ALS ER VOR LANGER ZEIT EINMAL Mijas besuchte – die Stadt, in der sich Manuel Cortés drei Jahrzehnte lang in einem Alkoven hinter einem Kleiderschrank versteckt hielt und, als seine Familie umziehen musste, als alte Frau verkleidet durch die Straßen ging, deren Bürgermeister er einst gewesen war –, hatte er einen deutschstämmigen Fotografen namens Gustavo Thorlichen getroffen, einen großen, gut aussehenden Mann mit Raubvogelprofil, glattem, silbergrauem Haar und drei guten Geschichten in der Tasche. In den Exilantenkreisen von Mijas wurde gemunkelt, er sei wohl ein Ex-Nazi, weil er in Südamerika gelandet war. Tatsächlich war er in den Dreißigern nach Argentinien gegangen, um den Nazis zu entkommen. Eines Tages war er in Buenos Aires aufgefordert worden, Eva Perón zu fotografieren, als »einer von vier Fotografen, dem diese Ehre zuteil wird«, so Peróns Berater am Telefon. Er holte tief Luft und entgegnete: »Danke für diese Ehre, doch wenn ich Fotos machen soll, sollten Sie mich bitten, allein zu kommen, andernfalls muss ich ergebenst ablehnen.« Es herrschte Schweigen, dann sagte der Berater: »Für das, was Sie gerade gesagt haben, könnte man Sie des Landes verweisen.« – »Wenn dem so ist«, erwiderte Gustavo, »sollte ich sowieso besser gehen.« Er legte auf, ging ins Schafzimmer und sagte zu seiner Frau, »Pack unsere Sachen.« Zwanzig Minuten später klingelte das Telefon abermals und derselbe Berater sagte: »Evita wird Sie morgen früh um elf empfangen, allein.« Er wurde zu Eva und Juan Peróns persönlichem Fotografen, und das berühmte Porträt der toten Evita sei, so behauptete er, von ihm.

Das war die erste gute Geschichte. Die zweite erzählt davon, wie er in La Paz mit dem jungen Che Guevara umherzog, der ihn in seinen Motorcycle Diaries als ›großen fotografischen Künstler‹ bezeichnet. Die dritte handelte davon, wie er als junger, gerade angehender Fotograf in einer Buchhandlung in Buenos Aires stand und in dem sehr viel älteren Mann, der in den Laden schlurfte, Jorge Luis Borges erkannte. Er nahm all seinen Mut zusammen, ging auf den berühmten Schriftsteller zu und sagte, er arbeite gerade an einem Fotoband, einem Porträt von Argentinien, und würde sich sehr geehrt fühlen, wenn Borges das Vorwort dazu schriebe. Einen blinden Mann um das Vorwort zu einem Bildband zu bitten, war natürlich verrückt, er tat es dennoch. »Gehen wir ein paar Schritte«, sagte Borges. Auf ihrem Spaziergang durch die Stadt beschrieb Borges die Gebäude ringsherum mit fotografischer Genauigkeit. Doch hin und wieder war ein altes Haus abgerissen und durch ein neues ersetzt worden. Dann blieb Borges stehen und sagte: »Beschreiben Sie es. Fangen Sie beim Erdgeschoss an und gehen Sie nach oben.« Während Gustavo sprach, konnte er sehen, wie Borges das neue Gebäude im Geiste nachbaute und an seinen Platz rückte. Am Ende ihres Rundganges sagte Borges ihm das Vorwort zu.

Thorlichen hatte ihm ein Exemplar des Argentinien-Buches geschenkt, und obgleich es inzwischen wie fast all seine Habseligkeiten eingemottet in irgendwelchen Kisten lag, konnte er sich noch genau erinnern, was Borges über die Grenzen der Fotografie geschrieben hatte. Die Fotografie sehe nur das, was vor ihr liege, weshalb es einem Fotografen unmöglich sei, die Wahrheit der riesigen argentinischen Pampa zu bannen. »Darwin stellte fest (und Hudson bestärkte ihn darin), dass diese Steppe, berühmt unter den Steppen der Erde, nicht bei dem, der sie vom Boden oder vom Pferde aus betrachtet, den Eindruck der Weite hinterlässt, da ihr Horizont der des Auges ist und nicht über drei Meilen hinausgeht. Mit anderen Worten: Die Weite ist nicht in jeder Wahrnehmung der Pampa (das, was die Kamera registrieren kann), sondern in der Vorstellung des Reisenden, in seiner Erinnerung an Tagesmärsche und in seiner Voraussicht.« Nur in der vergehenden Zeit offenbare sich die endlose Weite der Pampa, doch Dauer lasse sich in einer Fotografie nicht bannen. Ein Foto der Pampa zeige nichts weiter als eine riesige Fläche. Es könne nicht festhalten, was es bedeutet, die schier irremachende Monotonie dieser ewiggleichen, nie endenden Leere weiter und immer weiter zu durchqueren.

Wie sich das vierte Jahr seines neuen Lebens vor ihm erstreckte, fühlte er sich oft wie Borges’ imaginärer Reisender, verloren in Raum und Zeit. Noch war der Film Und täglich grüßt das Murmeltier nicht in den Kinos, doch als er ihn sah, konnte er sich sehr gut in Bill Murrays Figur hineinversetzen. Auch in seinem Leben wurde jeder Schritt nach vorn durch einen Rückschritt zunichte gemacht. Die Illusion von Veränderung zerbrach an der Erkenntnis, dass nichts sich geändert hatte. Hoffnung mündete in Enttäuschung, gute Neuigkeiten in schlechte. Sein Leben verlief in einer Endlosschleife. Hätte er gewusst, dass sich bis weit jenseits des Horizonts weitere sechs Jahre der Zwangsisolation vor ihm ausdehnten, wäre er womöglich tatsächlich durchgedreht. Doch reichte sein Blick nur bis zum Rand der Erde; was dahinter lag, war ein Geheimnis. Er blieb beim Jetzt und überließ die Ewigkeit sich selbst.

Nachher hörte er von seinen Freunden, man hätte sehen können, wie die Last ihn langsam niederdrückte und ihn älter aussehen ließ, als er war. Als sie schließlich von seinen Schultern genommen wurde, kehrte eine Art Jugend zurück, als wäre die Zeit am Ende der Unendlichkeit zu dem Punkt zurückgesprungen, an dem er in den Sog hineingeraten war. In seinen Fünfzigern sah er jünger aus als in seinen Vierzigern. Doch seine Fünfziger waren noch ein halbes Jahrzehnt entfernt, und bis dahin sollten noch viele Menschen unduldsam, genervt oder gelangweilt reagieren, sobald seine Geschichte zur Sprache kam. Es waren keine geduldigen, sondern schnelllebige Zeiten, in denen nichts die Aufmerksamkeit lange zu halten vermochte. Geschäftsleuten, denen seine Geschichte bei ihren Bemühungen um den iranischen Markt in die Quere kam, wurde er ebenso lästig wie Diplomaten, die Brücken bauen wollten, oder Journalisten, denen er keine neuen Storys lieferte. Dass die Story in ihrer unveränderlichen, unerträglichen Endlosigkeit bestand, konnten oder wollten die Leute nicht hören. Dass er jeden Morgen in einem Haus voller bewaffneter Fremder aufwachte, dass er nicht vor die Tür gehen konnte, um sich eine Zeitung oder einen Kaffee zu kaufen, dass der Großteil seiner Freunde und selbst seine Familie seinen Aufenthaltsort nicht kannte und dass er keinen einzigen Schritt ohne Genehmigung tun konnte; dass er um allgemeine Selbstverständlichkeiten wie Flugreisen feilschen musste; und dass stets die unmittelbare Gefahr eines gewaltsamen Todes lauerte, die laut denen, die sich damit auskannten, keinen Deut gesunken war – das war öde. Was? Er war noch immer in der Pampa unterwegs und alles war wie ehedem? Tja, die Geschichte kannte nun wirklich jeder, die wollte keiner mehr hören. Erzähl uns was Neues, lautete der allgemeine Tenor, oder lass uns in Ruhe.

Es hatte keinen Zweck, der Welt zu sagen, dass sie falschlag. In die Richtung war kein Land zu machen. Also gut, etwas Neues. Wenn es das war, was alle wollten, würde er es liefern. Schluss mit der Unsichtbarkeit, dem Schweigen, der Verzagtheit, der Gegenwehr, der Schuld! Ein unsichtbarer, mundtot gemachter Mann war ein Vakuum, das andere mit ihren Vorurteilen, ihren Hintergedanken und ihrem Zorn füllen konnten. Der Kampf gegen Fanatismus brauchte klare Gesichter und deutliche Stimmen. Er würde nicht länger schweigen. Er würde sich daranmachen, hörbar und sichtbar zu werden.

Es war nicht einfach, auf einer derart öffentlichen Bühne zu stehen. Man musste sich zurechtfinden und lernen, sich im gleißenden Rampenlicht zu bewegen. Er war herumgetappt und gestrauchelt, hatte die Sprache verloren und das Falsche gesagt. Doch jetzt sah er klarer. In der Stationers’ Hall hatte er sich geweigert, eine Unperson zu sein. Amerika hatte es ihm ermöglicht, seine Rückreise zum Menschsein anzutreten, zuerst an der Columbia und dann in Washington. Die Kämpferrolle war würdevoller als die Opferrolle. Ja, er würde für seine Sache kämpfen. Von nun an würde das die Story sein.

Sollte er je ein Buch über diese Jahre schreiben, wie würde es aussehen? Er könnte natürlich andere Namen verwenden und diese Leute ›Helen Hammington‹ und ›Rab Connolly‹, ›Paul Topper‹ und ›Dick Wood‹ oder ›Mr Afternoon‹ und ›Mr Morning‹ nennen, doch wie könnte er vermitteln, wie diese Jahre gewesen waren? Er fing an über ein Projekt mit dem Arbeitstitel ›Inferno‹ nachzudenken, in dem seine Geschichte zu etwas anderem würde als zu einer einfachen Autobiografie. Das halluzinatorische Porträt eines Mannes, dessen Weltbild zerstört wurde. Wie jeder Mensch hatte er ein Bild von der Welt gehabt, das irgendwie einen Sinn ergab. Er hatte in diesem Bild gelebt, begriffen, weshalb es so und nicht anders war, und gelernt, sich darin zurechtzufinden. Dann war die Fatwa wie ein wuchtiger Hammer darauf niedergesaust und hatte ihn in einem absurden, formlosen, amoralischen Universum zurückgelassen, das keinen Sinn ergab und vor Gefahren strotzte. Der Mann in seiner Geschichte versuchte verzweifelt, sein Weltbild zusammenzuhalten, doch es zerbrach wie ein Spiegel und schnitt ihm die Hände blutig. Vom Wahnsinn gepackt, machte sich der Mann mit den blutenden Händen, der ein Abbild seiner selbst war, auf den Weg aus dem finsteren Wald ins Licht, durchquerte die zahllosen Höllenkreise, die privaten und öffentlichen Unterwelten, tauchte ein in die verborgenen Reiche des Terrors und strebte großen, verbotenen Gedanken entgegen.

Nach einer Weile verwarf er die Idee. Das einzig Interessante an dieser Geschichte war, dass sie sich tatsächlich zugetragen hatte. Als Fiktion interessierte sie nicht.

Sein tägliches Leben war hart, doch entgegen den Befürchtungen seiner Freunde ging er nicht in die Knie. Er lernte, sich zu wehren, und die unsterblichen Schriftsteller der Vergangenheit waren seine Leitbilder. Schließlich war er nicht der Erste, der wegen seiner Kunst bedroht, geächtet und verdammt wurde. Er dachte an den großartigen Dostojewski, der dem Erschießungskommando gegenüberstand und, nachdem er in letzter Minute begnadigt worden war, vier Jahre im Gefangenenlager verbrachte; an Genet, der sein zutiefst homoerotisches Meisterwerk Notre-Dames-des-Fleurs im Gefängnis unbeirrt weiterschrieb. Der französische Übersetzer von Les Versets Sataniques hatte seinen eigenen Namen nicht verwenden wollen und sich stattdessen ›A. Nasier‹ genannt, zu Ehren des großen François Rabelais, der sein erstes Buch Pantagruel unter dem Pseudonym ›Alcofribas Nasier‹ herausgebracht hatte. Auch Rabelais war von der hohen Geistlichkeit verdammt worden. Die katholische Kirche konnte seine überbordende Satire einfach nicht verknusen. Doch König Franz I. hatte sich auf seine Seite gestellt: Diesem Genie dürfe man nicht den Mund verbieten. Damals wurden Künstler noch von Königen verteidigt, weil sie ihr Handwerk beherrschten. Das waren harmlosere Zeiten gewesen.

Sein Fehler hatte ihm die Augen geöffnet, die Gedanken geläutert und ihm jegliche Zweideutigkeit ausgetrieben. Er erkannte die Gefahr, die sich zusammenbraute, hatte er doch ihre verderbliche Kraft in seiner eigenen Brust gespürt. Eine Zeitlang hatte er seine Sprache aufgegeben und war zum Sprechen gezwungen worden, stockend, verschraubt, mit einem Zungenschlag, der nicht der seine war. Der Kompromiss hat den Kompromissler zerstört und den kompromisslosen Feind nicht beschwichtigen können. Malt man sich die Flügel schwarz, wird man nicht zur Krähe, sondern zur ölverschmierten Möwe, die nicht mehr fliegen kann. Die größte Gefahr der wachsenden Bedrohung lag darin, dass gute Menschen intellektuellen Selbstmord begingen und es Frieden nannten, sich der Angst ergaben und es Respekt nannten.

Ehe irgendjemand sonst sich für die Ornithologie des Terrors interessierte, sah er die sich sammelnden Vögel. Er würde die Kassandra seiner Zeit sein, verwünscht und ungehört, und sollte ihn doch jemand hören, würde er für das, was er aufzeigte, verantwortlich gemacht werden. Schlangen hatten ihm die Ohren geleckt und er konnte die Zukunft hören. Nein, nicht Kassandra, das traf es nicht, er war kein Prophet. Er horchte lediglich in die richtige Richtung und blickte dem herannahenden Sturm entgegen. Doch die Blickrichtung der Menschen zu ändern war schwer. Niemand wollte wissen, was er wusste.

Miltons Areopagitica sang gegen die lärmenden Krähen an. Wer aber ein gutes Buch vernichtet, der versetzt der Vernunft selbst den Todesstoß … Wonach mich verlangt, das ist die allem anderen vorzuziehende Freiheit, sich nach Maßgabe des eigenen Gewissens frei zu unterrichten, zu äußern und mit anderen auseinanderzusetzen. Es war lange her, dass er die alten Texte über die Freiheit gelesen hatte, und damals hatte er sie als schön, aber theoretisch empfunden. Wozu brauchte er eine Theorie der Freiheit, wenn er sie lebte? Heute empfand er anders.

Die Schriftsteller, die stets am deutlichsten zu ihm gesprochen hatten, bildeten eine Art Gegengruppe zur Leavis’schen ›Great Tradition‹. Sie erfassten die Unwirklichkeit der ›Wirklichkeit‹ und die Wirklichkeit des düsteren Wachtraums der Welt, die ungeheuerliche Wandelbarkeit des Alltäglichen, den Einbruch des Extremen und Unwahrscheinlichen in das gewohnte Einerlei. Rabelais, Gogol, Kafka und ihresgleichen waren seine Lehrmeister, und ihre Welt war für ihn kein Fantasiegespinst mehr. Er lebte im Gogolesken, Rabelaisken, Kafkaesken, war darin gefangen.

Auf den von Elizabeth akribisch in große Alben geklebten Fotos aus jener Zeit ist Mr Joseph Anton nicht sonderlich gut gekleidet. Seine Standardkluft bestand aus Jogginghose und Sweatshirt. Die Hose war meistens grün, das Sweatshirt braun. Sein Haar war zu lang und sein Bart ungepflegt. So auszusehen bedeutete, ich lasse mich gehen. Man muss mich nicht ernst nehmen. Ich bin ein Schlappschwanz. Er hätte sich täglich rasieren und frisch gestärkte Kleidung tragen sollen, Savile-Row-Anzüge vielleicht, oder zumindest ein gutes Hemd und eine anständige Hose. Er hätte sich im Brooks-Brothers-Anzug an den Schreibtisch setzen sollen wie Scott Fitzgerald oder mit steifem Kragen und Manschettenknöpfen wie Borges. Hätte er mehr auf sein Äußeres geachtet, wäre das Urteil über ihn vielleicht besser ausgefallen. Hemingway in seinen Baumwollshorts und Sandalen war allerdings auch nicht schlecht. Wie gern hätte er auf diesen Fotos schöne Schuhe an seinen Füßen gesehen, zweifarbige Schnürschuhe oder weiße Lederschuhe. Stattdessen schlappte er in Birkenstocks durchs Haus, von Crocs abgesehen das trostloseste Schuhwerk überhaupt. Er sah in den Spiegel und ertrug den Anblick nicht. Er stutzte seinen Bart, ließ sich von Elizabeth die Haare schneiden – die schicke Elizabeth, die, als sie sich kennenlernten, noch wie eine Studentin herumgelaufen war und jetzt wie eine gestrandete Nixe, die das Meer entdeckt, in Designerklamotten schwelgte – und bat die Polizisten, mit ihm neue Anziehsachen kaufen zu gehen. Es war höchste Zeit, sich seiner selbst wieder anzunehmen. Er zog in die Schlacht und seine Rüstung musste glänzen.

*

Wenn etwas zum allerersten Mal geschieht, stürzt das die Menschen häufig in Verwirrung, als würden selbst die klarsten Köpfe von einer Art Nebel getrübt, und häufig verwandelt sich diese Verwirrung in Ablehnung oder gar Wut. Ein Fisch kroch aus dem Schlick an Land, und die anderen Fische waren perplex, womöglich gar verärgert, dass eine verbotene Grenze überschritten wurde. Ein Meteorit traf auf die Erde und der Staub verhüllte die Sonne, doch die Dinosaurier kämpften und fraßen weiter, ohne zu begreifen, dass ihre Zeit vorbei war. Die Entstehung der Sprache erzürnte die Stummen. Im Angesicht der osmanischen Geschütze wollte der Schah von Persien nicht wahrhaben, dass die Ära des Schwertes vorüber war, und ließ seine Kavallerie gegen die donnernden türkischen Kanonen in den Tod reiten. Ein Forscher beobachtete Schildkröten und Spottdrosseln und schrieb über Zufallsmutation und natürliche Selektion, und die Anhänger der Schöpfungsgeschichte verwünschten seinen Namen. Eine Revolution in der Malerei wurde verlacht und als Impressionismus abgetan. Ein Folksänger schloss seine Gitarre an einen Verstärker an und eine Stimme aus dem Publikum brüllte ›Judas!‹

Das war die Frage, die sein Roman gestellt hatte: Wie kommt das Neue in die Welt?

Die Ankunft des Neuen bedeutete nicht zwangsläufig Fortschritt. Die Menschen fanden auch neue Methoden, einander zu drangsalieren, ihre besten Errungenschaften zunichte zu machen und wieder in der Ursuppe zu versinken. Sowohl die düstersten als auch die strahlendsten menschlichen Neuerungen verwirrten die Menschheit. Als die ersten Hexen verbrannt wurden, war es leichter, die Hexen zu verteufeln als danach zu fragen, ob ihre Verbrennung statthaft ist. Als der Gestank der Gaskammern durch die Straßen der nahe gelegenen Dörfer wehte und schwarzer Schnee vom Himmel fiel, war es leichter, nicht zu begreifen. Die meisten Chinesen begriffen die gefallenen Helden von Tianan’men nicht. Das Begriffsvermögen der Verantwortlichen ging in die Irre. Als in der muslimischen Welt die Tyrannen an die Macht kamen, waren viele schnell dabei, ihre Regime als authentisch und deren Opposition als verwestlicht und entfremdet zu bezeichnen. Als ein pakistanischer Politiker eine zu Unrecht der Blasphemie angeklagte Frau in Schutz nahm, wurde er von seinem Bodyguard umgebracht; das Land applaudierte dem Mörder und bewarf ihn auf dem Weg ins Gericht mit Blütenblättern. Die meisten dieser düsteren Innovationen entstanden im Namen einer totalitären Ideologie, eines Alleinherrschers, eines ehernen Dogmas oder eines Gottes.

Trotz der zahlreichen Schlagzeilen war der Angriff auf Die satanischen Verse an sich eine Marginalie, und das machte es schwer, die Leute davon zu überzeugen, dass er dennoch erheblich genug war, um eine besondere Antwort zu fordern. Als er seine lange Reise durch die Machtkorridore der Welt antrat, war er gezwungen, seinen Fall wieder und wieder darzulegen. Ein ernstzunehmender Schriftsteller hat ein ernstzunehmendes Buch geschrieben. Die gewaltsame und bedrohliche Antwort darauf war ein terroristischer Akt, dem man entgegentreten muss. Nun, aber sein Buch hat viele Menschen beleidigt, oder nicht? Schon möglich, doch der Angriff auf das Buch, auf dessen Autor, Verleger, Übersetzer und Händler war eine weitaus größere Beleidigung. Aha, nachdem er Ärger gemacht habe, wolle er sich gegen die verärgerte Gegenreaktion wehren, und die führenden Köpfe der Welt sollten für sein Recht eintreten, Ärger zu machen.

Im siebzehnten Jahrhundert entwickelte der englische Hexenjäger Matthew Hopkins einen Hexentest. Man beschwerte die beschuldigte Frau mit Steinen oder fesselte sie auf einen Stuhl und warf sie in einen Fluss oder See. Wenn sie nicht unterging, war sie eine Hexe und verdiente den Feuertod; wenn sie unterging und ertrank, war sie unschuldig.

Der Hexerei bezichtigt zu werden kam meist einem Schuldspruch gleich. Jetzt stand er auf dem Scheiterhaufen und versuchte die Welt davon zu überzeugen, dass nicht er, sondern die Hexenjäger die Verbrecher waren.

Etwas Neues war im Gange: Eine neue Intoleranz zog auf. Sie verbreitete sich über den Erdball, doch niemand wollte es wahrhaben. Ein neues Wort war erfunden worden, um den Blinden ihre Blindheit zu lassen: Islamophobie. Die militanten Misstöne im gegenwärtigen Gepräge dieser Religion zu kritisieren war Bigotterie. Phobische Menschen hatten extreme und irrationale Ansichten, also waren sie schuld und nicht das Glaubenssystem, das sich mehr als einer Milliarde Anhänger weltweit rühmen konnte. Eine Milliarde Gläubige konnten nicht irren; die Kritiker waren diejenigen mit Schaum vorm Mund. Ab wann, so fragte er sich, wurde es irrational, eine Religion – ganz gleich welche – nicht zu mögen, sie gar zu verabscheuen? Ab wann wurde Vernunft in Torheit umbenannt? Ab wann wurden die Märchen der Abergläubischen höher gehängt als Kritik und Satire? Eine Religion war keine Rasse. Sie war eine Idee und Ideen standen (oder fielen), weil sie stark genug (oder zu schwach) waren, um Kritik zu widerstehen, und nicht, weil man sie davor schützte. Starke Ideen waren offen für Querdenker. »Wer mit uns ringt, stärkt unsere Nerven und macht uns tüchtiger«, schrieb Edmund Burke. »Unsere Gegner sind unsere Helfer.« Nur die Schwachen und Autoritären wandten sich von ihren Widersachern ab, schmähten sie oder wollten ihnen Gewalt antun.

Nicht Menschen wie er, sondern der Islam hatte sich geändert und gegen die unterschiedlichsten Ideen, Verhaltensweisen und Dinge eine Phobie entwickelt. In jenen Jahren und in denen, die folgen sollten, wurden an allen Ecken der Welt – in Algerien, Pakistan, Afghanistan – islamische Stimmen laut, die Theater, Film und Musik verdammten; Musiker und Schauspieler wurden verstümmelt und umgebracht. Gegenständliche Kunst war böse, also wurden die antiken Buddhastatuen in Bamiyan von den Taliban zerstört. Es gab islamistische Angriffe auf Sozialisten und Gewerkschaftler, Karikaturisten und Journalisten, Prostituierte und Homosexuelle, Röcke tragende Frauen und bartlose Männer und auf solch irrwitzige Übel wie Tiefkühlhähnchen und Samosas.

Würde die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben werden, mochte die Entscheidung, die Dynastie der Saud auf den Erdölthron zu setzen, durchaus als eklatantester außenpolitischer Fehler des Westens anmuten, hatten doch die Saudis ihren grenzenlosen Ölreichtum dazu genutzt, Schulen (Madrasas) zu bauen, um die extremistische, sittenstrenge Ideologie ihres geliebten (und bis dahin unbedeutenden) Muhammad ibn Abd al-Wahhab zu propagieren, bis der winzige Kult des Wahhabismus schließlich die gesamte arabische Welt überrollte. Andere islamische Extremisten fühlten sich dadurch bestärkt. In Indien verbreitete sich die Deobandi-Bewegung der Hochschule Darul Uloom, im schiitischen Iran gab es die militanten Prediger von Ghom und im sunnitischen Ägypten die einflussreichen Konservativen der al-Azhar. Während die extremistischen Ideologien Wahhabismus, Salafismus, Khomeinismus und Deobandismus an Einfluss gewannen und die von saudischem Öl finanzierten Madrasas Generationen von grimmig dreinblickenden, fusselbärtigen, Fäuste schüttelnden Männern hervorbrachten, entfernte sich der Islam immer weiter von seinem Ursprung und behauptete zugleich, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Von dem amerikanischen Satiriker H. L. Mencken stammt die denkwürdige Definition, Puritanismus sei »die quälende Furcht, dass irgendjemand irgendwo glücklich sein könnte«, und allzu oft schien der wahre Feind des neuen Islam das Glück selbst zu sein. Dies also war der Glaube, dessen Kritiker bigott waren? »Wenn ich ein Wort verwende«, sagte Humpty Dumpty zu Alice, »dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.« Die Erfinder des Neusprech in Orwells 1984 wussten, was Humpty Dumpty damit meinte, und tauften das Propagandaministerum in Ministerium für Wahrheit und das repressivste Staatsorgan in Ministerium für Liebe um. ›Islamophobie‹ war ein neuer Begriff im Humpty-Dumpty-Neusprech, das die Sprache der Analyse, Vernunft und Debatte auf den Kopf stellte.

