Tollhaus Paris
Der beißende Qualm der Feueressen und der bestialische Gestank der Siedereien, die sie auf ihrem Weg durch die östlichen Außenbezirke der Stadt passiert hatten, waren nur ein Vorgeschmack dessen gewesen, was sie im Zentrum von Paris erwartete.
Kaum hatten sie den stinkenden Canal Saint Martin überquert, einen der wichtigsten Transportwege im Osten der Stadt, da hatte das unüberschaubare Häusermeer mit seinem Gassenlabyrinth sie regelrecht verschluckt und der chaotische Verkehr sie mitgerissen wie ein reißender Strom ein Stück Treibholz.
Sadik zeigte sich von dem Menschengewimmel im Gewirr ineinander verschlungener Häuserschluchten, die oftmals sechs Stockwerke und höher reichten, sowie dem unbeschreiblichen Lärm, Dreck und Gestank nicht im mindesten beeindruckt. Derartige Zustände kannte er von Cairo her. Doch Tobias war zutiefst verstört und enttäuscht. Das Bild einer prächtigen Weltmetropole, das er sich von Paris gemacht hatte, zerstob im Angesicht der schockierenden Wirklichkeit wie eine Seifenblase.
Die einzige große Stadt, die er bisher gekannt hatte, war Mainz gewesen und das geschäftige Treiben auf den Straßen dort hatte ihn jedesmal in Erstaunen versetzt. Doch im Vergleich zu Paris erschien ihm Mainz nun wie ein beschauliches Dorf.
Das Schlimmste war der durchdringende Gestank, der aus den Abwässerkanälen drang und von dem Unrat aufstieg, der sich überall auf den Straßen befand. Die Wasserrinnen, die leicht abgesenkt in der Mitte des Straßenpflasters verliefen, waren vielerorts von Dreck, Abfällen und Fäkalien verstopft, die in der Hitze des Julitages gen Himmel stanken. Blut aus Metzgereien und Abdeckereien bildete hier und da vor den Häusern Lachen oder floss quer über das Pflaster aus unregelmäßig geformten Sandsteinen und vermischte sich mit dem anderen Unrat in der Wasserrinne.
Und niemand schien daran Anstoß zu nehmen. Zwischen all diesem Dreck wimmelte es von Müßiggängern, fliegenden Händlern, eiligen Dienstboten, Bettlern, Straßenmusikanten, Prostituierten und herumstreunenden Kindern, Katzen und Hunden, während sich Kutschen, schwer beladene Fuhrwerke, Lastkarren und leichte Cabriolets gegenseitig die Straße streitig machten. Die leichten Einspänner, von jungen Männern in auffällig modischer Kleidung gelenkt, legten eine besondere Rücksichtslosigkeit an den Tag. Sie kümmerten sich nicht um den Dreck und Kot, den ihre Räder hochspritzen ließen, und gaben auch nichts auf die Flüche und Drohgebärden, die ihnen nachgeschickt wurden. Die zahlreichen Schuhputzer und Kleiderreiniger, auf die man an fast jeder Straßenecke traf, waren ein deutlicher Hinweis, wie sehr ihre Dienste in dieser Stadt vonnöten waren. Das galt auch für die sogenannten Groschenfechter und Schnäpper, die wie die Schuhputzer und Kleiderreiniger den verdreckten Straßen ihren Lebensunterhalt verdankten.
Wollte jemand die Straße überqueren ohne sich Schuhe und Kleider zu beschmutzen, so eilten sie mit einer Laufplanke herbei, für deren Benutzung man einige Centimes zu entrichten hatte. Und wo noch nicht einmal eine Laufplanke genügte, um dem Dreck zu entgehen, nahm man einen Passeur in Anspruch, eine Art Fährmann, der seine Kunden huckepack über die Straße trug. Ein Geschäft, das besonders bei Regen blühte, wenn die Straßen einem ekelhaften Morast glichen, in den sich zusätzlich noch die rauschenden Fluten von den Wasserspeiern der Häuser ergossen.
Dass es ein Gesetz gab, demnach das Entleeren von Nachtgeschirren aus dem Fenster auf die Straße unter Strafe stand, kümmerte kaum einen. Immer wieder hörte man in den verwinkelten Gassen einen kurzen Warnruf, dem dann aus einem der oberen Stockwerke ein ekelhafter Guss aus einem Nachttopf folgte.
Tobias war angewidert von dem, was Augen und Nase zu ertragen hatten. Was ihm jedoch völlig unbegreiflich blieb, war in dieser verbauten Stadt mit ihrem noch mittelalterlichen Kern das Nebeneinander von Armut und Reichtum, von Dreck und Pracht, von Gestank und Wohlgerüchen.
Dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft eines prächtigen Juwelierladens, in dessen Schaufenster glitzernde Geschmeide auslagen, ein Berg verfaulten Obstes auftürmte, schien weder den Juwelier noch seine zahlungskräftige Kundschaft zu irritieren. Das Gleiche galt für den Laden, in dem es Parfüm und Pomaden zu kaufen gab. Rotblaue Stoffbahnen hingen vom vierten Stockwerk bis über den Laden herunter, auf denen goldene Lettern auf dieses Geschäft der tausend Duftwasser und Tinkturen hinwiesen. Schlanke Pilaster und Rosetten aus Gusseisen schmückten den Eingang. Doch die Wohlgerüche, die aus diesem Geschäft auf die Straße drangen, reichten nicht weit. Gegen den Gestank der Innereien, die der Fischhändler zwei Türen weiter auf die Straße warf, und den stechenden Geruch, der den Kiepen der Lumpensammler entströmte, kamen sie nicht an.
Dass überall ansehnliche Bürgerhäuser zwischen schmalbrüstigen, völlig verbauten und heruntergekommenen Gebäuden zu finden waren, steigerte Tobias’ Verständnislosigkeit. Doch wohlhabende Bürger und arme Schlucker schienen in diesen Vierteln nicht nur Haus an Haus zu wohnen, sondern vielerorts sogar unter einem Dach! Denn elegant gekleidete Männer und Frauen, auf die eine Mietdroschke wartete, traten aus derselben Haustür wie der Krämer von nebenan sowie Dienstmädchen und Tagelöhner in abgerissener Kleidung.
Wie Tobias erfahren sollte, war dies auch tatsächlich der Fall. Zahlreiche Häuser im Kern der Stadt beherbergten Mieter der unterschiedlichsten Stände. Während sich im Erdgeschoss zumeist Geschäftsräume, Werkstätten und Ladenlokale befanden, wurde das Zwischengeschoss von dem jeweiligen Ladenbesitzer und seiner Familie bewohnt. Der erste Stock, die sogenannte Bel Etage, war jedoch einem reichen Mieter vorbehalten. Die Räume dieser Etage waren großzügig geschnitten und boten mit Kamineinfassungen aus italienischem Marmor, reich verzierten Stuckdecken, Parkettböden und anderem Komfort einen Luxus, von dem die Mieter in den darüberliegenden Stockwerken noch nicht einmal zu träumen wagten. Denn je höher man die Treppe stieg, desto schäbiger wurden die Behausungen und dementsprechend ärmer auch die Mieter. Während in der Bel Etage ein Vicomte verschwenderische Feste gab und im zweiten Stock ein Rentner sein bescheidenes Leben fristete, hausten unter dem Dach die Glücklichen unter den Armen, die den Mietzins für eine kleine, im Winter ungeheizte Kammer gerade noch bezahlen konnten, sich von Brot und Kohlsuppe ernährten und in der ständigen Angst lebten, vielleicht schon am nächsten Tag zum riesigen Heer der Arbeitslosen zu zählen und dann bald vom Hausbesitzer auf die Straße gesetzt zu werden.
Tobias wusste aus den Büchern, die er auf Falkenhof studiert hatte, dass diese Stadt auch noch ein anderes Gesicht aufwies und sich rühmen konnte, eine ganze Anzahl imposanter Bauwerke und Prachtstraßen ihr eigen zu nennen. Aber auch ohne diese architektonischen Sehenswürdigkeiten gesehen zu haben, spürte er instinktiv, dass diese Paläste und imposanten Plätze, wo immer sie sich auch befinden mochten, die Enge der stinkenden Straßen und die bedrückende Armut der Bevölkerung nur noch unterstreichen würden statt sie vergessen zu lassen.
Nein, Paris war keine Stadt des Glanzes und der berückenden Schönheit, nicht die strahlende Kapitale eines mächtigen Landes, das unter Napoleon einst ganz Europa beherrscht hatte. Paris war ein verwirrend dichter Wald zusammengedrängter Häuser ohne Ende, ein unruhig auf und ab wogendes Meer von Dächern, auf dem Tausende verschiedenster Schornsteine wie die zusammengeschossenen Masten einer bunt zusammengewürfelten Armada in den Himmel strebten. Paris war ein unergründliches Straßenlabyrinth, das im Unrat und Gestank seiner Bewohner versank, eine Stadt mit gut achthunderttausend Einwohnern, die bei Tobias den Eindruck erweckte ein einziges unüberschaubares Tollhaus zu sein.