gedrungen sei.

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Im November fuhr er zur Versammlung des Schriftstellerparlaments nach Straßburg. Zu seinem Schutz hatten die Männer von der RAID das gesamte oberste Stockwerk des Hotel Regent Contades in Beschlag genommen. Sie waren nervös, denn gerade lief das Gerichtsverfahren gegen Shapur Bakhtiars Mörder, und das Thema der Konferenz war die angespannte Situation in Algerien unter den islamistischen Gruppierungen FIS und GIA . Dass er in der Stadt war, setzte dem Ganzen noch eins drauf.

Er traf Jacques Derrida, der ihn an Peter Sellers in The Magic Christian erinnerte, das Haar ständig von einer unsichtbaren Windmaschine zerzaust. Schon bald wurde klar, dass er und Derrida in nichts übereinstimmten. In der Algerien-Sitzung äußerte er seine Meinung, dass sich der Islam, der real existierende Islam, nicht von den in seinem Namen begangenen Verbrechen freisprechen ließ. Derrida war anderer Meinung. Nicht der Islam, sondern die Verfehlungen des Westens würden den ›Zorn des Islam‹ antreiben. Ideologie habe damit nichts zu tun, es sei eine Machtfrage.

Die Unruhe der RAID-Leute wuchs mit jeder Stunde. Sie vermeldeten eine Bombendrohung in der Oper, wo das Schriftstellertreffen stattfand. Ein verdächtiger Kanister sei aufgetaucht, es werde eine kontrollierte Explosion durchgeführt. Es war ein Feuerlöscher. Der Knall ertönte während einer Rede von Günter Wallraff und brachte ihn vorübergehend aus dem Konzept. Er litt an Hepatitis und war unter großer Mühe nach Straßburg gekommen, um ›bei euch zu sein‹.

An dem Abend wurde er auf Arte gebeten, auf Prousts Fragebogen zu antworten. Sein Lieblingswort? »Komödie.« Welches Wort verabscheue er am meisten? »Religion.«

Als er die Air-France-Maschine für den Rückflug bestieg, wurde eine junge Deutsche hysterisch und musste kreidebleich und schluchzend aus dem Flugzeug gebracht werden. Es gab eine Durchsage, um alle zu beruhigen. Die Passagierin habe das Flugzeug verlassen, weil sie sich nicht wohlgefühlt habe. Ein farbloser Engländer stand auf und zeterte. »Oh, aha, keiner von uns fühlt sich wohl. Ich fühle mich auch nicht wohl. Vielleicht sollten wir alle aussteigen.« Er und seine Frau, eine Wasserstoffblonde mit Betonfrisur, neonblauem Chanelkostüm und reichlich Goldschmuck, verließen das Flugzeug wie Herr und Frau Moses an der Spitze des Exodus. Glücklicherweise blieb es dabei, und Air France war bereit, ihn nach Hause zu fliegen.

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In Teheran ließ Ayatollah Jannati verlauten, die Fatwa stecke den Feinden des Islam in der Kehle, könne aber nicht widerrufen werden, »ehe dieser Mann stirbt«.

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Clarissa ging es besser. An Heiligabend bestand sie darauf, dass Zafar bei ihr feierte. Er und Elizabeth gingen zu Graham und Candice und besuchten abends Jill Craigie und Michael Foot, der mit irgendetwas Unaussprechlichem im Krankenhaus gewesen war und sich redlich bemühte, es herunterzuspielen. Irgendwann gestand Jill, er habe einen Darmbruch gehabt. Er hatte sich übergeben, konnte nichts essen, und weil sie schon fürchteten, es wäre Krebs, war die Diagnose eine Riesenerleichterung. »Seine Organe sind alle in Ordnung«, sagte sie, auch wenn eine Operation in seinem Alter natürlich eine große Belastung sei. »Andauernd hat er mir gesagt, was ich machen sollte, wenn er nicht mehr sei, aber ich habe gar nicht hingehört«, sagte Jill trocken. (Damals konnte niemand ahnen, dass sie ihn um elf Jahre überleben würde.)

Michael hatte für sie beide Geschenke, für Elizabeth die zweite Auflage von Hazlitts Lives of the Poets und für ihn eine Erstausgabe der Lectures on the English Comic Writers. Michael und Jill waren so liebevoll und herzlich, dass er dachte: »Wenn ich mir meine Eltern hätte aussuchen dürfen, wären es diese hier gewesen.«

Seine eigene Mutter war wohlauf und in Sicherheit und achtundsiebzig Jahre alt, und er vermisste sie.

Meine geliebte Amma,

wieder geht ein Jahr dem Ende zu, aber wir glücklicherweise nicht. Apropos gehen, wie geht es Deiner Arthritis? Als ich noch in Rugby war, fingen Deine Briefe immer mit der Frage an: »Bist Du dick oder dünn?« Dünn hieß, dass sie Deinem Jungen nicht anständig zu essen gaben. Dick war gut. Nun, ich werde dünner, aber Du solltest froh darüber sein. Unterm Strich ist dünn besser. In meinen Briefen aus der Schule versuchte ich immer zu verbergen, wie unglücklich ich dort war. Sie waren meine erste Fiktion, »24 Runs beim Kricket gemacht«, »Habe viel Spaß«, »Ich bin wohlauf und guter Dinge«. Als Du dahinterkamst, wie sehr ich dort gelitten hatte, warst Du entsetzt, doch da war ich bereits auf dem Weg ins College. Das war vor neununddreißig Jahren. Schlechte Nachrichten haben wir einander stets verheimlicht. Du genauso wie ich. Du pflegtest Sameen Dein Herz auszuschütten und dann zu sagen: »Aber sag Salman nichts davon, es würde ihn nur aufregen.« Wir sind vielleicht ein komisches Paar. Wie dem auch sei, das Haus, in dem wir leben, hat ›Fuß gefasst, um im Polizeijargon zu reden. Es erregt keine Aufmerksamkeit bei den Nachbarn. Es scheint, als hätten wir’s geschafft, und in unserem Kokon ist es manchmal fast friedlich, und ich kann arbeiten. Das Buch nimmt Formen an, und ich kann die Ziellinie sehen. Geht ein Buch gut voran, erscheint selbst in einem so seltsamen Leben alles andere erträglich. Ich habe eine Jahresbilanz gezogen. In der Minusspalte ist zu verzeichnen, dass ich ›spätesAsthma bekommen habe, ein kleines Dankeschön des Universums dafür, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Wenigstens kann ich jetzt nie mehr damit anfangen. Rauch einzuatmen ist ganz unmöglich. Für gewöhnlich ist ›spätesAsthma ziemlich harmlos, aber auch unheilbar. Incurabubble, um es mit meinem alten Werbespruch zu sagen. Wie sagtest Du immer so schön: »Was man nicht heilen kann, muss man ertragen.« Unter ›Plussei genannt: Der neue Anführer der Labour-Partei, Tony Blair, hat in einem Interview mit Julian Barnes ein paar nette Dinge gesagt. »Ich unterstütze ihn absolut hundertprozentig … Mit so einer Sache ist überhaupt nicht zu spaßen.« Absolut hundertprozentig ist gut, was, Amma? Hoffen wir mal, dass der Prozentsatz nicht wieder sinkt, wenn er PM geworden ist. Europäische Muslime scheinen die Nase von der Fatwa ebenso voll zu haben wie ich. Holländische und französische Muslime haben sich dagegen ausgesprochen. Die französischen sind sogar für Meinungs- und Gewissensfreiheit! Aber in Großbritannien haben wir natürlich noch Sacranie und Siddiqui und all die anderen Bradford-Clowns, und deshalb gibt’s viel zu lachen. Und in Kuwait will ein Imam die ›gotteslästerlicheBarbiepuppe verbieten. Hättest Du je gedacht, dass die arme Barbie und ich uns desselben Vergehens schuldig machen würden? Eine ägyptische Zeitschrift hat Auszüge aus Die satanischen Verse zusammen mit anderen verbotenen Texten von Nagib Machfus gedruckt und gefordert, religiösen Wortführern solle das Recht aberkannt werden, zu bestimmen, was in Ägypten gelesen werden darf und was nicht. Übrigens hat sich der ägyptische Großmufti gegen die Fatwa ausgesprochen. Und in seiner Antrittsrede beim Treffen der Organisation der Islamischen Konferenz in Casablanca hat König Hassan von Marokko gesagt, niemand habe das Recht, Menschen zu Ungläubigen zu erklären oder Fatwas oder Dschihads gegen sie auszurufen. Das klingt gut. The fundamental things apply as time goes by. Lass es Dir gutgehen. Komm mich bald besuchen. Ich liebe Dich.

Oh, P. S.: Diese Taslima scheint Gabi G. in Schweden eine Menge Ärger zu machen, macht ihm Vorwürfe (wofür?) und behauptet, sie kann nichts Gutes über ihn sagen. Ich fürchte, die ist ein ziemlich harter Brocken, in ganz Europa hat sie ihre Fürsprecher verprellt. Der arme Gabi hat so viel getan, um sie außer Gefahr zu bringen. Keine gute Tat bleibt ungestraft.

Frohes neues Jahr!

Ich bin wohlauf und guter Dinge.

*

Er hatte seinen Roman fertig. Sieben Jahre waren vergangen, seit sich Salyadin Chamcha von dem Fenster mit Blick über das Arabische Meer abgewandt hatte; fünf Jahre, seit Harun Khalifas Mutter Soraya wieder zu singen begonnen hatte. Das Ende dieser Geschichten war ihm während des Schreibens gekommen, doch der Schluss von Des Mauren letzter Seufzer war ihm fast von Anfang an klar gewesen. Moor Zogoibys eigenes Friedhofsrequiem: Es war hilfreich gewesen, die letzten Töne des Liedes zu kennen, zu wissen, auf welches Ziel sämtliche Pfeile des Buches – der erzählerische, der thematische, der komische, der symbolische – zusteuerten. Außerhalb der Buchseiten war die Frage nach einem befriedigenden Ende kaum zu beantworten. Das menschliche Leben war selten harmonisch, nur sporadisch sinnvoll, seine Unzulänglichkeiten nur die zwingende Folge des Sieges vom Inhalt über die Form, von was und wann über wie und warum. Doch im Laufe der Zeit war die Entschlossenheit in ihm gereift, seine Geschichte auf ein Ende hinauslaufen zu lassen, das niemand für möglich hielt und bei dem er und seine Familie jenseits des Diskurses über Risiko und Sicherheit einer gefahrlosen Zukunft entgegengingen, in der das Wort ›Risiko‹ wieder für kreatives Wagnis stand und ›Sicherheit‹ das Gefühl beschrieb, in Liebe geborgen zu sein.

Jener wie Mandarin klingender Literaturauffassung nach, für die sämtliche Gegenwartsliteratur nur ein postkolonialer, postmoderner, postsäkularer, postintellektueller, postliterarischer Nachklapp war, war er immer ›post-irgendwas‹ gewesen. Jetzt würde er dieser verstaubten Poststelle seine eigene Kategorie hinzufügen, post-Fatwa, und damit nicht nur po-co und po-mo, sondern auch po-fa sein. Seit er Mitternachtskinder geschrieben hatte, um seine indische Identität zurückzugewinnen, hatte er es auf Rückeroberungen abgesehen, und auch früher schon, denn schließlich war er ein Kind der Megalopolis Bombay, die auf dem Meer abgetrotzten Land gebaut worden war. Jetzt würde er abermals verlorenen Boden gutmachen. Sein fertiger Roman würde veröffentlicht werden und ihm seinen Platz in der Welt der Bücher zurückerobern. Und er würde einen amerikanischen Sommer planen und mit den Polizeiobersten um ein wenig mehr Freiheit feilschen und natürlich auch weiterhin über politischen Druck und die Verteidigungskampagne nachdenken; aber er konnte nicht auf eine politische Lösung warten, er musste anfangen, die kleinen Schnipsel Freiheit zu erhaschen, die in greifbarer Nähe waren, und mit immer leichter werdenden Schritten dem Happyend entgegengehen, das er sich selbst zu schreiben entschlossen war.

Andrew war fast zu Tränen gerührt, als er am Telefon über den Mauren sprach. Gillon hatte sich mehr im Griff, war aber dennoch bewegt. Er freute sich über ihre Begeisterung, auch wenn er bereits ahnte, dass der Schluss noch einmal überarbeitet werden musste und die Figur des letztlich schurkischen Vasco Miranda noch nicht ganz rund war. Elizabeth las es, freute sich über die Widmung, Für E. J. W., und hatte viel Lob und ein paar scharfsinnige redaktionelle Anmerkungen. Sie glaubte, die Japanerin mit dem nur aus Vokalen bestehenden Namen Aoi Uë im letzten Teil des Buches habe etwas von ihr, und als Moor Zogoiby sie mit seiner vorherigen, gestörten Geliebten Uma vergleicht – er nannte Aoi »eine bessere Frau, die er weniger liebte« –, seien damit sie selbst und Marianne gemeint. Er musste eine Stunde lang auf sie einreden, um sie zu überzeugen, dass das nicht stimmte, und wenn sie sich in dem Buch wiederfinden wollte, sollte sie sich den von Zärtlichkeit und Liebe getragenen Stil ansehen, denn das habe er von ihr gelernt, das sei ihr wahrer Einfluss auf das Buch.

Er sagte die Wahrheit. Dennoch hatte er das Gefühl, das Buch damit abgewertet zu haben, denn wieder einmal war er gezwungen worden, seine Arbeit und dessen Beweggründe zu erklären. Die Freude über dessen Fertigstellung war getrübt, und er begann zu fürchten, es könnte nur als eine verschlüsselte Version seines Lebens gelesen werden.