Irgendwann würde das in muslimischen Gruppen wuchernde fanatische Krebsgeschwür auf die übrige Welt übergreifen, da war er sich ganz sicher. Wäre die intellektuelle Schlacht verloren und der Islam setzte seinen Anspruch durch, ›respektiert‹ zu werden und seine Gegner mundtot zu machen, in den Schmutz zu ziehen und – warum nicht – sogar zu töten, ginge auch die Politik in die Knie.

Er hatte die politische Manege betreten und versuchte, grundsätzlich zu argumentieren. Doch dort, wo hinter verschlossenen Türen entschieden wurde, war mit Grundsätzen nicht viel Staat zu machen. Es würde ein zäher Kampf werden, und das umso mehr, als er auch um größere private und berufliche Freiheit zu ringen hatte. Er musste an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen.

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Peter Florence, der Leiter des Hay-on-Wye-Literaturfestivals, fragte an, ob er eine Möglichkeit sehe, an der diesjährigen Veranstaltung teilzunehmen. Der große israelische Erzähler David Grossman, der für die Diskussion mit Martin Amis vorgesehen war, hatte absagen müssen. Es wäre einfach großartig, wenn Sie einspringen könnten, sagte Peter. Niemand müsste vorab davon erfahren. Das Publikum wäre begeistert, Sie wieder zurück in der Bücherwelt zu sehen. Er wollte gern zusagen; doch zunächst musste er Peters Einladung mit dem Sicherheitsteam besprechen, das wiederum mit den Vorgesetzten bei Scotland Yard Rücksprache halten und – da der Veranstaltungsort außerhalb des polizeilichen Zuständigkeitsbereiches lag – den Polizeipräsidenten von Powys in Kenntnis setzen musste, um Uniformierte bereitzustellen. Er konnte die leitenden Beamten förmlich mit den Augen rollen sehen, der wieder mit seinen Extrawünschen, doch auf keinen Fall würde er ihnen den Gefallen tun, den Kopf einzuziehen und die Klappe zu halten. Schließlich kam man überein, dass er auf Deborah Rogers’ und Michael Berkeleys Farm in der Nähe von Hay wohnen und seinen Auftritt wahrnehmen könnte, vorausgesetzt, seine Teilnahme bliebe bis dahin geheim. Als er die Bühne in Hay betrat, stellten er und Martin fest, dass sie den gleichen Leinenanzug trugen, und für glückliche anderthalb Stunden war er wieder ein Schriftsteller unter Lesern. Die aus Amerika importierte Taschenbuchausgabe von Die satanischen Verse lag in Hay und in ganz Großbritannien zum Verkauf aus, und nach all den Widrigkeiten passierte: nichts. Es wurde nicht besser, aber auch nicht schlimmer. Der Moment, den Penguin Books so sehr gefürchtet hatte, dass man sogar auf die Taschenbuchrechte verzichtet hatte, ging ohne den kleinsten Zwischenfall vorüber. Er fragte sich, ob Peter Mayer das wohl mitbekommen hatte.

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Jeder seiner Feldzüge erforderte tage- und wochenlange Vorbereitungen. Es gab Unstimmigkeiten mit den örtlichen Sicherheitsbehörden, Probleme mit den Fluglinien, Politiker hielten sich nicht an die Absprachen, ein endloses politisches Organisations-Hickhack. Frances, Carmel und er standen in ständigem Kontakt, und die Kampagne entwickelte sich zu einem zweiten Vollzeitjob. Später würde er sagen, die Fatwa habe ihn um einen, wenn nicht gar zwei ganze Romane gebracht, und so stürzte er sich, als die düsteren Jahre vorüber waren, umso beherzter ins Schreiben. In seinem Inneren stapelten sich die Bücher und drängten auf die Welt.

Die Kampagne startete in Skandinavien. In den folgenden Jahren sollten ihm die Skandinavier und ihr Glaube an die höchsten freiheitlichen Tugenden besonders ans Herz wachsen. Sogar die Fluglinien hatten moralische Prinzipien und beförderten ihn anstandslos. Die Welt war ein merkwürdiger Ort: In seiner dunkelsten Stunde fand ein Junge aus den Tropen die stärksten Verbündeten im eisigen Norden – auch wenn die Dänen sich um ihren Käse sorgten. Dänemark exportierte große Mengen Fetakäse in den Iran, und es stand zu befürchten, der Käsehandel könnte leiden, wenn herauskäme, dass es mit dem abtrünnigen, ketzerischen Gotteslästerer auf Schmusekurs ging. Die dänische Regierung musste sich zwischen Käse und Menschenrechten entscheiden und entschied zunächst für den Käse. (Es hieß, die britische Regierung habe darauf gedrängt, ihn nicht zu treffen. Ian McEwans holländischer Verleger Jaco Groot hatte gehört, die Briten würden ihre europäischen Kollegen ersuchen, sie durch ›allzu öffentliche Solidaritätsbekundungen‹ nicht in ›Verlegenheit‹ zu bringen.)

Er fuhr dennoch, als Gast des dänischen P.E.N.-Clubs. Elizabeth flog mit Carmel einen Tag früher, und dann wurde er durch einen Sicherheitszugang in den Flughafen Heathrow geschleust, aufs Rollfeld gefahren und als letzter Passagier ins Flugzeug gesetzt. Er hatte befürchtet, die anderen Fluggäste könnten bei seinem Anblick in Panik geraten, doch es waren fast ausschließlich Dänen an Bord, die ihn mit breitem Lächeln, Händeschütteln und aufrichtiger unerschrockener Freude begrüßten. Als sich das Flugzeug von der Startbahn löste, dachte er: Vielleicht kann auch ich wieder fliegen. Vielleicht wird alles gut.

Das Empfangskomitee am Kopenhagener Flughafen verpasste ihn irgendwie. Offenbar war er doch weniger leicht zu erkennen als gedacht. Er schlenderte durch den Flughafen, ging an der Sicherheitssperre vorbei und brachte eine knappe halbe Stunde damit zu, in der Ankunftshalle nach jemandem Ausschau zu halten, der ihm sagen konnte, was los war. Dreißig Minuten lang war er dem Sicherheitsnetz durch die Maschen gegangen. Er war kurz davor, in ein Taxi zu springen und einfach abzuhauen. Doch schon hasteten ihm die Polizei und sein Gastgeber Niels Barfoed vom dänischen P.E.N. entgegen, der sich schnaufend und keuchend für das Durcheinander entschuldigte. Sie gingen zu den wartenden Wagen, und das Netz zog sich wieder zusammen.

Seine Teilnahme – und das blieb eine ganze Weile ›Usus‹ – war nicht vorher angekündigt worden. Die im Louisiana Museum für Moderne Kunst versammelten P.E.N.-Mitglieder erwarteten Günter Grass als Ehrengast, der tatsächlich dort war; Grass war einer der großen Literaten, die sich in jenen Jahren bereit erklärten, als sein ›Strohmann‹ zu fungieren. »Wenn Salman Rushdie eine Geisel ist, dann sind wir es auch«, kündigte Grass ihn an, und dann war er an der Reihe. Einige Wochen zuvor, sagte er, hätten fünfzig iranische Intellektuelle eine Verteidigungsschrift veröffentlicht. »Rushdie zu verteidigen bedeutet, uns selbst zu verteidigen«, hieß es darin. Ergebe man sich der Fatwa, leiste man autoritären Regimen Vorschub. Hier müsse die Grenze gezogen werden, es gebe kein Zurück. Dies war nicht nur sein Kampf, sondern auch der seiner Schriftstellerkollegen. Die sechsundfünfzig dänischen Intellektuellen, die im Louisiana zusammengekommen waren, gelobten, sich seinem Kampf anzuschließen und auf ihre Regierung einzuwirken. »Wenn die britische Regierung nicht in der Lage ist, Irans untragbarer Bedrohung des demokratischen Fortschritts entgegenzutreten, muss das Verteidigungskomitee die Hilfe und Unterstützung wahrnehmen, die Europa ihm angeboten hat«, sagte Frances D’Souza.

Jenseits der Museumsfenster fuhr ein Kriegsschiff vorbei. »Ist das meinetwegen?«, witzelte er. Doch es war tatsächlich für ihn: sein persönliches Kriegsschiff, das ihn vor Seeangriffen schützen und nach islamischen Froschmännern Ausschau halten sollte, die mit Entersäbeln zwischen den Zähnen auf das Museum zuschwammen. Es war an alles gedacht worden. Die Dänen waren ein wirklich gewissenhaftes Volk.

Sein norwegischer Verleger William Nygaard vom Aschehoug-Verlag bestand darauf, dass er nach seinem Dänemark-Aufenthalt nach Norwegen weiterreiste. »Ich glaube, hier können wir noch mehr bewegen«, sagte er. Regierungsminister seien zu einem Treffen mit ihm bereit. Jeden Sommer veranstaltete der Aschebourg-Verlag eine riesige Gartenparty in der wunderschönen alten Villa im Drammensveien 99, die Anfang des letzten Jahrhunderts der Nygaard’sche Familiensitz gewesen war. Das Fest war einer der Höhepunkte des Osloer Sommers, zahlreiche bekannte norwegische Schriftsteller und führende Köpfe aus Wirtschaft und Politik nahmen daran teil. »Du musst einfach kommen«, sagte William. »Im Garten! Mit über tausend Leuten! Es wird fantastisch. Eine Freiheitsbekundung.« William war eine charismatische Persönlichkeit: Er war ein phänomenaler Skiläufer, sah blendend aus, entstammte einer der ältesten norwegischen Familien und leitete den bedeutendsten Verlag des Landes. Und er hielt, was er versprach; der Besuch in Norwegen war ein Erfolg. Beim Gartenfest im Drammensveien wurde er von William Nygaard durch die Menge geführt und traf sozusagen ›tout Oslo‹. William berichtete ihm später, die Reaktion auf seinen Besuch sei enorm gewesen.

Diese Reise machte William zu seinem ›sichtbarsten‹ europäischen Verleger. Damals ahnte noch niemand, dass das Engagement für seinen Autor ihn in Lebensgefahr brachte. Vierzehn Monate später klopfte der Terror an Williams Tür.

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In London hatte der kulturpolitische Sprecher der Labour-Partei, Mark Fisher, eine Pressekonferenz mit Labour- und Tory-Abgeordneten im Unterhaus organisiert, und zum ersten Mal schenkte man ihm im Westminster-Palast wohlwollend Gehör. Einen Missklang gab es allerdings doch. Der ultrarechte Konservative Rupert Allason stand auf und sagte: »Ich möchte nicht, dass Sie meine Gegenwart fälschlicherweise als Unterstützung interpretieren. Ihre Verleger sagen, Sie hätten sie über Ihr Buch im Unklaren gelassen und Ihre Absichten verschleiert. Es sollten keine öffentlichen Gelder auf Ihren Schutz verwendet werden.« Diese miese kleine Attacke erschütterte ihn weniger, als sie es früher getan hätte. Er hoffte nicht mehr darauf, von allen geliebt zu werden; er wusste, dass er, egal, wohin er ging, Feinden und Freunden begegnen würde. Und nicht alle Gegner kamen von rechts. Gerald Kaufman, der Labour-Abgeordnete, der mit seiner Abneigung gegen Mr Rushdies Geschreibsel nicht hinter dem Berg gehalten hatte, ging seinen Labour-Genossen Mark Fisher scharf dafür an, ihn ins Unterhaus eingeladen zu haben. (Der iranische Majlis stimmte mit Kaufman überein, die Einladung sei ›schändlich‹ gewesen.) Es sollten noch mehr Kaufmans und Allasons kommen. Dennoch galt es, die Sache voranzubringen.

Im Außenministerium redete er mit David Gore-Booth und befragte ihn zu den Gerüchten, die britische Regierung sei gegen seine neue massive Offensive und ziehe heimlich die Strippen, um sie zu sabotieren. Gore-Booth wahrte ein perfektes Pokerface und dementierte die Gerüchte, ohne mit der Wimper zu zucken. »Die Regierung Ihrer Majestät unterstützt Ihre Treffen mit anderen Regierungen.« Er bot an, seine Beziehungen zur Polizei spielen zu lassen, damit die Sicherheitskräfte der von ihm bereisten Länder nicht ›über die Stränge schlagen‹. Es war schwer zu sagen, was man glauben sollte. Vielleicht würde es ihm allmählich gelingen, die Regierung mitzuziehen.

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Die Universität Complutense Madrid hatte ihn zu einem Gespräch mit Mario Vargas Llosa in den Escorial-Palast eingeladen. Er nahm Elizabeth und Zafar mit, mit denen er vor der Konferenz drei friedliche Tage in Segovia verbrachte. Weil sich die spanische Polizei diskret im Hintergrund hielt, konnte er durch die Straßen dieser wunderschönen kleinen Stadt flanieren, in den Restaurants sitzen und sich fast wie ein freier Mann fühlen. In Ávila aß er mit Mario und dessen Frau Patricia zu Mittag. Es waren kostbare Stunden. Im Escorial ließ der Rektor der Complutense-Universität, Gustavo Villapalos, ihn wissen, er habe hervorragende Beziehungen in den Iran und würde gern vermitteln. Khomeini habe ihn einmal einen ›sehr heiligen Mann‹ genannt. Dieses Vermittlungsangebot erwies sich als ebenso müßig wie alle anderen. Mit Entsetzen las er Villapalos’ Behauptung in der spanischen Presse, zugunsten einer Schlichtung habe er sich bereit erklärt, ›beleidigende‹ Passagen in Die satanischen Verse abzuwandeln oder zu streichen. Nach seinem vehementen Dementi war Villapalos nicht mehr zu sprechen, und der Kontakt brach ab.

Du musst auf allen Bahnsteigen stehen, hatte Giandomenico Picco gesagt, damit du da bist, wenn der Zug kommt. Aber bei einigen Bahnsteigen fehlten die Gleise. Man konnte einfach nur dastehen, nichts weiter.

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Schon bei ihrer Landung in Denver war klar, dass alles in ein Fiasko münden würde. Die örtliche Polizei führte sich auf, als drehte sie einen Trailer für den Dritten Weltkrieg: Auf ihrem Weg durch den Flughafen rannten Männer mit riesigen Sturmwaffen durch die Gegend, Polizeibeamte zerrten Passanten aus dem Weg, es wurde geschrien und gefuchtelt, als stünde man kurz vor einer Katastrophe. Er war entgeistert, die Umstehenden geschockt und die Fluglinie so perplex, dass sie sich aufgrund seines Benehmens weigerte, ihn je wieder zu befördern. Das Tamtam der Sicherheitskräfte war ›sein‹ Tamtam.

Sie wurden nach Boulder gefahren, wo er zusammen mit Oscar Arias, Robert Coover, William Styron, Peter Matthiessen und William Gass bei einer panamerikanischen Literaturkonferenz auftreten sollte. »Die Schriftsteller Lateinamerikas haben schon vor langer Zeit begriffen, dass Literatur eine Frage von Leben und Tod ist. Inzwischen teile ich diese Erkenntnis«, sagte er in seiner Rede. Er lebte in einem Zeitalter, in dem die Bedeutung von Literatur zu schwinden schien. Bei seiner Mission ging es ihm auch um die Lebensnotwendigkeit von Büchern, darum, wie wichtig es war, die für ihre Entstehung notwendigen Freiheiten zu wahren. In seinem großartigen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht sagt Italo Calvino (mit den Worten seines Protagonisten Arkadian Porphyritsch): »Nirgendwo wird heutzutage das geschriebene Wort so hochgeschätzt wie in Polizeiregimen. Gibt es ein besseres Kriterium zur Unterscheidung der Nationen, in denen die Literatur eine wirkliche Achtung genießt, als das der zu ihrer Kontrolle und Repression bereitgestellten Summen?« Das traf zweifellos zu, beispielsweise auf Kuba. Philip Roth sagte einmal hinsichtlich der sowjetischen Repression: »Bei meinem ersten Besuch in der Tschechoslowakei ging mir auf, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der einem Schriftsteller alles möglich ist und es um nichts geht, wohingegen den tschechischen Schriftstellern, die ich in Prag getroffen habe, nichts möglich ist und es um alles geht.« Was auf Polizeistaaten und sowjetische Tyrannei zutraf, galt auch für lateinamerikanische Diktaturen und den neuen theokratischen Faschismus, der ihm und zahlreichen anderen Schriftstellern zusetzte. Doch in den Vereinigten Staaten, in der freisinnigen, wiewohl dünnen Luft von Boulder, Colorado, war es nicht leicht, den Leuten die gelebte Wirklichkeit der Unterdrückung zu vermitteln. Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, sagte er, der Welt, in der ›alles möglich ist und es um nichts geht‹, die Welt nahezubringen, in der ›nichts möglich ist und es um alles geht‹.

Der Präsident der CU Boulder musste sich persönlich dafür starkmachen, dass sich eine andere Fluglinie bereit erklärte, ihn nach Hause zu fliegen. Als er mit seinem Vortrag fertig war, wurden Elizabeth und er umgehend zum Flughafen Denver zurückgefahren und in ein Flugzeug nach London gesetzt. Der Polizeieinsatz war nicht ganz so chaotisch wie bei ihrer Ankunft, aber dennoch groß genug, um jedem Umstehenden einen Schrecken einzujagen. Er verließ Amerika mit dem Gefühl, dass die Kampagne einen Rückschritt erlitten hatte.

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Der Terror klopfte an viele Türen. In Ägypten war der führende Säkularist Faradsch Fouda erschossen worden. In Indien war der Rektor der Jamia-Millia-Islamia-Universität in Delhi, der bedeutende Historiker Mushirul Hasan, von ›zornigen Muslimen‹ bedroht worden, weil er es gewagt hatte, das Verbot von Die satanischen Verse zu kritisieren. Nicht nur musste er seine Aussage zurücknehmen und das Buch verfemen, der Mob nötigte ihn außerdem, die Fatwa gutzuheißen. Er weigerte sich. Fünf lange Jahre durfte er nicht an seine Universität zurückkehren. In Berlin wurden vier kurdische Oppositionspolitiker, die zu Gast bei der Sozialistischen Internationale waren, im Restaurant Mykonos ermordet. Mutmaßlicher Auftraggeber war das iranische Regime. Und in London lagen er und Elizabeth gerade schlafend im Bett, als eine ohrenbetäubende Explosion das Haus erzittern ließ. Polizisten stürmten mit erhobenen Waffen ins Zimmer und rissen sie auf den Boden. Gefühlte Stunden kauerten sie zwischen bewaffneten Männern bäuchlings auf der Erde, bis sich herausstellte, dass sich die Explosion ein Stück weiter weg am Kreisverkehr Staples Corner unter der Überführung zur North Circular Road ereignet hatte. Ein Werk der Provisional IRA; hatte nichts mit ihnen zu tun. Eine nicht-islamische Bombe. Sie konnten wieder in ihre Betten gehen.

Der islamische Terror war nicht weit weg. Ayatollah Sanei von der Stiftung des 15. Khordad erhöhte das Kopfgeld, um die ›Spesen‹ zu decken. (Mörder, hebt eure Rechnungen auf, Geschäftsessen lassen sich absetzen!) Drei Iraner wurden aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen, weil sie heimlich seine Ermordung planten: zwei Botschaftsangestellte, Mehdi Sayes Sadeghi und Mahmoud Mehdi Soltani, und ein ›Student‹, Gassem Yakhshiteh. Im Iran ›ersuchte‹ die Majlis – die angeblich ›gemäßigte‹ und bei den jüngsten iranischen Wahlen vom Volk gewählte Majlis! – den Präsidenten Rafsandschani, die Fatwa aufrechtzuerhalten, und der Rafsandschani-Anhänger Ayatollah Jannati ließ dazu verlauten, »es sei an der Zeit, diesen dreckigen Rushdie umzubringen«.

Er fuhr nach Südlondon, um mit dem Maler Tom Phillips Tischtennis in dessen Atelier zu spielen. Das schien genau das Richtige zu sein. Tom hatte angefangen, sein Porträt zu malen – er sagte Tom, er finde sich darauf zu trübsinnig, doch Tom meinte: »Trübsinnig? Was soll das heißen? Ich nenne es Mr Quietschvergnügt« –, also saß er zwei Stunden dafür still und verlor dann beim Tischtennis. Er verlor nicht gern beim Tischtennis.

An dem Tag verkündete die Stiftung des 15. Khordad, sie werde in Kürze Killerteams nach Großbritannien entsenden, um die Fatwa zu vollstrecken. Beim Tischtennis zu verlieren war bitter, doch er versuchte, die Nerven zu behalten.

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Zum letzten Mal betrat Zafar die Hall School, die nach Kräften versucht hatte, ihn vor dem, was seinem Vater widerfuhr, zu schützen, und deren Lehrer und Schüler es ihm, ohne ein Wort darüber zu verlieren, ermöglicht hatten, inmitten des Wahnsinns eine normale Kindheit zu leben. Zafars Eltern schuldeten der Schule großen Dank. Man konnte nur hoffen, dass die neue Schule sich ebenso liebevoll um ihn kümmerte.

Highgate war in erster Linie eine Tagesschule, doch es gab Häuser für Schüler, die unter der Woche dort blieben, und das wollte Zafar auch. Doch schon nach wenigen Tagen wurde ihm klar, dass er das Internatsleben verabscheute. Er war ein dreizehnjähriger Junge, der gern seine Privatsphäre hatte, doch die gab es in einem Internat nicht. Er war unglücklich. Seine Eltern beschlossen, ihn wieder nach Hause zu nehmen, und die Schulleitung willigte ein. Sofort war Zafar wieder froh und fing an, die Schule zu lieben. Zudem wohnte sein Vater jetzt in Highgate, so konnte er in der Woche dort übernachten, und sie konnten nachholen, was ihnen in vier Jahren entgangen war: Nähe, Beständigkeit und so etwas wie Unbeschwertheit. Im neuen Haus hatte Zafar sein eigenes Zimmer, das nach seinem Wunsch ganz in Schwarzweiß gehalten war. Zwar konnte er seine Freunde nicht mitbringen, doch er verstand den Grund und meinte, es mache ihm nichts aus. Selbst ohne Freundesbesuch war dies um Längen besser als das Internatsleben. Er und sein Vater hatten wieder ein gemeinsames Zuhause.

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In Indien zerstörten extremistische Hindus die vom ersten Mogulkaiser errichtete Babri-Moschee in Ayodhya, eine der ältesten Moscheen des Landes. Die Vandalen behaupteten, die Moschee erhebe sich auf den Ruinen eines Hindutempels, der den Ram-Janmabhumi, den Geburtsort des Gottes Rama, des siebten Avatars von Vishnu, anzeige. Zerstörungswut war kein islamisches Monopol. Eine vielschichtige Trauer ergriff ihn, als er von der Zerstörung erfuhr. Er war traurig, weil sich wieder einmal gezeigt hatte, dass die zerstörerischen Kräfte von Religion die schöpferischen bei weitem überstiegen, dass ein paar haltlose Behauptungen – das heutige Ayodhya liege an derselben Stelle wie das Ayodhya des Ramayana, in dem Rama irgendwann in grauer Vorzeit König gewesen war; der angebliche Geburtsort entspreche dem tatsächlichen; die Götter und ihre Avatare existierten tatsächlich – in der mutwilligen Zerstörung eines wunderschönen existierenden Bauwerkes gipfelten, welches das Pech hatte, in einem Land zu stehen, in dem sich die allenfalls laxe Gesetzgebung zum Schutz des kulturellen Erbes problemlos übergehen ließ, wenn man nur zahlreich genug war und sich den Namen eines Gottes auf die Fahnen schrieb. Und er war traurig, weil er sich noch immer mit dieser muslimischen Kultur Indiens verbunden fühlte, die Mushirul Hasan daran hinderte, zur Arbeit zu gehen, und ihm ein Visum für den Besuch in seinem Geburtsland verweigerte. Die Geschichte des islamischen Indien war unweigerlich auch seine Geschichte. Eines Tages würde er ein Buch über Baburs Enkel Akbar den Großen schreiben, der sich um Frieden zwischen den zahlreichen indischen Göttern und deren Anhängern bemühte, und das eine Zeitlang sogar mit Erfolg.

Indien hatte ihm die tiefsten Wunden geschlagen. Es sei völlig undenkbar, dass er ein Besuchsvisum für das Land bekomme, das ihm Heimat und größte Inspirationsquelle war, hieß es. Nicht einmal im indischen Kulturzentrum in London wollte man ihn sehen, seine Gegenwart würde als antiislamisch gewertet werden und dem weltlichen Ruf des Zentrums schaden, so dessen Leiter Gopal Gandhi (Enkel von Mahatma). Mit geballten Fäusten machte er sich wieder an die Arbeit. Des Mauren letzter Seufzer war so weltlich, wie ein Roman nur sein konnte, doch in dem Land, über das er schrieb, galt er als aufrührerischer Sektierer. Die Wolken über seinem Kopf wurden schwärzer. Doch seine Sturheit war dem Schmerz ebenbürtig, sein Erzählvermögen unvermindert, seine Vorstellungskraft noch immer lebendig. Er würde nicht zulassen, dass seine Kunst an der Zurückweisung zerbrach.

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Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Art Botschafter seiner selbst zu werden. Doch Politik fiel ihm nicht leicht. Er hielt seine Reden und stritt für seine Sache und mahnte die Würdenträger der Welt, gegen diesen neuen ›ferngesteuerten Terrorismus‹, diesen tödlichen Fingerzeig quer durch die Welt – Der da, seht ihr den? Tötet ihn, den Glatzkopf mit dem Buch in der Hand –, Stellung zu beziehen und zu begreifen, dass der Fatwa-Terrorismus besiegt werden musste, sollte er sich nicht wiederholen. Doch selbst in seinen Ohren klang all das manchmal schal. Nachdem er bei einer Versammlung des Nordischen Rates in Finnland gesprochen hatte, wurden Beschlüsse gefasst, Unterkomitees gegründet, Hilfsversprechen gemacht; dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass nichts Wesentliches erreicht worden war. Die Schönheit der Herbstwälder vor dem Fenster war erfreulicher. Er durfte sogar mit Elizabeth darin spazieren gehen, die klare Luft atmen und für einen kurzen Moment zur Ruhe kommen; in diesem Augenblick war das ein größeres Geschenk als alle Beschlüsse der Welt.

