Hoch die Kanne!

 

Die scharfe Klinge von Sadiks Messer durchtrennte Zeppenfelds Fesseln. Mit einer wütenden Gebärde schleuderte er die Stricke von sich und rieb sich die Handgelenke. »Wurde auch Zeit!«, stieß er in dem Irrglauben hervor, jetzt endlich freigelassen zu werden. »Hat lange genug gedauert, bis ihr begriffen habt, auf wie verlorenem Posten ihr steht! Will jedoch Nachsicht üben und vergessen, was geschehen ist! Gebt mir jetzt den Falkenstock und ich lass’ euch unbehelligt ziehen!«

Sadik bemühte sich erst gar nicht, darauf einzugehen. »Ausziehen!«, befahl er knapp.

Zeppenfeld sah ihn fassungslos an. Stenz, Tillmann und Valdek, die noch gefesselt am Boden hockten und gleichfalls erleichtert aufgeatmet hatten, waren nicht minder verstört.

»Ausziehen!«, wiederholte Sadik scharf.

Zeppenfeld straffte sich. »Was maßt du dir an, Sadik?«, stieß er empört hervor und warf jetzt auch einen drohenden Blick zu Tobias hinüber, der neben der Treppe stand. »Können uns noch im Guten trennen! Warne euch zum …«

»Und das ist meine letzte Warnung!«, fiel ihm Sadik grob ins Wort. Gleichzeitig vollführte seine Hand mit dem Messer eine blitzschnelle Aufwärtsbewegung. Die Klinge fetzte Zeppenfelds Hemd über der Brust auf, ohne jedoch seine Haut zu ritzen. »Wenn Sie sich nicht freiwillig ausziehen, erledige ich das auf meine Weise! Ich kann Ihnen jedoch nicht versprechen, dass Sie dabei so ungeschoren davonkommen wie bei diesem Schnitt!«

Zeppenfeld zuckte erschrocken zurück. »Muss den Verstand verloren haben!«, keuchte er.

»Ich zähle bis drei!« Sadiks Stimme war so schneidend wie sein Messer. »Eins! zwei …!«

»Werdet dafür bitter büßen!«, stieß Zeppenfeld wutschnaubend hervor, beeilte sich jetzt jedoch Sadiks Aufforderung zu befolgen. Seine ohnmächtige Wut wuchs noch, als er auch seine seidenen Socken und die teure Leibwäsche ausziehen musste. Nackt und zitternd vor Empörung stand er vor ihnen.

»Wir haben Kleider, die besser zu Ihnen passen, Zeppenfeld«, höhnte Sadik. »Gib ihm seine neuen Sachen, Tobias!«

Dieser warf ihm die Kleider, die Jacques zusammengesucht hatte,

vor die Füße. »Lumpen für einen Lumpen!«, bemerkte er.

Zeppenfeld funkelte ihn an, als wollte er ihn mit Blicken töten. »Wirst dafür bezahlen! Hast mein Wort drauf!«, zischte er.

»Ja, das Wort eines Lumpen«, entgegnete Tobias voller Verachtung.

»Anziehen!«, befahl Sadik knapp.

Mit sichtlichem Ekel zog Zeppenfeld die zerlumpten Kleider an und erging sich dabei in lästerlichen Flüchen.

Nachdem Sadik ihm wieder die Hände auf den Rücken gebunden hatte, befreite er Stenz, Tillmann und Valdek von ihren Fußfesseln. »Los, nach oben! Wir unternehmen eine kleine Spazierfahrt!«

»Wir müssen uns beeilen und verschwunden sein, bevor der Wirt und seine Frau aus dem Ort zurück sind. Jakob sitzt jetzt bestimmt schon in der Postkutsche«, sagte Tobias ungeduldig und tat so, als brächten sie Zeppenfeld und seine Handlanger ohne Wissen der Flosbachs aus dem Haus. Das war so mit ihnen abgesprochen, um die Gefahr so gering wie möglich zu halten, dass Zeppenfeld später auf die Idee verfiel seine Wut an Jacques und seiner Frau auszulassen. In Wirklichkeit hatten sie den Gasthof gar nicht verlassen, sondern beobachteten das Geschehen von einem der oberen Fenster aus. Jakob dagegen saß tatsächlich schon in der Kutsche. Jana hielt sich auch nicht mehr auf dem Anwesen der Flosbachs auf. Sie war mit dem Kastenwagen schon vorgefahren und würde unweit des Heuschobers auf sie warten. Da nicht sicher war, inwieweit Zeppenfeld sie mit ihnen in Verbindung gebracht hatte, hatten sie beschlossen sie nicht in dieses Unternehmen einzubeziehen.

»Keinen Schritt mehr! Will wissen, wohin ihr uns bringt«, verlangte Zeppenfeld mit einer Mischung aus Furcht und Trotz auf dem Gesicht.

»Sechs Fuß unter die Erde, wenn Sie nicht augenblicklich auf die Ladefläche steigen!«, drohte Sadik und setzte ihm die Messerspitze unter die Kehle.

Zeppenfeld stieg auf das Fuhrwerk. »Beduinenschwein!«, stieß er hervor und wollte ihm ins Gesicht spucken, doch Sadik konnte dem Speichel ausweichen.

Wenig später nahmen Tobias und Sadik auf dem Kutschbock Platz und fuhren los. Von den vier Männern hinter ihnen auf der Ladefläche war nichts zu sehen. Sie hatten sich nämlich flach hinlegen müssen, bevor Tobias eine Plane über sie geworfen hatte.