Abends traf er sich mit Graham Swift und Caryl Phillips in Julie’s Restaurant in Notting Hill, und Dick Wood, der das Schutzteam ausnahmsweise begleitet hatte und nicht gern lange aufblieb, schickte ihm um Mitternacht eine Nachricht, er müsse jetzt gehen, die Fahrer seien müde. Bei Billy Connollys Geburtstagsparty war das schon einmal passiert, und diesmal kam es zu einer wütenden Auseinandersetzung, in der sich der Malachite-Klient entrüstete, kein anderer ›Kunde‹ würde eine derart bevormundende Nachricht erhalten, erwachsene Menschen säßen zuweilen nun einmal bis nach der Geisterstunde beim Abendessen. Dick änderte seinen Ton und sagte, der eigentliche Grund für die Nachricht sei ein verdächtiges, heimlichtuerisches Telefongespräch eines Kellners gewesen. Caz Phillips ging der Sache nach – das Restaurant war eines seiner Stammlokale – und berichtete, der Kellner habe seine Freundin angerufen, doch hatte sowieso niemand aus dem Schutzteam die Story geglaubt, nicht einmal Dicks Handlanger Rab. »Weiß doch jeder, dass das nichts mit dem Telefonat zu tun hat«, sagte Rab lachend. »Dick war müde, das ist alles.« Rab trug ihm eine ›Sammelentschuldigung im Namen des ganzen Teams‹ an und versprach, so etwas würde nicht wieder vorkommen. Dennoch schwante ihm, dass seine Hoffnungen auf ein zunehmend ›normales‹ soziales Leben soeben zunichte gemacht worden waren. Schließlich war es Dick gewesen, der behauptet hatte, die Polizei sei zu streng mit ihm umgesprungen und habe seine Bewegungsfreiheit unnötig eingeschränkt.

Helen Hammington kam zu ihm und versuchte die Sache wieder einzurenken, und tags darauf kam auch Dick und begrüßte ihn mit den Worten: »Ich erwarte keine Entschuldigung«, was die Sache kein bisschen besser machte. Immerhin war man sich darin einig, dass größere ›Flexibilität‹ nötig sei. Dick machte den ausgeschiedenen Tony Dunblane für die alten Zwänge verantwortlich. »Jetzt, wo er nicht mehr da ist, werden die für Sie zuständigen Leute viel umgänglicher sein.« Doch Mr Anton hatte Dunblane gemocht und ihn stets als sehr entgegenkommend empfunden.

Er bekam zwei Hassbriefe, ein Foto von Ottern mit einer Sprechblase darauf, in der stand YOU SHOULDNT OTTER DONE IT, und eine Grußkarte mit dem Text FRÖHLICHE FATWAH BIS BALD ISLAMISCHER DSCHIHAD. Am selben Tag hielt Peter Temple-Morris von der ›Anti-Rushdie‹-Torygruppe bei einem Seminar der School of Oriental and African Studies eine Rede und sagte in der Gegenwart des iranischen chargé d’affaires Gholamreza Ansari und mit dessen Zustimmung, Mr Rushdie sei an der ganzen Sache schuld und solle endlich den Mund halten, denn ›Schweigen ist Gold‹. Das war ein Wortspiel: Im Iran wurde der Verfasser von Die satanischen Verse manchmal als ›goldener Mann‹ bezeichnet, was ein Farsi-Ausdruck für einen verschlagenen Menschen war. Ebenfalls am selben Tag rief Frances an und sagte, 1994 habe Artikel 19 insgesamt 60 000 Pfund für die Verteidigungskampagne ausgegeben, aber nur 30 000 Pfund an Spenden erhalten, zukünftig müssten sie ihre Bemühungen auf die Hälfte reduzieren.

Bei der jährlichen ›A‹-Kommando-Feier stellte er gerührt fest, dass das Malachite-Team echten Besitzerstolz für seinen neuen Roman empfand und beschlossen hatte, dafür ›müsse‹ er den Booker kriegen. »Okay«, sagte er seinen Jungs, »wir werden uns mit der Jury in Verbindung setzen und sie wissen lassen, dass sich einige schwerbewaffnete Männer lebhaft für das Ergebnis interessieren.« Danach wurde ihm und Elizabeth erlaubt, im Ivi zu Abend zu essen. (Die Eskorte saß an einem Tisch bei der Tür und gaffte wie alle anderen in die Runde.) Er sagte ihr, wie ergriffen er sei, weil sich die Fertigstellung von Des Mauren letzter Seufzer mehr noch als Harun und das Meer der Geschichten wie ein Sieg über die Mächte der Finsternis anfühlte. Selbst wenn sie ihn jetzt töteten, könnten sie ihn nicht besiegen. Man hatte ihn nicht zum Schweigen gebracht. Er hatte sich nicht unterkriegen lassen.

Draußen standen Paparazzi, die genau wussten, wer Elizabeth war, doch als er das Restaurant verließ und sagte, »Sie können mich fotografieren, aber nicht sie«, kamen alle seiner Bitte nach.

*

Clarissa ging es wieder gut. Zum ersten Mal war von vollständiger Remission die Rede. Schon lange hatte er auf Zafars Gesicht kein so breites Lächeln mehr gesehen. Auch bewarb sie sich auf seine Ermutigung hin um einen neuen Job als Literature Officer beim Arts Council. Er rief Michael Holroyd an, der im Bewerbungsgremium saß, und lobte sie in den höchsten Tönen. Das einzige Problem könnte ihr Alter sein, meinte Michael; das Arts Council wollte womöglich jemand Jüngeren. Sie ist erst sechsundvierzig, Michael, sagte er, und sie ist wie für die Stelle gemacht. Sie ging zu ihrem Bewerbungsgespräch und präsentierte sich in Bestform. Wenige Tage später hatte sie den Job.

Des Mauren letzter Seufzer gewann jeden Tag neue Freunde. Sein französischer Verleger Ivan Nabokov schrieb ihm einen begeisterten Brief aus Paris. Der üblich wortkarge Sonny Mehta hatte das Buch noch nicht gelesen. »Ja«, ließ dessen Assistent Andrew wissen, »es bereitet ihm Sorgen.« Das Albtraumszenario war, dass Sonny ob der Schilderung einer politischen Partei namens ›Mumbai’s Axis‹, eines satirischen Porträts der brutalen Shiv Sena, in Panik verfallen könnte und Random House deshalb wie damals bei Harun den Vertrag kündigen würde. Doch nach langen, bangen Tagen, an denen es nach der Nachricht ›Sonny bittet um einen Anruf‹ immer wieder hieß, der große Mann sei nicht erreichbar, sprachen sie sich endlich, und Sonny sagte, das Buch gefalle ihm. Diesmal würden keine Vertragsfetzen fliegen. Wieder ein kleiner Schritt nach vorn.

Ein größerer Schritt folgte. Nach langen Diskussionen zwischen ihm und Scotland Yard teilte Rab Connolly ihm mit, sobald Des Mauren letzter Seufzer erschienen sei, sei es ihm erlaubt, öffentliche Lesungen und Signierstunden abzuhalten, die sechs Tage vorher angekündigt werden dürften, ausgenommen Freitag, damit die muslimische Opposition das Freitagsgebet nicht dazu nutzen konnte, sich zu organisieren. »Ankündigung Samstag, Veranstaltung am Donnerstag drauf«, sagte Rab. »So lautet die Vereinbarung.« Das war ein Durchbruch. Sein Verleger Frances Coady und die Pressefrau Caroline Michel waren begeistert.

Der Rückschritt, der dann kam, traf ihn vollkommen unerwartet. Clarissa ging es jeden Tag besser, ihr Job machte ihr Spaß, Zafars schulische Leistungen steigerten sich mit dem gesundheitlichen Fortschritt seiner Mutter, und seine eigene Zuversicht wurde Woche für Woche größer. Mitte März rief Clarissa ihn plötzlich an, um zu sagen, sie sei zu dem Schluss gekommen und darin auch bestärkt worden, dass sie mehr Geld brauche. (Da er bei ihrer Scheidung nicht über die Mittel für eine klare Unterhaltsregelung verfügte, hatte er ihr über zehn Jahre eine Mischung aus Alimenten und Kindergeld gezahlt.) Sie meinte, ihre Anwälte hätten ihr gesagt, ihr stünden riesige Summen zu – womit sie zum ersten Mal zugab, dass Anwälte im Spiel waren –, doch mit 150 000 Pfund würde sie sich zufriedengeben. »Na schön«, sagte er. »Du hast gewonnen. 150 000 Pfund. Okay.« Ein Haufen Geld, doch das war nicht der Punkt. Wie die Liebe kam auch die Feindschaft ganz unerwartet. Nach all den Jahren und nachdem er an ihrer Krankheit so viel Anteil genommen hatte und sich bei A. P. Watt und dem Arts Council heimlich für sie ins Zeug gelegt hatte (der Fairness halber musste gesagt werden, dass sie davon nichts wusste), hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihm mit so etwas kommen würde. Die plötzliche Spannung zwischen den Eltern ließ sich vor Zafar nicht verbergen. Der Junge war alarmiert und bestand darauf, zu wissen, was los war. Er war fast sechzehn, und ihm entging nichts, was seine Eltern taten. Es war unmöglich, ihm nicht die Wahrheit zu sagen.

*

Der iranische Vizeaußenminister Mahmud Va’ezi widersprach sich selbst: Nachdem er in Dänemark verkündet hatte, der Iran würde keine Mörder zur Vollstreckung des Todesurteils entsenden, unterstrich er am nächsten Tag in Paris die ›Notwendigkeit der Ausführung dieses Befehls‹. Die 1992 lancierte Politik des ›kritischen Dialogs‹ zwischen der EU und dem Iran mit dem Ziel, die iranische Bilanz in puncto Menschenrechte, Unterstützung des Terrorismus und Fatwa zu verbessern, erwies sich als vollkommen gescheitert. Sie war zu nachgiebig und den Iranern sowieso völlig gleichgültig, also gab es keinen Dialog.

Nach Va’ezis Äußerungen in Paris kam von der britischen Regierung: nichts. Andere Länder protestierten, doch Großbritannien tat keinen Mucks. Nachdem er sich ein paar Tage lang über Va’ezis gespaltene Zunge geärgert hatte, kam ihm eine Idee. Er sagte Frances D’Souza, wenn sie Va’ezis dänische Aussage als eine Art ›Waffenstillstandserklärung‹ nähmen, ließen sich die Franzosen vielleicht dazu bewegen, den Iran zu einem Widerruf der in Paris gemachten Äußerungen ihres Ministers und zu der öffentlichen Zusage drängen, dass die Fatwa nicht umgesetzt werde, was natürlich von der EU über einen vereinbarten Zeitraum hinweg überwacht werden müsse, ehe man volle diplomatische Beziehungen aufnehmen könne. Die Idee einer ›französischen Initiative‹ gefiel Frances. Das letzte Treffen mit Douglas Hogg, der ihr mitgeteilt hatte, man könne nichts anderes tun, als mit dem Personenschutz fortzufahren, hatte ihr schlechte Laune gemacht. Khamenei sei am Ruder, und damit gehe der iranische Terrorismus weiter. Hogg meinte, vor achtzehn Monaten hätten die Iraner ihn wissen lassen, sie würden die Fatwa nicht in Großbritannien ausführen, doch habe er es nicht für nötig befunden, das weiterzuleiten, denn schließlich hieße das ›gar nichts‹. Die Politik der Regierung Ihrer Majestät bestand also wie immer in Untätigkeit. Frances war einverstanden, die französischen Verbündeten mit ins Boot zu holen. Sie setzte sich mit Jack Lang und Bernard-Henri Lévy in Verbindung und fing an, Pläne zu schmieden. Er selbst rief Jacques Derrida an, der wollte, dass er sich mit französischen Abgeordneten fotografieren ließ, und ihn warnte: »Jedes Ihrer Treffen wird als politisches Signal gewertet, Sie sollten sich vor bestimmten Leuten in Acht nehmen«. Zweifellos spielte Derrida auf den in Frankreich umstrittenen BHL an. Doch Bernard hatte ihm eisern zur Seite gestanden, einen so treuen Freund würde er nicht zurückweisen.

Am 19. März 1995 nahm er den Eurostar nach Paris, wo die RAID sich ihn sofort einverleibte und zu einem Treffen mit einer Gruppe mutiger französischer Muslime brachte, die eine Solidaritätserklärung für ihn unterzeichnet hatten. Am nächsten Tag traf er sämtliche führenden französischen Politiker sauf Mitterrand : Den Präsidenten in spe Jacques Chirac, groß, schlaksig, selbstgewiss, mit toten Killeraugen; den Premier Édouard Balladur, ein Mann mit einem spitzen Mündchen, über dessen steifes Auftreten die Franzosen sagten, il a avalé son parapluie, er hat seinen Regenschirm verschluckt; den Außenminister Alain Juppé, einen pfiffigen kleinen Glatzkopf, der später auf der Liste korrupter Politiker landen sollte (Veruntreuung öffentlicher Gelder); den Sozialisten Lionel Jospin, der aussah wie Calvinos cavaliere nonesistente, ein hohles Nichts in einem schlackerigen Anzug. Frances und er legten ihren ›Waffenstillstandsplan‹ dar, und alle stimmten zu. Juppé versprach, die Idee auf die Agenda des EU-Außenministertreffens zu setzen, Balladur gab eine Pressekonferenz, in der er ›ihre‹ Initiative verkündete, Chirac sagte, er habe mit Douglas Hurd gesprochen und Hurd sei ›dafür‹. Er selbst gab eine Pressekonferenz in der Nationalversammlung und fuhr in dem Glauben nach Hause, dass womöglich gerade etwas in Bewegung gekommen war. Douglas Hogg ließ ihn wissen, er wolle ihn in den nächsten Tagen treffen. »Bestimmt will er mir sagen, dass, wenn sich die Regierung Ihrer Majestät der ›französischen Initiative‹ anschließt, die Tory-Hinterbänkler enormen Druck machen werden, um den Personenschutz im Erfolgsfall zu beenden«, schrieb er in sein Tagebuch. »Ich muss mir also absolut klar darüber sein, was ich will, und die Regierung zur Begrifflichkeit von ›Waffenstillstand‹ und ›Kontrolle‹ bewegen, die wir auch den Franzosen verkauft haben. Und er muss versprechen, das BA-Verbot aufzuheben.« Rab Connolly sagte: »Hogg wird dir sagen, die Bedrohung bleibt nach wie vor sehr hoch, und deshalb ist die französische Initiative sinnlos.« Nun, dachte er, wir werden sehen.