Elizabeths behutsamer Zuspruch ließ seine Enttäuschung schwinden. Er finde seine Stimme wieder, meinte sie, und sein Fehler verblasse mit der Zeit, auch wenn er ihn noch jahrelang widerrufen müsse. Man hörte ihm aufrichtig zu, und nach den üblen Anfeindungen seiner Person und seiner Arbeit tat das zweifellos gut. Allmählich bekam er in der Verfechtung seiner Sache Übung. In der finstersten Ära des sowjetischen Kommunismus, argumentierte er, hatten westliche Marxisten versucht, eine Grenze zwischen dem ›real existierenden Sozialismus‹ und der Marx’schen Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit zu ziehen. Doch als die Sowjetunion zusammenbrach und klar wurde, dass der ›real existierende Sozialismus‹ den Marxismus in den Augen all derer, die zum Sturz der Despoten beigetragen hatten, unwiederbringlich verseucht hatte, war der Glaube an eine reine, unbefleckte Vision nicht mehr möglich. Heute, da islamische Staaten neue Gewaltherrschaften hervorbrachten und Gräueltaten mit Gottes Namen rechtfertigten, zogen die Muslime eine ähnliche Grenze; auf der einen Seite stand der ›real existierende Islam‹ blutiger Gottesstaaten und auf der anderen der wahre Glaube von Frieden und Liebe.

Daran hatte er schwer zu schlucken, und er versuchte, den Grund dafür in Worte zu fassen. Er konnte die Verteidiger der islamischen Kultur durchaus verstehen; die Zerstörung der Babri-Moschee hatte ihn ebenso geschmerzt wie sie. Auch die vielgestaltige Güte der islamischen Gesellschaft berührte ihn tief, ihre Mildtätigkeit, die Schönheit ihrer Architektur, Malerei und Dichtung, ihr Beitrag zu Philosophie und Wissenschaft, ihre Arabesken, ihre Mystiker und die milde Weisheit freigeistiger Muslime, wie sein Großvater mütterlicherseits, Dr. Ataullah Butt, sie besaß. Dr. Butt aus Aligarh war Hausarzt und zudem am Tibbya College der Muslim-Universität in Aligarh tätig, wo westliche Medizin ebenso gelehrt wurde wie traditionelle indische Kräuterheilkunde. Er war nach Mekka gepilgert, sprach sein Leben lang fünfmal am Tag seine Gebete und war einer der tolerantesten Menschen, dem sein Enkel je begegnet war, auf schroffe Art gutmütig, offen für jedweden kindlichen oder jugendlichen Trotzgedanken, sogar für den, dass es Gott gar nicht gibt, eine idiotische Idee, wie er meinte, doch durchaus bedenkenswert. Wenn Dr. Butt an den Islam glaubte, war das völlig in Ordnung.

Doch irgendetwas zehrte am Glauben seines Großvaters, zerfraß und zerstörte ihn, machte ihn zu einer Ideologie der Engstirnigkeit und Intoleranz, verbot Bücher, verfolgte Denker, stellte Unumstößlichkeiten auf, verwandelte das Dogma in eine Waffe, die das Undogmatische besiegen sollte. Das musste bekämpft werden, und dazu musste man es beim Namen nennen – und der einzige zutreffende Name lautete Islam. Der real existierende Islam war zu seinem eigenen Gift geworden, an dem Muslime starben. Das musste gesagt werden, in Finnland, Spanien, Amerika, Dänemark, Norwegen und überall. Wenn es sonst niemand täte, würde er es tun. Und er wollte für die Idee einstehen, dass Freiheit ein allen Menschen zustehendes Gut und keine westliche Idee im Sinne Samuel Huntingtons war, mit der die östlichen Kulturen nichts anfangen konnten. Während der ›Respekt für den Islam‹, diese als Tartuffe’sche Heuchelei getarnte Furcht vor islamistischer Gewalt, im Westen Fuß fasste, zerfraß der Krebs des kulturellen Relativismus die multikulturelle Vielfalt der modernen Welt, bis schließlich alle auf John Bunyans Sumpf der Verzagtheit und Verzweiflung zuschlitterten und darin versanken.

Während er sich von Land zu Land schleppte, an die Türen der Mächtigen klopfte und versuchte, im eisernen Griff dieser oder jener Sicherheitskräfte winzige Splitter Freiheit zu finden, suchte er nach den richtigen Worten, um nicht nur in eigener Sache, sondern auch für das zu sprechen, wofür er von nun an stand oder stehen wollte.

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Ein winziger Splitter Freiheit wurde ihm zuteil, als man ihn zu einem U2-Konzert in Earls Court einlud. Es war während der Achtung-Baby-Tournee mit den wild bemalten, von der Decke baumelnden Trabis. Die Polizei sagte sofort Ja: Endlich etwas, das Spaß machte! Es stellte sich heraus, dass Bono Das Lächeln des Jaguars gelesen hatte und dessen Autor kennenlernen wollte, der ungefähr zur gleichen Zeit in Nicaragua gewesen war wie er. (Er war Bono dort nie über den Weg gelaufen, doch eines Tages hatte seine funkeläugige blonde Dolmetscherin Margerita, die aussah wie ein Jayne-Mansfield-Double, ganz aufgeregt gerufen: »Bono kommt! Bono ist in Nicaragua!«, und dann, in exakt der gleichen Stimmlage und mit ebenso glänzenden Augen: »Wer ist Bono?«) Und jetzt stand er in Earls Court im Dunkeln und lauschte. Nach der Show wurde er backstage in einen mit Sandwiches und Kindern vollgestopften Wohnwagen gebracht. Bei U2-Auftritten gab es Kinderkrippen statt Groupies. Bono kam herein und wurde sofort von seinen Töchtern umlagert. Er wollte über Politik reden – Nicaragua, ein geplanter Protest gegen ein Endlager im nordenglischen Sellafield, seine Unterstützung im Kampf für Die satanischen Verse. Und obwohl sie nicht viel Zeit miteinander hatten, war eine Freundschaft geboren.

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Nigella Lawson und John Diamond hatten in Venedig geheiratet. Wie alle ihre Freunde freute er sich riesig über diese Neuigkeit. Wo John war, wurde viel gelacht. Die Torte für ihre Hochzeitsparty im Groucho Club hatte Ruthie Rogers gemacht, und das Design, behauptete sie, stamme von ihrem Mann, dem großen Architekten höchstpersönlich. »Echt wahr?«, sagte John, »Aber bei einem Richard-Rogers-Entwurf stecken doch sämtliche Zutaten in der Außenhülle.«

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Deutschland war Irans wichtigster Handelspartner. Also musste er dorthin. Eine kleine, grimmige Bundestagsabgeordnete namens Thea Bock wollte dafür sorgen, dass er ›jeden traf‹. Doch dazu musste er erst mal nach Bonn kommen, und mit Lufthansa und British Airways konnte er nicht fliegen. Thea Bock organisierte ein kleines, knallrotes Privatflugzeug, das aussah wie aus einer Erste-Weltkrieg-Story: ›Biggles und die Fatwa‹. Es war so klein und altmodisch, dass sich die Fenster öffnen ließen, und flog so niedrig, dass er fürchtete, gegen den nächsten Hügel oder Kirchturm zu prallen. Es war, als würde man auf einem indischen Motorroller sitzen – Luft-Rikscha. Glücklicherweise war das Wetter gut, es war ein sonniger, klarer Tag, und der Pilot steuerte sein kleines Töff-Töff ohne Zwischenfälle zur deutschen Hauptstadt, wo die von Thea Bock organisierten Treffen derart erfolgreich waren, dass die Iraner ziemlich aus der Fassung gerieten: Plötzlich wurde dieser Rushdie herzlich vom Parteivorsitzenden der SPD Björn Engholm und von der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und von zahlreichen bekannten deutschen Parlamentariern begrüßt; und weil der Außenminister Klaus Kinkel gerade im Ausland weilte, wurde er auch noch vom Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Dr. Schirmer, empfangen. Der iranische Botschafter wetterte im deutschen Fernsehen, Deutschland wollte seine Beziehungen zum Iran doch gewiss nicht wegen dieses Mannes aufs Spiel setzen. Vielleicht seien sogar amerikanische oder israelische Killer auf ihn angesetzt, die sich als muslimische Attentäter ausgäben, um den Iran schlecht dastehen zu lassen.

Am nächsten Tag wurde Botschafter Hossein Mousavian ins Auswärtige Amt zitiert. »Wir werden Mr Rushdie beschützen«, sagte der stellvertretende Außenminister. »Nach unserer sehr deutlichen Aussprache ist er [der iranische Botschafter] darüber im Bilde.« Die Behauptung eines geplanten Mordes durch den amerikanischen oder israelischen Geheimdienst wurde als ›absurd‹ bezeichnet. Botschafter Mousavian sagte, man habe ihn ›falsch zitiert‹.

Die Stoßkraft, wie Frances sich ausgedrückt hatte, war also da; aber hatte man die kritische Masse (einer ihrer Lieblingsausdrücke) erreicht? Noch nicht. Der Rat der Moscheen in Bradford ließ sich abermals zu einer üblen Stellungnahme hinreißen und behauptete, diese Kampagne mache alles nur noch schlimmer, der Autor habe von der muslimischen Gemeinschaft keinerlei ›Gnade‹ zu erwarten. Der Ratsvorsitzende Liaquat Hussein hielt sich allen Ernstes für einen bedeutenden Mann, der Bedeutsames von sich gab. Seine fünfzehn Minuten Ruhm waren vorüber.

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Er reiste nach Stockholm, um den Kurt-Tucholsky-Preis für verfolgte Schriftsteller entgegenzunehmen und vor der Schwedischen Akademie zu sprechen. Der Iran verurteilte den Preis natürlich. Irans Oberster Richter ließ ebenso von sich hören wie der gute Ayatollah Sanei. Lieber Oberster Richter, hob er an, doch dann verwarf er seinen imaginären Brief. Manche Menschen verdienten keinen Brief, nicht einmal einen imaginären. Mein lieber Kopfgeld-Sanei, darf ich Dich darauf aufmerksam machen, dass es auf Deiner Bounty zu einer Meuterei kommen könnte? Du und Deine Kameraden, vielleicht landet ihr wie William Bligh in einer Nussschale und haltet verzweifelt nach der Insel Timor Ausschau.

Die Schwedische Akademie versammelte sich in einem wunderschönen Rokokosaal im Obergeschoss der alten Stockholmer Börse. Um einen langen Tisch herum standen neunzehn mit hellblauer Seide bezogene Stühle. Einer war dem König vorbehalten, sollte er denn erscheinen; kam er nicht, und das war meistens der Fall, blieb der Stuhl leer. Sämtliche Stühle waren rückseitig von I bis XVIII durchnummeriert. Starb ein Mitglied, wurde ein neues gewählt, um dessen Platz einzunehmen, bis es ebenfalls zur großen Himmelsakademie berufen wurde. Er musste an G. K. Chestertons spannenden Krimi Der Mann, der Donnerstag war denken, in dem es um eine anarchistische Zelle ging, deren sieben Anführer die Namen der Wochentage als Decknamen trugen. Um Anarchisten handelte es sich hier allerdings nicht. Man hatte ihm gewährt, das Allerheiligste der Literatur zu betreten, den Raum, in dem die Nobelpreise vergeben wurden, um zu einer wohlwollenden Runde grauer Eminenzen zu sprechen. Lars Gyllensten (XIV) und Kerstin Ekman (XV), die diesen Tisch verlassen hatten, um gegen die duckmäuserische Sprachlosigkeit ihrer Kollegen angesichts der Fatwa zu protestieren, blieben fern. Ihre leeren Stühle waren ein stummer Tadel. Das stimmte ihn traurig; er hatte gehofft, eine Versöhnung herbeiführen zu können. Die Einladung der Akademie sollte eine Wiedergutmachung für ihr Schweigen sein. Dass er hier war, war ein Beleg für ihre Unterstützung. Ein zwanzigster, unnummerierter Stuhl wurde neben den leeren Platz des Königs gestellt, und er setzte sich, redete und beantwortete Fragen, bis die Akademiemitglieder zufrieden waren. Elizabeth, Frances und Carmel hatten auf Stühlen längs der Wand Platz genommen und durften zusehen.

Bei allen Anschuldigungen und Schmähungen im Streit um Die satanischen Verse, sagte er, gehe es nur um eine entscheidende Frage: Wer darf über die Geschichte verfügen? Wem steht es zu oder wem sollte es zustehen, die Geschichten, mit und in denen wir leben, nicht nur zu erzählen, sondern auch festzulegen, wie sie erzählt werden dürfen? Schließlich lebt jeder durch oder in Geschichten, den großen Meta-Erzählungen. Die Nation war eine Geschichte, die Familie war eine und die Religion ebenfalls. Als kreativer Künstler wusste er, dass die einzige Antwort auf diese Frage lautete: Allen und jedem steht dies zu oder sollte dies zustehen. Wir alle sollten uns der Meta-Erzählungen bedienen dürfen, sie beanspruchen, hinterfragen, karikieren und darauf bestehen dürfen, dass sie sich wandeln, um den Wandel der Zeit widerzuspiegeln. Wir sollten so ehrfürchtig, respektlos, leidenschaftlich oder sarkastisch mit ihnen umgehen dürfen, wie es uns beliebt. Als Mitglieder einer offenen Gesellschaft war das unser Recht. Unsere Fähigkeit, die Geschichte unserer Kultur neu zu erzählen und zu erschaffen, war der beste Beweis dafür, dass unsere Gesellschaft tatsächlich frei war. In einer freien Gesellschaft riss die Debatte über die Meta-Erzählungen nie ab. Auf die Debatte kam es an. Sie bedeutete Freiheit. In einer geschlossenen Gesellschaft hingegen versuchten die politischen oder ideologischen Machthaber, solche Debatten zu ersticken. Wir erzählen euch die Geschichte, sagten sie, und auch, was sie bedeutet. Wir erzählen euch, wie die Geschichte erzählt werden muss, und verbieten euch, sie anders zu erzählen. Wenn euch unsere Art der Erzählung nicht gefällt, seid ihr Staatsfeinde oder Glaubensverräter. Ihr habt keine Rechte. Wehe euch! Wir werden euch kriegen und euch für eure Weigerung bezahlen lassen.

Das Geschichten erzählende Tier muss die Freiheit haben, seine Geschichten zu erzählen.

Am Ende des Treffens erhielt er ein Geschenk. Dem Gebäude gegenüber lag das bekannte Restaurant Den Gyldene Freden (Der goldene Frieden), das der Akademie gehörte. Nach jedem wöchentlichen Treffen zogen sich die anwesenden Mitglieder zum Abendessen in ein Hinterzimmer des Restaurants zurück. Zuvor zahlte jeder mit einer Silbermünze, die das Motto der Akademie trug, Snille och smak. Geist und Geschmack. Beim Verlassen des Restaurants erhielten sie ihre Münzen zurück. Kein Außenstehender bekam je eine solche Münze, doch als er die Akademie an jenem Tag verließ, trug er eine davon in der Tasche.

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In New York erwarteten ihn diesmal keine Wagenkolonne und kein Lieutenant Bob, der befürchtete, Elizabeth könnte mit einer Gabel Dummheiten machen. (Er war mit Scandinavian Airlines geflogen und hatte die lange Route über Oslo genommen.) Sicherheitsleute schleusten ihn durch den Flughafen und das war’s. Es standen keinerlei öffentliche Auftritte an, und so war die amerikanische Polizei bereit, ihn möglichst sich selbst zu überlassen und ihm ein paar Tage Freiheit oder das, was dem in diesen fast vier Jahren am Nächsten kam, zu erlauben. Er wohnte in Andrew Wylies Wohnung, und die NYPD blieb unten in ihren Wagen. In diesen Tagen versöhnte er sich mit Sonny Mehta. Und er aß mit Thomas Pynchon zu Abend.

Eine von Andrews besten Eigenschaften war, dass er kein Zerwürfnis ertrug. »Du und Sonny solltet euch wieder zusammenraufen«, meinte er. »Ihr wart so lange befreundet. Es muss einfach sein.« Und es gab gute geschäftliche Gründe, den Ölzweig zu reichen. Langfristig kam Random House am ehesten als Verleger der Taschenbuchausgabe von Die satanischen Verse in Frage. Penguin würde es nicht tun, und da der Vertrieb von Granta Books über Penguin lief, sah es Bills außerordentlicher Freundschaft und Couragiertheit zum Trotz mit einer dauerhaften Beziehung schwierig aus. »Wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren«, sagte Andrew, »und das Ziel ist die ganz normale Publikation all deiner Bücher, die Verse inklusive.« Jetzt, da die Taschenbuchhürde durch das Konsortium genommen worden sei, wäre es möglich, Sonny die Angst vor neuen Titeln zu nehmen und ihm eine langfristig betreute Backlist schmackhaft zu machen. »Nicht sofort«, sagte Andrew, »aber vielleicht nach der Veröffentlichung deines nächsten Romans. Ich bin sicher, die machen das, und sollte es auch sein.« Er und Gillon hatten bereits einen Vertrag mit Sonny und Knopf für Des Mauren letzter Seufzer ausgehandelt und auch Bill beschwichtigt, der ziemlich außer sich gewesen war, als er von ihrem Plan erfuhr. Doch Bill war zuallererst Freund und dann Verleger und großherzig genug, um Andrews Argumente zu verstehen. Er hatte Harun vor Sonny gerettet und willigte nun ein, ihm den Mauren ohne Groll zu überlassen.

Ehe der Vertrag unterschrieben werden konnte, mussten Sonny und er das Kriegsbeil begraben, was der eigentliche Grund für seine New-York-Reise war. Andrew kontaktierte auch Pynchons Agentin und Ehefrau Melanie Jackson, und der öffentlichkeitsscheue Autor von Die Enden der Parabel erklärte sich zu einem Treffen bereit. Kurzerhand wurden die beiden Treffen zusammengelegt, und Pynchon und er aßen mit Sonny in dessen Midtown-Wohnung zu Abend. Der Clinch wurde mit einer Umarmung beigelegt und das Thema Harun mit keinem weiteren Wort erwähnt. Das war Sonnys schweigsame Art, die Dinge zu regeln, Unangenehmes unter den Teppich zu kehren und dann weiterzumachen, und vielleicht war das am besten so. Dann kam Pynchon und sah genauso aus wie Thomas Pynchon aussehen musste: groß, rotweiß kariertes Holzfällerhemd und Jeans, weiße Albert-Einstein-Frisur und Bugs-Bunny-Zähne. Nach einer halben Stunde bemühten Smalltalks schien Pynchon langsam aufzutauen und redete ausführlich über die amerikanische Arbeiterbewegung und seine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, der er während seiner frühen Zeit als technischer Redakteur bei Boeing beigetreten war. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, wie sich der große amerikanische Schriftsteller an die Verfasser von Gebrauchsanweisungen wandte, die ihn womöglich nur als den Typen kannten, der die Sicherheitshinweise für die CIM-10 Bomarc geschrieben hatte, und nicht wussten, wie seine Kenntnis dieser Flugabwehrrakete in die einzigartigen Beschreibungen der Bombardierung Londons durch V2-Raketen im Zweiten Weltkrieg eingeflossen war. Man plauderte bis weit nach Mitternacht. Irgendwann sagte Pynchon: »Ihr seid bestimmt müde, oder?« Das waren sie, aber wie konnte man schlafen gehen, wenn man Thomas Pynchon gegenübersaß?

Als Pynchon ging, dachte er: Okay, jetzt sind wir also Freunde. Wenn ich mal wieder nach New York komme, können wir uns vielleicht auf einen Drink oder einen Happen zu essen treffen und uns allmählich kennenlernen.

Doch sie trafen sich nie wieder.

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Erfrischende Tage. Mit Gita machte er eine Kutschfahrt durch den Central Park, und bis auf eine alte Frau, die »Wowie!« rief, scherte sich niemand um ihn. Er frühstückte mit Giandomenico Picco, der sagte: »Die USA sind der Schlüssel.« Er spazierte durch den Battery Park und das Lincoln Center. In Andrews Büro kam es zu einem rührenden Wiedersehen mit Michael Herr, der nach Amerika zurückgezogen war und wieder in Cazenovia, New York, der Stadt seiner Kindheit, lebte, nur einen Steinwurf von Chittenango entfernt, der Geburtsstadt des Schöpfers von Der Zauberer von Oz, L. Frank Baum. Und Sonny gab eine Party für ihn, und Paul Auster und Siri Hustvedt, Don DeLillo, Toni Morrison, Susan Sontag, Annie Leibovitz und Paul Simon kamen. Der schönste Moment dieses befreienden Abends, an dem er sich wieder als Teil jener Welt fühlte, der er von jeher zugehören wollte, war, als Bette Bao Lord Susan Sontag bierernst und ehrlich interessiert fragte: »Sag mal, Susan, hast du eigentlich irgendwelche kuriosen Marotten?«

Gemeinsam mit Andrew und Camie Wylie fuhren er und Elizabeth in deren Haus in Water Mill auf Long Island, wo Ian McEwan, Martin Amis, David Rieff, Bill Buford und Christopher und Carol Hitchens zu ihnen stießen. Andrew gab eine Party, auf der Susan Sontag eine ihrer kuriosen Marotten preisgab. Eigentlich war sie zwei Susans, die gute und die böse. Die gute Susan war brillant, witzig, loyal und einfach großartig, die böse Susan hingegen konnte ein gnadenloses Biest sein. Als eine junge Mitarbeiterin der Wylie-Agentur eine Bemerkung zum Bosnienkrieg machte, die Susan gegen den Strich ging, brach die böse Susan hervor stürzte sich auf das arme Ding. Es war kein fairer Kampf, Susan Sontag gegen dieses junge Mädchen, das gar keine Chance hatte, sich zu verteidigen, da Sontag eine hochgeschätzte Klientin der Agentur war. Das Leben der jungen Mitarbeiterin stand auf dem Spiel, und so gingen er und Bill Buford zu den beiden rüber und brachten die gewaltige Sontag mit geballten Belanglosigkeiten zum Schweigen. »Hey, Susan, was hältst du von der Rotation der Yankees?« – »Was? Worüber redet ihr? Die Rotation der Yankees ist mir scheißegal, ich versuche gerade, dieser jungen Lady hier zu erklären …« – »Schon klar, aber du musst doch zugeben, das El Duque gar nicht übel ist.« – »Moment, das hier ist wichtig, diese junge Lady hier denkt, dass es in Bosnien …« – »Wie findest du den Wein, Susan? Ich glaube, der rote hat ein bisschen Kork.« Und schließlich ergab sich Susan den Nichtigkeiten und verstummte, und die junge Agentin blieb verschont.

Trotz des kalten Novemberwetters spielten sie Ball am Strand, ließen Steine übers Wasser hüpfen und machten ihre albernen Wortspiele (das Spiel ›Verworfene Buchtitel‹ zum Beispiel): Herr Schiwago, Aus einem anderen Land, Wem die Stunde läutet, Zwei Tage im Leben des Iwan Denissowitsch, Mademoiselle Bovary, Die Forsyte-Geschichte, Der reiche Gatsby, Cab Driver, Liebe in den Zeiten der Grippe, Toby-Dick, Hitch 22, Raspberry Finn), und kein Sicherheitsbeamter war zu sehen. In diesen Tagen der Freundschaft glomm Hoffnung für die Zukunft auf. Wenn Amerika ihn einließ, seine stille Gegenwart duldete und ihm eine Chance gab, dann war das vielleicht der beste Weg, in absehbarer Zeit ein Stück Freiheit zu erlangen; vielleicht wäre es immerhin eine Teilzeitfreiheit, ein, zwei, drei Monate im Jahr, während sein Kampf um das Ende der Bedrohung weiterging. Was unterschied ihn schon von der geknechteten Masse, die frei zu atmen begehrte? Er hörte das Lied der Freiheitsstatue im Hafen, und es war, als gälte es ihm.

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Seine kanadische Verlegerin Louise Dennys – Vorsitzende des P.E.N.-Club Kanada, Graham Greenes Nichte, Torontos fähigste Herausgeberin und dazu eine Hälfte der größten und bestaussehenden glücklichen Ehe, die er kannte (die andere Hälfte war der noch größere und ebenso wunderbare Ric Young) – bat ihn um einen Überraschungsauftritt bei der jährlichen Benefizveranstaltung des kanadischen P.E.N. Sie war überzeugt, daraus würden sich Treffen mit führenden Politikern ergeben und Kanada käme bereitwillig ›an Bord‹. Man hatte ein Privatflugzeug gechartert, einen ziemlich beeindruckenden Vogel mit einer von Ralph Lauren designten Innenausstattung. Es war die luxuriöseste Atlantiküberquerung seines Lebens, doch hätte er weit lieber in Heathrow Schlange gestanden und wäre geflogen wie jeder andere. Wenn das Leben aus Krisen und Notlösungen bestand, wurde die Normalität zum Luxus – heiß ersehnt und unerreichbar.

In Toronto wurden sie von Ric Young und dem Romancier und P.E.N.-Repräsentanten Ralston Saul empfangen und zu Michael Ondaatje und Linda Spalding nach Hause gefahren. Am nächsten Tag begann die Arbeit. Eines seiner Interviews gab er dem führenden kanadischen Journalisten Peter Gzowski, der ihn in seiner Radiosendung nach seinem Sexleben fragte. »Kein Kommentar«, war seine Antwort. »Aber das heißt nicht, dass Sie keines haben, oder?«, bohrte Gzowski. Zum Mittagessen traf er den Premierminister von Ontario, Bob Rae, der entscheidend zur Organisation des Flugzeuges beigetragen hatte. Rae war ein jugendlicher, leutseliger blonder Turnschuhträger. Er sagte, obwohl seine Frau fürchtete, man würde ihn umbringen, habe er einem Podiumsauftritt bei der Veranstaltung zugestimmt. Es stellte sich heraus, dass die kanadische Polizei sämtliche Politiker vor einem Treffen mit ihm gewarnt hatte; vielleicht war das auch nur eine Ausrede. Jedenfalls war es schwer, irgendein Treffen zustande zu bringen. Am Abend aßen er und Elizabeth bei John Saul und der Fernsehjournalistin und zukünftigen kanadischen Generalgouverneurin Adrienne Clarkson zu Abend, und nach dem Essen stand Adrienne auf und sang mit schöner, klarer Stimme ›Hello, Young Lovers‹ für sie.

