erreichte ihre Empfänger nie. Das Papier blieb zusammenge-
faltet in meiner Tasche. Ich warf es nicht hinaus. Weder an
diesem Tag noch an einem der folgenden. Schließlich zerriß
ich es in kleine Fetzen. Das verzeihe ich mir noch heute nicht.
183
Vielleicht fürchtete ich, der Brief könnte in falsche Hände
geraten. Doch das ist kein Trost.
Auf diese Weise also verbrachte ich die nächsten Tage. Ich
schlief sitzend auf einer an einem Tisch stehenden Bank im
Bahnhof, machte auf den öffentlichen WC’s Morgentoilette,
frühstückte im Bahnhofsbuffet und fuhr zum Ghetto. Fast
jedes Mal traf ich auf denselben schweigsamen Fahrer. Ich
versuchte zwar, seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen,
da ich aber in dieser Umgebung deplaziert wirkte, war mir
bewußt, daß er jede meiner Fahrten registrierte.
Zwischen den Hin- und Rückfahrten hatte ich viel Zeit,
die ich auf den mir vertrauten Straßen von Lodz verbrachte.
Wie schon bei meinem wehmütigen Aufenthalt in Peine, hatte
ich die Absicht, die Stätten meiner Kindheit aufzusuchen.
Stundenlang marschierte ich jeden Tag durch diese große Stadt,
ohne jemandem zu begegnen, mit dem ich ein herzliches oder
liebenswürdiges Wort hätte wechseln können.
Ich hatte den Einfall, einen meiner ehemaligen Klassenleh-
rer zu besuchen, einen Herrn Klemezki – kein Jude natürlich.
Die Einsamkeit, unter der ich litt, und die Vergeßlichkeit be-
stärkten mich in dem Glauben, ich fände bei ihm Verständnis
und Unterstützung. Dieser abenteuerlichen Idee lagen Unreife
und Einfalt zugrunde, doch entsprang sie einem übervollen
Herzen. Ich bedurfte so sehr des Trostes, egal von wem. Vor
dem Krieg war ich in meiner Eigenschaft als Vorsitzender
der Studentenliga für den Luftschutz, LOPP, bei der er aktiv
mitwirkte, des öfteren bei ihm gewesen. Er wohnte in der
Allee des 3. Mai, so benannt nach dem Feiertag der polni-
schen Verfassung. Mühelos fand ich das Gebäude und stieg
in den zweiten Stock, bevor ich vor seiner Tür Halt machte.
184
Durch ein schmales Fensterchen im Treppenhaus konnte ich
in seine Küche sehen. Er saß mit seiner Frau beim Essen.
Ich zauderte. Sollte ich klingeln? Plötzlich schrie eine innere
Stimme: »Halt! Tu es nicht! Geh, wie du gekommen bist!« Es
schoß mir nämlich durch den Kopf, daß auch dieser Lehrer,
dem ich früher vertraut hatte, mir heute gefährlich werden
könnte. Unter einem militärischen Besatzungsregime passen
sich viele an, und einige werden zu Denunzianten. Hinzu
kam, daß bloß ein jüdisches Kind auf der Waagschale lag.
Ernüchtert verließ ich rasch den Ort.
– Mehrere Jahre nach dem Krieg traf ich ehemalige Klas-
senkameraden aus Lodz. Ich erzählte ihnen von meiner dama-
ligen Absicht, den Lehrer Klemezki aufzusuchen, um Trost bei
ihm zu finden. Da erfuhr ich von ihnen, daß er sehr schnell
ein begeisterter Kollaborateur der Nazis geworden war, und
natürlich hätte er mich auf der Stelle verhaften lassen. –
Ich lenkte meine Schritte zur Zakontnastraße 17, wo wir
bis zu der schmerzlichen Trennung und bis zur Vertreibung
meiner restlichen Familie hinter die Ghettomauern gewohnt
hatten. Während ich mich dem Haus näherte, stürmten Er-
innerungen auf mich ein. Hier hatte ich meine ersten Ver-
abredungen mit Mädchen gehabt. Jetzt schien alles fremd
und kalt. Traurig schaute ich auf die Hausmauern und die
wohlbekannten Pflastersteine, die stummen Zeugen all des-
sen, was ich hier erlebt hatte. Den Gruß des unverhofften
Besuchers erwiderten sie nicht.