Die vom Auswärtigen Amt gepflegte Mischung aus Passivität und Feindseligkeit noch lebhaft im Gedächtnis und fest entschlossen, sich nicht weichklopfen zu lassen, ging er zum Treffen mit Hogg. Er und seine Arbeit waren von zwei Außenministern angegriffen worden, von Howe und von Hurd; dann kamen die Jahre, in denen kein Diplomat oder Politiker ihn treffen wollte, gefolgt von der ebenso unbefriedigenden Zeit der geheimen, ›anfechtbaren‹ Treffen mit Slater und Gore-Booth. Er hatte Druck durch andere Regierungen aufbauen müssen, um die Briten zu ›wecken‹, und dennoch war ihre Unterstützung halbherzig geblieben. John Major hatte keine Fotos von ihrem Treffen zugelassen, und obwohl er eine ›massive Kampagne‹ in Aussicht gestellt hatte, war nichts dergleichen erfolgt. Hogg selbst hatte klargemacht, dass die britische Politik allein darin bestehen könne, auf einen unwahrscheinlichen ›Regimewechsel‹ im Iran zu warten. Wer erzählte den britischen Medien eigentlich, dass es den Bürgern ›hohe Kosten‹ verursachte, wenn er ins Ausland reiste, obwohl es nicht die geringsten Kosten gab? Wieso wurden diese ständigen Falschheiten niemals richtiggestellt und dementiert? Das wollte er fragen.

Douglas Hogg hörte ihm teilnahmsvoll zu. Er war bereit, sich der ›französischen Initiative‹ oder dem ›Waffenstillstandsplan‹ anzuschließen, sagte jedoch: »Sie sollten wissen, dass für Ihre Sicherheit noch immer eine sehr konkrete Gefahr besteht. Wir glauben, die Iraner versuchen noch immer, Sie ausfindig zu machen. Und wenn wir diesen Weg einschlagen, werden die Franzosen und die Deutschen tunlichst zusehen, ihre Beziehungen zum Iran zu verbessern, und die Regierung Ihrer Majestät wird es ebenso halten. Der politische Druck wird aufhören. Außerdem werde ich Ihnen einen hochoffiziellen Brief schreiben müssen, damit ich hinterher sagen kann, ich hätte Sie gewarnt.«

Hinterher. Also nachdem er ermordet worden war.

»Wir versuchen uns weiterhin in der Sprache der Demarche «, sagte er. »Es sollte Ihre Verbündeten mit einbeziehen, also all jene, die durch die Fatwa bedroht sind, Übersetzer, Verleger, Buchhändler und so weiter. Und wir wollen, dass Balladur das direkt an Rafsandschani schickt und wenn möglich Rafsandschanis eigenhändige Unterschrift bekommt, denn je hochrangiger die Unterschrift, desto größer die Chance, dass die ihre Hunde tatsächlich zurückpfeifen.«

An dem Abend schrieb er in sein Tagebuch: »Bin ich dabei, Selbstmord zu begehen?«

Sein Kontaktmann in der amerikanischen Botschaft, Larry Robinson, rief Carmel Bedford an, um zu erfahren, was los war. Er war beunruhigt. »Sie können den Iranern nicht trauen«, sagte er. »Das würde unsere ganze Strategie zunichte machen.« Carmel nahm kein Blatt vor den Mund. »Was haben Sie denn für uns getan? Gibt es überhaupt eine Strategie? Und wenn ja, sagen Sie uns, worin sie besteht, machen Sie uns ein Angebot. Wenn wir einen Deal über die EU hinkriegen, dann werden wir ihn annehmen, nachdem sechseinhalb Jahre niemand einen Finger gerührt hat, um uns zu helfen.« – »Ich melde mich wieder bei Ihnen«, sagte Larry Robinson.

Am 10. April, dem entscheidenden Tag der EU-Außenministerkonferenz, rief Hoggs Assistent Andy Ashcroft an und sagte, Hurd und Major seien jetzt beide ›dabei‹ und die französische Initiative entspreche dem Kurs der britischen Regierung. Mr Anton wies noch einmal darauf hin, wie wichtig es sei, die Iraner über einen gewissen Zeitraum hinweg zu kontrollieren, um sicherzugehen, dass sie sich an ihre Zusagen hielten, und Ashcroft sagte: »Genau so werden wir vorgehen.« Als er aufgelegt hatte, rief er den Herausgeber der Times, Peter Stothard, und den Herausgeber des Guardian, Alan Rusbridger, an und sagte ihnen, sie sollten sich auf Entwicklungen gefasst machen. Er rief Larry Robinson an und sagte: »Es handelt sich weder um eine Alternative zur Aufhebung der Fatwa, noch soll damit eine ›Fatwa-freie Zone‹ geschaffen werden, die Europa und die USA einschließt; die Vereinbarung kennt keine Grenzen.« Robinsons Vorbehalte lagen nahe. »Der Iran könnte uns vom Haken gehen.« Doch er habe noch nichts aus Washington gehört und wisse deshalb nicht, ob die Regierung unterm Strich ›pro oder anti‹ sei. Er selbst habe den Eindruck, die Gefahr durch Kopfgeldjäger sei gesunken, die Bedrohung durch das Regime indes nicht.

»Klar, es ist ein Risiko«, sagte er zu Larry. »Aber was ist das nicht?«

Er redete mit Richard Norton-Taylor beim Guardian. Es gebe einen Textentwurf, und die EU werde den Iran auffordern, ihn zu unterschreiben. Er werde eine ausdrückliche Nicht-Umsetzungs-Garantie enthalten und könnte ein Schritt in Richtung Aufhebung der Fatwa sein.

*

Das Treffen der Außenminister war ein Erfolg. Andy Ashcroft setzte ihn darüber in Kenntnis. Zwar habe man dem Text keinen Verweis auf ›Verbündete‹ hinzugefügt, doch die Franzosen hätten eingewilligt, dass die Troika der Außenminister diesen Punkt mündlich mit den Iranern erörtern würde. Er pflichtete ihm bei, dass man jetzt mit der Presse reden und die wichtigen Punkte herauskehren müsse.

Sie hatten Aufmerksamkeit erregt. Die Nachricht war auf sämtlichen Titelseiten. Die Times wollte eine Fortsetzungsstory daraus machen. Wieso war die Regierung nicht früher auf so etwas gekommen? Die Initiative war offenbar allein von ihm ausgegangen, und er hatte die Franzosen davon überzeugt, ohne dass das britische Auswärtige Amt sich sonderlich bemüht hätte. Okay, dachte er, sehr gut.

Auf Radio Teheran ließ man verlauten: Dass die EU eine formelle Nicht-Umsetzungsgarantie verlangt, ist unlogisch, denn die iranische Regierung hat nie behauptet, dass sie die Fatwa umsetzen will. Das klang schon fast wie eine Garantie. Dann, am Morgen des 19. April um 10.30 Uhr (Londoner Zeit), präsentierte die Troika der Außenminister (der französische, der deutsche und der spanische) zusammen mit dem britischen chargé d’affaires Jeffrey James dem iranischen Außenministerium in Teheran die Forderungen der EU.

Die Demarche war gemacht, und sofort war die Nachricht bei den Presseagenturen. Der iranische Justizminister Mohammad Yazdi verhöhnte die Initiative, und Kopfgeld-Sanei sagte: »Dies wird lediglich für eine noch schnellere Umsetzung der Fatwa sorgen«, und vielleicht hatte er recht. Doch Richard Norton-Taylor von der Guardian-Auslandsredaktion erzählte Carmel, am Ende seiner Indienreise habe Rafsandschani auf einer Pressekonferenz geäußert, der Iran würde die Fatwa nicht umsetzen.

Zafar wollte wissen, was los war. »Großartig, großartig«, sagte er, als er es erfuhr. In seinen Augen lag ein hoffnungsvolles Leuchten, und sein Vater dachte: Wenn die Demarche unterschrieben ist, müssen wir uns dahinterklemmen, sie in die Tat umzusetzen.

*

Die ›französische Initiative‹ schob sich durch die verschlungenen Eingeweide der iranischen Mullahkratie und wurde mit der rätselhaften Trägheit dieses undurchschaubaren Organismus wiedergekäut und verdaut. Hin und wieder gab es irgendwelche positiven oder negativen Verlautbarungen, die ihn an Fürze denken ließen. Sie stanken, taten aber nichts zur Sache. Selbst heftige Geräusche – Der Chef des iranischen Geheimdienstes hat sich mit Unterlagen abgesetzt, die belegen, dass das Regime in den internationalen Terrorismus verwickelt ist – waren nicht mehr als ein Rülpser aus einem der zahllosen widersprüchlichen Kehlen dieses vielköpfigen geistlichen Gargantua. (Natürlich stellte sich dieses Gerücht als unwahr heraus; ein gasförmiges Nichts.) Die vollständige, offizielle Antwort würde ihre Zeit brauchen.

Inzwischen fuhren er und Elizabeth auf Einladung von Kultusminister Rudolf Scholten und seiner Frau Christine für ein paar Tage nach Österreich. Die beiden waren sehr schnell gute Freunde geworden und wollten, dass sie ein paar Tage ›aus ihrem Käfig‹ rauskämen. Bei ihrer Ankunft platzen sie mitten in eine Familientragödie.

Rudolfs Vater war am Morgen tödlich von einem Auto überfahren worden. »Wir sollten nicht bleiben«, sagte er sofort, doch Rudolf bestand darauf. »Es wird uns guttun, euch hier zu haben.« Auch Christine sagte: »Ihr solltet wirklich bleiben.« Wieder war ihm eine Lektion in Haltung und Stärke zuteil geworden.

Zum Abendessen waren sie in das vor Kunst strotzende Haus von Scholtens engem Freund André (›Franzi‹) Heller eingeladen, dem universalen Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Produzenten und Schöpfer einzigartiger öffentlicher Installationen und spektakulärer Kunst-Theaterevents in der ganzen Welt. Heller war ganz aufgeregt wegen des von ihm initiierten großen Festes für Freiheit, das in zwei Tagen auf dem Heldenplatz stattfinden sollte, auf dem Hitler 1938 den »Anschluss« Österreichs verkündet hatte. Dort eine Antinazidemonstration abzuhalten, kam einer Rückeroberung gleich, einer Reinigung des Platzes vom Makel der Nazivergangenheit und war ein Schlag gegen den aufkeimenden Neonazismus der Gegenwart. Nazistische Untertöne hatte es in Österreich immer gegeben, und die neonazistische Rechte unter Jörg Haider hatte wachsenden Zulauf. Die österreichische Linke wusste, das sie einen starken Gegner hatte, und übte sich in einer progressiven und leidenschaftlichen Antwort. »Sie müssen bleiben«, meinte Franzi Heller plötzlich. »Sie müssen da sein, es ist wichtig, dass Sie auf der Bühne stehen und von Freiheit sprechen.« Zuerst zögerte er, unsicher, ob er sich in die Geschichte anderer Nationen einbringen sollte, doch Heller blieb hartnäckig. Also entwarf er einen kurzen Text, den Rudolf und Franzi übersetzten und den er übte wie ein Papagei; Wörter einer Sprache, die er nicht verstand.

Am Tag der Heldenplatz-Demo stürzte die Sintflut auf Wien herab und ließ den Verdacht aufkommen, dass, wenn es irgendeinen Gott gab, er womöglich Neonazi war wie Jörg Haider. Oder vielleicht hatte Haider eine Art wagnerianischen Draht zum Wettergott Froh und ihn in opernhaftem Gebet um diesen weltzerstörerischen Ragnarök-Regen angefleht. Franzi Heller war extrem nervös. Wenn nur we nige Leute kämen, wäre das eine Katastrophe, ein Propagandage schenk an Haider und seine Anhänger. Seine Sorge war unbegründet. Im Laufe des Morgens füllte sich der Platz. Es waren junge Menschen, die sich in Plastik gehüllt und mit unzureichenden Regenschirmen bewaffnet hatten oder sich achselzuckend dem Monsun ergaben. Mehr als fünfzigtausend von ihnen füllten den verrufenen alten Platz mit ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Auf der Bühne spielten Bands oder wurden Reden gehalten, doch der Star des Abends war die Menge, die durchweichte, ungetrübte, großartige Menschenmenge. Er sagte seine wenigen deutschen Sätze auf, und die durchnässte Masse jubelte. Sein leitender Sicherheitsbeamter Wolfgang Bachler war ebenfalls guter Dinge. »Genau so muss man’s Haider geben«, jubelte er.

Jenseits der Grenze bekam die angesehene Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel auf der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen und sprach sich zum allgemeinen Entsetzen begeistert für die Fatwa gegen den Verfasser des von ihr zuvor verurteilten Buches Die satanischen Verse aus. Angesichts der lautstarken Empörung versuchte sie sich in der ›Cat-Stevens-Abwehr‹ – das habe sie nicht gesagt –, doch als zahlreiche Menschen sich bereit erklärten, dies der Presse unter Eid zu bestätigen, äußerte sie knapp, sie wolle sich entschuldigen, was allerdings nicht geschah. Die dreiundsiebzigjährige Grande Dame mochte eine bedeutende Wissenschaftlerin sein, doch bewahrte sie das nicht vor der Mitgliedschaft in der Cat-Stevens-Trottelpartei.

*

Artikel 19 hatte eine Reise nach Dänemark arrangiert, wo er den Premierminister und den Außenminister treffen sollte, und obwohl er immer stärker das Gefühl hatte, dass solche Begegnungen zu nichts führten, fuhr er hin. Sein stiller, freundlicher, aufrechter Verleger Johannes Riis begleitete ihn, und William Nygaard reiste aus Oslo an. Es war ihnen erlaubt, durch die Straßen Kopenhagens zu spazieren und abends sogar den Tivoli zu besuchen, wo sie für ein paar glückliche, sorglose Minuten Autoscooter fuhren und wie kleine Jungs johlend ineinanderrasten. Während er zusah, wie William und Johannes wie wild über die Scooterbahn kurvten, dachte er: In diesen Jahren ist mir eine Lehre über das Schlimmste, aber auch über das Beste der menschlichen Natur zuteil geworden, eine Lehre in Mut, Geradlinigkeit, Selbstlosigkeit, Entschlossenheit und Ehre, und genau das will ich am Ende in Erinnerung behalten: dass ich im Zentrum einer Gruppe von Menschen stand, die sich so aufrecht und nobel verhalten haben, wie es der Mensch vermag, und auch jenseits dieser Gruppe von Menschen umgeben war, die ich nicht kannte und nie kennenlernte und die ebenso wie meine Autoscooterfreunde entschlossen waren, die Finsternis nicht siegen zu lassen.