Am nächsten Abend hatten sich alle hinter den Kulissen des Winter Garden Theatre versammelt, und er zog das P.E.N.-T-Shirt über, das Ric ihm mitgebracht hatte. John Irving kam und grinste. Peggy Atwood, mit Cowboyhut und Fransenjacke, rauschte herein und küsste ihn. Dann begann der ›Rushdie‹-Teil des Programms, und er empfand es als höchste literarische Ehre, als ein Autor nach dem anderen die bittere Chronik der Fatwa vortrug und dann auf der Bühne Platz nahm. John Irving schilderte charmant, wie sie sich vor langer Zeit kennengelernt hatten, und las den Anfang und das Ende von Mitternachtskinder. Dann kündigte Peggy Atwood ihn an, und er betrat die Bühne und zwölfhundert Menschen hielten den Atem an und brachen in solidarischen Jubel aus. Wie seltsam, zu einer Ikone stilisiert zu werden, dachte er. Er fühlte sich gar nicht ikonenhaft. Er fühlte sich … echt. Doch zurzeit mochte dies die beste Waffe sein, die er hatte. Der symbolische Ikonen-Salman, den seine Fürsprecher geschaffen hatten, ein überhöhter Freiheits-Salman, der mustergültig und beharrlich für höchste Werte stand, Widerstand leistete und irgendwann über die von seinen Feinden geschaffene dämonische Ausgabe seiner selbst siegen würde. Winkend hob er den Arm, und als der Jubel sich legte, sprach er in leichtem Ton von Hexenjagden und der gefährlichen Macht der Komödie und trug seine Geschichte ›Christoph Kolumbus und Königin Isabella von Spanien erfüllen ihre gemeinsame Bestimmung‹ vor. Louise hatte ihn darum gebeten; er sollte ein Schriftsteller unter Literaturmenschen sein und sie an seinem Werk teilhaben lassen. Dann kam Louise und verlas eine Solidaritätsbekundung von Außenministerin Barbara Macdougall, und schließlich trat Bob Rae auf die Bühne und umarmte ihn – als erstes Regierungsoberhaupt der Welt – und der Jubel brach von neuem los. Diesen Abend würde er niemals vergessen.

Die iranische Botschaft in Ottawa hatte sich bei der kanadischen Regierung beschwert, nicht von seinem Besuch in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Das war der beste Witz der Woche.

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Und vor und während und nach dieser Reiserei zogen Elizabeth und er in ihr neues Haus. Er hätte sich dieses Haus niemals ausgesucht: Es lag in einer Gegend, in der er nie hatte leben wollen, war zu groß, weil die Polizisten auch darin Platz haben mussten, zu teuer, zu altmodisch. Doch David Ashton Hill hatte ganze Arbeit geleistet, Elizabeth hatte es wunderschön eingerichtet, und er hatte ein fantastisches Arbeitszimmer – und außerdem war es sein Zuhause, nicht durch Mittelsmänner für ihn angemietet oder von der Polizei für ihn bereitgestellt oder von Freunden aus Hilfsbereitschaft überlassen; deshalb liebte er es und bezog es in einer Art ekstatischen Hochgefühls. Trautes Heim, Glück allein. Das Bimbomobil fuhr ihn durch das elektronische Tor, die gepanzerte Garagentür hob sich und senkte sich hinter ihm, und er war da. Kein Polizist würde ihn jemals hier wegkriegen. Bruder, ich bin zu alt, um wieder umherzuziehen, hatte König Karl II. von England nach der Restauration gesagt, und dieses Gefühl teilte er voll und ganz. Er dachte auch an Martin Luther: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Natürlich hatte Martin Luther nicht von Immobilien gesprochen. Dennoch entsprach es seinen Gefühlen. Hier stehe ich, sagte er sich. Und hier sitze ich auch und arbeite und strample auf meinem Trimm-dich-Rad und sehe fern und bade und esse und schlafe. Ich kann nicht anders.

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Bill Buford hatte ihn gebeten, der Jury zur Wahl der ›Best of Young British Novelists 1993‹ beizutreten. 1983 hatte er zusammen mit Ian McEwan, Martin Amis, Kazuo Ishiguro, Graham Swift und Julian Barnes auf der allerersten Liste gestanden. Jetzt las er die Arbeiten jüngerer Schriftsteller: Jeanette Winterson, Will Self, Louis de Bernières, A. L. Kennedy, Ben Okri, Hanif Kureishi. Seine Mit-Juroren waren A. S. Byatt, John Mitchinson von Waterstone’s und Bill selbst. Es gab erfreuliche Entdeckungen (Iain Banks) und Enttäuschungen (Sunetra Gupta war keine britische Staatsbürgerin und kam deshalb nicht in Betracht). Nachdem man sich über gut die Hälfte der zwanzig Finalisten schnell einig war, begannen die interessanten Meinungsverschiedenheiten. Er stritt mit Antonia Byatt über Robert McLiam Wilson und verlor. Dafür unterlag sie im Kampf um D. J. Taylor. Man war sich uneins, welche der Töchter von Lucian Freud hereingenommen werden sollte, Esther Freud oder Rose Boyt. (Esther machte das Rennen.) Er war ein großer Bewunderer von A. L. Kennedys Arbeiten und konnte genügend Stimmen mobilisieren, um Antonia Byatt zu schlagen. Es war eine leidenschaftliche, ernste Debatte, und schließlich gab es sechzehn Schriftsteller, über die sich alle vollkommen einig waren, und vier, über die sich alle gleichermaßen uneins waren. Dann wurde die Liste veröffentlicht und im engen Becken der Londoner Literaturszene fielen die Piranhas darüber her.

Nachdem Harry Ritchie von der Sunday Times die exklusiven Rechte zur Veröffentlichung der zwanzig Autorennamen erhalten und versprochen hatte, angemessen für sie zu werben, war er der Erste, der die Liste verriss. Er rief Ritchie an. »Sagen Sie mal, haben Sie etwa alle Autoren gelesen? Ich habe das nämlich erst gemacht, als mir der Job angeboten wurde.« Ritchie gab zu, nur etwa die Hälfte der gelisteten Autoren gelesen zu haben, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hatte, sie allesamt schlechtzumachen. Offenbar konnte man nicht einmal mehr seine fünfzehn Minuten Ruhm unbehelligt genießen. Kaum war man aus dem Ei geschlüpft, kriegte man eins übergebraten. Drei Tage später wurden die zwanzig von James Wood, dem grausamen Prokrustes der Literaturkritik, der seine Opfer auf der schmalen Pritsche seiner unbeugsamen literarischen Prinzipien quälte, sie streckte oder ihnen die Unterschenkel abhackte, in The Guardian in die Zange genommen. Willkommen in der englischen Literatur, Freunde.

Am Weihnachtstag konnten er und Elizabeth Graham Swift und Candice Rodd einladen und mit ihnen den Tag verbringen. Am zweiten Weihnachtstag kamen Nigella Lawson und John Diamond und Bill und Alicja Buford zum Essen. Elizabeth liebte das Fest und all seine Rituale – er hatte ihr den zärtlichen Spitznamen ›Weihnachts-Fundamentalistin‹ gegeben – und war selig, es jedem ›weihnachtlich‹ machen zu dürfen. Nach vier Jahren konnten sie die Feiertage in ihrem eigenen Haus mit ihrem eigenen Baum verbringen und sich bei ihren Freunden für die jahrelange Gastfreundschaft und Herzlichkeit revanchieren.

Doch die schlagenden Schwingen des Todesengels waren niemals weit. Nigellas Schwester Thomasina ging bei ihrem verzweifelten Kampf gegen Brustkrebs in die Knie. Antonia Frasers Sohn Orlando hatte sich bei einem schweren Autounfall in Bosnien mehrfache Knochenbrüche und eine durchbohrte Lunge zugezogen. Er überlebte. Der Freund von Ian McEwans Stieftochter Polly wurde in Berlin aus einem brennenden Haus geholt. Er überlebte nicht.

Clarissa rief in Tränen aufgelöst an. Die Literaturagentur A. P. Watt hatte ihr mit sechsmonatiger Frist gekündigt. Er redete mit Gillon Aitken und Liz Calder. Dieses Problem musste gelöst werden.

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Terry O’Neill fotografierte ihn für die Londoner Sunday Times in einer Art Käfig. Das Bild sollte das Coverfoto für das Sonntagsmagazin werden, um seinen Essay mit dem Titel ›Die letzte Geisel‹ zu illustrieren. Während er die rostigen Gitterstreben umfasste, hinter die O’Neill ihn gestellt hatte, fragte er sich, ob jemals der Tag kommen würde, an dem Journalisten und Fotografen sich für ihn als Schriftsteller interessierten. Es sah nicht danach aus. Soeben hatte er von Andrew erfahren, dass Random House die Taschenbuchveröffentlichung von Die satanischen Verse trotz aller Bemühungen der Agentur abgelehnt hatte. Das Konsortium konnte also noch nicht aufgelöst werden. Allerdings hätten viele führende Leute bei Random House – Frances Coady und Simon Master am Londoner Sitz und Sonny Mehta in New York – beteuert, sie seien über die Abfuhr aus der Chefetage (derselben Chefetage, die dem Konsortium nicht beigetreten war, weil sie sich nicht ›von irgendeinem dämlichen Agenten‹ rumschubsen lassen wollten) ›sehr sauer‹ und wollten versuchen, ›die Sache rumzureißen‹.

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Eine politische Reise nach Dublin. Bono hatte ihn und Elizabeth zu sich nach Killiney eingeladen. Ganz hinten im Garten der Hewsons gab es ein wunderhübsches kleines Gästehaus mit Cinemascope-Blick über Killiney Bay. Gäste waren dazu aufgefordert, sich mit ihren Namen nebst kleinen Botschaften und Zeichnungen an der Badezimmerwand zu verewigen. Am ersten Abend traf er im Haus des Irish Times-Journalisten Paddy Smyth irische Autoren. Smyths Mutter, die bedeutende Schriftstellerin Jennifer Johnston, erzählte ihm, wie Tom Maschler von Jonathan Cape ihr nach der Lektüre ihres ersten Romans gesagt hatte, da er sie nicht für eine Schriftstellerin halte und nicht glaube, dass sie jemals ein weiteres Buch schriebe, würde er ihn nicht verlegen. Neben Literaturklatsch gab es aber auch politische Arbeit. Der ehemalige Premierminister Garret Fitzgerald war einer von mehreren anwesenden Politikern, die ihm geschlossen ihre Unterstützung bekundeten.

Die Präsidentin Mary Robinson empfing ihn in ihrer Residenz in Phoenix Park – sein erstes Treffen mit einem Staatsoberhaupt – und saß stumm blinzelnd neben ihm, während er seinen Fall darlegte. Zwar sagte sie nicht viel, murmelte aber immerhin: »Zuhören ist schließlich keine Sünde.« Nachdem er am Trinity College bei der ›Let in the Light‹-Konferenz über freie Rede gesprochen hatte, kam beim Umtrunk für die Redner eine kleine, stämmige Frau auf ihn zu und sagte, weil er sich gegen die Verordnung namens Section 31 ausgesprochen habe, die Sinn Féin aus dem irischen Fernsehen verbannte, »haben Sie alle Gefahr von uns auf sich gezogen«. – »Aha«, sagte er, »und wen meinen Sie mit uns?« Die Frau sah ihm in die Augen. »Sie wissen verdammt genau, wen ich meine.« Nach diesem Freifahrtschein von der IRA ging es in Windeseile zu Gay Byrnes legendärer Late Late Show, und weil Gay behauptete, er habe Die satanischen Verse gern gelesen, befand ganz Irland, der Autor müsse in Ordnung sein.

Am Morgen besuchte er Joyce’ Martello Tower, in dem der gewichtige Buck Mulligan mit Stephen Dedalus gewohnt hatte, und während er die Stufen zum Turmdach hinaufstieg, hatte er wie viele vor ihm den Eindruck, in den Roman einzutreten. Introibo ad altare Dei, murmelte er vor sich hin. Dann ein Mittagessen mit Autoren und dem Dichter und neuen Kultusminister Michael D. Higgins im Abbey Theater, bei dem alle ICH BIN SALMAN RUSHDIE-Buttons trugen. Nach dem Mittagessen machten zwei der anderen Salman Rushdies, Colm Tóibín und Dermot Bolger, mit ihm einen Spaziergang zum Leuchtturm auf Howth Head (die Garda folgte in diskretem Abstand), und der Leuchtturmwärter John ließ ihn das Licht anschalten. Am Sonntag schmuggelte Bono ihn heimlich in eine Bar nach Killiney, und eine halbe Stunde machten ihn die unkontrollierte Freiheit und der unkontrollierte Guinness-Genuss ganz schwindlig. Bei ihrer Rückkehr zum Haus der Hewsons erntete Bono vorwurfsvolle Blicke von der Garda, die es sich allerdings verkniff, ein scharfes Wort an den Liebling der Nation zu richten.

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In The Independent on Sunday gab es Angriffe von rechts und links. Der Prinz von Wales nannte ihn einen schlechten Schreiber, dessen Schutz zu viel koste, derweil der linke Journalist Richard Gott – ein ehemaliger Sowjet-Sympathisant, der den Guardian hatte verlassen müssen, als herauskam, dass er ›rotes Gold‹ genommen hatte – seine politischen Ansichten und seinen ›abgehobenen‹ Stil angriff. Die Wahrheit dessen, was er in ›In gutem Glauben‹ geschrieben hatte, traf ihn wie eine jähe Erleuchtung: Freiheit wurde nicht gegeben, sondern immer nur genommen. Vielleicht sollte er den Polizeischutz zurückweisen und einfach sein Leben leben. Aber konnte er Elizabeth und Zafar in diese gefährliche Zukunft mitnehmen? Wäre das nicht verantwortungslos? Er sollte mit Elizabeth darüber reden, und auch mit Clarissa.

In Washington wurde ein neuer Präsident ins Amt eingeführt. Christopher Hitchens rief an. »Clinton ist ganz klar auf deiner Seite. So viel ist sicher.« In einem Beitrag für The Nation legte John Leonard dem neuen Präsidenten, der als leidenschaftlicher Leser galt und Hundert Jahre Einsamkeit als sein Lieblingsbuch bezeichnete, Die satanischen Verse ans Herz.

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In den Achtzigern waren die ›Secret Policeman’s Balls‹ Spendenveranstaltungen für Amnesty International gewesen, doch bestimmt hatte man den dort auftretenden Komikern und Musikern nicht gesagt, dass die Geheimpolizei tatsächlich Bälle oder zumindest amtliche Partys veranstaltete. Jeden Winter im Februar nahm das ›A‹-Kommando die Restaurantetage von New Scotland Yard in Beschlag und wartete mit einer Gästeliste auf, die in London ihresgleichen suchte. Sämtliche ›Kunden‹, die unter Schutz standen oder je gestanden hatten, waren eingeladen, und um den Beamten, die sich um sie gekümmert hatten, ihren Dank zu erweisen, bemühte sich jeder zu kommen. Ehemalige und aktuelle Premierminister, Nordirlandminister, Verteidigungsminister und Außenminister beider Parteien plauderten und becherten mit Schutzbeamten und BBFs. Die Schutzteams durften auch ein paar Freunde und Kollegen ihrer Klienten dazubitten, die sich durch ihre Hilfe besonders hervorgetan hatten. Es wurde eine ziemlich große Sache.

Sollte er jemals ein Buch über sein Leben schreiben, dachte er damals, würde er es Durch die Hintertüren der Welt nennen. Durch die Vordertür konnte jeder spazieren. Man musste schon jemand sein, um durch die Küchentür, den Bediensteteneingang, das Hoffenster oder die Müllrutsche hereinzukommen. Selbst beim Ball der Geheimpolizei betrat er New Scotland Yard durch die Tiefgarage und wurde in einem abschließbaren Aufzug nach oben gebeamt. Während die anderen Gäste den Haupteingang benutzten, war er der Hintertürenmann. Doch einmal im Peelers Restaurant angekommen, verschmolz er mit der ausgelassenen Menge, deren Fröhlichkeit nicht zuletzt der ausschließlich auf riesige Gläser Scotch oder Gin beschränkten Drinkauswahl geschuldet war, und ›seine‹ Teammitglieder kamen mit einem freudigen »Joe!« auf ihn zu.

›Kunden‹ zusammenzubringen, die sich unter normalen Umständen niemals getroffen hätten, und zu sehen, was passierte, machte den Schutzbeamten besonderen Spaß. Sie manövrierten ihn durch die Menge zu einem gebrechlichen alten Herrn, der ein wenig krumm neben seiner betulichen Gattin stand, die Überbleibsel eines berühmten Schnurrbarts im Gesicht. Er war Enoch Powell schon einmal begegnet, in den Siebzigern, als er noch in Clarissas Haus in der Lower Belgrave Street gewohnt hatte. Er war zu Quinlan’s Kiosk um die Ecke gegangen, um sich eine Zeitung zu kaufen, und in der Ladentür kam ihm Enoch Powell entgegen, damals auf dem Gipfel seines dämonischen Ruhmes, denn seine ›Ströme von Blut‹-Rede, die für das Ende seiner politischen Karriere gesorgt hatte, lag erst wenige Jahre zurück. Wie der Römer scheine ich den Tiber mit einem Schaum von Blut bedeckt zu sehen, hatte er gesagt und damit die Angst aller britischen Rassisten vor finsteren Ausländern auf den Punkt gebracht. Damals in Quinlan’s Kiosk hatte der friedfertige junge Einwanderer ernsthaft in Erwägung gezogen, dem berüchtigten Enoch eins aufs Maul zu hauen, und er war stets ein bisschen enttäuscht von sich selbst, es nicht getan zu haben. Doch Lower Belgrave Street wimmelte vor Leuten, die eine blutige Nase verdient hätten – Madame Somoza, die Frau des nicaraguanischen Diktators, die nebenan in der Hausnummer 35 wohnte, und die netten Lucans in Nummer 46 (damals hatte Lord Lucan noch nicht versucht, seine Frau umzubringen, und stattdessen das Kindermädchen erwischt; aber er arbeitete daran). Wenn man einmal damit anfing, Leuten eine reinzuhauen, war es schwer, ein Ende zu finden. Vielleicht hatte er gut daran getan, an dem funkeläugigen Enoch mit der Hitler-Gedächtnis-Oberlippe vorbeizugehen.

Und nun stand Powell zwanzig Jahre später wieder vor ihm. »Oh, bitte nicht«, sagte er zu seinen Beschützern. »Eigentlich würde ich gern darauf verzichten.« – »Och, komm schon, Joe, der ist doch jetzt ein alter Opa«, riefen alle. »Mrs. Powell hat es mit dem Alten echt nicht leicht. Sie möchte dich wirklich gern kennenlernen, das würde ihr viel bedeuten«, kriegte Stanley Doll ihn schließlich herum, und er und Elizabeth willigten ein, Margaret Powell kennenzulernen. Als junge Frau hatte sie in Karatschi im selben Viertel wie seine Verwandten gelebt, und sie wollte mit ihm über alte Zeiten plaudern. Der alte Enoch stand krumm daneben, nickte stumm und war zu tattrig, um noch eins aufs Maul zu bekommen. Schließlich verabschiedete er sich mit einer höflichen Ausrede, nahm Elizabeth beim Arm, drehte sich um und stand Margaret Thatcher gegenüber, mit Handtasche und Haarsprayfrisur, die ihn mit ihrem typischen kleinen, krummen Lächeln ansah.

Niemals hätte er die Eiserne Lady für einen Schmusemenschen gehalten. Während der gesamten kurzen Unterhaltung fasste die ehemalige Premierministerin ihn an. Hallo, mein Lieber, ihre Hand ruhte leicht auf seiner, wie geht es Ihnen, ihre Hand streichelte seinen Unterarm, kümmern sich diese wundervollen Leute gut um Sie?, ihre Hand lag jetzt auf seiner Schulter, er sollte etwas sagen, sonst würde sie noch anfangen, ihm die Wange zu streicheln. »Ja, danke«, erwiderte er, und sie nickte ihr berühmtes Wackeldackel-Nicken. Schön, schön, ihre Hand streichelte wieder seinen Arm, also, passen Sie gut auf sich auf, und dabei wäre es geblieben, hätte Elizabeth nicht sehr entschlossen gefragt, was die britische Regierung zu tun beabsichtige, um der Bedrohung ein Ende zu machen. Derart harte Worte aus dem Mund eines so hübschen jungen Dings versetzten Lady Thatcher in milde Überraschung und ließen sie unmerklich zurückzucken. Oh, meine Liebe, jetzt bekam Elizabeth ihre Streicheleinheiten, ja, das muss wirklich schwer für Sie sein, aber ich fürchte, solange es in Teheran keinen Machtwechsel gibt, wird sich nicht viel ändern. »Das ist alles?«, fragte Elizabeth. »Ist das Ihre Politik?« Die Thatcher-Hand zog sich zurück. Ihr durchdringender Blick wanderte ins Leere. Ein unmerkliches Nicken, ein schleppendes Hmhmm, und dann war sie weg.

Elizabeth war für den Rest des Abends sauer. Das ist alles? Einen anderen Plan haben die nicht? Doch er dachte an Margaret Thatchers Hand, die seinen Arm streichelte, und lächelte.

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Der vierte Jahrestag der Fatwa verlief hitzig wie immer. Aus Teheran war das übliche haarsträubende Getöse zu hören, der immer lauter werdende öffentliche Protest gegen ihren mörderischen kleinen Plan schien Ayatollah Khamenei, Präsident Rafsandschani und den Sprecher der Majlis, Nateq Nuri, offenbar nervös zu machen. Der US-Kongress, die UN-Menschenrechtskommission und sogar die britische Regierung nahmen zu ihren Drohungen Stellung. Douglas Hurd und sein Vize Douglas Hogg fanden in Straßburg und Genf klare Worte und bezeichneten den Rushdie-Fall als ›eine Menschenrechtsfrage von höchster Priorität‹. In Norwegen hatte man ein Ölabkommen mit dem Iran auf Eis gelegt; eine milliardenschwere Kreditzusage Kanadas an den Iran war ebenso eingefroren worden. Und er befand sich an einem ungewöhnlichen Ort: Er stand auf der Kanzel der King’s College Chapel und hielt seine Predigt – oder besser seine Rede, schließlich war er kein Gottesmann.

Der Dekan warnte ihn wegen des Echos. »Nach ein paar Worten müssen Sie immer wieder Pausen einlegen, sonst kann man Sie nicht verstehen«, sagte er. Es war, als hätte man ihn in ein Geheimnis eingeweiht. Deshalb klangen Predigten so. »Hier zu stehen – erinnert an das – was das Schönste – am Glauben ist«, hob er an. Ich klinge wie ein Erzbischof, dachte er. Er fuhr fort, sprach im Haus Gottes über die Tugenden des Weltlichen und beklagte den Verlust derer, die für das Gute gekämpft hatten – Faradsch Fouda in Ägypten und nun der bekannteste türkische Journalist U˘gur Mumcu, der durch eine Autobombe ums Leben gekommen war. Die Rücksichtslosigkeit des Göttlichen machte ihr Streben nach Tugend hinfällig. »So wie man die King’s Chapel – als Symbol – dessen sehen kann – was das Beste – an der Religion ist«, sprach er in schönster kirchlicher Betonung, »so ist die Fatwa – zum Symbol – dessen geworden – was das Schlechteste – an ihr ist. Man könnte – Khomeinis Fatwa selbst – als eine Sammlung – moderner satanischer Verse ansehen. Auch in der Fatwa (schon wieder) – erscheint das Böse – im Gewand der Tugend – und die Gläubigen – werden – getäuscht.«

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Am 26. Februar 1993 verübte eine Gruppe unter der Führung des Kuwaiters Ramzi Yousef einen Bombenanschlag auf das World Trade Center. Sechs Menschen starben, über tausend wurden verletzt, doch die Türme hielten stand.

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Freunde sagten ihm, die Kampagne zeige durchschlagende Wirkung, er mache seine Sache sehr gut, doch allzu oft überkam ihn das, was Winston Churchill als den ›schwarzen Hund der Depression‹ bezeichnet hatte. Draußen in der Welt konnte er kämpfen, er hatte sich beigebracht, zu tun, was er tun musste. Doch wenn er nach Hause kam, fiel er oft in sich zusammen und Elizabeth musste die Scherben aufsammeln. David Gore-Booth erzählte ihm, das Auswärtige Amt habe mit British Airways geredet, doch die Fluglinie weigere sich standhaft, ihn zu befördern. Tom Phillips hatte sein Porträt von Mr Quietschvergnügt vollendet, und als er es aufhängen wollte und seine Werkzeugkiste nicht fand, bekam er einen solchen Wutanfall, dass Elizabeth in Tränen ausbrach. Sie sagte ihm auch, es sei wahnsinnig, den Schutz aufzukündigen, in einem unbewachten Haus würde sie nicht mit ihm leben. Wenn er seinen Bodyguards den Laufpass gab, könne er allein dort wohnen.

Danach nahm er mehr Rücksicht auf ihre Gefühle. Sie war eine couragierte, liebvolle Frau, er konnte sich glücklich schätzen, sie an seiner Seite zu haben, und würde nicht zulassen, dass er alles kaputt machte. Er beschloss, die Finger ganz vom Alkohol zu lassen, und obgleich ihm das nicht völlig gelang, wichen die exzessiven Nächte der Mäßigung. Er würde Mariannes Fluch nicht wahrmachen und sich nicht in seinen Alkoholikervater verwandeln. Er weigerte sich, Elizabeth zur Doppelgängerin seiner leidgeprüften Mutter zu machen.