Ich war an der Tür meines Hauses angelangt, ein dreistök-
kiges Eckhaus. Ich trat ein. Im selben Augenblick erschien
die vertraute Gestalt des Portiers im Türrahmen. Er hatte sich
nicht verändert und trug noch immer seine alte Mütze. Ich
185
hatte ihm einst geholfen, mit einem Wasserschlauch Trottoir
und Hof zu reinigen. Wenn das Wasser sprudelte, drückte ich
mit Lust auf das Gummiende, damit das Wasser nach allen
Seiten spritzte. Den Bruchteil einer Sekunde dachte ich dar-
an, mich zu erkennen zu geben und ihn in mein Geheimnis
einzuweihen. Doch sogleich verwarf ich diese dumme Idee,
blickte mich vorsichtig nach ihm um und ging selbstbewußt
auf die Treppe zu. Im ersten Stock postierte ich mich vor
unserer alten Wohnungstür. Von innen hörte ich lebhaftes
Stimmengewirr. Neben der Klingel stand ein fremder Name.
Die Mesusa, die man abgenommen hatte, hatte ihre Spur auf
dem rechten Türpfosten hinterlassen.
Welch teurer, vertrauter Ort! Wir waren eine glückliche
Familie gewesen. Am Abend versammelten wir uns, und das
Haus war erfüllt von Lärm und freudigem Treiben. Mein
jüngerer Bruder David war der Witzbold unserer Familie, und
wir erstickten fast vor Lachen, wenn er seine Späße trieb.
Besonders bei Tisch spielte er uns gerne Streiche. War er der
Meinung, Mama habe ihm nicht genügend Suppe aufgetan,
steckte er den Finger in den Teller unserer Schwester Bertha,
die natürlich darauf verzichtete, weiterzuessen. Mama schimpfte
ein bißchen, mußte dann aber selbst mitlachen.
Isaak war am ernstesten und strengsten von uns. Tüch-
tigkeit und Ordnungsliebe waren seine Hauptcharakterzüge.
Er überwachte sorgfältig meine schulischen Fortschritte und
vergaß nie zu prüfen, ob ich alle meine Aufgaben gemachte
hatte … Als wir noch in Peine und später dann in Lodz
lebten, schickte er mich spazieren und verlangte danach einen
detaillierten Bericht von mir über die Eindrücke, die ich auf
der Straße gesammelt hatte.
186
Ich erinnerte mich an meine Schwester Bertha. Sie war ein
wunderschönes junges Mädchen, ihr Gesicht und ihr Körper
waren vollkommen. Sie brachte mir das Tanzen bei, und wir
tanzten zu Radiomusik Slowfox und Tango. Später kamen dann
andere Rhythmen. Wir hörten auch ausländische Sendungen
im Radio. Jedes Mal, wenn die Lokalzeitung ankündigte, daß
eine Rede Hitlers ausgestrahlt werden würde, herrschte bei
uns zu Hause bange Spannung. Hitler wußte hervorragend,
wie man die Leidenschaften und Gefühle der Bevölkerung
aufpeitschte, was uns stets einen panischen Schrecken verur-
sachte. In seinen Reden beglich er gewöhnlich seine Rechnun-
gen mit der ganzen Welt. Theatralisch sagte er Entbehrung,
Mangel und verheerende Zustände voraus, falls das deutsche
Volk nicht erwache und gegen den Versailler Vertrag zu Felde
ziehe. Ich habe noch heute sein Gebrüll im Ohr: »Wenn es
dem internationalen Finanzjudentum nochmals gelingen sol te,
unser Volk in einen Weltkrieg zu ziehen, damit es noch mehr
horten und profitieren kann, wird das die Ausrottung der jü-
dischen Rasse in Europa bedeuten.« Im Augenblick bemühte
er sich um die Verwirklichung seiner Vorhersage. Selbst in
den schlimmsten Alpträumen hätte ich mir nicht vorzustel en
vermocht, daß ich eines Tages gezwungen sein würde, einen
Eid auf ihn abzulegen und zu seiner Anhängerschar zu gehören.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter der Tür, vor der ich stand.
Fluchtartig verließ ich das Treppenhaus und verschwand auf
der Straße. Auf dem Weg schaute ich in den Hinterhof von
Aaron Goretski, wo wir Tischtennis gespielt hatten. Natür-
lich war keine Tischtennisplatte mehr vorhanden. Etwas in
mir weigerte sich einfach, die Tatsache anzuerkennen und
187
hinzunehmen, daß eine solche tief verwurzelte Welt im Hand-
umdrehen hatte ausgelöscht werden können, ohne daß ein
Überlebender, ein Zeuge unserer Existenz blieb. Ziellos irrte
ich durch die Straßen.
Das Viertel, in dem die Zakontnastraße lag, zog mich
magisch an. Ich ging jetzt in den freien Stunden zwischen
den Fahrten ins Ghetto regelmäßig dort spazieren. Die schok-
kierenden Bilder, die ich im Ghetto gesehen hatte, brannten
noch in mir, und der Kontrast zum unbeschwerten Leben
der anderen brach mir das Herz.