Plötzlich kam Leben in die ›französische Initiative‹. Jill Craigie rief ganz aufgeregt an und sagte, auf sämtlichen Radiosendern hieß es, ›die Iraner machten einen Rückzieher‹. Noch konnte niemand ihm das bestätigen, doch Jills Aufregung war ansteckend. Am nächsten Morgen war die Meldung überall in den Nachrichten. Amit Roy, der Verfasser der Titelgeschichte des Telegraph, erzählte Frances D’Souza im Vertrauen, er habe drei Stunden lang mit dem iranischen chargé d’affaires Ansari zusammengesessen, der ›unglaubliche Dinge‹ gesagt habe. Wir werden die Fatwa niemals vollstrecken, wir werden das Kopfgeld zurücknehmen. Er blieb ruhig. Es hatte schon zu viele trügerische Hoffnungen gegeben. Doch Zafar war begeistert. »Das ist wunderbar«, sagte er immer wieder und rührte seinen Vater fast zu Tränen. Inmitten des Mediengetöses saßen sie zusammen und arbeiteten an seinem Englischaufsatz über Am grünen Rand der Welt, um ihn auf seinen mittleren Abschluss vorzubereiten. Statt über Khamenei und Rafsandschani sprachen sie über Bathsheba Everdene, William Boldwood und Gabriel Oak.

Frances hatte gehört, westliche Journalisten, darunter fünf Briten, seien auf Einladung des Regimes auf dem Weg nach Teheran. Vielleicht stand eine Bekanntmachung bevor. »Ruhig Blut«, sagte er zu Frances. »Noch singt der dicke Mullah nicht.« Doch am nächsten Morgen brachte die Times eine Riesenstory. Er blieb ruhig. »Ich kenne die Wirklichkeit«, vertraute er seinem Tagebuch an. »Wann werde ich endlich ohne Polizisten leben dürfen? Wann werden Fluglinien mich mitnehmen, Staaten mich ohne RAID-Hysterie einreisen lassen? Wann werde ich wieder ein Mensch sein dürfen? Ich fürchte, das dauert noch. Die ›Neben-Fatwas‹ durch anderer Leute Ängste sind schwerer zu überwinden als die der Mullahs.« Doch er fragte sich auch: Sollte ich den beschissenen Berg tatsächlich versetzt haben?

Andy Ashcroft rief aus Hoggs Büro an und sagte, das Außenministerium sei von dem Medienrummel ›vollkommen überrascht‹ gewesen. »Vielleicht werden die Iraner gerade tatsächlich weich.« Ashcroft glaubte, mit einer Antwort sei frühestens in einem Monat zu rechnen. Der ›kritische Dialog‹ zwischen dem Iran und der Europäischen Union war für den 22. Juni angesetzt, und dann rechneten sie mit einer offiziellen Antwort auf die Demarche.

Nach dem EU-Außenministertreffen am 30. Mai ließ die dänische Regierung verlauten, sie sei »zuversichtlich«, dass der Iran »noch vor dem Ende der französischen EU -Ratspräsidentschaft eine befriedigende Antwort auf die Demarche geben« werde. Die Franzosen machten Druck, die Iraner nahmen die Sache ernst und forderten ihrerseits Zugeständnisse, doch die EU blieb hart. »Es kommt«, schrieb er in sein Tagebuch. »Es kommt.«

Der Abgeordnete Peter Temple-Morris sagte im BBC-Radio: »Die Fortschritte sind deshalb möglich, weil sich Rushdie eine Weile zusammengerissen und den Mund gehalten hat.« Doch Robert Fisks Interview mit dem iranischen Außenminister Velayati brachte wieder den ganzen alten Mist, die Fatwa lässt sich nicht aufheben, die Kopfgeldprämie ist ›Meinungsfreiheit‹, den ganzen Müll. Rülpser und Fürze. Die Wirklichkeit ließ auf sich warten.

*

Das Erscheinen von Des Mauren letzter Seufzer ließ die Polizei die Nerven verlieren. Bei Waterstone’s in Hampstead war eine Lesung organisiert worden, doch Scotland Yard wollte sich nicht an die Zusage einer Vorankündigung halten. Der stellvertretende Polizeichef sei ›unruhig‹, sagte Helen Hammington, und die ›Uniformierten‹ vor Ort würden noch unruhiger sein. Sie fürchtete, die Polizei könnte es ›übertreiben‹, andererseits rechneten die ›Experten‹ für öffentliche Sicherheit mit einer gewaltsamen Demonstration einer Gruppe namens Hizb ut-Tahrir, die Helen als ›Anzugträger mit Handys‹ bezeichnete, schlau und fix genug, einen schnellen Gegenschlag auf die Beine zu stellen. Rab Connolly kam zu ihm und sagte: »In der Einheit gibt’s Leute, die gar nicht gut auf Sie zu sprechen sind und wollen, dass die Lesung in die Hose geht.« Auch wusste er zu berichten, bei Gesprächen mit Cathay Pacific Airways über die geplante Lesereise nach Australien und in den Südpazifik habe er mitgekriegt, dass British Airways bei verschiedenen Treffen der Airline-Chefs mit ihrem Mitflugverbot ›hausieren‹ gegangen sei, um die anderen zum Mitmachen zu überreden.

Während der Erscheinungstermin von Des Mauren letzter Seufzer näher rückte, artete der Streit zwischen ihm und den leitenden Scotland-Yard-Beamten, der das Malachite-Team zunehmend in Schwierigkeiten brachte, in Krieg aus. Rab Connolly rief an, um zu sagen, Commander Howley sei außer Haus und ein anderer leitender Beamter, Commander Moss, habe sich dessen Abwesenheit zunutze gemacht und sich mit dem ›unruhigen‹ örtlichen Polizeivize Skeete gegen ihn verbündet. Die Polizei würde sich aus der getroffenen Vereinbarung zurückziehen, weil Sie es sind, meinte Connolly. Margaret Thatcher würde auch auf Lesereise gehen, und sämtliche Veranstaltungen würden automatisch höchsten Polizeischutz genießen, weil – die alte Greenup-Leier – sie dem Staat einen Dienst erwiesen habe; doch Mr Rushdie war ein Unruhstifter und verdiente ihre Hilfe nicht. Die Beamten, mit denen er am meisten zu tun hatte – Connolly, Dick Wood und Helen Hammington (die mit einem gebrochenen Bein zu Hause saß) –, waren geschlossen auf seiner Seite, doch ihre Vorgesetzten blieben eisern. »Wenn der in diesen Buchladen geht«, sagte Moss, »dann allein.« Nach dem Wochenende war Howley wieder zurück. »Um aus der Schule zu plaudern«, sagte Connolly, »ich habe um eine Unterredung mit ihm gebeten. Wenn er mich nicht unterstützt, schmeiße ich bei der Schutztruppe hin und werde womöglich wieder normalen Polizeidienst schieben.« Es war nur eine simple Feststellung, doch sie war herzzerreißend.

Frances Coady und Caroline Michel waren fassungslos, als er sie von der Sache in Kenntnis setzte. Sie hatten sich bei der Planung der Buchpräsentation auf die Absprache mit der Polizei verlassen, die jetzt im letzten Moment gebrochen wurde. Er erzählte auch Frances D’Souza davon. »Ich bin mit meinem Latein am Ende«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht mehr.« Wenn er unter Schutz gestellt werden sollte, dann nicht auf derart voreingenommene und kleinliche Weise. Sollte dieses Diktat bestätigt werden, würde er einen öffentlichen Krieg beginnen. Die Boulevardpresse würde ihn diffamieren, doch das tat sie eh schon. Sollte England entscheiden.

Er war im Krieg mit Polizisten, die glaubten, er habe in seinem Leben nichts geleistet, auch wenn vielleicht nicht alle bei Scotland Yard so dachten. Dick Wood berichtete, Polizeichef David Veness, der höchste Beamte, der sich bisher in die Geschichte eingeschaltet hatte, habe für die Hampstead-Lesung ›grünes Licht‹ gegeben und meinte, er würde »den Gedönsmachern sagen, sie sollen sich beruhigen«. Als er sein Ultimatum überbrachte, brütete Rab Connolly zu Hause womöglich gerade darüber nach, dass er seinen Job verlieren könnte. Doch am Ende gab es kein Ultimatum. Am Montag befahl Howley Connolly, die Veranstaltung abzublasen, und Connolly rief die Buchhandlung an, ohne den Verlegern oder dem Autor selbst etwas davon zu sagen.

Für diese Schlacht reichten herkömmliche Waffen nicht mehr aus. Jetzt waren thermonukleare Bomben fällig. Er verlangte ein Treffen bei Scotland Yard am nächsten Morgen und nahm Frances Coady und Caroline Michel als Vertreter von Random House mit, um klarzumachen, dass ihre verlegerischen Pläne durch die Polizei schweren Schaden erlitten. Die betretenen Mitglieder des Malachite-Teams erwarteten sie. Helen Hammington war trotz ihres gebrochenen Beins gekommen, und Dick Wood und Rab Connolly waren ebenfalls da. Alle waren auf hundertachtzig, denn es hatte einen äußerst unschönen Streit mit ihrem Vorgesetzten gegeben, der solche Aufmüpfigkeit nicht gewohnt war. Obwohl sie leitende Beamte waren, habe Howley sie ›angebrüllt‹. Die Entscheidung des Commanders sei ›unumstößlich‹, meinte Helen mit finsterer Miene. Das Treffen war beendet.

Jetzt war es so weit: Er fuhr aus der Haut und brüllte los. Er wusste, dass man niemanden in diesem Raum für das, was passierte, verantwortlich machen konnte, sie hatten für ihn sogar ihre Karriere aufs Spiel gesetzt; doch wenn er nicht an ihnen vorbeikam, hatte er verloren, und er hatte beschlossen, nicht zu verlieren. Dies war seine einzige Chance, also ging er kaltblütig in die Luft. Wenn Helen die Entscheidung nicht ändern könne, schrie er, dann sollte sie ihn gefälligst zu jemandem vorlassen, der dazu in der Lage sei, schließlich hätten Random House und er sich strikt an das gehalten, was die Polizei bereits vor Monaten gutgeheißen hatte, und diese Willkür in letzter Minute sei nicht in Ordnung, sei verdammt noch mal überhaupt nicht in Ordnung, und wenn er nicht sofort vorgelassen werde, werde er so massiv damit an die Öffentlichkeit gehen, dass ihnen Hören und Sehen vergehe, also sieh zu, Helen, oder sonst …! Fünf Minuten später saßen er und Commander John Howley allein in einem Büro.

So hitzig er mit Helen gewesen war, so eisig war er jetzt. Commander Howley musterte ihn frostig, doch er überbot ihn. Der Polizist redete als Erster. »Da Sie jetzt wieder im Fokus der Öffentlichkeit stehen«, hob Howley an und meinte die Demarche, »haben wir Grund zu der Annahme, dass die Medien aus der Sache mit der Lesung eine Top-Nachricht machen.« Brüllende Muslimhorden vor der Buchhandlung wären die Folge. »Das kann nicht zugelassen werden.« – »Diese Entscheidung ist inakzeptabel«, antwortete er in ruhigem Tonfall. »Ich nehme Ihnen das Argument mit der öffentlichen Ordnung nicht ab. Zudem ist es diskriminierend. In der heutigen Times steht neben dem Artikel über ein mögliches Tauwetter im Iran eine Anzeige für eine Veranstaltung zum Thatcher-Buch, die Sie schützen. Außerdem hat Mr Veness gestern grünes Licht gegeben, jeder bei Waterstone’s und bei Random House ist im Bilde, es wird also an die Öffentlichkeit dringen, auch wenn ich nichts unternehme. Aber seien Sie gewiss, ich habe nicht die Absicht, nichts zu unternehmen. Wenn Sie Ihre Entscheidung nicht zurücknehmen, werde ich eine Pressekonferenz einberufen und sämtlichen großen Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsendern Interviews geben und Sie bloßstellen. Bisher habe ich nie etwas anderes getan, als der Polizei zu danken, doch das kann und werde ich ändern.«

»Wenn Sie das tun«, sagte Howley, »werden Sie ganz schlecht dastehen.«

»Schon möglich«, entgegnete er. »Aber stellen Sie sich vor, Sie auch. Also, entweder Sie lassen die Veranstaltung laufen, und keiner von uns verliert das Gesicht, oder Sie verbieten sie, und wir verlieren es beide. Sie haben die Wahl.«

»Ich werde darüber nachdenken«, beschied Howley farblos und knapp. »Ich gebe Ihnen bis heute Abend Bescheid.«

*

Um ein Uhr mittags rief Andy Ashcroft an. Die G7 hätten sich der Kampagne angeschlossen und würden einstimmig ein Ende der Fatwa fordern. Die Europäische Union dränge Rafsandschani, zu unterschreiben und sämtlichen Bedingungen der französischen Demarche zuzustimmen. »Ein Fatwa-freies Europa reicht nicht«, sagte er zu Ashcroft. »Und nach der Bekanntgabe sollten die Iraner sämtliche Muslime der westlichen Welt eindringlich ermahnen, sich an die jeweiligen Gesetze zu halten.« Ashcroft meinte, er sei »ziemlich optimistisch«. – »Ich habe mich mit dem Special Branch in die Haare gekriegt«, erzählte er dem Berater des Auswärtigen Amtes. »Es wäre toll, wenn Sie sich ein wenig einschalten könnten, denn ein öffentlicher Krach käme jetzt gar nicht gut.« Ashcroft lachte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Zweieinhalb Stunden später rief Dick Wood an und sagte, Howley habe nachgegeben. Bis zur Lesung waren es noch zwei Tage. Erst am Morgen der Veranstaltung dürfe dafür geworben werden. Das war der angebotene Kompromiss.

Er akzeptierte.

Bis zum Mittag waren sämtliche Plätze bei Waterstone’s ausverkauft. »Stellen Sie sich vor, wir hätten wie geplant schon am Montag geworben«, meinte der Einsatzleiter von Hampstead, Paul Bagley. »Wir hätten tausende Karten verkauft.« Die Hampstead High Street wimmelte vor uniformierten Beamten, und kein einziger Demonstrant war zu sehen. Nicht ein Herr mit Bart, Plakat und rechtschaffen entrüsteter Miene. Nicht einer. Wo waren die Anzüge und Handys, die ›Tausende gewalttätiger Fanatiker‹ der Hizb ut-Tahrir? Jedenfalls nicht hier. Hätten nicht Horden von Polizisten die Straße bevölkert, wäre es eine stinknormale Literaturveranstaltung gewesen.