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Doris Lessing schrieb ihre Memoiren und rief an, um mit ihm darüber zu sprechen. Der Rousseau’sche Weg sei der einzig gangbare, meinte sie; man müsse einfach die Wahrheit sagen, und zwar so viel wie möglich – was einen allerdings nicht davor bewahre, damit zu hadern. »Du musst wissen, Salman, damals war ich eine ziemlich gut aussehende Frau, und dir mag vielleicht nicht ganz klar sein, was das mit sich bringt. Die Leute, mit denen ich ein Verhältnis hatte oder fast gehabt hätte … viele davon waren sehr bekannt und einige leben noch. Ich denke an Rousseau und hoffe, dass dies ein emotional ehrliches Buch wird«, fuhr sie fort, »aber ist es fair, bezüglich der Gefühle anderer ehrlich zu sein?« Die echten Schwierigkeiten begännen allerdings erst in Band zwei. Noch arbeite sie am ersten Teil, die darin vorkommenden Personen seien entweder tot oder ›abgestumpft‹. Unter großem Gekicher machte sie sich wieder ans Schreiben und riet ihm, das Gleiche zu tun. Er hätte ihr gern gesagt, dass er wieder einmal mit dem Gedanken an ein Leben ohne das Schreiben spielte und überlegte, wie ruhig, friedlich und vielleicht sogar glücklich so ein Leben sein könnte. Doch er hatte sich vorgenommen, das Buch, an dem er arbeitete, zu beenden. Wenigstens diesen letzten Seufzer.

Und allmählich kam das Buch voran. In Cochin erlebten Abraham Zogoiby und Aurora da Gama ihre ›Pfefferliebe‹.

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Mitte März gelang es ihm endlich, nach Paris zu fliegen. Als er aus dem Flugzeug stieg, wurde er von den furchteinflößenden RAID-Männern umringt, die ihm mitteilten, er müsse genau – haargenau! – das tun, was sie sagten. In Hochgeschwindigkeit wurde er zur Grande Arche de la Défense gebracht, wo schon Jack Lang, Kulturminister und Nummer zwei der französischen Regierung, und Bernard-Henri Lévy auf ihn warteten, um ihn ins Auditorium zu geleiten. Er bemühte sich, nicht über den gigantischen Sicherheitsaufwand nachzudenken und sich auf das einzigartige Publikum zu konzentrieren, das ihn erwartete und offenbar die gesamte intellektuelle und politische Elite Frankreichs umfasste. (Ausgenommen Mitterrand. In jenen Jahren in Frankreich immer sauf Mitterrand.) Bernard Kouchner und Nicolas Sarkozy, Alain Finkielkraut und Jorge Semprún, Philippe Sollers und Elie Wiesel saßen in herzlicher Eintracht Schulter an Schulter. Patrice Chéreau, Françoise Giroud, Michel Rocard, Ismail Kadare, Simone Veil – der Saal war riesig.

»Wir müssen Salman Rushdie heute danken, denn er hat die französische Kultur zusammengeführt«, sagte Jack Lang in seiner Einführung. Er erntete lautes Lachen. Es folgten zwei Stunden intensiver Fragen. Er hoffte, einen guten Eindruck gemacht zu haben, doch blieb ihm keine Zeit, es herauszufinden, denn kaum war die Veranstaltung vorüber, drängte das RAID-Team ihn hinaus und raste mit ihm davon. Sie brachten ihn in die britische Botschaft, denn in Paris war ihm lediglich gestattet, die Nacht auf britischem Territorium zu verbringen. Eine Nacht. Der britische Botschafter Christopher Mallaby hieß ihn freundlich und höflich willkommen. Er kannte sogar einige seiner Bücher, stellte allerdings klar, dass diese Einladung eine einmalige Ausnahme sei. Die Botschaft sei nicht sein Pariser Hotel. Am nächsten Morgen wurde er zum Flughafen gebracht und aus dem Land katapultiert.

Auf dem Weg zu und von der Botschaft bemerkte er mit Schrecken, dass die Place de la Concorde komplett gesperrt worden war. Polizeibeamte hatten sämtliche Zufahrtsstraßen blockiert, damit er mit seiner RAID-Eskorte ungehindert über den Platz rauschen konnte. Es machte ihn traurig. Er wollte kein Mensch sein, für den die Place de la Concorde gesperrt wurde. Die Eskorte fuhr an einem kleinen Bistro vorbei, und die Kaffeetrinker unter der Markise starrten mit leicht entrüsteter Neugier zu ihm herüber. Ob ich irgendwann auch wieder zu denen gehören werde, die Kaffee trinkend auf dem Gehsteig sitzen und die Welt an sich vorüberziehen lassen?, fragte er sich.

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Das Haus war wunderschön, doch es fühlte sich an wie ein goldener Käfig. Er hatte gelernt, die islamischen Attacken gegen ihn zu ertragen; schließlich war es nicht erstaunlich, dass intolerante Fanatiker sich weiterhin wie intolerante Fanatiker aufführten. Die lauter werdende nicht-muslimische Kritik der Briten und die offenkundige Doppelzüngigkeit des Auswärtigen Amtes und der Regierung John Majors, die das eine versprachen und das andere taten, waren schwerer zu ertragen. Er schrieb einen wutentbrannten Artikel und ließ seinem Zorn und seiner Enttäuschung freien Lauf. Kühlere Köpfe – Elizabeth, Frances, Gillon – rieten ihm von einer Veröffentlichung ab. Rückblickend dachte er, dass es ein Fehler gewesen war, auf sie zu hören. Jedes Mal, wenn er sich in jenen Jahren dazu entschlossen hatte, den Mund zu halten – in dem Jahr zwischen der Fatwa und der Veröffentlichung von ›In gutem Glauben‹ zum Beispiel –, fühlte sich das Schweigen hinterher falsch an.

Am Montag, dem 22. Februar, erklärte das Büro des Premierministers, John Major sei grundsätzlich zu einem Treffen mit mir bereit, um damit zu demonstrieren, dass die Regierung entschlossen ist, sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen und für das Recht ihrer Bürger, nicht von den Schergen einer ausländischen Macht ermordet zu werden. Vor kurzem wurde dann ein Termin für das Gespräch festgesetzt, und prompt forderten konservative Abgeordnete in einer lautstarken Kampagne eine Absage des Treffens, weil es die britische ›Partnerschaftmit den mörderischen Mullahs in Teheran beeinträchtige. Heute nun wurde der Termin – man hatte mir versichert, er stehe endgültig fest – ohne weitere Erklärung bis auf weiteres verschoben. Wie es sich seltsamerweise trifft, kann eine britische Handelsdelegation ihre geplante Reise in den Iran nun Anfang Mai ungehindert antreten. Im Iran wird diese Mission – die erste in den vierzehn Jahren seit der Khomeini-Revolution – als ein ›Durchbruchin den beiderseitigen Beziehungen freudig begrüßt. Wie die iranische Nachrichtenagentur meldet, haben sich die Briten bereit erklärt, Kreditlinien einzuräumen.

Es wird immer schwieriger, auf den Beschluss des Außenministeriums, man werde eine neue internationale Initiative ›großen Stilsgegen die allbekannte Fatwa starten, zu vertrauen. Denn wir beeilen uns nicht nur, Geschäfte mit dem tyrannischen Regime zu machen, das die US-Regierung als ›international verfemtbezeichnet und als den weltweit größten Sponsor des Terrorismus brandmarkt, wir bieten diesem Regime auch noch an, ihm das Geld für seine Geschäfte mit uns zu leihen. Soviel ich weiß, will man mir einen neuen Termin für mein kleines Treffen vorschlagen, aber bisher hat Downing Street 10 weder mündlich noch schriftlich mit mir Kontakt aufgenommen.

Die ›Anti-Rushdie-Pressure-Group der Tories – schon die Bezeichnung verrät, dass ihre Mitglieder die Sache zu einer persönlichen anstatt zu einer Grundsatzfrage machen wollen – besteht unter anderem aus Sir Edward Heath, Emma Nicholson und dem bekannten Apologeten iranischer Interessen, Peter Temple-Morris. Emma Nicholson lässt uns wissen, dass sie das iranische Regime (das von den Vereinten Nationen kürzlich als eines der schlimmsten der Welt verurteilt wurde, was Morde, Verstümmelungen und Folter am eigenen Volk anbelangt) mittlerweile ›respektiert und mag, Sir Edward – der noch heute vom Special Branch geschützt wird, weil das englische Volk vor zwanzig Jahren unter seiner verheerenden Amtsführung als Premierminister zu leiden hatte – beschwert sich darüber, dass einem Landsmann, der sich augenblicklich in größerer Gefahr befindet als er selbst, der gleiche Schutz gewährt wird wie ihm.

Alle diese Personen sind sich in einem Punkt einig: Schuld an der Krise bin ich. Es kümmert sie nicht, dass mich über zweihundert der prominentesten Exil-Iraner in einer Erklärung ihrer bedingungslosen Unterstützung versichert haben, dass Schriftsteller, Philosophen, Journalisten und Hochschullehrer aus der gesamten muslimischen Welt – wo die Angriffe auf abweichendes, progressives und vor allem säkularistisches Gedankengut täglich heftiger werden – den britischen Medien gegenüber geäußert haben, »für Rushdie eintreten heißt, für uns eintreten«, dass Die satanischen Verse, ein legitimes Produkt der freien Fantasie, viele Fürsprecher haben (und weshalb sollten dort, wo es mindestens zwei Standpunkte gibt, die Bücherverbrenner das letzte Wort behalten?) oder dass die Gegner des Buches kein Bedürfnis verspüren, es zu verstehen.

Von offizieller iranischer Seite wird eingeräumt, dass Khomeini kein Exemplar des Buches je auch nur zu Gesicht bekommen hat. Islamische Rechtsgelehrte erklären, die Fatwa stehe im Widerspruch zu islamischem Recht, von internationalem Recht ganz zu schweigen. Unterdessen hat die iranische Presse einen Preis von sechzehn Goldstücken und einer Pilgerfahrt nach Mekka für einen Zeichentrickfilm ausgesetzt, der ›beweist, dass es sich bei Die satanischen Verse gar nicht um einen Roman handelt, sondern um eine raffinierte westliche Verschwörung gegen den Islam. Wirkt die ganze Affäre nicht manchmal wie eine rabenschwarze Komödie, eine Zirkuseinlage mörderischer Clowns?

In den vergangenen vier Jahren bin ich von vielen Menschen verleumdet worden. Ich gedenke nicht, immer weiter die andere Wange hinzuhalten. Wenn es gut und richtig war, die Mitläufer des Kommunismus auf der Linken anzugreifen und jene, die eine Appeasement-Politik gegenüber den Nazis betrieben, auf der Rechten, dann haben es die Freunde des revolutionären Iran – Geschäftsleute, Politiker, britische Fundamentalisten – verdient, mit gleicher Verachtung behandelt zu werden.

Ich glaube, wir sind an einem Wendepunkt angelangt. Entweder wir meinen es ernst mit unserer Entschlossenheit, die Freiheit zu verteidigen, oder wir tun es nicht. Wenn ja, dann hoffe ich, dass John Major sich in allernächster Zeit entschließt, wie versprochen öffentlich Stellung zu beziehen. Ich würde sehr gern mit ihm erörtern, wie der Druck auf den Iran verstärkt werden kann – in der Europäischen Kommission, über das Commonwealth und die UNO, beim Internationalen Gerichtshof. Der Iran braucht uns mehr, als wir den Iran brauchen. Statt ins Zittern zu geraten, wenn die Mullahs mit dem Abbruch der Handelsbeziehungen drohen, sollten vielmehr wir diejenigen sein, die an den wirtschaftlichen Schrauben drehen. In meinen Gesprächen überall in Europa und in Nordamerika habe ich festgestellt, dass durch alle Parteien hindurch ein breites Interesse an einer Kreditsperre für den Iran als einem ersten Schritt besteht. Doch alle warten darauf, dass die britische Regierung die Führung übernimmt. In der Times von heute aber schreibt Bernard Levin, dass sage und schreibe zwei Drittel der Tory-Abgeordneten entzückt wären, wenn es iranischen Mördern gelänge, mich umzubringen. Sollten diese Abgeordneten tatsächlich die Nation vertreten – sollten wir für unsere Freiheiten nur ein Achselzucken übrighaben –, dann sei’s drum: Hebt meine Bewachung auf, gebt meinen Aufenthaltsort bekannt und lasst die Kugeln kommen. Ob so oder so – wir müssen uns entscheiden.

Das lange verschobene Treffen mit John Major fand schließlich am 11. Mai in dessen Büro im House of Commons statt. Ehe er hinging, hatte er mit Nigella Lawson geredet, und ihre Besonnenheit war eine große Hilfe. »Er kann dir seine Rückendeckung nicht verweigern«, meinte sie. »Die schlechte Wirtschaftslage ist dein Vorteil, denn wenn er keinerlei wirtschaftliche Erfolge vorweisen kann, muss er mit Moral punkten.« Außerdem hatte sie gute Neuigkeiten: Sie war schwanger. Er erzählte es Elizabeth, die sich selbst ein Kind wünschte. Doch wie konnten sie einem Kind diesen Albtraum, diesen Hausarrest zumuten? Und dann war da noch die Sache mit dem translozierten Chromosom, das eine Schwangerschaft zum russischen Roulette machte. Für einen Mann, der drauf und dran war, den Premierminister um Hilfe für Leib und Leben zu bitten, war ein Baby keine besonders schlaue Idee.

Der Premierminister hatte nicht sein typisches Allerweltslächeln aufgesetzt und redete nicht über Kricket. Er wirkte zugeknöpft, geradezu defensiv, wie ein Mann, der wusste, dass er um etwas gebeten wird, das ihm womöglich gegen den Strich ging. Fotos von diesem Treffen lehnte er kategorisch ab, um die »Reaktion des Iran und die seiner eigenen Hinterbänkler möglichst klein zu halten«. Kein sonderlich vielversprechender Auftakt.

»Ich möchte Ihnen für die vier Jahre Schutz danken«, sagte er zu Major. »Ich bin den Leuten, die sich um mich kümmern und ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, unendlich dankbar.« Major war perplex. Das war nicht der Rushdie, den er erwartet hatte und den die Daily Mail als »schlecht erzogen, muffig, plump, dämlich, bärbeißig, unattraktiv, engstirnig und egozentrisch« beschrieb. Es stand dem Premier geradezu auf der Stirn geschrieben, dass er die Daily Mail im Kopf hatte. (Sie hatte einen Leitartikel gegen diese Begegnung veröffentlicht.) »Vielleicht sollten Sie so etwas öfter sagen«, entgegnete er, »in der Öffentlichkeit, um das Bild, das die Menschen von Ihnen haben, geradezurücken.« – »Herr Premierminister, das sage ich jedes Mal, wenn ich mit einem Journalisten spreche.« Major nickte zögernd, wirkte jedoch entspannter und zugänglicher. Von dem Moment an lief das Treffen gut. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass sein Gegenüber, nachdem die Boulevardpressen-Rushdie-Karikatur aus dessen Kopf verbannt war, feststellte, dass er im Grunde ein recht umgänglicher Typ war. »Sie haben zugenommen«, sagte Major plötzlich. »Vielen Dank, Herr Premierminister.« – »Sie sollten meinen Job machen«, erwiderte der Premier, »dann sind Sie das in null Komma nichts wieder los.« »Schön. Ich mache Ihren und Sie meinen.« Danach waren sie fast Kumpel.

Major befürwortete die offensive Vorgehensweise. »Sie sollten nach Japan reisen und die zu einer Reaktion bewegen«, sagte er. Sie erörterten, wie man eine Resolution des Commonwealth herbeiführen könnte, damit der Iran die Sache nicht als eine Meinungsverschiedenheit zwischen Ost und West hinstellen konnte. Sie redeten über den Internationalen Gerichtshof; Major wollte den Fall nicht dorthin bringen, um »den Iran nicht in die Ecke zu drängen«. Und sie waren sich über die Bedeutung eines Treffens mit Präsident Clinton einig. Er erzählte dem Premierminister, was der UN-Unterhändler Picco gesagt hatte. Die USA sind der Schlüssel. Nickend sah Major zu seinen Beratern hinüber. »Wir werden sehen, was sich tun lässt.«

Als die Nachricht ihrer Begegnung zusammen mit einem Statement des Premierministers, in dem er die Fatwa scharf verurteilte, nach außen drang, reagierte das regimetreue iranische Blatt Kayhan erbost. »Der Autor von Die satanischen Verse legt es regelrecht darauf an, einen Schlag ins Genick kriegen.« Es wurde hoch gepokert, und er versuchte vorsätzlich, noch eins draufzusetzen. Bislang ließen sich die Iraner nicht unterkriegen, und deshalb gab es nur einen Weg: Er musste den Einsatz abermals erhöhen.

*

Clarissa rief an und sagte, sie habe einen Knoten in der Brust, »vier von fünf Punkten auf der Krebs-Wahrscheinlichkeitsskala«. Die Lumpektomie stehe in sechs Tagen an, das Ergebnis gebe es eine Woche später. Aus ihrer Stimme war ein Zittern herauszuhören, aber auch ihre unbeugsame Stärke. Er war erschüttert. Minuten später rief er sie zurück und bot ihr an, für eine private Behandlung und alles, was nötig sei, aufzukommen. Sie sprachen darüber, ob sich eine Brustamputation umgehen lasse, und er gab ihr weiter, was er von Nigella und Thomasina über die Brustkrebseinheit am Guy’s Hospital und den Spezialisten Professor Fentiman gehört hatte. Das Sunday Times Magazine hatte eine Titelgeschichte über Brustkrebs gemacht, in der auch Fentiman zu Wort gekommen war. Sie muss ihn besiegen, dachte er. Sie hat es nicht verdient. Sie wird ihn besiegen.

Er und Elizabeth würden alles ihnen Mögliche tun. Doch mit einer tödlichen Krankheit war man immer allein. Und nach vier Jahren voller Angst um das andere Elternteil würde Zafar nun auch das noch ertragen müssen. Ein Schlag aus dem Hinterhalt. Jetzt war das ›sichere‹ Elternteil in Gefahr. Er konnte nicht umhin, weiterzudenken. Wie würde er Zafar ein erträgliches Leben bieten können, wenn seine Mutter starb? Er würde in diesem geheimen Haus leben müssen, aber was wäre mit seiner Schule, seinen Freunden, seinem Leben in der ›wirklichen‹ Welt? Wie konnte er ihm über einen derart schmerzlichen Verlust hinweghelfen?

Es ist, als brächte man sein halbes Leben damit zu, sich zur Sonne durchzukämpfen, um nach fünf Minuten im Sonnenlicht wieder zum Sterben in die Finsternis hinabgezogen zu werden, sagte er zu Elizabeth. Kaum hatte er das gesagt, wurde es zu den Worten Flory Zogoibys, Abrahams Mutter in Des Mauren letzter Seufzer. Kannte die Dreistigkeit literarischer Fiktion gar keine Grenzen? Nein, überhaupt keine.

Er erzählte dem Schutzbeamten Dick Billington, dass Clarissa womöglich Krebs habe. »Tja, Frauen werden einfach immer krank«, war die Antwort.

Sameen sagte ihm, sie habe ein langes Gespräch mit Clarissa gehabt, die über alte Zeiten hätte plaudern wollen. Sie sei tapfer gewesen, meinte aber, für dieses Leben hätte sie ›genug Pech abbekommen‹. Clarissas Krankheit hatte Sameen ihre eigene Sterblichkeit vor Augen geführt. Sie wollte ihn bitten, die Vormundschaft für ihre Kinder zu übernehmen, sollten sie und deren Vater sterben.

Er sagte, Ja, selbstverständlich, doch angesichts der Lebensgefahr, in der er schwebe, solle sie lieber noch einen Plan B in der Tasche haben.

Die Testergebnisse aus dem St. Bartholomew’s Hospital waren da, und sie waren tatsächlich sehr schlecht. Clarissa hatte ein invasives duktales Karzinom, das rund anderthalb Jahre lang unentdeckt geblieben war. Ein radikaler Eingriff war unumgänglich. ›Womöglich‹ hatte sich der Krebs bereits im Lymphsystem ausgebreitet. Bluttests waren erforderlich, und auch ihre Lungen, die Leber und das Knochenmark mussten untersucht werden. Sie versuchte so ruhig wie möglich zu klingen, doch er konnte die Angst in ihrer Stimme hören. Zafar nehme sie ganz fest in die Arme, sagte sie und brach fast in Tränen aus. Es habe sie bereits enorme Überwindung gekostet, sich mit der Mastektomie abzufinden, doch was sollte sie machen, wenn es auch mit der Leber und dem Knochenmark schlecht aussähe? Wie fand man sich mit der Unausweichlichkeit des Todes ab?

Er rief Nigella an. Sie kannte jemanden, der neue Heilmethoden für Leberkrebs entwickelt hatte und damit einigermaßen erfolgreich war. Das war ein Strohhalm, an den man sich klammern konnte, aber nicht mehr.

Zafar kam zum Übernachten. Er unterdrückte seine Gefühle, genau wie seine Mutter, wenn es hart auf hart kam. »Wie geht’s Mum?« – »Gut.« Es war besser, ihn die Neuigkeit ganz in Ruhe verdauen zu lassen, statt ihn mit den Fakten zu konfrontieren und zu verängstigen. Clarissa hatte mit ihm gesprochen und auch das Wort Krebs fallenlassen. »Das hast du mir doch schon gesagt«, lautete seine Antwort, obwohl es gar nicht stimmte.

Die neuen Testergebnisse waren da. Blut, Lungen, Leber und Knochenmark waren krebsfrei. Doch da es sich um ›bösartigen Krebs‹ handelte, war eine Brustamputation unvermeidbar, und zehn Lymphknoten mussten ebenfalls entfernt werden. Clarissa wollte eine zweite Meinung einholen, und er teilte ihren Wunsch. Er würde für sämtliche Kosten aufkommen. Sie suchte einen renommierten Onkologen namens Sikora am Hammersmith Hospital auf. Sikora hielt die Mastektomie für unnötig. Nach der Entfernung der Lymphknoten wären Chemotherapie und eine Strahlenbehandlung ausreichend. Als sie erfuhr, dass sie ihre Brüste behalten könnte, lebte sie förmlich wieder auf. Sie war eine schöne Frau, und die Verstümmelung ihrer Schönheit war ein harter Schlag für sie. Dann traf sie den Chirurgen, der die Lymphektomie durchführen sollte. Er hieß Linn und erwies sich als Kotzbrocken. Schätzchen, schleimte er, Herzchen, was wehrst du dich denn so gegen diese OP? Er meinte, sie sollte sich die Brust entfernen lassen, widersprach damit vollkommen dem führenden Onkologen Sikora, erschütterte ihre neu gewonnene Zuversicht und machte den Wechsel vom Bart’s Hospital, wo sie sich seriös beraten und gut umsorgt gefühlt hatte, zum Hammersmith Hospital hinfällig. Sie bekam Panik und stand zwei Tage lang kurz vor der Hysterie, ehe sie endlich wieder mit Sikora sprechen konnte. Er versicherte ihr, an seiner Vorgehensweise werde sich nichts ändern. Clarissa beruhigte sich wieder und machte mit Zafar eine Woche Fahrradurlaub in Frankreich.

Sameen meinte, ihr Freund Kishu, ein New Yorker Chirurg, habe ihr gesagt, mit dieser Form des invasiven Krebses sei nicht zu spaßen, und man solle sich zu einer Brustamputation durchringen. Doch die Aussicht, ihre Brust zu behalten, hatte Clarissa unglaublich gutgetan. Es war so schwer, ihr einen Rat zu geben. Sie wollte seinen Rat nicht.

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Sein Anwalt Bernie Simons rief an. Das vorläufige Scheidungsurteil sei durch, und in wenigen Wochen, wenn das Urteil rechtskräftig sei, werde die Scheidung von Marianne vollzogen sein. Ach, stimmt, erinnerte er sich, ich lasse mich scheiden.

Bernard-Henri Lévy ließ ihm eine Nachricht zukommen. Gute Neuigkeiten: Er sollte den très important Prix Colette der Genfer Buchmesse erhalten. Nächste Woche müsse er in die Schweiz kommen und den Preis bei einem großen Festakt auf der Messe entgegennehmen. Doch die Schweiz ließ verlauten, sein Besuch sei nicht erwünscht und man werde ihm keinerlei polizeilichen Schutz gewähren. Er musste daran denken, wie Mr Greenup gesagt hatte, mit seinem Wunsch nach Selbstglorifizierung gefährde er die Bürger. Diesmal hatten die Schweizer Greenups gewonnen. Es würde keine Selbstglorifizierung geben. Die Schweizer Bürger würden in Sicherheit sein. Er konnte allenfalls bei der Genfer Buchmesse anrufen und telefonisch an der Preisverleihung teilnehmen. In seiner Rede sagte BHL, der Preis sei eine einmütige Entscheidung der Jury gewesen. Der Preis bleibe ›Colettes Geist‹ treu, meinte die Jurypräsidentin Mme Edmonde Charles-Roux, denn auch sie habe ›gegen Intoleranz gekämpft‹. Colettes Erben hingegen waren außer sich über die Preisvergabe und offenbar ganz und gar nicht der Meinung, dass die Wahl Salman Rushdies ›Colettes Geist‹ entspreche. Mit einem Verbot, Colettes Namen weiterhin zu verwenden, gaben sie ihrer Empörung Ausdruck. Und somit war er der letzte Gewinner des Prix Colette.