Den windschiefen Heuschober hatten sie bald erreicht. Es war noch früh am Nachmittag, so dass ihnen noch Zeit genug blieb ihren Plan in aller Ruhe auszuführen. Sie entzündeten in unmittelbarer Nähe des Bretterschuppens ein Feuer, in dem sie Zeppenfelds Kleider und Papiere verbrannten. Das Geld, das er bei sich getragen hatte, sowie seine Ringe steckten sie ohne die geringsten Gewissensbisse in ihre Geldbörse. Der Schaden, den er angerichtet hatte, war mit Geld überhaupt nicht wiedergutzumachen.

In die Nähe des Feuers verstreuten sie reichlich Gänsefedern sowie ausreichend abgenagte Knochen. Wer sich hier mit offenen Augen umschaute, musste zwangsläufig den Eindruck haben, dass sich diese verwahrlosten Strauchdiebe an fremdem Federvieh gütlich getan, sinnlos betrunken und durch Unachtsamkeit auch noch den Heuschober in Brand gesetzt hatten.

Sadik holte aus dem Stroh hinter dem Kutschbock eine verbeulte Kanne sowie drei Flaschen und zwei Steinkrüge hervor, die mit billigstem Branntwein gefüllt waren. Er füllte die Kanne randvoll und stieß sie Zeppenfeld vor die Brust, der mit seinen Komplizen ein Stück vom Feuer entfernt im Gras saß. Herausschwappender Alkohol tränkte sein löchriges Hemd.

»Hoch die Kanne und runter mit dem edlen Gesöff!«, forderte er ihn auf, nachdem Tobias ihm die Handfesseln abgenommen hatte. »Wir wollen jetzt ein wenig feiern. Vielleicht vertragen wir uns danach besser.«

»Billiger Fusel! Hasse das Zeug!«, stieß Zeppenfeld hervor und wandte den Kopf ab.

»Soll ich den Trichter holen?«, fragte Tobias grinsend.

Der Trichter war bei keinem nötig. Sie tranken alle ohne Ausnahme. Zeppenfelds Söldner anfangs sogar mit sichtlichem Genuss. Doch das Tempo, mit dem Tobias die Kanne immer wieder auffüllte, bereitete ihnen bald Schwierigkeiten.

Sadik wachte mit Argusaugen darüber, dass Zeppenfeld sein Quantum auch wirklich zu sich nahm. Als er einmal absichtlich Branntwein vergoss und ihn bei geschlossenen Lippen an Kinn und Kehle hinunterrinnen ließ, brachte ihm Sadik schmerzlich in Erinnerung, dass er nicht nur leere Drohungen ausstieß. Von da an hatten sie keine Schwierigkeiten mehr mit ihm.

Ihr Vorrat an Branntwein war mehr als ausreichend, um die vier Männer sinnlos betrunken werden zu lassen. Sogar Stenz und Tillmann, obwohl einiges gewöhnt, spürten bei diesem gewaltsamen Zechen die Wirkung des Hochprozentigen schnell. Dass sie seit dem

Morgen nichts mehr gegessen hatten, erwies sich dabei als sehr hilfreich.

Sadik überstürzte nichts. Sie mussten ganz sicher sein, dass keiner von ihnen mehr in der Lage war einen bewussten Gedanken zu fassen. Schließlich war es soweit. »Sie sind hinüber, total betrunken«, stellte er fest.

Tobias sprang auf. »Dann wollen wir dem Zöllner das verabredete Zeichen geben«, flüsterte er und sorgte dafür, dass das Feuer hell aufloderte. Augenblicke später flog brennender Reisig in den Heuschober.

Mit atemberaubender Schnelligkeit breitete sich das Feuer aus. Die Flammen leckten unter lautem Prasseln gefräßig an den Wänden hoch und hatten rasch das Dach erreicht.

Noch ein letzter Blick auf die vier Männer, die in sicherer Entfernung im Gras lagen, betäubt vom Branntwein. Krüge und Flaschen sowie einige dicke Knochen mit Fleischresten lagen zwischen ihnen.

»Sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden!«, rief Sadik Tobias zu. Als der Heuschober unter der Feuersbrunst in sich zusammenstürzte und Peter Daemgen mit zwei Untergebenen heranritt, hatten sie längst die Lichtung auf der anderen Seite des Waldes erreicht, wo Jana voller Ungeduld mit dem Wagen auf sie gewartet hatte.

Anderthalb Stunden später begaben sie sich zur Zollstation, wie sie es mit dem Zöllner vereinbart hatten. Vor ihnen lag der Rhein, der golden im Abendlicht glitzerte und über den sich die Brücke hinüber nach Frankreich spannte.

Peter Daemgen war auch tatsächlich zur Stelle und schickte seinen Untergebenen zurück ins Haus. »Ah, fahrendes Volk! Ich erledige das schon! Bin jedesmal froh, wenn ich diese Herumtreiber verschwinden sehe! Sind nicht viel besser als dieses versoffene Pack, das wir vorhin aufgegriffen haben!«, rief er scheinbar gereizt. Doch als er zu ihnen an den Wagen trat, nickte er kaum merklich und lächelte ihnen zu.

Es fiel ihnen schwer, sich jegliches Dankeswort zu verkneifen. Der Schlagbaum hob sich und der Kastenwagen rumpelte über die Brücke. Frankreich! Jetzt galt es, so schnell wie möglich zu Jean Roland nach Paris zu gelangen!

Doch würde der Vorsprung, den der Zöllner ihnen verschaffen konnte, auch reichen?