Aber das war es natürlich nicht. Es war seine erste angekündigte öffentliche Lesung nach fast sieben Jahren. Es war der Erscheinungstag seines ersten Erwachsenenromans seit Die satanischen Verse. Die Leute von Waterstone’s sagten Caroline Michel hinterher, es sei die beste Lesung gewesen, die sie je gehört hätten, und das war schön. Der Lesende selbst empfand sie wie ein Wunder. Nach so langer Zeit war er wieder mit seinem Publikum vereint. Es lachen zu hören, die Ergriffenheit zu spüren: unbeschreiblich. Er las den Anfang des Romans, den Abschnitt über die Lenins und die Stelle über ›Mutter Indien‹. Hinterher wurden Hunderte Exemplare von glücklichen Händen in die Londoner Nacht hinausgetragen. Und nicht ein einziger Demonstrant hatte sich blicken lassen.

Er hatte seinen Rubikon überschritten. Es gab kein Zurück mehr. Die Leute von Waterstone’s Cambridge waren da gewesen und wollten ebenfalls eine Lesung organisieren, diesmal mit zweitägiger Vorankündigung. Dick Wood sagte, »die ganze Abteilung ist sehr glücklich«. Er fragte sich, ob das Commander Howley mit einschloss. Ein Tag, dann zwei, dann noch mehr. Schritt für Schritt zurück in sein wirkliches Leben. Weg von Joseph Anton, hin zu seinem wahren Namen.

Den Beamten, die für ihn gegen Scotland Yards Oberbosse gekämpft hatten, schickte er Champagner.

*

Das Rumoren um die ›französische Initiative‹ wurde jeden Tag lauter. The Independent berichtete, der Anführer der in Europa stationierten Killerzellen der iranischen Revolutionsgarde habe sich schriftlich bei Khamenei beschwert, ihm sei befohlen worden, seine Hunde zurückzupfeifen; ein Strohhalm im Wind, der bedeuten konnte, dass die Hunde tatsächlich zurückgepfiffen worden waren und dass Khamenei womöglich nichts dagegen hatte, sie in den Zwinger zu sperren. Dann berichtete Arne Ruth von Dagens Nyheter von einem ›sehr aufregenden‹ Treffen in Stockholm. Zusammen mit anderen schwedischen Journalisten habe er den iranischen Minister Larijani getroffen, und der habe unglaublicherweise gesagt, in den Artikeln sollte stehen, der Iran ›bewundere Salman Rushdies Arbeit‹, denn man wolle ›die mentale Haltung ändern‹. Noch erstaunlicher war Larijanis offizielles Statement, die Fatwa dürfe nicht vollstreckt werden, denn das sei nicht im Interesse des Iran. Das war derselbe Larijani, der regelmäßig Mr Rushdies Tod gefordert hatte. Doch was Kopfgeld-Sanei anbetraf, war Larijani zu nichts zu bewegen. Die Regierung könne da gar nichts tun. Dann ein kleiner Scherz. Wieso verklagte Mr Rushdie Sanei nicht nach iranischem Recht? Oh, der ist gut, der ist wirklich verdammt gut!

Der Wind wirbelte und blies die Strohhalme in die unterschiedlichsten Richtungen. Wenn dieser Wind eine Antwort mit sich trug, so hatte er keine Ahnung, wie sie lautete.

*

Elizabeth war verstimmt, weil es noch immer keine Anzeichen einer Schwangerschaft gab. Sie wollte, dass er einen »Spermatest« mache. Immer wieder kam es zu solchen Spannungen zwischen ihnen. Es machte ihnen beiden Sorgen.

*

»Das Medienspektakel ist groß, das sollte man ausnutzen, um Ihnen das Leben zu erleichtern«, sagte Caroline Michel. Er wollte sein restliches Dasein nicht in der Schattenwelt der Diplomaten, Geheimdienstler, Terroristen und Gegenterroristen fristen. Würde er sein Weltbild aufgeben und dieses akzeptieren, so gäbe es nie mehr einen Ausweg. Er versuchte sich klarzuwerden, wie er denken und handeln musste, um dem, was womöglich bevorstand, richtig zu begegnen. Es würde ein ziemlicher Drahtseilakt werden. Sollte Jan Eliasson, Staatssekretär im schwedischen Außenministerium, recht damit haben, dass es ein positives Signal durch die Medien geben müsse, dann sollte er vielleicht sagen, die Lage habe sich verbessert, es sei aber noch nicht überstanden; es sei der Anfang vom Ende, aber nicht das Ende; ein Waffenstillstand, aber noch kein endgültiger Frieden. Ayatollah Meshkini hatte kürzlich gesagt, jede Fatwa könne aufgehoben werden, und vielfach sei das geschehen. Sollte er das erwähnen? Vielleicht nicht. Die Iraner wären wahrscheinlich nicht begeistert, wenn er ihnen mit Zitaten ihrer Ayatollahs käme.

Andrew Green vom Auswärtigen Amt rief an, um ihn über die weiteren Pläne in Kenntnis zu setzen. Der iranische Text würde in Form eines »Briefes des Außenministers Velayati daherkommen, in dem dieser erklärte, sein Vize Va’ezi sei befugt, die Position der Iraner wiederzugeben«, welche nicht in Velayatis Brief, sondern in einem ›Anhang‹ dargelegt würde, der ebenfalls in der iranischen Presse erschiene. Green wollte wissen, ob das für ihn akzeptabel sei oder nicht. Es klang, als wäre das Außenministerium der Meinung, dies sei nicht genug. Immerhin war das weit entfernt von einer Unterschrift Rafsandschanis.

Larry Robinson rief aus der amerikanischen Botschaft an. Er habe das Gefühl, die Europäer drängten auf eine Billigung, doch die Vereinigten Staaten und Großbritannien wollten nicht. Er befürchtete, der Iran könnte auf eine ›bestreitbare Ermordung‹ aus sein. (Elizabeth glaubte ebenfalls, er könnte bei einer seiner hart erkämpften Lesungen getötet werden, doch Rab Connolly meinte, seine ›Spione‹ wüssten, dass die ›bösen Jungs‹ nichts dergleichen planten.)

Was sollte er machen? Er hatte keine Ahnung. Was, um Himmels willen, sollte er tun?

Die Medien führten sich auf, als wäre dies das Ende der Fatwa-Story, doch das stimmte vielleicht nicht, und dann würde er jegliche Aufmerksamkeit verlieren, derweil die Gefahr bestehen bliebe. Oder aber er ging darauf ein, trieb die Sache voran und konnte mit Hilfe der Medien eine Atmosphäre schaffen, in der die Bedrohung tatsächlich endete.

Sollte die EU die iranische Antwort auf die Demarche ablehnen, könnte der Iran den Europäern Täuschung und Haarspalterei vorwerfen und behaupten, der Westen wolle das Fatwa-Problem gar nicht lösen – er sei für den Westen nur das Bauernopfer in einem viel größeren Spiel. Und vielleicht stimmte das. Die US-Regierung und auch die britische Regierung wollten dem Iran die politischen Daumenschrauben ansetzen, und die Fatwa war ihnen dabei zweifellos nützlich. Doch wenn er die iranische Antwort akzeptierte, wäre die Verteidigungskampagne für die Katz, und die Fatwa samt Kopfgeld bliebe bestehen. Er war völlig überfordert.

*

Am Tag der Antwort aus dem Iran fand die Lesung in Cambridge statt. Der zweitägige Vorlauf hatte für ein riesiges Publikum gesorgt, und natürlich war die Buchhandlung nervös; er sollte die Hintertür benutzen, käme er durch den Haupteingang herein, würde man die Veranstaltung absagen. Doch die Sache fand statt, und wieder war nichts von einer Demonstration zu sehen. Er hatte das Gefühl, der Protestbewegung der britischen Muslime war die Luft ausgegangen, und Unterhaltungen mit anderen aus Südasien stammenden Künstlern und Journalisten hatten ihn darin bestätigt. Diese Phase war überwunden.

Um 12.45 Uhr kam eine schockierende und unerwartete Nachricht. Der stellvertretende Außenminister Va’ezi hatte der iranischen Presseagentur IRNA gesagt, der Iran habe die europäische Demarche zurückgewiesen, die französische Initiative sei tot. Am selben Morgen hatte der Iran den Medien zu verstehen gegeben, dass Va’ezis Schriftstück sämtliche Forderungen der EU befriedigen würde, und nun sagte er, es sei keine schriftliche Zusicherung gegeben worden und es würde auch keine geben.

Einfach so.

Man würde nie erfahren, was in Teheran vorgefallen war. Irgendjemand hatte verloren, und jemand anders hatte gewonnen.

Elizabeth brach in Tränen aus. Er wurde seltsam ruhig. Er musste die geplante Pressekonferenz nutzen, um wieder zum Angriff überzugehen. Indem die Iraner sich weigerten zu sagen, sie würden den Terrorismus nicht unterstützen, hatten sie das Gegenteil für möglich erklärt. Das Scheitern der Initiative ließ den Iran vor den Augen der Welt nackt dastehen. Genau das musste er sagen, und zwar so laut wie möglich.

Merkwürdigerweise fürchtete er nicht um sich, doch er wusste nicht, wie er denen gegenübertreten sollte, die er liebte, wie er Zafar die enttäuschenden Neuigkeiten beibringen, was er Sameen sagen sollte. Er wusste nicht, wie er die schluchzende Elizabeth wieder aufrichten oder wo er Hoffnung schöpfen konnte. Ihm war, als gäbe es keine Hoffnung. Doch er wusste, dass er weitermachen musste und würde, angespornt von Becketts großem Namenlosen. Ich kann nicht weitermachen. Ich werde weitermachen.

*

Und natürlich ging das Leben weiter. Eines war klarer denn je: Er musste sich seine Freiheit nehmen, wo es ging. Ein ›offizielles‹ Ende schien nicht mehr möglich, doch Amerika lockte mit einer abermaligen Sommerpause. Dass die amerikanische Polizei sich um seinen Schutz wenig scherte, war in Ordnung, es war sogar ein Segen. In dem Jahr konnten Elizabeth, Zafar und er fünfundzwanzig glückliche Sommertage in amerikanischer Freiheit genießen. Zafar und Elizabeth nahmen den direkten Flug; er profitierte von Rudolf Scholtens freundschaftlichen Kontakten zu Austrian Airlines, um über Wien nach JFK zu fliegen: ein sehr langer Weg, aber was sollte es, er war da! Und Andrew war da! Sie fuhren direkt nach Water Mill und verbrachten neun wunderbare Tage am Gibson Beach und bei Freunden, taten alles und nichts. Die Leichtigkeit dieses Lebens – im Gegensatz zu seinem eingeschränkten britischen Leben – trieb ihm die Tränen in die Augen. Und nach Water Mill reisten sie mit Auto und Fähre nach Martha’s Vineyard, wo sie acht Tage bei Doris Lockhart Saatchi in ihrem Haus in Chilmark verbringen würden. Die eindrücklichste Erinnerung dieser Reise würden William Styrons Genitalien bleiben. Als er die Styrons zusammen mit Elizabeth in ihrem Haus in Vineyard Haven besuchte, saß der große Erzähler in Khakishorts und ohne Unterhosen breitbeinig auf seiner Veranda und gab einen ungehinderten Blick auf seine Juwelen frei. Das war mehr, als er vom Autor von Die Bekenntnisse des Nat Turner und Sophies Entscheidung jemals zu erfahren gehofft hatte, doch jede Information war nützlich, und so speicherte er diesen Eindruck sorgsam für spätere Verwendung ab.

Es folgten drei Nächte bei den Irvings, drei bei den Herrs und drei weitere in der Wylie-Wohnung in der Park Avenue. An ihrem letzten Abend bekam Zafar seine – glücklicherweise guten – Abschlussergebnisse. In den darauffolgenden Jahren fragte er sich häufig, wie er ohne diese jährlichen amerikanischen Rettungsventil-Reisen überlebt hätte, während deren sie so tun konnten, als wären sie normale Literaturschaffende, die ohne einen Tross bewaffneter Männer normale Dinge taten, und das ganz mühelos. Ziemlich schnell wurde ihm klar, dass, wenn der Tag käme, Amerika es ihm am leichtesten machen würde, seine Freiheit zurückzufordern. Als er es Elizabeth sagte, runzelte sie gereizt die Stirn.

*

In der Finsternis, die dem Zusammenbruch der französischen Initiative folgte, glomm ein unerwarteter Lichtstrahl auf. Lufthansa hatte dem öffentlichen Druck nachgegeben. Es gab ein Mittagessen mit Herrn und Frau Lufthansa, dem Vorstandsvorsitzenden Jürgen Weber nebst Gattin. Es stellte sich heraus, dass Frau Weber ein großer Fan von ihm war oder es zumindest behauptete. Und ja, sie seien hocherfreut, ihn zu fliegen, sagte ihr Mann. Sie seien stolz darauf. So einfach war das. Nach über sechs Jahren der Verweigerung – puff! – freuten sie sich, ihn jederzeit an Bord ihrer Maschinen begrüßen zu dürfen. Sie bewunderten ihn so sehr. »Danke«, sagte er und alle sahen hochzufrieden aus, und natürlich gab es eine Menge Bücher, die signiert werden mussten.

*

Die BBC machte einen Dokumentarfilm über Des Mauren letzter Seufzer und beauftragte seinen Freund, den indischen Maler Bhupen Khakhar, sein Porträt für den Film zu malen. Es war ein Roman über Maler und das Malen, und seine Freundschaften mit einer Generation begabter indischer Künstler – vor allem mit Bhupen – hatten ihm die Inspiration dazu gegeben. Anfang der Achtziger waren sie sich das erste Mal begegnet, hatten sich sofort im anderen wiedererkannt und waren bald Freunde geworden. Kurz nach ihrer ersten Begegnung besuchte er Bhupens Ausstellung in der Londoner Galerie Kasmin Knoedler. Er hatte einen Scheck für eine Geschichte in der Tasche, die er gerade an The Atlantic Monthly verkauft hatte. Auf der Ausstellung verliebte er sich in Bhupens Zweite-Klasse-Abteil, und als er feststellte, dass auf dem Preisschild exakt die gleiche Summe stand wie auf dem Scheck in seiner Tasche (damals war indische Kunst noch erschwinglich), hatte er seine Geschichte beglückt in das Bild seines Freundes verwandelt, das seitdem zu seinen liebsten Kostbarkeiten zählte. Für zeitgenössische indische Künstler war es schwer, sich dem Einfluss des Westens zu entziehen (eine Generation zuvor waren M. F. Husains berühmte Pferde direkt aus Picassos Guernica herausgaloppiert, und die Werke zahlreicher anderer großer Namen – Souza, Raza, Gaitonde – hatten sich für seinen Geschmack zu sehr der Moderne und westlichen abstrakten Strömungen verschrieben). Einen indischen Duktus zu finden, der weder folkloristisch noch entliehen war, war nicht leicht gewesen und Bhupen hatte es als einer der Ersten geschafft, hatte sich vom visuellen Umfeld der indischen Straßenkunst, der Filmplakate, der bemalten Ladenfassaden und der figurativen und erzählerischen Traditionen der indischen Malerei inspirieren lassen und all das in ein eigenwilliges, originelles und geistreiches Œvre verwandelt.