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Er musste sich mit einem neugierigen Nachbarn herumschlagen, einem älteren Herrn namens Bertie Joel. Mr Joel kam ans Tor und sagte in die Gegensprechanlage, ›in der nächsten Viertelstunde‹ solle jemand zu ihm rüberkommen. Elizabeth war nicht zu Hause, also musste einer aus dem Team gehen. Alle waren nervös; war Mr Antons Geheimidentität aufgeflogen? Doch es ging lediglich um ein verstopftes Abflussrohr, das zwischen den beiden Grundstücken verlief. Frank Bishop, der neue Schutzteamleiter, war ein wortgewandter, gut gelaunter älterer Mann und Mitglied des Marylebone Kricketclubs. Es stellte sich heraus, dass Bertie Joel ebenfalls Mitglied war und Franks Vater gekannt hatte. Die Kricket-Connection machte jeden Argwohn zunichte. »Die Bauarbeiter haben mir erzählt, das ganze Haus solle mit Stahl gepanzert werden, deshalb dachte ich, das hätte was mit der Mafia zu tun«, sagte Bertie Joel, und Frank lachte herzlich und konnte ihn beruhigen. Als er zurückkam und erzählte, was passiert war, reagierte das Team fast hysterisch vor Erleichterung. »Das war ein Treffer, Joe«, sagte Frank, »und was für einer.«

Es gab noch mehr solcher Momente. Eines Tages öffnete sich das elektrische Tor, und ein Mann, der haargenau aussah wie der Dichter Philip Larkin, spazierte auf die Einfahrt und schaute sich neugierig um. Ein anderes Mal stand ein Mann mit einer Trittleiter an der Hecke und wollte das Haus fotografieren. Es stellte sich heraus, dass er an einem Zeitungsartikel über Wiederinbesitznahme von leerstehenden Häusern schrieb. Wieder ein anders Mal standen ein Motorradfahrer und ein Volvo mit drei Insassen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und benahmen sich ›auffällig‹. An solchen Tagen dachte er: Vielleicht treiben sich hier tatsächlich Killer herum, und ich werde wirklich bald umgebracht. Doch es war immer falscher Alarm. Das Haus flog nicht auf.

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Bernie Simons war plötzlich tot; der gute, unentbehrliche Bernie, Anwalt einer ganzen Generation britischer Linker, dieser denkbar kluge und herzliche Mensch, der ihm geholfen hatte, die muslimischen Klagen gegen ihn anzufechten, und ihm im Kampf gegen Howleys und Hammingtons Drohung, den Schutz abzusetzen, großartigen Beistand geleistet hatte. Er war nur zweiundfünfzig Jahre alt geworden. Bei einer Konferenz in Madrid hatte er nach dem Abendessen in seinem Hotelzimmer einen schweren Herzinfarkt erlitten und war vornüber auf den Teppich geschlagen. Ein schnelles Ende nach einem guten Essen. Wenigstens das war angemessen. In ganz London riefen Menschen einander an, um zu trauern. Er redete mit Robert McCrum, Caroline Michel und Melvyn Bragg. »Es ist so furchtbar«, sagte er zu Robert. »Am liebsten würde ich Bernie anrufen und ihn bitten, das wieder in Ordnung zu bringen.«

Es war zu früh, die Namen seiner Altersgenossen in den Todesanzeigen zu lesen, doch tags darauf stand Bernies Name da, so wie Angelas dort gestanden hatte und Clarissas vielleicht bald stehen würde. Und Edward Said hatte CLL, chronische lymphatische Leukämie, und Gita Mehta hatte ebenfalls Krebs und wurde operiert. Die Schwingen, die schlagenden Schwingen. Er war derjenige, der sterben sollte, stattdessen erwischte es die Leute um ihn herum.

Anfang Juni brachte Elizabeth Clarissa zu einer weiteren Runde explorativer Eingriffe ins Hammersmith Hospital. Das Ergebnis war erfreulich. Der Chirurg Dr. Linn sagte, er könne »keinen Krebs mehr entdecken«. Vielleicht hatte man ihn rechtzeitig erwischt, und sie würde leben. Clarissa war von der guten Nachricht überzeugt. Den restlichen Zellen würde die Strahlentherapie den Garaus machen, und da »nur einer, nämlich der kleinste« Lymphknoten betroffen war, würde sie ohne Chemo auskommen, meinte sie. Er hatte seine Zweifel, behielt sie aber für sich.

Edward Said erzählte, seine Leukozytenzahl würde steigen, und schon bald könnte eine Chemotherapie nötig werden. »Aber ich bin ein lebendes Wunder«, meinte er. Sein Arzt, ein indischstämmiger Mediziner aus Long Island namens Dr. Kanti Rai, war der Mann, der das Buch über CLL geschrieben hatte; entsprechend seiner Krankheitsdefinition wurden die Stadien der Krankheit als ›Rai-Stadien‹ bezeichnet. Edward, der ein echter Hypochonder gewesen war, bis ihn seine Erkrankung in einen tapferen Helden verwandelt hatte, war somit in den allerbesten Händen und kämpfte mit ganzer Kraft gegen die Krankheit an. »Und du bist auch ein lebendes Wunder«, sagte er. »Eigentlich sollten wir beide tot sein, aber uns gibt’s noch immer.« Er sagte, er habe ein Interview mit Kopfgeld-Ayatollah Sanei in The New York Times gelesen. »Hinter ihm hängt eine Karikatur von dir, wie du in der Hölle schmorst. Er meinte: Der Weg zum Paradies wird weniger steinig, wenn Rushdie tot ist.« Edward prustete los und wischte die Bemerkung des Kopfgeld-Ayatollahs mit einer ausladenden Armbewegung beiseite.

An seinem sechsundvierzigsten Geburtstag lud er Freunde zum Abendessen ein. Inzwischen gab es eine Liste von Leuten, die vom Special Branch gutgeheißen wurden, enge Freunde, die sich im Laufe der Jahre als verschwiegen und vertrauenswürdig erwiesen hatten. Bill Buford brachte einen hervorragenden Côtes du Rhône und Gillon einen Puligny-Montrachet mit. Von Pauline Melville bekam er eine Hängematte und von Nigella ein sehr schönes blaues Leinenhemd geschenkt. John Diamond konnte froh sein, dass er noch am Leben war, nachdem ein Bus über Rot gefahren und mit über sechzig Sachen in seine Beifahrertür gekracht war. Zum Glück hatte die Tür gehalten.

Antonia Fraser und Harold Pinter brachten eine Sonderausgabe von Harolds Gedichten mit. (Wenn man Harold seine Faxnummer gab, faxte er einem hin und wieder Gedichte durch, die möglichst sofort in den Himmel gelobt werden mussten. Eines seiner Gedichte war nach dem großen englischen Schlagmann ›Len Hutton‹ benannt. Ich sah Len Hutton mit Pokal / ein andermal / ein andermal. Das war’s. Harolds enger Freund und Dramatikerkollege Simon Gray versäumte es, das Gedicht zu kommentieren, und Harold rief ihn vorwurfsvoll an. »Tut mir leid, Harold«, sagte Simon. »Ich hab’s noch nicht geschafft, es zu Ende zu lesen.« Mr Pinter konnte nicht darüber lachen.)

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Der bekannte algerische Schriftsteller und Journalist Tahar Djaout wurde in den Kopf geschossen und starb. Nach Faradsch Fouda in Ägypten und U˘gur Mumcu in der Türkei war dies der dritte Mord an einem prominenten Intellektuellen innerhalb eines Jahres. Er versuchte, die westlichen Medien darauf aufmerksam zu machen, doch das Interesse war gering. Seine Kampagne schien sich festgefahren zu haben. Christopher Hitchens hatte von dem britischen Botschafter in Washington, Sir Robin Renwick, erfahren, dass ein Treffen mit Clinton frühestens im Herbst stattfinden könne. Frances und Carmel gerieten häufig aneinander, um dann mit ihm aneinanderzugeraten. Als er ihnen sagte, er wisse bald nicht mehr weiter, und sie sollten zusehen, dass sie die Sache wieder ins Rollen kriegten, regten sie sich wieder ab.

Er reiste ein zweites Mal nach Paris, um anlässlich einer Versammlung der Académie Universelle des Cultures in einem großen, vor Gold, Fresken und Schriftstellern strotzenden Louvre-Saal zu sprechen: Elie Wiesel, Wole Soyinka, Yas¸ar Kemal, Adonis, Ismail Kadare, Cynthia Ozick … und Umberto Eco. Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel hatte von ihm soeben die vernichtendste Rezension bekommen, die er je geschrieben hatte. Eco eilte auf ihn zu und verhielt sich imponierend souverän. Er breitete die Arme aus und rief: »Rushdie! Ich bin’s, der Buulshiit-Eco!« Sofort verstanden sie sich großartig. (Später einmal sollten sie sich mit Mario Vargas Llosa zu einem literarischen Dreigestirn zusammentun, das Eco die Drei Musketiere nannte, weil »wir erst Feinde waren und jetzt Freunde sind«. Vargas Llosa hatte Salman vorgeworfen, zu links zu sein, und Salman hatte Ecos Werk verrissen, doch wenn sie sich trafen, verstanden sie sich prächtig. Die Drei Musketiere traten erfolgreich in Paris, London und New York auf.)

Die Sicherheitsvorkehrungen waren geradezu lachhaft übertrieben. Die Herrschaften von der RAID hatten den Louvre gezwungen, für den Tag zu schließen. Überall standen Horden von Männern mit Maschinengewehren herum. Er durfte sich den Fenstern nicht nähern. Und als die Autoren mittags zur Glaspyramide hinüberschlenderten, um im Untergeschoss zu Mittag zu essen, zwang ihn die RAID, die hundert Meter zwischen dem Louvre-Flügel, in dem die Académie zusammengekommen war, und der Pyramide in einem Auto zurückzulegen, das von schwerbewaffneten Männern mit verspiegelten Sonnenbrillen eskortiert wurde. Es war mehr als verrückt; es war peinlich.

Am Ende des Tages informierten ihn die Sicherheitskräfte, der Innenminister Charles Pasqua habe ihm aus Kostengründen die Erlaubnis verweigert, die Nacht in Frankreich zu verbringen. Aber, hielt er dagegen, ihm sei angeboten worden, privat bei Bernard-Henri Lévy, Bernard Koucher und Christine Ockrent oder bei Jack Langs Tochter Caroline unterzukommen, und das gratis. Tja, also, wir haben Kenntnis von einer konkreten Bedrohung gegen Sie und können nicht für Ihre Sicherheit garantieren. Nicht einmal der Special Branch nahm ihnen das ab. »Das hätten die uns mitgeteilt, Joe«, sagte Frank Bishop, »haben sie aber nicht.« Caroline Lang sagte: »Wenn Sie sich der RAID-Anweisung widersetzen wollen, werden wir alle hier im Louvre mit Ihnen kampieren und Bettzeug, Wein und Freunde mitbringen.« Das war eine nette, rührende Idee, doch er lehnte ab. »Wenn ich das tue, darf ich nie wieder einen Fuß auf französischen Boden setzen.« Christopher Mallaby verweigerte ihm die Unterbringung in der Botschaft. Doch irgendjemand, ob Engländer oder Franzosen, konnte British Airways dazu überreden, ihn nach London zurückzubringen. Zum ersten Mal seit vier Jahren saß er in einer BA-Maschine, ohne der Crew oder den Passagieren – von denen viele zu ihm kamen, um ihm ihre Solidarität und ihr freundschaftliches Mitgefühl auszudrücken – irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten. Nach der Landung ließ British Airways ihn allerdings wissen, man habe seiner Beförderung nur auf Druck Frankreichs ›auf lokaler Betriebsebene‹ zugestimmt und die nötigen Schritte eingeleitet, ›damit dies nie wieder vorkommt‹.

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U2s gigantische Zooropa-Tournee gastierte im Wembley-Stadion, und Bono rief an, um ihn zu fragen, ob er auf die Bühne kommen wolle. U2 wollte Solidarität bekunden, und dies schien der größtmögliche Rahmen dafür zu sein. Wundersamerweise hatte der Special Branch nichts dagegen. Vielleicht glaubten sie, islamische Killer seien nicht besonders scharf auf ein U2-Konzert, oder vielleicht wollten sie einfach nur die Show sehen. Er nahm Zafar und Elizabeth mit, und die erste Konzerthälfte saßen sie im Stadion. Als er aufstand, um hinter die Bühne zu gehen, sagte Zafar: »Dad … sing nicht.« Er hatte gar nicht vor zu singen, und U2 war bestimmt noch weniger daran interessiert, doch um seinen Teenagersohn zu ärgern, sagte er: »Wieso denn nicht? Diese irische Band ist gar nicht übel, und hier sind achtzigtausend Leute, also … singe ich vielleicht.« Zafar macht ein alarmiertes Gesicht. »Du verstehst das nicht, Dad«, sagte er. »Wenn du singst, muss ich mich umbringen.«

Hinter der Bühne stand Bono in seinem MacPhisto-Kostüm – goldener Glitzeranzug, weißes Gesicht, kleine rote Samthörner – und in Minutenschnelle dachten sie sich einen kleinen Dialog aus. Bono würde so tun, als riefe er ihn auf dem Handy an, und während sie ›redeten‹, würde er auf die Bühne kommen. Als er die Bühne betrat, begriff er, wie es sich anfühlte, von achtzigtausend Menschen bejubelt zu werden. Bei einer normalen Lesung – und selbst bei einem großen Galaabend wie der P.E.N.-Veranstaltung in Toronto – war das Publikum doch ein wenig kleiner. Mädchen kraxelten ihren Freunden nicht auf die Schultern, und von Stagediving wurde ebenfalls abgeraten. Selbst bei den glamourösesten literarischen Events gab es höchstens ein oder zwei Supermodels, die wippend neben dem Mischpult standen. Das hier machte schon mehr her.

Als er Der Boden unter ihren Füßen schrieb, war es nützlich zu wissen, wie es sich anfühlte, der Wucht der Scheinwerfer ausgesetzt zu sein und das Monster nicht sehen zu können, das einem aus der Dunkelheit entgegenbrüllte. Er bemühte sich tunlichst, nicht über das Kabelgewirr zu stolpern. Nach der Show machte Anton Corbijn ein Foto und überredete ihn, mit Bono Brillen zu tauschen. Einen Moment lang durfte er mit Mr Bs stromlinienförmiger ›The Fly‹-Sonnenbrille göttlich aussehen, derweil der Rockstar ihn über seine uncoole Literatenbrille hinweg wohlwollend anblinzelte. Es war ein bildlicher Ausdruck zweier Welten, die sich dank U2s großzügigem Wunsch, ihm zu helfen, kurz berührt hatten.

Ein paar Tage später rief Bono an und erzählte ihm, er wolle sein schriftstellerisches Können verbessern. In einer Rockgruppe war der Songwriter nur eine Art Stimmungssensor, nicht die Worte, sondern die Melodien trieben ihn voran, es sei denn, man entstammte einer Folktradition wie Dylan. Das wollte Bono ändern. Würdest du dich mit mir zusammensetzen und mir erzählen, wie du arbeitest? Er wollte andere, neue Leute kennenlernen. Er lechzte nach Hirnfutter und ein bisschen Rabatz, wie er sich ausdrückte. Er bot sein Haus in Südfrankreich an. Er bot ihm Freundschaft an.

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Er sei, so sagte er seinen Freunden, mit einem interessanten Leben geschlagen, das zuweilen selbst einem schlechten Roman glich. Eines der übelsten Schundroman-Merkmale war, dass Protagonisten, die nichts mit dem Rest der Geschichte zu tun hatten, jederzeit und völlig unvermittelt auftauchen, sich in die Geschichte drängeln und sie gewaltsam an sich reißen konnten. Der 27. Mai war der Tag, an dem vier Jahre später sein zweiter Sohn Milan auf die Welt kommen und sich dieses Datum im Guten aneignen sollte, doch am 27. Mai 1993 trat ein ganz anderes Individuum in Erscheinung: der türkische Autor, Zeitungsverleger und Provokateur Aziz Nesin.

Er hatte ihn nur einmal vor sieben Jahren getroffen, als Nesin seinerseits in Schwierigkeiten steckte. Harold Pinter hatte eine Gruppe Schriftsteller in sein Haus am Campden Hill Square eingeladen, um einen Protest zu organisieren, weil Nesin erfahren hatte, dass die Türkei seinen Pass beschlagnahmen wollte. Er fragte sich, ob Nesin noch wusste, dass der Autor von Die satanischen Verse den Protest bereitwillig unterschrieben hatte, doch er bezweifelte es. Am 27. Mai kam ihm zu Ohren, dass nicht näher spezifizierte Auszüge aus Die satanischen Verse ohne seine Genehmigung und in einer türkischen Übersetzung, die weder er noch seine Agentur zu Gesicht bekommen hatten (es ist üblich, eine Übersetzung auf Qualität und Richtigkeit zu prüfen, ehe sie veröffentlicht wird), in der linken Tageszeitung Aydinlik, dessen Chefredakteur Nesin war, abgedruckt worden waren, um das Verbot des Buches in der Türkei zu provozieren. Die Überschrift über den Auszügen lautete: SALMAN RUSHDIE: DENKER ODER SCHARLATAN? In den Tagen darauf folgten weitere Auszüge, und Nesins Kommentar dazu ließ keinen Zweifel daran, dass er ganz klar auf der ›Scharlatan‹-Seite stand. Die Agentur Wylie schrieb Nesin, Piraterie sei Piraterie, und ob er, der behauptete, jahrelang für die Rechte von Schriftstellern eingetreten zu sein, vielleicht gegen Ayatollah Khomeinis Verletzung dieser Rechte protestieren wolle? Nesins Antwort war denkbar bockig. Er druckte den Brief der Agentur mit dem Kommentar ab: »Was geht mich der Fall Salman Rushdie an?« Er sagte, er habe die Absicht, mit der Veröffentlichung fortzufahren, und wenn Rushdie etwas dagegen habe, »soll er uns doch verklagen«.

Aydinlik wurde schikaniert, die Angestellten verhaftet, der Vertrieb gestoppt und die Auflagen beschlagnahmt. In einer Istanbuler Moschee rief ein Imam den Dschihad gegen die Zeitung aus. In Verteidigung säkularer Prinzipien verfügte die türkische Regierung, dass das Blatt ausgeliefert werden müsse, doch die Kontroverse ging weiter, und die Stimmung blieb vergiftet.

Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass er und seine Arbeit zum Faustpfand in einem fremden Spiel geworden waren. Sein Freund, der türkische Schriftsteller Murat Belge, sagte, Nesin sei ›kindisch‹ gewesen, dennoch dürfe man die Angriffe gegen ihn nicht zulassen. Das Schmerzlichste daran war, dass er ebenfalls bekennender Säkularist war und von türkischen Säkularisten eine bessere Behandlung erwartet hätte. Ein Zerwürfnis im säkularistischen Lager konnte den Gegnern nur zupass kommen. Die feindlichen Reaktionen auf die Auszüge in Aydinlik ließen nicht auf sich warten und fielen äußerst heftig aus.

Anfang Juli reiste Nesin zu einer Konferenz zum Thema Säkularismus in die anatolische Stadt Sivas (in Anatolien hatte der extreme Islamismus besonders viele Anhänger). Eine Statue zu Ehren des türkischen Dichters Pir Sultan Abdal wurde enthüllt, der im sechzehnten Jahrhundert wegen Blasphemie gesteinigt worden war. Es hieß, in seiner Rede habe Nesin seinen Atheismus bekundet und Kritik am Koran geübt. Das konnte stimmen oder auch nicht. In der Nacht war das Madimak-Hotel, in dem die Delegierten untergebracht waren, von grölenden Extremisten umlagert, die das Gebäude in Brand steckten. Siebenunddreißig Menschen starben – Schriftsteller, Karikaturisten, Schauspieler und Tänzer. Aziz Nesin wurde von Feuerwehrleuten, die ihn nicht erkannten, aus den Flammen gerettet. Als ihnen klar wurde, wen sie vor sich hatten, schlugen sie ihn, und ein Kommunalpolitiker brüllte: »Das ist der Teufel, den wir eigentlich hätten töten sollen!«

In der Weltpresse wurde die entsetzliche Tragödie von Sivas als ›Rushdie-Revolte‹ bezeichnet. Er trat im Fernsehen auf, um die Mörder zu verurteilen, und schrieb wütende Artikel für The Observer in London und The New York Times. Es war nicht fair, dass der Aufruhr nach ihm benannt war, doch darum ging es nicht. Die Tötungen von Faradsch Fouda, U˘gur Mumcu, Tahar Djaout und den Menschen in Sivas waren der schlagende Beweis, dass die Angriffe auf Die satanischen Verse keine Einzelfälle, sondern Teil eines globalen islamischen Angriffes auf Freidenker waren. Er tat alles ihm Mögliche, um die türkische Regierung, das in Tokio stattfindende G7-Treffen, die ganze Welt zum Handeln aufzufordern. Ausgerechnet in The Nation erschien ein boshafter Artikel, der ihn des ›niederträchtigen Missbrauchs‹ türkischer Säkularisten anzuklagen versuchte (verfasst von Alexander Cockburn, einem modernen Großmeister für niederträchtigen Missbrauch), doch auch das spielte keine Rolle. Aziz Nesin und der Autor, dessen Werk er bestohlen und verunglimpft hatte, würden niemals Freunde werden, doch angesichts eines solchen Angriffes stand er mit den türkischen Säkularisten einschließlich Nesin Schulter an Schulter.

In der iranischen Majlis und in der Presse des Landes ernteten die Mörder von Sivas natürlich Applaus. So war diese Welt: Sie applaudierte Mördern und schmähte Menschen, die vom Wort lebten (und manchmal dadurch starben).

*

Entsetzt über die Gräueltaten von Sivas, nahm der berühmte deutsche ›Undercover-Journalist‹ Günter Wallraff, der in seinem äußerst erfolgreichen Buch Ganz unten in der Rolle eines türkischen Gastarbeiters die schreckliche Behandlung dieser Arbeiter durch deutsche Rassisten und den deutschen Staat selbst bloßgestellt hatte, Kontakt mit ihm auf und bestand darauf, dass das Nesin-Rushdie-›Missverständnis‹ aus der Welt geschafft werden müsse. In Interviews hatte Nesin den Autor von Die satanischen Verse und dessen ›grauenhaftes Buch‹ unvermindert angegriffen, und Wallraff und Arne Ruth, der Herausgeber der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter hatten nach Kräften versucht, ihn davon abzuhalten. »Wenn ich Nesin dazu bringen kann, mich zu besuchen, würden Sie dann bitte auch kommen, damit wir diese Sache beilegen können?«, fragte Wallraff. Er entgegnete, das hänge davon ab, welche Einstellung Nesin zu einem solchen Treffen habe. »Bisher hat er sich nur beleidigend und abfällig geäußert, und das macht es mir schwer, ihn zu treffen.« – »Überlassen Sie das mir«, sagte Wallraff. »Wenn er zusagt, positiv an die Sache ranzugehen, werden Sie es dann auch tun?« – »Ja, in Ordnung.«

Er flog von Biggin Hill nach Köln, der großartige Journalist und seine Frau hießen ihn lautstark und herzlich willkommen, und Günter bestand sofort darauf, mit ihm Tischtennis zu spielen. Wallraff erwies sich als ein guter Spieler und gewann fast immer. Aziz Nesin, ein kleiner, untersetzter, weißhaariger Mann, blieb der Tischtennisplatte fern. Ihm war anzusehen, dass er ein arg gebeutelter Mensch war, der sich in der gegenwärtigen Gesellschaft unwohl fühlte und lieber brütend in der Ecke saß. Sonderlich vielversprechend war das nicht. Während ihres ersten, steifen Wortwechsels mit Wallraff als Dolmetscher hatte Nesin die gleiche Geringschätzigkeit wie in Aydinlik an den Tag gelegt. Er führte seinen eigenen Kampf gegen türkischen Fanatismus, was also ging ihn dieser hier an. Wallraff erklärte, es handele sich um denselben Kampf. Nach dem Mord an U˘gur Mumcu hatte es in der Türkei geheißen, »wer Salman Rushdie verurteilt hat, hat jetzt Mumcu umgebracht«. Verlor man eine Schlacht zwischen Säkularismus und Religion, verlor man auf ganzer Linie. »Salman hat Sie in der Vergangenheit unterstützt, und er hat sich überall zu Sivas geäußert«, sagte er, »also müssen Sie ihn jetzt unterstützen.« Es wurde ein langer Tag. Nesins Eitelkeit schien einer Versöhnung im Weg zu stehen, denn dazu hätte er sich zu einem Eingeständnis seiner Querköpfigkeit herablassen müssen. Doch Wallraff war zu einem guten Ende entschlossen, und schließlich streckte Nesin grummelnd seine Hand aus. Ein kurzer Handschlag, gefolgt von einer noch kürzeren Umarmung und einem Foto, auf dem jeder ein verstörtes Gesicht machte, und dann rief Wallraff: »Wunderbar! Jetzt sind wir alle Freunde!«, und nahm sie auf eine Motorboottour auf dem Rhein mit.

Wallraffs Leute hatten alles gefilmt und einen Nachrichtenbeitrag zusammengeschnitten, in dem sich Nesin und er solidarisch gegen religiösen Fanatismus und die Untätigkeit des Westens aussprachen. Zumindest nach außen hin war der Riss gekittet. Aziz Nesin und er hatten keinen weiteren Kontakt. Nesin lebte noch zwei Jahre, ehe ein Herzinfarkt ihn dahinraffte.

Lieber Harold,

danke, dass Du es Elizabeth, mir und den Jungs ermöglicht hast, Deine Inszenierung von Mamets Oleanna zu sehen, und auch für das anschließende Abendessen im Grill St. Quentin. Vielleicht war es ein Fehler von mir, meine Vorbehalte gegen das Stück zu äußern, doch soweit ich mich erinnere, habe ich auch ziemlich viel Positives über deine Inszenierung gesagt. Natürlich war es falsch von mir, das Thema zu wechseln und mit Antonia über ihr Buch über den Gunpowder Plot zu sprechen. (Ich gebe zu, dass ich in letzter Zeit großes Interesse an Menschen habe, die alles in die Luft jagen wollen.) Aus dem Augenwinkel habe ich gesehen, dass Du kochtest und kurz vor der Kernschmelze standest. Das China-Syndrom drohte. Um es zu verhindern, sagte ich: »Harold, habe ich dir eigentlich gesagt, dass deine Oleanna-Inszenierung einfach absolut total genial ist?« – »Nein«, sagtest Du mit grimmig gebleckten Zähnen. »Nein, das hast du mir nicht gesagt.« – »Harold«, sagte ich. »deine Oleanna-Inszenierung ist einfach absolut total genial.« – »Nun, das klingt schon besser«, sagtest Du, und die nukleare Katastrophe war gebannt. Ich war lange stolz darauf, mich rühmen zu können, niemals ›gepintertworden zu sein, und ich bin froh, einen Weg gefunden zu haben, diesen Rekord zu halten.