Den Kern von Des Mauren letzter Seufzer bildete die Idee des Palimpsests: ein unter einem anderen Bild verborgenes Bild, eine hinter einer anderen Welt versteckte Welt. Bevor er geboren war, hatten seine Eltern einen jungen Maler aus Bombay beauftragt, sein zukünftiges Kinderzimmer mit Märchenfiguren und Zeichentricktieren auszumalen, und der verarmte Künstler Krishen Khanna hatte den Auftrag angenommen. Er hatte auch ein Porträt von Negin, der wunderschönen jungen Mutter des ungeborenen Salman angefertigt, doch ihr Mann mochte es nicht und wollte es nicht kaufen. Khanna stellte das abgelehnte Gemälde im Atelier seines Freundes Husain unter, und eines Tages übermalte Husain es mit einem eigenen Bild und verkaufte es. Und so hing irgendwo in Bombay ein Porträt von Negin Rushdie, gemalt von Krishen, der bekanntlich einer der bedeutendsten Künstler seiner Generation werden sollte, verborgen unter einem Bild von Husain. »Husain weiß von jedem seiner Bilder, wo es geblieben ist, doch er will es nicht verraten«, sagte Krishen. Die BBC versuchte es aus ihm herauszukriegen, doch der alte Mann stieß ärgerlich seinen Stock auf den Boden und sagte, die Geschichte sei nicht wahr. »Natürlich ist sie wahr«, sagte Krishen. »Er hat nur Angst, dass du sein Bild kaputt machen willst, um das Porträt deiner Mutter freizulegen, und er ist beleidigt, dass du nach meinem Bild suchst und nicht nach seinem.« Er kam zu dem Schluss, dass ein verschollenes Porträt seiner Mutter stimmiger war als ein aufgefundenes – verschollen war es ein wunderschönes Rätsel; hätte man es gefunden, hätte man vielleicht festgestellt, dass Anis Rushdies künstlerisches Urteil richtig gewesen war und der damalige Malerschüler Khanna keine besonders gute Arbeit geleistet hatte – er blies die Suche ab.

Während er in einem Atelier in Edwardes Square, Kensington, für Bhupen Modell saß, erzählte er ihm die Geschichte des verlorenen Bildes. Bhupen kicherte begeistert und arbeitete vor sich hin. Im Stil der indischen Hofmalerei wurde sein Porträt im Profil gemalt, und als guter Nawab trug er ein durchsichtiges Hemd, das auf dem Bild allerdings mehr nach Nylon als nach reiner Baumwolle aussah. Zuerst fertigte Bhupen mühelos und in einem Strich eine Profilzeichnung in Kohle an, die ihrem Vorbild aufs Haar glich. Das Gemälde, das diesen Kohlestrich überdeckte, ähnelte dann mehr der Romanfigur des Moor Zogoiby. »Es ist ein Bild von euch beiden«, sagte Bhupen. »Du als Moor und der Moor als du.« Somit war auch in diesem Porträt ein Porträt verborgen.

Irgendwann erwarb die National Portrait Gallery das Gemälde, und Bhupen war der erste indische Künstler, der dort ein Bild hängen hatte. Bhupen starb am 8. August 2003, am selben Tag wie Negin Rushdie. Die Koinzidenz ließ sich nicht verleugnen, auch wenn nicht klar war, was diese Gleichzeitigkeit bedeuten sollte. Am selben Tag hatte er einen Freund und seine Mutter verloren. Das war bedeutsam genug.

*

Der Roman war erschienen, und er dehnte seine Grenzen immer weiter. Im Writer’s Forum der Times in der Westminster Central Hall fand sein bisher größter vorangekündigter Auftritt statt, zusammen mit Martin Amis, Fay Weldon und Melvyn Bragg. Er las eine Passage aus Des Mauren letzter Seufzer und dankte dem Publikum, zu seiner ›kleinen Coming-Out-Party‹ gekommen zu sein. Ja, es waren Sicherheitsleute da und, ja, natürlich musste er durch die Hintertür rein- und wieder rausgehen und in einen gepanzerten Wagen steigen, doch er publizierte sein Buch. Und nein, es gab keine Demonstrationen, und die hohen Tiere im Yard fingen endlich an, sich zu entspannen.

Er hatte einen sehr gewagten Plan. Seine südamerikanischen Verleger hatten angefragt, ob er im Dezember nach Chile, Mexiko und Argentinien kommen könne, und er beschloss, zuzusagen und anschließend nach Neuseeland und Australien weiterzureisen. Es würde eine gigantische Reise werden, und er war wild dazu entschlossen. Es musste mit etlichen Fluglinien gesprochen werden, doch jetzt, da er Lufthansa, Iberia, Air France, Austrian und Scandinavian Airlines auf seiner Seite hatte, kam man leichter zum Erfolg. Stück für Stück wurde die Reiseroute festgelegt, Genehmigungen beantragt und bewilligt. Der mexikanische Botschafter in London, Andrés Rozental, traf ihn zusammen mit Carlos Fuentes und half ihm bei der Planung seines Mexikoaufenthaltes, und dann, es war kaum zu glauben, stand die Reise plötzlich fest. Sie durften fahren.

Anlässlich der norwegischen Veröffentlichung von Des Mauren letzter Seufzer flogen sie nach Oslo, wo er in der von Edvard Munch ausgemalten Aula der Universität Oslo eine Lesung hielt. Es war seine erste vorangekündigte Lesung außerhalb Großbritanniens und er wie auch William Nygaard hatten das Gefühl, einen großen Schritt vorangekommen zu sein. Ein Sieg über die Unterdrücker, sagte William, und das haben wir gemeinsam geschafft. Seine Verwundungen beeinträchtigten ihn zwar noch, doch er war voller Leben. Zum allgemeinen Erstaunen waren in jener Nacht am Himmel über Oslo Nordlichter zu sehen. Ein seltenes Phänomen in der relativ weit südlich liegenden Stadt, zumal im Oktober. Doch da waren sie und zeigten ihre grüne Aurora, ›zu Ehren deiner Aurora‹, wie William sagte. Es war, als tanzte Aurora Zogoiby, die Heldin von Des Mauren letzter Seufzer, dort oben zwischen den riesigen grünen Vorhängen, die flatternd von Himmelsrand zu Himmelsrand wehten. Per Telefon riefen die Menschen in Oslo einander zu, geh raus, schau nach oben, es ist fantastisch. Über eine Stunde erfüllte das Polarlicht den Himmel, und es war wie ein Zeichen für bessere Zeiten.

*

Robert McCrum hatte im Haus in der St. Peter’s Street 41 einen Schlaganfall erlitten. Er und Sarah Lyall waren gerade einmal zwei Monate verheiratet, sie war nicht zu Hause gewesen, und er wäre beinahe gestorben. Er überlebte, doch ein Arm blieb gelähmt, er konnte nur wenige Stufen auf einmal nehmen, und die Langzeitschäden waren nicht abzusehen. Als er sich ein wenig erholte, klammerten er und Sarah sich an diese Hoffnung. Der Fluch der St. Peter’s Street hatte wieder zugeschlagen.

Zusammen mit Christopher Hitchens ging er die beiden besuchen und hatte das Gefühl, sich für diesen Fluch irgendwie entschuldigen zu müssen. Es war seltsam, wieder in seinem alten Haus zu sein, in dem er gelebt hatte, als – wie er inzwischen zu sagen pflegte – die Scheiße durch den Ventilator geflogen war. Verschiedene Geister huschten durch den Raum, während Hitch und er sich mit dem leidenden Freund unterhielten. Sie blieben nicht lange. Robert brauchte Ruhe.

*

Auf den Schnappschüssen, die seine Erinnerung aus diesen Jahren aufbewahrt hat, ist die Polizei oft nicht zu sehen, von den Fotografien der Geschichte getilgt wie der Kommunistenführer Clementis am Anfang von Milan Kunderas Buch vom Lachen und Vergessen. Um die Tage erträglicher zu machen, versuchte er zu vergessen, dass er ständig von Bodyguards umgeben war und sein Alltag im mächtigen Schatten der Sicherheitsmaßnahmen stand. Er vergaß die kleinen täglichen Entbehrungen. Er konnte nicht zum Briefkasten gehen oder die Zeitung von der Schwelle seiner Haustür holen. Immer wieder kam es in der Küche zu unfreiwilligen Begegnungen im Schlafanzug, die nicht aufhörten, peinlich zu sein. Da war das immer verhasstere Pseudonym Joe. (War es wirklich nicht möglich, ihn in seinem eigenen Haus bei seinem eigenen Namen zu nennen?) Da war der Verlust jeglicher Spontaneität. Ich würde gern einen Spaziergang machen. – Okay, Joe, gib uns eine Stunde für die Vorbereitungen. – Aber ich will nicht in einer Stunde spazieren gehen. Und jedes Mal, wenn er das Haus verließ, brachten sie ihn zu einer ›Umstiegsstelle‹, an der er von dem Auto, das mit seinem Haus in Verbindung stand, in das seines öffentlichen Lebens stieg. Für den Rest seines Lebens sollte er diese Umstiegsstellen hassen – Nutley Terrace, Park Village East – und innerlich zusammenfahren, wenn er daran vorbeikam, doch zu der Zeit, als er sich dazu zwang, sie nicht wahrzunehmen, löste er sich von dem Körper des Mannes, der von Wagen zu Wagen hastete, und hatte er sein Ziel erreicht, blendete er die Sicherheitsüberwachung aus, war einfach nur er selbst und mit seinen Freunden unterwegs.

Für seine Freunde war es genau das Gegenteil, der Wachschutz war so ungewöhnlich, so seltsam und aufregend, dass sie sich kaum an etwas anderes erinnern konnten. Wenn er sie nach ihren Erinnerungen aus jenen Tagen fragte, redeten sie von den Polizisten – Erinnerst du dich an den, der unser Kindermädchen verführt hat? Erinnerst du dich an die beiden echt gut aussehenden Typen, alle waren in die verknallt –, sie erinnerten sich an zugezogene Vorhänge und verschlossene Gartentore. Selbst in den Augen seiner Freunde wurde er zur Nebensache, und die Polizisten wurden zur Hauptattraktion. Doch wenn er sich jene Tage ins Gedächtnis rief, waren die Polizisten oft nicht da. Natürlich waren sie da gewesen, doch seine Erinnerung hatte beschlossen, sie auszuradieren.

Manchmal versagte dieser kleine Gedächtnistrick. Auf den Schnappschüssen von seiner Südamerikareise standen die chilenischen Polizisten stets im Fokus: furchteinflößend, unvergesslich, laut.

Schnappschuss aus Chile. Es gab zwei verschiedene Polizeieinheiten, die uniformierten Carabineros und die Policía de Investigaciones in Zivil, und während er und Elizabeth im Flugzeug nach Santiago saßen, stritten die beiden staatlichen Organe, ob sie ihn ins Land lassen sollten oder nicht. Eigentlich sollte er bei einer Buchmesse auftreten, doch als sie an einem flirrend heißen, stickigen Tag aus dem Flugzeug stiegen, wurden sie von uniformierten Beamten umringt und unter lautem spanischem Gebrüll in eine stickige Baracke am hintersten Ende des Rollfelds bugsiert. Die Pässe wurden ihnen abgenommen. Es gab niemanden, der dolmetschen konnte, und als er versuchte zu fragen, was los sei, brüllte man ihn an und gab ihm mit unmissverständlichen Gesten zu verstehen, er solle zurücktreten und die Klappe halten. Willkommen in Südamerika, dachte er, während ihm der Schweiß in die Schuhe rann.

1993 war Augusto Pinochet zwar nicht mehr Präsident, aber immer noch Oberbefehlshaber des Heeres, und selbst während seines Niederganges hielt sich der Glaube an seine Macht und seinen unverminderten Einfluss. In Pinochets Chile waren die Sicherheitskräfte allmächtig. In diesem Fall allerdings balgten sich die beiden Polizeieinheiten wie die Köter, und er war der Knochen. Er musste an die Passage in Ryszard Kapu ´sci ´nskis König der Könige denken, in dem Kapu ´sci ´nski die beiden nebeneinander existierenden Geheimdienste Haile Selassies beschreibt, deren Hauptaufgabe darin besteht, sich gegenseitig auszuspionieren. Weniger amüsant war der Gedanke, dass verschwundene und auf unerklärliche Weise zu Tode gekommene Menschen in Chile bis vor kurzem an der Tagesordnung gewesen waren. Ließ man sie womöglich gerade verschwinden?

Nachdem man sie rund zwei Stunden in der Baracke festgehalten hatte, wurden sie zu einer als Hotel deklarierten Polizeieinrichtung gebracht. Es war kein Hotel. Ihre Zimmertür ließ sich von innen nicht öffnen. Bewaffnete Wachen standen davor. Immer wieder bat er darum, die Pässe wiederzubekommen, seinen Verleger anzurufen, mit dem englischen Botschafter zu sprechen. Die Wachen zuckten die Schultern. Sie sprachen kein Englisch. Weitere Stunden verstrichen. Es gab nichts zu essen oder zu trinken.

Seine Kidnapper wurden nachlässig. Ihre Zimmertür blieb offen, und obwohl das ›Hotel‹ vor Uniformierten wimmelte, stand keine Wache mehr davor. Er holte tief Luft. »Ich werde was ausprobieren«, sagte er zu Elizabeth. Er setzte seine Sonnenbrille auf, verließ das Zimmer und lief die Treppe hinunter in Richtung Ausgang.