Er reiste nach Prag, um Präsident Václav Havel zu treffen, und Havel begrüßte ihn überaus herzlich, endlich lernen wir uns kennen!, und sprach in der Öffentlichkeit derart überschwänglich von ihm, dass sein großer Gegenspieler, der rechte Premierminister Václav Klaus, sich von der Begegnung ›distanzierte‹ und behauptete, sie sei rein ›privater‹ Natur gewesen und er habe nichts davon gewusst (dabei hatte die tschechische Polizei ihm einen Wagen aus Klaus’ Fuhrpark zur Verfügung gestellt). Klaus sagte, er hoffe, es werde die tschechischen Beziehungen zum Iran nicht ›verletzen‹.

Er nahm an der internationalen P.E.N.-Konferenz in Santiago de Compostela teil – die Iberer machten keine Schwierigkeiten – und wurde zu jüngsten Pressemeldungen befragt, laut denen Prinz Charles ihn angegriffen habe. Er wiederholte, was Ian McEwan anlässlich einer Lesereise eine Woche zuvor zu spanischen Journalisten gesagt hatte: »Der Schutz von Prinz Charles kostet sehr viel mehr als der Rushdies, dabei hat Prinz Charles nie etwas von Belang geschrieben.« Er kehrte nach London zurück, wo die Daily Mail ihn bezichtigte, so etwas wie Verrat begangen zu haben, weil er es gewagt hatte, eine scherzhafte Bemerkung über den Thronfolger zu machen. »Er missbraucht die Freiheit, für die wir zahlen«, schrieb die Kolumnistin Mary Kenny. Fünf Tage später wurde Mitternachtskinder zum ›Booker of Bookers‹ erklärt, zum besten Buch, das den Preis in den fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens gewonnen hatte. Er konnte sich kaum einen Tag über diese Ehre freuen, als das Pendel wieder in die andere Richtung schwang und das Unheil abermals zuschlug.

*

Am Morgen nach seiner Rückkehr von der Frankfurter Buchmesse wollte William Nygaard gerade zur Arbeit fahren, als er sah, dass sein Wagen hinten einen Platten hatte. Er ahnte nicht, dass der Reifen von einem Heckenschützen aufgeschlitzt worden war, der sich im Gebüsch hinterm Auto versteckte. Der Schütze hatte damit gerechnet, dass William auf ihn zukommen würde, um den Kofferraum zu öffnen und den Ersatzreifen rauszuholen, womit er ein leichtes Ziel gewesen wäre. Doch William war der Chef eines großen Verlagshauses und dachte nicht daran, den Reifen selbst zu wechseln. Er holte sein Handy hervor und rief den Pannendienst an. Jetzt hatte der Schütze ein Problem: Sollte er die Deckung verlassen und sich zeigen, um sein Ziel zu treffen, oder sollte er aus dem Hinterhalt schießen, obwohl William nicht da stand, wo er ihn haben wollte? Er beschloss zu schießen. William wurde dreimal getroffen und fiel zu Boden. Eine Gruppe Dreizehnjähriger sah einen Mann mit ›dunkler, schlechter Haut‹ davonrennen, doch der Schütze wurde nicht gefasst.

Hätte William keine so gute Konstitution gehabt, wäre er höchstwahrscheinlich gestorben. Doch das Skiass von einst war immer noch körperlich fit, und das rettete ihm das Leben. Noch außergewöhnlicher war, dass die Ärzte, nachdem er die Intensivstation verlassen hatte, zu dem Schluss kamen, dass er vollständig genesen werde. Die drei Kugeln hatten seinen Körper just an den drei Stellen durchschlagen, an denen sie ihn weder töten noch zum Krüppel machen konnten. Der große Verleger Willam Nygaard war auch ein Glückskind.

Als er erfuhr, dass auf William geschossen worden war, wusste er, dass die Kugeln auf seinen Freund ihm gegolten hatten. Er musste an Williams Stolz auf dem Aschehoug-Gartenfest im Jahr zuvor denken. Die ganze Zeit hatte Williams Hand auf seiner Schulter geruht, während er ihn durch die überraschte Menge geleitete und ihn einem Erzähler hier, einem Opernsänger da, einem Geschäftsmann oder einem Politiker dort vorstellte. Eine Geste der Freiheit hatte William gesagt, und nun lag er deshalb dem Tod auf der Schippe. Doch weil er den kaputten Reifen nicht selbst hatte wechseln wollen und weil die Kugeln seine Organe auf wundersame Weise verschont hatten, überlebte er. Es kam der Tag, an dem der verwundete Verleger wieder in der Lage war, mit ihm zu telefonieren. Sein Kollege Halfdan Freihow vom Aschehoug-Verlag rief Carmel an und sagte, William wolle unbedingt mit Salman sprechen, ob der ihn im Krankenhaus anrufen könne. Selbstverständlich. Ein Pfleger nahm ab und warnte ihn vor, Williams Stimme sei sehr schwach. Dann war William am Apparat, und trotz Vorwarnung war es ein Schock, zu hören, wie matt er klang. Er rang nach Luft, sein sonst so makelloses Englisch versagte, jede Silbe war eine Qual.

Zunächst habe er gar nicht begriffen, dass auf ihn geschossen worden war, bis zum Eintreffen der Polizei sei er bei Bewusstsein geblieben und habe ihr die Nummer seines Sohnes gegeben. »Ich habe gebrüllt wie am Spieß«, sagte er, »und bin einen kleinen Abhang hinuntergekugelt, und das hat mich wohl gerettet, weil ich aus der Schusslinie war.« Er würde lange im Krankenhaus bleiben müssen, aber, röchelte er, eine vollständige Genesung sei tatsächlich möglich. »Sämtliche Organe sind verschont geblieben.« Dann sagte er: »Ich will nur, dass du weißt, wie stolz ich bin, der Verleger von Die satanischen Verse zu sein und einen Beitrag zu leisten. Vielleicht werde ich jetzt so leben müssen wie du, bis sie den Kerl schnappen.« Es tut mir so leid, William, du musst wissen, dass ich mich dafür verantwortlich fühle … William fiel ihm ins Wort und sagte matt: »Sag das nicht. Es ist nicht recht, dass du das sagst.« Aber wie kann ich mich nicht … »Weißt du, Salman, ich bin ein erwachsener Mensch, und als ich mich dazu entschlossen habe, Die satanischen Verse zu verlegen, wusste ich um das Risiko und habe es in Kauf genommen. Es ist nicht deine Schuld. Schuld hat der, der auf mich geschossen hat.« Ja, aber ich … »Noch etwas. Ich habe gerade eine große Nachauflage veranlasst.« ›Würde unter Druck‹ hatte Hemingway das genannt. Wahre Courage, gepaart mit hehren Prinzipien. Eine Verbindung, die eine Kugel nicht zerstören konnte. Und es waren höllische Geschosse gewesen: .44 Magnum, Teilmantel, im Allgemeinen tödlich.

Die skandinavische Presse war wegen des Nygaard-Attentats in Aufruhr. Der norwegische Verlegerverband wollte wissen, welche Antwort die norwegische Regierung für den Iran bereithielt. Und ein ehemaliger iranischer Botschafter, der sich der Oppositionsbewegung Modschahedin-e Chalgh angeschlossen hatte, verkündete, er habe der norwegischen Polizei schon vor Monaten gesagt, dass ein Anschlag auf William geplant sei.

Die Regierungen der nordischen Länder waren verärgert, doch die Bevölkerung war durch das Attentat verschreckt. Das niederländische Kultusministerium hatte ihn nach Amsterdam einladen wollen und machte jetzt einen Rückzieher, ebenso wie die KLM. Das vor Monaten vereinbarte Treffen mit dem Europarat wurde abgesagt. Der Anführer der ›Rushdie-Kampagne‹ in Schweden, Gabi Gleichmann – mit dem Carmel Bedford ständig über Kreuz lag –, war unter Polizeischutz gestellt worden. In Großbritannien gingen die Angriffe ad hominem weiter. In einem Artikel des Evening Standard wurde er als ›selbstgefällig‹ und ›durchgedreht‹ bezeichnet und für sein Lechzen nach Aufmerksamkeit, die er bei seiner Stümperhaftigkeit gar nicht verdiene, verhöhnt. Der Londoner Radiosender LBC führte eine Umfrage unter den Hörern durch, ob ›wir Rushdie noch länger ertragen sollten‹, und im Telegraph erschien ein Interview mit Marianne Wiggins, die ihren Ex-Mann »larmoyant, töricht, feige, eitel, lächerlich und moralisch zweifelhaft« nannte. Clive Bradley vom britischen Verlegerverband sagte, Trevor Glover von Penguin UK verhindere ein Statement zu dem Attentat auf William. Er rief Glover an, der zunächst behauptete, das stimme nicht, es habe sich lediglich um ein ›kleines Schwätzchen‹ gehandelt – aber »Mensch, wir sind gerade alle ein bisschen dünnhäutig, sollten wir da noch öffentlich Krach schlagen?« –, und schließlich einwilligte, Bradley anzurufen und das Penguin-Veto zurückzuziehen.

Er erhielt einen Drohbrief, den ersten seit langem, in dem stand, »die Zeit ist nah«, denn »Allah sieht alles«.

Der Brief war von D. Ali von der ›Sozialistischen Arbeiterpartei Manchester und der Anti-Rassismus-Liga‹ unterzeichnet. Deren Mitglieder hätten sämtliche Flughäfen im Auge, sagte er, und seien überall unterwegs – Liverpool, Bradford, Hampstead, Kensigton –, und weil die winterliche Dunkelheit »ihrer Arbeit entgegenkomme«, werde er bald wieder »im Iran sein«.

Als er eines Abends mit Martin Amis, James Fenton und Darryl Pinckney bei Isabel Fonseca zusammensaß, erzählte Martin ihm zu seinem Kummer, George Steiner glaube, er »habe es auf den ganzen Ärger abgesehen«, und Martins Vater Kingsley Amis habe gesagt, »wenn man es auf Ärger anlegt, sollte man sich nicht beschweren, wenn man ihn kriegt«, und Al Alvarez meinte, er habe es getan, »weil er der berühmteste Schriftsteller der Welt werden wollte«. Und Germaine Greer halte ihn für ›megaloman‹, und John le Carré habe ihn eine ›Pfeife‹ genannt und Martins Ex-Stiefmutter Elizabeth Jane Woward und Sybille Bedford glaubten, er habe es ›wegen des Geldes‹ getan. Seine Freunde machten sich über diese Äußerungen lustig, doch am Ende des Abends lagen seine Nerven ziemlich blank, und nur Elizabeths Liebe konnte ihn beruhigen. Vielleicht sollten sie heiraten, schrieb er in sein Tagebuch. Wer konnte ihn mehr lieben, tapferer, sanftmütiger und selbstloser sein? Sie hatte sich ihm verschrieben, und dies war das Mindeste, was er ihr zurückgeben konnte. Zu Hause feierten sie ihr erstes Jahr in der Bishop’s Avenue mit einem zärtlichen Abend, und er fühlte sich besser.

Wenn er in Beckett’scher Stimmung über seinem hölzernen Schreibtisch hockte, war er ein einsamer Mann, umgeben von höhnischer Leere: Didi und Gogo in einem, die gegen die Verzweiflung anspielten. Nein, er war ihre Antithese; sie hofften auf Godot, er hingegen wartete auf etwas, von dem er hoffte, dass es niemals eintreten würde. Fast jeden Tag kam es vor, dass er seine Schultern sinken ließ und wieder hochriss. Er aß zu viel, hörte auf zu rauchen, keuchte, rang mit der leeren Luft, presste die Fäuste gegen die Schläfen und dachte nach, als brennte in seinem Kopf ein Feuer, als könnte das Denken all seine Leiden verbrennen. Fast jeder Tag war so: ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, den er häufig, aber nie endgültig verlor. »In jedem von uns«, hatte José Saramago geschrieben, »ist etwas, was keinen Namen trägt, und dieses Etwas ist das, was wir sind.« Dieses namenlose Etwas kam ihm am Ende immer zu Hilfe. Er biss die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf, um wieder klarzusehen, und wappnete sich für den weiteren Weg.

William Nygaard machte seine ersten Schritte. Halfdan Freihow sagte, William wolle umziehen, wegen der »tückischen Büsche«, die ihn davon abhielten, »nachts noch mal in den Garten zu pinkeln«. Man werde ihm eine Wohnung in einem Hochsicherheitsgebäude suchen. Der Heckenschütze war nicht gefasst worden. William hatte nichts, »auf das er seine Wut richten konnte«. Doch er machte Fortschritte. Sein dänischer Verleger Johannes Riis sagte, in Dänemark sei alles ruhig, und er habe »das Glück, eine gelassene Frau zu haben«. Eine Straße zu überqueren sei genauso gefährlich. Wieder versetzte wahre Courage den Autor in Demut. »Ich bin einfach fassungslos, dass diese Schweinerei noch immer Teil der Welt ist, in der wir leben«, meinte Johannes.

*

Bei der ersten Versammlung des Internationalen Schriftstellerparlaments in Straßburg hatte er Bedenken wegen des Namens, doch die Franzosen meinten achselzuckend, in Frankreich sei un parlement lediglich ein Ort, an dem Menschen debattierten. Er bestand darauf, dass in der Verlautbarung gegen islamischen Terror auch auf Tahar Djaout, Faradsch Fouda, Aziz Nesin, U˘gur Mumcu, auf die bangladeschische Schriftstellerin und neue Mitstreiterin Taslima Nasrin sowie auf ihn selbst verwiesen würde. Susan Sontag rauschte herein, umarmte ihn, sprach leidenschaftlich und in fließendem Französisch und nannte ihn un grand écrivain, der für ebenjene säkularisierte Kultur stehe, die muslimische Extremisten ersticken wollten. Die Bürgermeisterin von Straßburg, Catherine Trautmann, wollte ihm die Ehrenbürgerrechte verleihen. Catherine Lalumière, die Generalsekretärin des Europarats, versprach, der Rat werde sich seines Falles annehmen. An dem Abend wurde zu Ehren der angereisten Schriftsteller ein Fest veranstaltet, und er wurde von einer hitzigen Iranerin namens Hélène Kafi gerüffelt, weil er mit dem Modschahedin-e Chalg nicht an einem Strang ziehe. »Halten Sie mich nicht für aggressiv, Salman Rushdie, aber je suis un peu deçue de vous, Sie sollten wissen, wer Ihre wahren Freunde sind.« Am nächsten Tag behauptete sie in den Medien, sie und mit ihr die Modschahedin-e Chalgh seien dem französischen ›Rushdie-Komitee‹ beigetreten, deshalb seien Granaten auf die französische Botschaft und die Air-France-Niederlassung in Teheran geworfen worden. (Der eigentliche Grund war die Entscheidung Frankreichs, der Anführerin der Volksmudschahidin Asyl zu gewähren. Die ›Rushdie-Affäre‹ hatte nichts damit zu tun.)

Er saß mit Toni Morrison, die gerade den Nobelpreis gewonnen hatte, und Susan Sontag auf einem kleinen roten Sofa. »Mein Gott«, rief Susan, »ich sitze zwischen den beiden berühmtesten Schriftstellern der Welt!«, und er und Toni beschwichtigten sie, ihr großer Tag in Stockholm sei gewiss nicht mehr fern. Susan fragte, woran er gerade schreibe. Sie hatte ihren Finger in seine schmerzlichste Wunde gelegt. Die Arbeit an der Anti-Fatwa-Kampagne hatte seine Schriftstellerei fast völlig zum Erliegen gebracht. Dies war der ernüchternde Effekt der Politik. Seine Gedanken wimmelten von Fluglinien und Ministern und Fetakäse und hatten sich der süßen Zuflucht des Geistes entzogen, welche die Dichtung barg. Sein Roman kam nicht voran. Hatte diese angeblich so erfolgreiche Kampagne letztlich nur den Effekt, ihn in den Augen der Welt und vor sich selbst zu degradieren? War er gerade dabei, sich von seinem Anspruch an die Kunst zu verabschieden und sich zu der platten, zweidimensionalen Karikatur zu machen, die der ›Rushdie-Affäre‹ zugrunde lag? Er hatte sich von Salman in Rushdie und Joseph Anton verwandelt und lief nun Gefahr, sich zu einem Niemand zu machen. Er war ein Lobbyist, der Lobbyarbeit für eine Leerstelle betrieb, an der einst ein Mensch gestanden hatte.

»Ich habe mir geschworen, dass ich nächstes Jahr zu Hause bleibe und schreibe«, sagte er zu Susan.

*

Um den Gipfel – ein Treffen mit dem Präsidenten – zu erreichen, musste man sich ihm von vielen Seiten zugleich nähern. Die Besteigung des Mount Clinton war von ihm selbst, dem Rushdie-Verteidigungskomitee und Artikel 19, dem britischen Botschafter in Washington im Namen der britischen Regierung und dem amerikanischen P.E.N.-Zentrum vorbereitet worden. Aryeh Neier von Human Rights Watch, Nick Veliotes vom amerikanischen Verlegerverband und Scott Armstrong vom Freedom Forum setzten sich für das Treffen ein. Zusätzlich hatte Christopher Hitchens seine Kontakte ins Weiße Haus spielen lassen. Christopher war zwar kein Bewunderer Clintons, hatte aber einen guten Draht zu dessen engem Berater George Stephanopoulos, mit dem er mehrmals sprach. Offenbar teilten sich Clintons Leute in diejenigen, die ihm sagten, die Fatwa gehe Amerika nichts an, und in die – und zu denen gehörte Stephanopoulos –, die wollten, dass er das Richtige tat.

Zwei Tage nach seiner Rückkehr nach London gab es »grünes Licht« aus Washington. Zuerst wurde Nick Veliotes gesagt, der Präsident werde an dem Treffen nicht teilnehmen. Der nationale Sicherheitsberater Anthony Lake würde da sein und Vizepräsident Gore würde ›hereinschauen‹. Sein Kontaktmann bei der Amerikanischen Botschaft am Grosvenor Square, Larry Robinson, bestätigte, dass es ein Treffen mit Lake und Gore geben solle. Er erhalte ›Tür-zu-Tür-Schutz‹, also vom Flugzeug zum Massachusetts Institute of Technology (wo er geehrt werden sollte – Alan Lightman, der Autor von Und immer wieder die Zeit, der am MIT lehrte, hatte ihn angerufen und ihm die Ehrendoktorwürde angeboten) –, vom MIT nach D. C. und in D. C., bis er das Land wieder verließ. Zwei Tage später teilte man Frances mit, Gore sei im Nahen Osten und Lake womöglich verhindert, weshalb Außenminister Warren Christopher und Lakes ›Nummer zwei‹ zum Treffen erscheinen würden. Die Begegnung würde im Beisein von Fotografen im Treaty Room stattfinden. Er sprach mit Christopher Hitchens, der fürchtete, Clinton versuche ›zu kneifen‹. Am selben Abend gab es eine abermalige Änderung. Das Treffen würde mit Anthony Lake und Warren Christoper sowie dem stellvertretenden Staatssekretär für Demokratie, Menschenrechte und Arbeit, John Shattuck, stattfinden. Der Präsident wurde ›nicht bestätigt‹. Am Tag von Thanksgiving habe der Präsident schließlich eine Menge zu tun. Er musste einen Truthahn begnadigen. Womöglich blieb ihm da keine Zeit, auch noch einem Schriftsteller aus der Klemme zu helfen.

Am Flughafen JFK warteten acht Wagen statt der in Aussicht gestellten diskreteren drei. Der diensthabende Officer Jim Tandy, ein langer, dünner, schnauzbärtiger Mann mit großen, ernsten Augen, die Ruhe und Hilfsbereitschaft ausstrahlten, war eine erhebliche Verbesserung zu Lieutenant Bob. Zuerst wurde er zu Andrews Wohnung gebracht, wo die Polizei viel Aufhebens um sein Kommen machte und die übrigen Hausbewohner davon abhielt, die Aufzüge zu benutzen. Damit würde er sich bestimmt beliebt machen, dachte er. Er sollte als pakistanischer Diplomat namens Dr. Ren durchgehen, doch niemand ließ sich für blöd verkaufen.

In Andrews Wohnung wurde er von Freunden begrüßt. Norman Mailer wünschte ihm Glück, und Norris Mailer sagte: »Wenn Sie Bill sehen, grüßen Sie ihn von mir.« Als junge Frau hatte sie bei Clintons Wahlkampf um den Gouverneursposten von Arkansas mitgearbeitet. »Ich habe ihn sehr gut kennengelernt«, sagte sie. Gern, entgegnete er höflich, das richte ich aus. »Nein«, sagte sie und legte ihm in Margaret-Thatcher-Manier ihre elegante Hand auf den Arm. »Sie verstehen nicht. Ich meine, ich habe ihn wirklich sehr gut kennengelernt.« Oh. Verstehe. Gut, Norris. Wenn das so ist, werde ich ihn auf jeden Fall von Ihnen grüßen.

Er traf Paul Auster und Siri Hustvedt, die ihm sehr herzlich begegneten; es sollte der Beginn einer seiner engsten Freundschaften sein. Don DeLillo war ebenfalls da. Er sagte, er arbeite an einem ›riesenhaften Buch‹. Es solle Underworld heißen. »Ich kenn mich mit der Unterwelt aus«, antwortete er. Paul und Don wollten einen Handzettel mit einem Text über die Fatwa drucken, der jedem Buch, das am 14. Februar 1994 in Amerika über den Ladentisch ging, beigelegt werden sollte, doch leider sollten sich die Produktionskosten auf schwindelerregende 20 000 Dollar belaufen. Peter Carey kam und sagte mit seinem typisch trockenen Humor: »Hallo, Salman, du siehst beschissen aus.« Susan Sontag, die sich bereit erklärt hatte, ihm beim MIT den ›Strohmann‹ zu machen, freute sich schon auf ihren kleinen Auftritt. David Rieff war erschüttert über Bosnien. Annie Leibovitz redete ein wenig über ihre Bosnienfotos, blieb in Susans Gegenwart jedoch merkwürdig zurückhaltend. Sonny und Gita Mehta trafen ein, und Gita sah krank und mitgenommen aus. Sie meinten, es gehe ihr wieder gut, sie erhole sich vom Krebs, und er hoffte, dass es stimmte. Und dann sagte Andrew plötzlich: »O Gott, wir haben vergessen, Edward Said einzuladen.« Das war schlecht. Edward war bestimmt beleidigt.

Elizabeth und er übernachteten bei Andrew. Als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster sahen, standen eine schwarze Wagenkolonne und ein klobiger Riesenvan mit der Aufschrift BOMB SQUAD (Bombenentschärfungskommando) in der Straße. Dann folgte die Fahrt nach Concord, Massachusetts, wo sie bei Alan und Jean Lightman zu Gast sein würden. Alan machte mit ihnen einen Spaziergang um den Walden-See, und als sie an den Überresten von Thoreaus Hütte vorbeikamen, sagte er zu Alan, sollte er je etwas über diese Reise schreiben, würde es ›Vom Blockhaus zum Weißen Haus‹ heißen. Die Hütte lag enttäuschend nah an der Stadt, und hätte Thoreau gewollt, hätte er problemlos auf ein Bierchen rüberschlendern können. Wilde Abgeschiedenheit war etwas anderes.

Am nächsten Morgen wurde er in ein Bostoner Hotel gebracht, und Jean Lightman machte mit Elizabeth eine Tour durch die Stadt. Andrew und er hängten sich ans Telefon, um zu hören, welche Fortschritte es gab oder geben könnte. Es stellte sich heraus, dass Frances und Carmel mit Scott Armstrong über Kreuz lagen, doch Christoper Hitchens nahm ihn in Schutz. Im Weißen Haus seien Stephanopoulos und Shattuck auf seiner Seite und würden den Präsidenten bearbeiten, meinte Hitch, doch etwas Konkretes gebe es noch nicht. Der US-Beamte Tom Robertson rief an, um zu sagen, das Treffen sei um eine halbe Stunde nach hinten verschoben worden, von 11.30 Uhr auf zwölf Uhr mittags. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es etwas zu bedeuten? Später sagten Scott und Hitch, die Terminänderung sei unmittelbar nach George Stephanopoulos’ Unterredung mit dem Terminplaner des Präsidenten erfolgt … also … vielleicht. Daumen drücken.

Am Nachmittag begleitete er Andrew Wylie zum Haus seiner Kindheit. »Wer sind all diese Leute da draußen?«, fragte die neue Besitzerin – eine mittelalte Lady namens Nancy mit einem breiten Lächeln –, als sie die Wagenkolonne sah. Dann sagte sie, »Oh«, ob er der sei, dem er ähnlich sehe. »Unglücklicherweise nicht«, entgegnete er. »Sie meinen, ›glücklicherweise‹. Dieser arme Mann hat kein besonders schönes Leben, meinen Sie nicht?« Doch weil sie all seine Bücher besaß, gab er sich zu erkennen, und sie war begeistert und bat ihn, sie zu signieren. Für Andrew war das Haus voller Erinnerungen, denn vieles darin war noch genau wie vor dreißig Jahren, selbst die Tapeten im Obergeschoss; die Buchstaben AW waren in die hölzernen Regale in der Bibliothek gekratzt, und an einem Türstock war die beschriftete Größenmarkierung des ein Meter kleinen Andy Wylie zu sehen.

Im MIT aßen sie zusammen mit einem extrem schieläugigen Provost zu Abend, und dann war der große Moment gekommen. Diese Ehrendoktorwürde überwältigte ihn ein wenig, er hatte noch nie einen Ehrentitel erhalten. Man hatte ihm gesagt, das MIT sei mit Ehrendoktorwürden nicht gerade freigiebig, bisher sei diese Ehre nur einem andern zuteil geworden, und das war Winston Churchill. »Ziemlich edle Gesellschaft für einen Schreiberling, Rushdie«, sagte er zu sich. Die Veranstaltung war als Abend mit Susan Sontag deklariert worden, doch als Susan aufstand und das Wort ergriff, teilte sie dem Publikum mit, sie sei nur hier, um einen anderen Schriftsteller anzukündigen, dessen Name nicht im Voraus genannt werden könne. Sie redete herzlich über ihn und beschrieb seine Arbeit in einer Weise, die ihm mehr bedeutete als der Ehrentitel. Schließlich betrat er den Hörsaal durch eine kleine Hintertür, hielt eine kurze Ansprache und las dann Auszüge aus Mitternachtskinder und der ›Kolumbus und Isabella‹-Geschichte. Dann wurden er und Elizabeth eilig weggebracht und in eine Nachtmaschine nach Washington gesetzt. Einigermaßen erschöpft, kamen sie irgendwann nach Mitternacht in der Wohnung der Hitchens an. Es war das erste Mal, dass er Hitchs und Carols Tochter Laura Antonia sah, und er wurde gebeten, ›Nicht-Taufpate‹ zu werden. Er willigte sofort ein. Mit ihm und Martin Amis als gottlose Paten hatte das kleine Mädchen keine Chance, dachte er. Sein Hals kratzte, und ein scharfkantiger Zahn hatte ihm die Zunge wund geschnitten. Die letzten Neuigkeiten von der Clinton-Front waren nicht besser als ein Vielleicht. Hitch gestand, er könne Carmel nicht ausstehen, weil sie so ungeschickt sei und alles durcheinanderbringe. Es war Zeit, schlafen zu gehen, alles Weitere würden sie am Morgen besprechen.

*

Der Morgen begann mit einem Streit unter Freunden. Scott Armstrong kam vorbei, um zu sagen, dass das Weiße Haus beschlossen hatte, Clinton und Gore zurückzuziehen. »Netter Versuch, aber nein«, hatte man ihm gesagt. Carmel hatte eine ›kontraproduktive‹ Telefonlawine gestartet und auch Aryeh Neier und andere involviert. Als Carmel und Frances eintrafen, entlud sich die Spannung, und alle schrien einander an und schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Frances behauptete, Scott habe alles verbockt. Schließlich musste er einen Waffenstillstand ausrufen. »Es geht hier um einiges, und ich brauche eure Hilfe.« Scott kümmerte sich darum, dass die anschließende Pressekonferenz im National Press Club stattfand, und damit war wenigstens etwas geregelt. Dann kochte der Streit erneut hoch. Wer würde ihn ins Weiße Haus begleiten? Er durfte nur eine Person mitbringen. Abermals wurde es laut und hitzig. Ich habe Soundso angerufen. Ich habe das und das gemacht. Andrew zog sich hastig aus dem Wettkampf zurück, und Christopher meinte, er müsse sowieso nicht zu den Auserwählten zählen, doch bei den NGOs blieben die Hörner gekreuzt.

Wieder musste er schlichten. »Elizabeth wird mich begleiten. Und ich möchte, dass Frances mitkommt.« Mit langen, grimmigen Gesichtern verkrümelten sich die anderen in die Ecken von Christophers Wohnung oder suchten das Weite. Doch der Streit war beendet.

Die Kolonne stand bereit, um ihn in die Pennsylvania Avenue 1600 zu bringen. Kaum saßen die drei in dem für sie vorgesehenen Wagen, überkam sie ein nervöser Kicheranfall. Sie überlegten, ob Clintons Verpflichtungen mit Tom dem Truthahn das Treffen am Ende doch noch vereiteln und wie die Schlagzeilen des nächsten Tages lauten würden. »Clinton begnadigt Truthahn, Rushdie guckt in die Röhre«, blödelte er. Ha ha ha ha ha! Dann waren sie am ›Diplomateneingang‹, der Hintertür, und wurden eingelassen. Am Ende mündete das große, schmutzige Spiel der Weltpolitik immer wieder in dieser unspektakulären weißen Villa, in der ein großer, rotgesichtiger Mann in einem ovalen Zimmer saß und Ja-Nein-Entscheidungen traf, obwohl ihm seine Berater mit gellenden Vielleichts in den Ohren lagen.

Um zwölf Uhr mittags wurden sie eine schmale Treppe hinauf und durch ein Spalier aufgeregt lächelnder Berater zu Anthony Lakes bescheidenem Büro geführt. Es sei aufregend, endlich im Weißen Haus zu sein, sagte er dem Sicherheitsberater, und Lake gab zwinkernd zurück: »Na, dann warten Sie mal ab, es wird noch ein bisschen aufregender.« POTUS hatte zugestimmt, ihn zu empfangen! Um 12.15 Uhr würden sie zum Old Executive Building hinübergehen und Mr Clinton dort treffen. Frances sprudelte los und konnte Lake überzeugen, dass sie mitkommen durfte. Die arme Elizabeth musste zurückbleiben. Lakes Vorzimmer war voller Bücher, die signiert werden wollten, und er machte sich gerade daran, als Warren Christopher eintraf. Elizabeth durfte den Außenminister unterhalten, während Lake und er zum Präsidenten gingen. »Das hätte schon vor Jahren passieren sollen«, sagte Lake zu ihm. Clinton stand in einem Korridor unter einer orangefarbenen Kuppel, George Stephanopoulos war auch da und lächelte breit, und dazu zwei weibliche Berater, die ebenfalls erfreut aussahen. Bill Clinton war noch größer und rotgesichtiger, als er gedacht hatte, und dazu sehr umgänglich, doch er kam sofort auf den Punkt. »Was kann ich für Sie tun?«, wollte der Präsident der Vereinigten Staaten wissen. Sein politisches Jahr hatte ihn auf diese Frage vorbereitet. Wenn du der Bittsteller bist, musst du immer wissen, was du bei einem Treffen erreichen willst, hatte er gelernt, und bitte immer um etwas, was dein Gegenüber dir gewähren kann.

»Mr President«, hob er an, »wenn ich das Weiße Haus verlasse, werde ich in den Presseclub fahren, wo zahlreiche Journalisten drauf warten, zu hören, was Sie gesagt haben. Ich würde ihnen gerne sagen können, die Vereinigten Staaten beteiligen sich an der Kampagne gegen die iranische Fatwa und unterstützen progressive Stimmen in der ganzen Welt.« Clinton nickte lächelnd. »Ja, das können Sie sagen, denn es trifft zu.« Ende des Treffens, dachte der Bittsteller und verspürte ein triumphierendes Flattern in der Brust. »Wir haben gemeinsame Freunde«, sagte der Präsident. »Bill Styron, Norman Mailer. Die haben mich immer wieder auf Sie angesprochen. Wissen Sie, Normans Frau Norris war bei meinem ersten Wahlkampf dabei. Ich habe sie ziemlich gut kennengelernt.«

Der Bittsteller dankte dem Präsidenten für das Treffen und sagte, es sei von enormer symbolischer Bedeutung. »Ja«, entgegnete Clinton. »Es soll ein Signal an die Welt sein. Amerika will zeigen, dass es die Meinungsfreiheit unterstützt und die Stärkung von Rechten befürwortet, die dem ersten Zusatzartikel unserer Verfassung entsprechen.« Es gab keine Fotos. Das wäre der Signale zu viel gewesen. Doch das Treffen hatte stattgefunden. Daran war nicht zu rütteln.

Auf ihrem Weg zurück in Anthony Lakes Büro bemerkte er ein breites, dümmliches Grinsen in Frances D’Souzas Gesicht. »Frances«, fragte er, »wieso hast du so ein breites, dümmliches Grinsen im Gesicht?« Ihre Stimme klang abwesend und gedankenverloren. »Findest du nicht«, fragte sie seufzend, »dass er meine Hand ein bisschen zu lang gehalten hat?«

Als sie zurückkamen, war Warren Christopher regelrecht verliebt in Elizabeth. Christopher und Lake waren ganz klar der Ansicht, dass die Fatwa »ganz oben auf der amerikanischen Agenda mit dem Iran« stehe. Ihr Wunsch, den Iran zu isolieren, kam dem seinen mehr als entgegen. Auch sie waren dafür, Kredite einzufrieren, und suchten nach entsprechenden Wegen. Die Unterredung dauerte über eine Stunde, und als sie danach in Hitchens’ Wohnung zurückkehrten, war allen Bittstellern ganz schwindlig von ihrem Erfolg. Christopher meinte, Stephanopoulos, der sich sehr für das Treffen mit Clinton eingesetzt hatte, sei ebenfalls beglückt. »Der Adler ist gelandet«, sagte er.

Die Pressekonferenz – siebzig Journalisten am Tag vor Thanksgiving, besser, als Scott Armstrong befürchtet hatte – war ein Erfolg. Hitchs Freund Martin Walker von The Guardian sagte, alles sei ›perfekt gelaufen‹. Dann kam das Quid pro quo, das Exklusivinterview mit David Frost, der nicht glücklicher hätte sein können und sich danach in schier endlosen Super und Großartig und Mein Lieber und Wunderbar erging und auf einem gemeinsamen kleinen Drinkie in London vor Weihnachten bestand.

Einzig der Chef des Sicherheitsdienstes, Jim Tandy, sorgte für einen kleinen Missklang. Ein verdächtiger ›nahöstlicher Mann‹ sei um das Gebäude geschlichen. Er habe telefoniert und sei dann in einen Wagen mit drei weiteren Insassen gestiegen und davongefahren. »Wollen Sie bleiben oder sollen wir Sie woanders hinbringen?«, fragte Tandy. »Bleiben«, sagte er, doch die Entscheidung lag bei Christopher und Carol. »Bleiben«, sagten beide.

Der britische Botschafter gab einen Empfang für sie. Am Botschaftseingang wurden sie von einer affektiert daherredenden Amanda begrüßt, die ihnen erzählte, dies sei das einzige Lutyens-Gebäude in ganz Amerika, »in Neu-Delhi hat er ja so viel gebaut … waren Sie mal in Indien?« Er ging darüber hinweg. Die Renwicks waren reizende Gastgeber. Sir Robins französische Frau Annie verliebte sich sofort in Elizabeth, die in D. C. zahlreiche Herzen eroberte. »Sie ist so herzlich, so direkt, so gelassen; sie gibt einem das Gefühl, als würde man sie schon ewig kennen. Ein ganz besonderer Mensch.« Sonny Mehta kam und sagte, Gita gehe es gut. Kay Graham kam und sagte so gut wie nichts.

Thanksgiving verbrachten sie bei den unendlich gastfreundlichen Hitchens. Die englischen Journalisten und Dokumentarfilmer Andrew und Leslie Cockburn kamen mit ihrer äußerst aufgeweckten neunjährigen Tochter Olivia zu Besuch, die ihm sehr eloquent darlegte, weshalb ihr Harun und das Meer der Geschichten so gut gefiel. Dann ging sie, um zur Schauspielerin Olivia Wilde heranzuwachsen. Auch ein rothaariger Teenager war da – sehr viel ungesprächiger als Olivia, obwohl einige Jahre älter –, der sagte, er habe Schriftsteller werden wollen, sei aber wieder davon abgekommen, »denn man sieht ja, was Ihnen passiert ist«.

Das Clinton-Treffen war auf sämtlichen Titelseiten und die Berichterstattung fast durchweg positiv. Die britische Presse schien die Bedeutung herunterspielen zu wollen, wohingegen für die vorhersehbaren Reaktionen aus dem fundamentalistischen Lager mit Druckerschwärze nicht gespart wurde.

Nach Thanksgiving schien Clinton zurückzurudern. »Ich habe ihn nur ein paar Minuten gesehen«, sage er. »Einige meiner Leute waren dagegen. Ich hoffe, es führt nicht zu Missverständnissen. Niemand sollte sich dadurch beleidigt fühlen. Ich wollte nur für Meinungsfreiheit eintreten. Ich glaube, ich habe das Richtige getan.« Und so weiter, ziemlich schwammig. Das klang nicht nach dem Führer der freien Welt, der sich gegen Terrorismus starkmacht. The New York Times dachte ähnlich und schrieb einen Leitartikel mit dem Titel ›Bitte keine Ausflüchte‹, in dem sie den Präsidenten aufforderte, uneingeschränkt zu seiner guten Tat zu stehen; den Mut für seine (oder vielleicht George Stephanopoulos’ und Anthony Lakes) Überzeugungen aufzubringen. In der TV-Sendung Crossfire saß Christopher Hitchens einem zeternden Muslim und Pat Buchanan gegenüber, der sagte, »Rushdie ist ein Pornograf«, seine Bücher seien ›schweinisch‹, und den Präsidenten angriff, weil er solch einen Menschen getroffen hatte. Die Sendung war niederschmetternd. Spätabends rief er Hitch an, der ihm sagte, der Gastgeber Michael Kinsley sei der Meinung, die Gegner hätten eine ›Abfuhr‹ kassiert, es sei richtig, das Thema ›aufs Tapet zu bringen‹, und Clinton würde ›dranbleiben‹, auch wenn sich die Lake-Stephanopoulos-Fraktion und die sicherheitsfixierten Berater hinter den Kulissen in den Haaren lägen. Und auch Christopher hatte ein paar weise Worte für ihn. »Jedes Mal, wenn du einen Punkt machst, werden die alten Argumente gegen dich wieder ans Licht gezerrt und rausgeblasen. Dafür werden sie aber auch ein weiteres Mal umgenietet, und ich habe den Eindruck, die Gegner werden das Spielchen langsam müde. Hätte es keine Ausflüchte gegeben, hättest du den Times-Artikel nicht gekriegt, und unterm Strich wird das deine Fürsprecher stärken. Alldieweil hast du immer noch Clintons Statement und das Treffen mit Christoper und Lake, und das kann dir keiner nehmen. Also, lächeln

Binnen kurzer Zeit war Christopher neben Andrew zu seinem engagiertesten Freund und Verbündeten in den USA geworden. Wenige Tage darauf rief er an, um zu sagen, John Shattuck vom Außenministerum habe eine inoffizielle Gruppe mit ihm, Hitch, Scott Armstrong vom Freedom Forum und vielleicht Andrew Wylie angeregt, um die Reaktion der USA ›voranzubringen‹. Hitch hatte bei einem Empfang mit Stephanopoulos im Beisein von Zuhörern gesprochen, und George hatte voller Nachdruck gesagt: »Wir bleiben beim ersten Statement; ich hoffe, Sie glauben nicht, wir nähmen irgendetwas zurück.« Eine Woche später schrieb er in einem Fax – ach ja, die gute alte Zeit der Faxe! – vom ›überwältigend‹ guten Treffen mit dem neuen Chef der Antiterroreinheit, Botschafter Robert Gelbard, der die Sache in verschiedenen G7-Foren zur Sprache brachte, jedoch bei den Japanern und – sieh an! – bei den Briten auf ›Zurückhaltung‹ stieß. Gelbard versprach, das Fluglinien-Thema mit der Federal Aviation Authority zu besprechen, der neue Sicherheitschef Admiral Flynn sei ein ›Kumpel‹ von ihm. Christopher wusste auch zu berichten, Clinton habe jemandem gegenüber geäußert, er hätte gern mehr Zeit mit dem Autor von Die satanischen Verse verbracht, doch leider sei Rushdie ›sehr in Eile‹ gewesen. Das sei doch komisch und zeige, wie froh er über das Treffen sei. Tony Lake erzählte allen, für ihn sei das Treffen einer der Höhepunkte des Jahres gewesen. Scott Armstrong würde sich ebenfalls ins Zeug legen. Keiner von beiden war von Frances und Carmel angetan, und das war besorgniserregend und sollte schon bald zu einer Krise führen.

In The Guardian erschien ein Bericht über die Washingtoner Ereignisse, in dem sowohl Scott Armstrong als auch Christopher Hitchens ihre Bedenken über Frances’ und Carmels Nutzen in der Sache zum Ausdruck brachten. »Damit haben sie der Arbeit von Artikel 19 in den USA schwer geschadet«, sagte Frances ehrlich erzürnt am Telefon. »Ohne dein stillschweigendes Einverständnis hätten Armstrong und Hitchens so etwas nie gesagt.« Er versuchte ihr begreiflich zu machen, er habe gar keine Ahnung gehabt, dass so ein Artikel überhaupt in der Mache war, doch sie erwiderte: »Ich bin sicher, dass du hinter all dem steckst«, weshalb die MacArthur Foundation ihnen jetzt womöglich lebenswichtige Zuschüsse streichen würde. Er holte tief Luft, schrieb einen Brief an The Guardian, um Frances und Carmel zu verteidigen, und rief MacArthur unter vier Augen an. MacArthur sagte nicht zu Unrecht, die Hälfte von Frances’ Budget stamme von ihm. Die Stiftung habe es sich zur Aufgabe gemacht, Organisationen dahingehend zu fördern, dass sie »ihre Fördermittel geschickt einsetzten«, und das bedeutete, sich in den USA einen Namen zu machen. Es sei Frances’ Schuld, wenn es nicht gelungen sei, deutlich zu machen, dass Artikel 19 im »wichtigsten Menschenrechtsfall der Welt« eine führende Rolle spiele. Er redete so lange auf Rick ein, bis der ihm versprach, fürs Erste keine Kürzungen vorzunehmen.

Wütend auf sich selbst, legte er auf. Er hatte Frances ins Weiße Haus mitgenommen und die Arbeit von Artikel 19 bei sämtlichen Pressekonferenzen gelobt und fühlte sich zu Unrecht beschuldigt. Das Fax von Carmel Bedford, das folgte – »Hat es überhaupt Sinn, weiterzumachen, solange wir den Schaden, den diese Egoisten angerichtet haben, nicht wiedergutmachen können?« –, machte alles nur noch schlimmer. Er faxte Frances und Carmel, was er von ihren Anschuldigungen hielt. Das vertrauliche Telefonat mit Rick MacArthur und dessen Ergebnis ließ er unerwähnt. Wenige Tage später änderte Carmel ihren Ton und schickte ihm beschwichtigende Faxe, doch von Frances kam nichts. Wie Achilles saß sie schmollend in ihrem Zelt. Der Schock ob ihrer Vorwürfe blieb.

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Die legendäre, allmächtige spanische Literaturagentin Carmen Balcells rief Andrew Wylie aus Barcelona an, um ihm zu sagen, der große Gabriel García Márquez schreibe an »einer romanhaften Darstellung, die sich an Mr Rushdies Leben anlehnt«. Es würde, fügte sie hinzu, »ausschließlich aus der Feder des Autors stammen, eines sehr bekannten Schriftsteller«. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sollte er sich geschmeichelt fühlen? Er war es nicht. Sollte er jetzt zu anderer Leute ›romanhafter Darstellung‹ werden? Im umgekehrten Fall würde er sich nicht berechtigt fühlen, sich zwischen einen anderen Schriftsteller und dessen Leben zu drängen. Doch vielleicht war sein Leben inzwischen zum Allgemeingut geworden, und er sah bereits die Schlagzeilen vor sich, wenn er versuchte, das Buch zu verhindern. RUSHDIE ZENSIERT MÁRQUEZ. Und was sollte das überhaupt heißen, ›romanhafte Darstellung‹? Wenn García Márquez über einen lateinamerikanischen Schriftsteller schreiben wollte, der es sich mit christlichen Fanatikern verscherzt hatte, dann viel Spaß dabei. Doch sollte Márquez beabsichtigen, in ihn hineinschauen zu wollen, wäre das anmaßend. Er bat Andrew, seine Bedenken weiterzugeben, und nach einem langen Schweigen von Balcells folgte eine Nachricht, dass Márquez’ Buch nicht von Mr Rushdie handle. Was sollte dann dieses seltsame kleine Intermezzo?

Gabriel García Márquez brachte weder eine ›romanhafte Darstellung‹ noch sonst irgendetwas heraus, was sich im Entferntesten mit Carmen Balcells’ Andeutungen deckte. Doch die Episode hatte Salz in seine Wunde gestreut. García Márquez hatte ein fiktives oder nicht-fiktives Buch über ihn schreiben oder nicht schreiben wollen, er hingegen hatte das ganze Jahr noch kein dichterisches Wort zu Papier gebracht – nein, viel länger noch. Das Schreiben hatte stets im Mittelpunkt seines Lebens gestanden, doch jetzt waren Dinge, die marginal gewesen waren, darüber hereingebrochen und hatten den seiner Arbeit vorbehaltenen Freiraum unter sich begraben. Er zeichnete eine Einführung für einen TV-Film über Tahar Djaout auf. Er erhielt das Angebot einer monatlichen Kolumne, die vom New York Times Syndicate weltweit vertrieben werden sollte, und bat Andrew, es anzunehmen.

Weihnachten stand vor der Tür. Er war erschöpft und trotz der politischen Erfolge, die das Jahr gebracht hatte, an einem Tiefpunkt. Er redete mit Elizabeth über die Zukunft, über ein Kind, darüber, wie ihr Leben aussehen könnte, und ihm wurde klar, dass sie sich ohne Polizeischutz niemals sicher fühlen würde. Sie waren sich in der Mitte des Spinnennetzes begegnet, und dieses Spinnennetz war die einzige Wirklichkeit, der sie traute. Sollte der Tag kommen, an dem er keine Bodyguards mehr benötigen würde, würde sie ihn dann aus Angst verlassen? Es war eine winzige Wolke am Horizont. Würde sie irgendwann den ganzen Himmel bedecken?

Thomasina Lawson starb mit gerade einmal zweiunddreißig Jahren. Clarissa bekam Chemotherapie. Und auch Frank Zappa starb. Die Nachricht ließ die Vergangenheit mit ungeahnter Wucht und Heftigkeit über ihn hereinbrechen. Bei einem ihrer ersten Dates waren er und Clarissa zu einem Mothers-of-Invention-Konzert in die Royal Albert Hall gegangen, und mitten in der Show war ein besoffener schwarzer Typ in einem glänzenden lila Hemd auf die Bühne gekraxelt und hatte verlangt, mit der Band zu spielen. Zappa blieb ganz cool. »Hmhm, Sir«, sagte er, »und welches Instrument spielen Sie?« Mr Lila nuschelte etwas von einem Horn und Zappa rief: »Gebt dem Mann ein Horn!« Mr Lila dudelte schief drauflos. Zappa hörte ein paar Takte lang zu und sagte: »Hmm. Ich frage mich, wie wir diesen Herrn hier auf seinem Horn begleiten können. Ich hab’s! Die große, erhabene Albert-Hall-Orgel!« Daraufhin kletterte einer der Mothers auf die Orgelbank, zog alle Register und spielte ›Louie Louie‹, derweil Mr Lila schief und unhörbar vor sich hin trötete. Es war einer ihrer frühen glücklichen Momente gewesen, und jetzt war Zappa tot und Clarissa kämpfte um ihr Leben. (Wenigstens ihr Job war gerettet. Er hatte ihre Vorgesetzten bei A. P. Watt angerufen und ihnen gesagt, wie schlecht es aussähe, wenn sie eine Frau vor die Tür setzten, die Krebs hatte und die Mutter von Salman Rushdies Sohn war. Gillon Aitken und Liz Calder riefen auf seine Bitte hin ebenfalls an, und die Agentur gab nach. Clarissa wusste nicht, dass er etwas damit zu tun hatte.) Er lud sie ein, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Sie kam mit Zafar, lächelte matt, wirkte gehetzt und schien den Tag zu genießen.

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Auch er bekam Briefe, die den imaginären Briefen in seinem Kopf glichen. Einhundert arabische und muslimische Schriftsteller hatten gemeinsam einen vielsprachigen, französisch übersetzten Essayband mit dem Titel Pour Rushdie herausgegeben, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Einhundert Schriftsteller, von denen die meisten wussten, wovon er redete, Schriftsteller, die aus der Welt stammten, aus der sein Buch hervorgegangen war, und die, auch wenn sie seine Ansichten nicht teilten, bereit waren, sein Recht, sie zu äußern, wie Voltaire zu verteidigen. Er hat die prophetische Geste den vier Winden der Fantasie geöffnet, schrieben die Herausgeber, und dann folgte die Kavalkade kleiner und großer Stimmen der arabischen Welt. Der syrische Lyriker Adonis: Wahrheit ist weder das Schwert / noch die Hand, die es führt. Und Mohammad Arkoun aus Algerien: Ich würde mir wünschen, Die satanischen Verse wären allen Muslimen zugänglich und ermöglichten ihnen eine modernere Sicht auf die Erkenntnis der Offenbarung. Und Rabah Belamri aus Algerien: Die Rushdie-Affäre hat der ganzen Welt deutlich gemacht, dass der Islam … unfähig ist, sich straflos einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Und Fethi Benslama aus der Türkei: In seinem Buch hat Salman Rushdie ein für alle Male den ganzen Weg beschritten, als wollte er allein sämtliche Autoren in sich vereinen, die es in der Geschichte seiner Tradition nie geben durfte. Und Zhor Ben Chamsi aus Marokko: Wir sollten Rushdie ehrlich dankbar sein, den Muslimen die Welt der Fantasie wieder zugänglich gemacht zu haben. Und die Algerierin Assia Djebar: Dieser Schreiberfürst … ist ständig nackt und einsam. Er ist der erste Mann, der das Schicksal einer muslimischen Frau erfährt (und … der erste Mann, der aus der Sicht einer muslimischen Frau schreiben kann). Und Karim Ghassim aus dem Iran: Er ist unser Nachbar. Und der Palästinenser Émile Habibi: Wenn wir Salman Rushdie nicht retten können – Gott bewahre! –, wird die Schande über die ganze Menschheit kommen. Und der Algerier Mohammed Harbi: Mit Rushdie offenbart sich uns die Resepektlosigkeit und das freiheitliche Lustprinzip in Kunst und Kultur als Quell der fruchtbaren Reflexion unserer Vergangenheit und Gegenwart. Und der Syrer Jamil Hatmal: Ich ziehe Rushdie den mörderischen Turbanen vor. Und Sonallah Ibrahim aus Ägypten: Jeder, der ein Gewissen hat, muss diesem großen Schriftsteller in der Not helfen. Und der marokkanisch-französische Autor Salim Jay: Der einzige wirklich freie Mensch ist Salman Rushdie … Er ist der Adam einer Bibliothek der Zukunft: der Bibliothek der Freiheit. Und Elias Khoury aus dem Libanon: Wir haben die Pflicht, ihm zu sagen, dass er unsere Einsamkeit verkörpert und dass seine Geschichte die unsere ist. Und der Tunesier Abdelwahab Meddeb: Rushdie, du hast geschrieben, was keiner je geschrieben hat … Statt dich im Namen des Islam zu verdammen, beglückwünsche ich dich. Und der algerischstämmige Franzose Sami Naïr: Salman Rushdie muss man lesen.

Danke, Brüder und Schwestern, flüsterte er den hundert Stimmen zu. Danke für euren Mut und euer Mitgefühl. Euch allen ein frohes neues Jahr.