Erst zwei Stockwerke tiefer bemerkte man ihn, und sofort wurde er von brüllenden, fuchtelnden Männern umlagert, doch er ließ sich nicht beirren. What you do. Where you go. Not possible. Er war jetzt am Empfangstresen, und eine Traube Männer mit betressten Uniformen und verspiegelten Sonnenbrillen umringte ihn; Männer mit Pistolen, bemerkte er, doch daran war er gewöhnt. Where you go? Stop. You stop. Er lächelte so freundlich wie möglich. »Ich gehe spazieren«, sagte er, zeigte auf die Eingangstür und ahmte mit seinen Fingern zwei Beine nach. »Ich war noch nie in Santiago, wissen Sie. Es sieht herrlich aus. Ich dachte, ich drehe mal eine kleine Runde.« Die Carabineros wussten nicht, was sie tun sollten. Sie drohten und schrien, doch niemand legte Hand an ihn. Er ging weiter. Er war jetzt zur Tür hinaus, seine Füße berührten den Gehsteig, er hatte keine Ahnung, wo das hinführen sollte, doch er bog nach links und wanderte weiter. »Sir, Sie müssen bitte sofort stehen bleiben.« Wie durch ein Wunder war ein Dolmetscher aufgetaucht. »Jetzt haben sie das Kaninchen doch noch aus dem Hut gezogen«, sagte er noch immer lächelnd und ging weiter. »Sir, was tun Sie da, bitte, das ist nicht erlaubt.« Er lächelte noch breiter. »Sagen Sie ihnen, wenn ich eine Straftat begehe, sollen sie mich festnehmen und ins Gefängnis stecken. Ansonsten will ich, dass sie mir in zwei Minuten den britischen Botschafter ans Telefon holen.« Zwei Minuten später sprach er mit der Botschaft. »Gott sei Dank«, sagte der Botschaftsangestellte am anderen Ende der Leitung. »Wir haben den ganzen Tag versucht, herauszufinden, wo Sie abgeblieben sind. Sie sind komplett vom Schirm verschwunden.«

Wenige Minuten darauf traf der Mann von der Botschaft ein. Noch nie hatte er sich so sehr gefreut, einen Diplomaten zu sehen. »Sie haben ja keine Ahnung, was hier los war. Beinahe hätten die Ihr Flugzeug umdrehen und zurück nach Hause fliegen lassen«, sagte er. Jetzt, da sich die internationale Diplomatie eingeschaltet hatte, war es Elizabeth und ihm erlaubt, in ein richtiges Hotel überzuwechseln, wo sie von einer Delegation chilenischer Schriftsteller begrüßt wurden, darunter Antonio Skármeta, der Autor des 1985 erschienenen Romans El Cartero de Neruda, der gerade unter dem Titel Il Postino verfilmt worden war. Skármeta, ein großer Mann mit einem großen Herzen, begrüßte ihn mit offenen Armen und einer Flut von Entschuldigungen. Ein Skandal. Eine Schande für uns Chilenen. Aber jetzt, wo wir wissen, dass Sie hier und in Sicherheit sind, machen wir das wieder gut.

Manche Dinge waren möglich und manche nicht. Für den Termin bei der Buchmesse war es bereits zu spät. Doch tags darauf sollte es in einem kleinen Theater eine Zusammenkunft von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten geben, wo es ihm erlaubt war, eine Rede zu halten. Danach sollten er und Elizabeth auf dem Weingut Concha y Toro und auf einer wunderschönen Estancia südlich von Santiago in den Geschmack der wahren chilenischen Gastfreundschaft kommen. Schöne Erlebnisse, deren Schnappschüsse jedoch verblassten und verschwanden. Das Bild ihres kurzen ›Verschwindens‹ in der Hand der Carabineros blieb bestehen. Chile schien kein Land zu sein, das man allzu bald wieder besuchen sollte.

Schnappschüsse aus Argentinien. Mitte der Siebziger war er in London zu einem Vortrag von Jorge Luis Borges gegangen, und dort oben auf dem Podium neben dem großen Schriftsteller, der aussah wie eine traurigere, südamerikanische Ausgabe des französischen Komikers Fernandel, saß eine wunderschöne junge, japanisch anmutende Frau. Wer ist das ?, hatte er gedacht, und jetzt, nach all den Jahren, kam sie auf sie zu, Borges’ legendäre Witwe María K. mit dem schwarzweiß gesträhnten Haar, um sie in Buenos Aires willkommen zu heißen und mit ihnen in dem nach ihr benannten Restaurant zu Mittag essen zu gehen. Danach brachte sie sie zu ihrer Fundación Internacional Jorge Luis Borges, die nicht in Borges’ ehemaligem Wohnhaus, sondern im Nachbargebäude untergebracht war, da der jetzige Besitzer das Haus nicht verkaufen wollte; das Haus der Fundación war das Spiegelbild des ›echten‹ Hauses, und es erschien passend, Borges mit einem Spiegelbild ein Denkmal zu setzen. Im Obergeschoss befand sich eine getreue Nachbildung seines Arbeitszimmers, eine kahle, enge, mönchische Zelle mit einem schlichten Tisch, einem Stuhl mit kerzengerader Lehne und einer Pritsche in der Ecke. Die übrigen Räume standen voller Bücher. Hatte man nicht das Glück gehabt, Borges selbst begegnet zu sein, so reichte das Kennenlernen seiner Bibliothek nahe heran. In diesen polyglotten Regalen standen die vom Autor so geliebten Ausgaben von Stevenson, Chesterton und Poe, dazu Bücher in nahezu allen erdenklichen Sprachen. Er erinnerte sich an die Anekdote der Begegnung zwischen Borges und Anthony Burgess. Wir haben den gleichen Namen , hatte Burgess dem argentinischen Meister gesagt, und um sich in einer gemeinsamen Sprache unterhalten zu können, die niemand der Umstehenden verstand, einigten sie sich auf Angelsächsisch und plauderten fröhlich in Beowulfs Idiom.

Es gab einen ganzen Raum voller Enzyklopädien, Nachschlagewerke zu jedem Thema, deren Seiten zweifellos das berühmte Lexikon aus Borges’ großartiger ficción ›Tlön, Uqbar, Orbis Tertius‹ mit dem trügerischen Namen Anglo-American Cyclopedia hervorgebracht hatten, ein »wortgetreuer, aber gesetzeswidriger Nachdruck der Encyclopedia Britannica von 1902«, in deren sechsundvierzigstem Band die fiktionalen Charaktere ›Borges‹ und ›Bioy Casares‹ auf einen Artikel über das Land Uqbar stoßen, und natürlich die magische Enzyklopädie von Tlön selbst.

Er hätte den ganzen Tag mit diesen wunderbaren Büchern zubringen können, doch er hatte nur eine Stunde. Als sie gingen, machte María Elizabeth ein wertvolles Geschenk, eine steinerne ›Sandrose‹, eines der ersten Geschenke, die Borges ihr gemacht hatte, und sagte, ich hoffe, ihr werdet so glücklich, wie wir es waren.

»Erinnern Sie sich an einen Essay, den Borges als Vorwort zu einem Argentinienbildband eines Fotografen namens Gustavo Thorlichen geschrieben hat?«, fragte er María.

»Ja. Den Essay, in dem er von der Umöglichkeit schreibt, die Pampa zu fotografieren.«

»Die unendliche Pampa«, sagte er, »die Borges’sche Pampa, die nicht Raum, sondern Zeit ist: Darin leben wir.«

In Buenos Aires gab es Polizeischutz, doch der war ertragbar, ausradierbar. Die Nachricht vom chilenischen Polizeiwahnsinn war ihm vorausgeeilt, und die argentinischen Sicherheitskräfte wollten eine bessere Figur machen und ließen ihm ein wenig Luft. Er konnte seine Arbeit für Des Mauren letzter Seufzer tun und sogar ein wenig Tourismus einschieben, ein Besuch der Familiengruft auf dem Friedhof La Recoleta, wo Eva Perón ruhte und eine kleine Lloyd-Webber-artige Plakette die Besucher ermahnte, nicht um sie zu weinen. No me llores. Na schön, dann nicht, sagte er still. Wie Sie wünschen, Lady.

Man hatte ihn um ein Treffen mit dem argentinischen Außenminister Guido di Tella gebeten, und auf dem Weg dorthin sagte ihm der Mitarbeiter der britischen Botschaft, der ihn begleitete, Alan Parker habe keine Erlaubnis bekommen, seinen Film Evita mit Madonna in der Casa Rosada zu drehen. »Wenn Sie das irgendwie erwähnen könnten«, murmelte der Diplomat, »wäre das sehr hilfreich. Vielleicht könnten Sie das ganz nebenbei einfließen lassen.« Das tat er. Nachdem Señor di Tella sich nach der Fatwa erkundigt und sich in den inzwischen üblichen (und überwiegend sinnentleerten) zustimmenden Lauten ergangen hatte, fragte er nach den Schwierigkeiten mit dem Film. Di Tella machte eine bedauernde Handbewegung. »Die Casa Rosada ist nun mal Regierungssitz, es ist schwierig, dort Dreharbeiten zuzulassen.«

»Tja, wissen Sie, dieser Film hat ein ziemlich großes Budget und wird auf jeden Fall gedreht, und wenn Sie für die Casa Rosada keine Drehgenehmigung geben, suchen die sich eben ein anderes Gebäude, vielleicht in, keine Ahnung … Uruguay?«

Di Tella zuckte zusammen. »Uruguay?«, rief er.

»Ja. Vielleicht. Vielleicht Uruguay.«

»Okay. Entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich muss kurz telefonieren.«

Kurz nach dieser Unterhaltung erhielt Evita eine Drehgenehmigung für die Casa Rosada. Als der Film in die Kinos kam, las er, Madonna habe persönlich auf den argentinischen Präsidenten eingewirkt, und vielleicht war das der eigentliche Grund für den Sinneswandel. Aber Uruguay hatte vielleicht auch etwas damit zu tun.

Schnappschuss aus Mexiko. Ja, es waren überall Polizisten, und, ja, er konnte sein Buch lancieren und über Meinungsfreiheit sprechen und die Überreste der blutrünstigen Azteken und das Haus von Frida Kahlo und Diego Rivera in Coyoacán besuchen und das Zimmer besichtigen, in dem der Mörder Mercader Trotzki einen Eispickel in den Kopf gerammt hatte, und, ja, er durfte zusammen mit Carlos Fuentes an der Buchmesse Guadalajara teilnehmen und wurde im Hubschrauber über die von blauen Agaven bewachsenen Hügel nach Tequila geflogen, um dort zusammen mit den anderen Autoren, die auf der Messe gesprochen hatten, auf einer alten Tequila-Hacienda zu Mittag zu essen, wo sogar eine Mariachiband spielte, und alle tranken zu viel Tres-Generaciones-Tequila, und es stellten sich Kopfschmerzen und andere übliche Folgeerscheinungen ein. Und, ja, sein Besuch in Tequila lieferte ihm den Hintergrund zu einer Anfangsszene von Der Boden unter ihren Füßen, in der die Stadt von einem Erdbeben erschüttert wird und die Fässer platzen und der Tequila durch die Straßen strömt. Und nach Tequila waren er und Elizabeth zusammen mit Carlos und Silvia Fuentes in einem kuriosen Haus namens Pascualitos zu Gast, das in Wirklichkeit eine Ansammlung von palapa-gedeckten Hütten mit Blick auf den Pazifischen Ozean war und in angesagten Büchern über moderne Architektur erwähnt wurde und, ja, er merkte, dass er Mexiko liebte. Doch all das war nicht der Punkt.

Der Punkt war, dass Carlos Fuentes eines Abends in Mexiko-Stadt sagte: »Es ist verrückt, dass Sie noch nie Gabriel García Márquez getroffen haben. Zu schade, dass er gerade in Kuba ist, denn wenn sich zwei Autoren kennenlernen sollten, dann Gabo und Sie.« Dann stand er auf, verließ das Zimmer, kehrte wenige Minuten später zurück und sagte: »Da ist jemand am Telefon, den Sie sprechen müssen.«

García Márquez behauptete, er könne kein Englisch, doch in Wirklichkeit verstand er es ziemlich gut. Sein Spanisch wiederum war ziemlich jämmerlich, doch wenn die Leute nicht zu viel Dialekt benutzten oder zu schnell sprachen, konnte er sie recht gut verstehen. Die einzige Sprache, die sie beide beherrschten, war Französisch, und so versuchten sie sich darin zu verständigen, wiewohl García Márquez – den man sich unmöglich als ›Gabo‹ vorstellen konnte – immer wieder ins Spanische verfiel und ihm mehr Englisch herausrutschte als beabsichtigt. Doch auf dem Schnappschuss, den seine Erinnerung von ihrer langen Unterhaltung gemacht hat, gab es seltsamerweise kein Sprachproblem. Sie redeten einfach miteinander, herzlich, freundschaftlich, fließend, und tauschten sich über ihre Bücher und die Welten aus, denen sie entsprangen. Er redete über die vielen Seiten südamerikanischen Lebens, die ihm aus Südasien vertraut waren – beides waren Welten mit einer langen kolonialistischen Vergangenheit, in denen die Religion lebendig und wichtig und oftmals unterdrückerisch war, in denen Generäle und Zivilisten um die Macht rangen, eine riesige Kluft zwischen Reich und Arm bestand und die Korruption blühte. Es sei nicht überraschend, meinte er, dass die südamerikanische Literatur im Osten so großen Anklang fand. Und Gabo – ›Gabo!‹ Es klang anmaßend, als würde man einen Gott bei seinem heimlichen Spitznamen nennen – sagte, die orientalischen Wundersagen hätten einen großen Einfluss auf die südamerikanischen Schriftsteller ausgeübt. Sie hatten also viel gemeinsam. Und dann machte García Márquez ihm das größte Kompliment, das er je bekommen hatte. Die einzigen Schriftsteller außerhalb der spanischen Sprache, denen ich stets zu folgen versuche, sind J. M. Coetzee und Sie. Allein für diesen Satz hatte sich die Reise gelohnt.

Erst als er aufgelegt hatte, fiel ihm auf, dass García Márquez kein einziges Wort zur Fatwa verloren oder sich erkundigt hatte, wie sein Leben damit aussah. Sie hatten von Schriftsteller zu Schriftsteller gesprochen, über Bücher. Das war ebenfalls ein großes Kompliment.

Schnappschuss vom Zusammenbruch der Zeit, vor dem Tag als. Von Mexiko flogen sie über Buenos Aires und Feuerland entlang der chilenischen Küste in Richtung Neuseeland. Als sie die internationale Datumsgrenze überquerten, gab sein Hirn auf. Hätte man ihm gesagt, es sei vier Uhr dreißig am letzten Dienstag, hätte er es geglaubt. Die Datumsgrenze war verstörend, sie ließ die Zeit wie trockenes Brot zwischen den Fingern zerbröseln, und man konnte die wüstesten Behauptungen darüber anstellen, die Leute sagten dennoch, okay, sicher, warum nicht. Die Datumsgrenze entlarvte die Zeit als Fiktion, als etwas nicht Wirkliches, alles schien möglich zu sein, die Tage konnten rückwärtsgehen, wenn sie wollten, oder das Leben spulte sich ab wie ein Film, der von der Rolle eines kaputten Projektors zu Boden haspelt. Die Zeit konnte abgehackt sein, eine Reihe unzusammenhängender Momente, willkürlich und ohne Sinn, oder sie konnte verzweifelt die Arme hochreißen und enden. Diese jähe chronologische Verstörung ließ ihn schwindeln und fast besinnungslos werden. Als er wieder zu sich kam, war er in Neuseeland und zurück im tröstlichen Englisch. Doch es wartete eine noch größere Verstörung auf ihn. Er mochte die Schwingen des Todesengels nicht hören, doch sie waren dort oben und senkten sich immer tiefer auf ihn herab.

Schnappschuss von den Tagen vor dem Tag als . In Neuseeland und Australien war die Sicherheitspolizei vernünftiger, weniger aufdringlich und leichter zu ertragen. Doch es gab etwas, von dem sie nicht wussten. Als sie über die Nordinsel am Mount Ruapehu vorbeifuhren, der schon seit Monaten aktiv war und von dessen Gipfel aus sich eine grimmige Wolke quer über den Himmel zog, dachten sie nicht an Zeichen oder Omen. In Australien verbrachten sie ein Wochenende unweit von Sydney in den Blue Mountains auf einem Anwesen mit dem treffenden Namen ›Happy Daze‹. Ihre Gastgeber waren Julie Clarke und Richard Neville, der große Post-Hippie und ehemalige Herausgeber des Oz Magazine , Angeklagter im berühmten Oz Schoolkids Issue -Unzuchtsprozess und mit seinen Memoiren Hippie Hippie Shake sprühender Chronist der Sixties-Gegenkultur. Und an diesem entrückten Ort (sie schliefen in einem Baumhaus) war es fast unmöglich, an etwas anderes als an Peace and Love zu denken. Sie konnten nicht ahnen, dass sie in zwei Tagen dem Tod so nahe kommen würden wie nie zuvor, der tödlichste Moment in all diesen bedrohlichen Jahren.

Schnappschuss des Tages als. Nachdem der offizielle Teil der Reise hinter ihnen lag, beschlossen sie, Weihnachten in der Sonne zu verbringen, und da niemand wusste, dass sie noch im Land waren, war die Polizei einverstanden, dass sie keinen weiteren Schutz bräuchten. Der Schriftsteller Rodney Hall lebte vier Autostunden von Sydney entfernt in Bermagui, New South Wales, in einem wunderschönen, abgelegenen Haus am Meer und hatte sie eingeladen, die Festtage bei ihm zu verbringen. Weihnachten in Bermagui würde ganz ungestört und idyllisch werden, hatte er ihnen versichert. Nach dem Ende des Schuljahres kam Zafar aus London zu ihnen nach Sydney geflogen. Mit sechzehneinhalb Jahren war Zafar ein großer, breitschultriger junger Mann mit erstaunlichem körperlichem Selbstvertrauen. An dem Morgen, als sie gerade in einem Lokal unweit von Bondi Beach mit einem Kaffee darauf anstießen, dass die Polizei sich zurückgezogen und sie sich selbst überlassen hatte, warf ihnen ein arabisch aussehender Mann verdächtige Blicke zu und stand dann hektisch telefonierend auf dem Gehsteig. »Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit dem reden«, sagte Zafar und stand auf, und sein Vater, der das seltsame, gute Gefühl hatte, von seinem Sohn beschützt zu werden, bat ihn dennoch, es zu lassen. Der telefonierende Mann stellte sich als harmlos heraus, und sie gingen zu ihrem geparkten Holden, um die lange Fahrt gen Süden anzutreten.

Elizabeth hatte eine Hörbuch-Kassette von Homers Ilias dabei und schob sie in den Rekorder des Autoradios, und so glitten sie auf dem Princes Highway durch das südliche New South Wales, an Thirroul, dem Vorort von Wollongong, vorbei, wo D. H. Lawrence Kangaroo geschrieben hatte, und weiter zur Küste. Die Didgeridooklänge australischer Ortsbezeichnungen setzten einen Kontrapunkt zu den martialischen, tragischen Namen aus Griechenland und Troja, Gerringong, Agamemnon, Nowra, Priamos, Iphigenie, Tomerong, Klytaimnestra, Wandandian, Jerrawangala, Hektor, Yatte Yattah, Mondayong, Andromache, Achilles; und Zafar lag eingelullt von der uralten Sage ›weindunkler‹, fischreicher See auf der Rückbank und fiel in tiefen Schlaf.

Auf halber Strecke erreichten sie das Städtchen Milton, er saß bereits zwei Stunden am Steuer und hätte wahrscheinlich anhalten und mit Elizabeth wechseln sollen, aber nein, sagte er, ihm gehe es gut, er fahre gern weiter. Die Kassette war zu Ende, und für einen Augenblick – für den Bruchteil eines Augenblicks – glitt sein Blick zum Eject-Knopf, und dann passierten mehrere Dinge sehr schnell hintereinander, obgleich die Zeit, deren Existenz seit der Überquerung der Datumsgrenze sowieso fragwürdig war, langsamer zu werden und fast zum Stillstand zu kommen schien. Ein riesiger Sattelschlepper bog aus einer Seitenstraße und fuhr eine weite Linkskurve, und später sollte er immer sagen, dass die Führerkabine die weiße Linie überschritten hatte, wiewohl Elizabeth meinte, er sei leicht nach rechts ausgeschert, doch wie auch immer, plötzlich war da ein gellendes Kreischen, das entsetzliche Todesgeräusch von Metall auf Metall, als die Führerkabine die Fahrertür des Holden voll erwischte, sie eindrückte, und die Zeitlupe verlangsamte noch mehr, der Truck schien ihn eine Ewigkeit mitzuschleifen, zwanzig Sekunden vielleicht oder eine Stunde, und als der Truck endlich von ihnen abließ, schlitterte der Holden seitlich über den Asphalt auf den grasbedeckten Straßensaum zu, und gleich dahinter stand ein stattlicher, ausladender Baum, und irgendwann, während er mit dem Lenkrad rang, formte sich der Gedanke in Zeitlupe in seinem Hirn: Ich werde diesem Baum nicht ausweichen können, wir werden gegen diesen Baum prallen, oh, da ist er, wir prallen gegen den Baum, wir prallen dagegen … jetzt , und er sah Elizabeth an, die nach vorn in ihren Gurt geschleudert wurde, mit aufgerissenen Augen, offenem Mund, und eine kleine weiße Dampfwolke entwich ihrem Mund wie eine Sprechblase, und er fürchtete, dies sei der Moment, in dem das Leben ihren Körper verließ, und schrie mit einer Stimme, die nicht die seine war, bist du okay, und fragte sich, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen würde, wenn er keine Antwort bekäme.

Zafar wachte auf. »Ist was passiert?«, fragte er verschlafen. »Was ist los?« Na ja, siehst du den Baum, der jetzt mitten im Auto steht? Das ist los.

Sie waren alle am Leben. In neun von zehn Fällen hätte ein solcher Unfall alle Insassen des Wagens getötet, doch dies war der zehnte Fall, und niemand hatte sich auch nur einen Knochen gebrochen. Der Truck hätte das Auto unterpflügen und sie alle köpfen können, doch stattdessen war es an einem Reifen abgeprallt. Und im Fond neben seinem schlafenden Sohn hatte eine offene Kiste Wein auf dem Boden gestanden, die sie Rodney mitbringen wollten. Als der Wagen den Baum gerammt hatte, waren die Flaschen wie Raketen nach vorn geschossen und in die Windschutzscheibe gekracht. Hätten sie ihn oder Elizabeth getroffen, hätten sie ihre Schädel zertrümmert. Doch die Raketen sausten über ihre Schultern hinweg an ihnen vorbei. Unverletzt und ohne Hilfe stiegen Elizabeth und Zafar aus dem Wagen. Er hatte nicht ganz so viel Glück gehabt. Die Fahrertür war zerdrückt und musste von außen geöffnet werden, und er hatte schwere Prellungen und mehrere tiefe Schnittwunden an seinem bloßen rechten Unterarm und dem rechten Fuß, der nur in einer Sandale steckte. Auf dem Unterarm hatte sich eine eiförmige Schwellung gebildet, die auf einen Bruch hindeuten mochte. Die freundlichen Miltoner eilten zu Hilfe, und er wurde zu einem Rasenflecken geführt, um sich hinzusetzen, sprachlos und überwältigt von dem Schock und der Erleichterung.

Noch ein glücklicher Zufall: Ganz in der Nähe gab es eine medizinische Einrichtung, das Milton-Ulladulla Hospital, und in kürzester Zeit war ein Krankenwagen da. Die Männer in Weiß, die auf sie zueilten, blieben mit verwunderten Blicken stehen: »Entschuldigung, Mate, aber sind Sie nicht Salman Rushdie?« In dem Moment wäre er es wirklich lieber nicht gewesen. Er wollte irgendein x-beliebiger Mensch sein, der medizinisch versorgt wurde. Aber er war es nun einmal. »Okay, okay, Mate, das ist jetzt vielleicht ein total unpassender Moment, um Sie das zu fragen, aber würden Sie mir ein Autogramm geben?« Gib dem Mann ein Autogramm, dachte er. Er hat den Krankenwagen.

Die Polizei traf ein und befragte den Truckfahrer, der noch immer in seinem Führerhäuschen saß und sich am Kopf kratzte. Der Truck schien vollkommen unversehrt zu sein. Dieser Koloss hatte den Holden zerquetscht und offenbar nicht die winzigste Schramme davongetragen. Doch die Polizei nahm den Fahrer ziemlich in die Mangel. Sie hatten ebenfalls spitzgekriegt, dass der verletzte Mann, der da völlig verstört im Gras hockte, Salman Rushdie war, und deshalb wollten sie wissen, welcher Religion er angehöre. Der Fahrer machte ein verdattertes Gesicht. »Was hat denn meine Religion damit zu tun?« Nun ja, war er ein Muzlim? Oder Islammic? Oder Eye-ray-nian? Hatte er deshalb versucht, Mr Rushdie umzubringen? Vielleicht einer von diesen Ayatollah-Brüdern? Hatte er diese Dings, diese Fatzke ausführen wollen? Der arme Fahrer schüttelte verwirrt den Kopf. Er habe keine Ahnung, wer der Typ sei, mit dem er zusammengestoßen sei. Er sei einfach nur mit seinem Truck unterwegs gewesen und wisse nichts von irgendeiner Fatzke. Schließlich glaubte die Polizei ihm und ließ ihn fahren.

Der Hänger des Trucks war mit frischem Dünger beladen gewesen. »Du meinst«, sagte er leicht hysterisch zu Zafar und Elizabeth, »wir wären beinahe von einer Wagenladung Scheiße umgebracht worden? Wir wären fast unter einer Fuhre Mist krepiert?« Ja, ganz genau. Nachdem er fast sieben Jahre lang professionellen Killern erfolgreich aus dem Weg gegangen war, wären er und seine Lieben um Haaresbreite unter einer riesigen Lawine Dünger geendet.

*

Eine Reihe sorgfältiger Untersuchungen im Krankenhaus ergab, dass alle wohlauf waren. Sein Arm war nicht gebrochen, sondern lediglich stark geprellt. Er rief Rodney Hall an, der sich sogleich auf den Weg machte, um sie abzuholen, doch das konnte zwei Stunden dauern. In der Zwischenzeit strömten die Medien herbei. Das Krankenhauspersonal machte einen großartigen Job, hielt die Journalisten in Schach und verweigerte jegliche Auskunft, wer oder wer nicht bei ihnen in Behandlung sei. Doch die Medien hatten ihren Riecher und ließen sich nicht abwimmeln. »Wenn Sie wollen, können Sie hierbleiben und auf Ihren Freund warten«, sagten der Arzt und die Schwestern. Also blieben sie in der Notaufnahme sitzen und musterten einander zaghaft, als müssten sie sich versichern, dass die anderen wirklich noch da waren.

Hektisch und besorgt traf Rodney ein. Die Presse sei noch immer draußen, sagte er, wie sollen wir es also anstellen? An denen vorbeimarschieren und die ihre Fotos knipsen lassen? »Nein«, sagte er. »Erstens habe ich keine Lust, morgen ein Foto von mir mit blauen Flecken und dem Arm in der Schlinge in allen Zeitungen zu sehen. Und zweitens, wenn ich in deinem Auto losfahre, haben die sofort raus, wo ich bin, und das würde uns das Weihnachtsfest ruinieren.«

»Ich könnte Elizabeth und Zafar mitnehmen, und wir treffen uns ein paar Meilen weiter südlich wieder«, schlug Rodney vor. »Niemand weiß, wie Zafar und Elizabeth aussehen, also sollten wir hier ganz gemütlich rausspazieren können.«

Dr. Johnson, der freundliche junge Arzt, der sich um sie gekümmert hatte, hatte eine Idee. »Mein Auto steht auf dem Personalparkplatz. Da ist keine Presse. Ich könnte Sie zum Treffpunkt mit Ihren Freunden bringen.«

»Das ist wahnsinnig nett von Ihnen«, sagte er. »Sind Sie sicher?«

»Machen Sie Witze?«, sagte Dr. Johnson. »Das ist vielleicht das Aufregendste, was sich je in Milton abgespielt hat.«

*

Rodneys Haus stand, umgeben von Eukalyptuswald, auf einer kleinen Landzunge an einem fast vollkommen menschenleeren Strand und war genauso abgeschieden und idyllisch, wie er vorausgesagt hatte. Sie wurden willkommen geheißen, umsorgt, mit Wein und Essen beköstigt und verpflegt; sie lasen einander Bücher vor, gingen spazieren und schliefen, und ganz allmählich ließ der Schock des Unfalls nach. Am Weihnachtstag badeten sie morgens in der Tasmansee und aßen abends auf der Wiese unter freiem Himmel ein festliches Weihnachtsessen. Schweigend blickte er Elizabeth und Zafar an und dachte: Wir sind noch da. Sieh uns an. Wir sind noch am Leben.