Gedankenversunken meinen Erinnerungen hingegeben wie
ich war, hätte ich beinahe ein anmutiges junges Mädchen
übersehen, das neben mir stehenblieb. Sie schaute erstaunt
meine schwarze Uniform an, ein verführerisches Lächeln
auf den Lippen. Ich hatte alles andere im Sinn als weltliche
Freuden oder romantische Begegnungen, wandte mich ihr aber
trotzdem zu und fragte sie nach dem Grund ihrer auffälligen
Neugier: »Sind Sie wirklich Mitglied der Hitlerjugend im
Reich?« fragte sie etwas schüchtern. »Ja, von Braunschweig,
ich komme aus Nord-Niedersachsen«, antwortete ich mit
deutlichem Stolz. Mein plötzlicher Hochmut und die Tat-
sache, daß ich mich vor diesem hübschen Mädchen in die
Brust werfen konnte, machten mir etwas warm ums Herz
und milderten meine Verlorenheit. Sie sprach Deutsch mit
slawischem Akzent. Ich hatte offensichtlich eine Volksdeutsche
vor mir. Ich freute mich darüber, daß sie mich angesprochen
hatte und lud sie ein, mit mir spazierenzugehen. Sie nahm
an, und wir gingen in der Richtung weiter, die ich zuvor
eingeschlagen hatte. Ich hatte wohl das Richtige gesagt, mei-
ne Gesprächspartnerin schien beeindruckt; ich selbst wurde
188
dadurch etwas von meinem wahren, dem erschütterten und
schmerzerfüllten Ich abgelenkt.
Meine neue Freundin schaute mich unentwegt bewundernd
an. Sie erzählte mir, sie stamme aus der Ukraine und sei im
Zuge der deutschen Umsiedlungspolitik mit ihrer Familie in
den Westen gekommen. Ihr Vater leiste irgendwo im Osten
seinen Wehrdienst, und sie wohne mit ihrer Mutter und ihrer
Schwester in einer neuen Wohnung, die man ihnen bei ihrer
Ankunft kostenlos zugeteilt habe. Ihren Worten zufolge war sie
noch nie im Reich gewesen, was aber ihr sehnlichster Wunsch
zu sein schien. Zwar hatte sie schon Wehrmachtssoldaten ge-
troffen, aber noch nie einen leibhaftigen Hitlerjungen wie mich.
Die jungen Volksdeutschen verehrten die Hitlerjugend und
hofften, daß sich die Bewegung bald auch in Lodz gründen
würde. Ihre Begeisterung war ehrlich, und es machte mir Spaß,
mich mit ihr zu unterhalten. Es berührte mich eigenartig,
daß das Schicksal ausgerechnet mich dazu ausersehen hatte,
die junge Elite des Führers zu repräsentieren, zu der ich wider
Willen gehörte. Um sie nicht zu enttäuschen und meine Rolle
eines Vertreters des Reiches überzeugend zu spielen, heuchelte
ich ebensogroße Begeisterung.
Ich freute mich, auf recht ungewöhnliche Weise eine junge
Seele getroffen zu haben, und war froh über die sich anbah-
nende Beziehung. Dies war eine kleine farbenprächtige Oase
inmitten der menschlichen Ödnis, die mich umgab, ein kleines
Fest inmitten des Dramas, das sich in den letzten Tagen vor
meinen Augen abgespielt hatte – und in gewisser Hinsicht
die Verdrängung der schaurigen Eindrücke, die in mir jede
Sensibilität und Hoffnung abzutöten drohten.
Wir setzten unser Gespräch fort, unterhielten uns fröhlich
189
und mit einem Anflug von Flirt. Ich hatte ein Bedürfnis
nach Freude, vielleicht weil mein Geist nach anderen Gefüh-
len lechzte, um das Grauen zu kompensieren, mit dem ich
konfrontiert worden war. Die tragischen Ereignisse und der
Anblick des Todes in diesen Ferien hatten meine Lebenslust
nicht gedämpft. War dies nicht ungeheuerlich?
Bei Einbruch der Nacht verabschiedete ich mich von dem
Mädchen und hastete in mein »Volkshotel«, die »Herberge zu
den vier Himmelsrichtungen«, den Bahnhof Kaliszki. Wir
hatten uns auf den folgenden Nachmittag verabredet, worüber
ich mich freute.
Ich hatte weiterhin nicht das Glück, auch nur einen ein-
zigen Blick auf meine Eltern werfen zu können. Jupp aber
hatte Erfolg, fast strahlenden Erfolg, ganz im Gegensatz zu
dem untröstlichen Sally, der im Leid ertrank.
Am nächsten Tag, nach der Durchquerung des Ghettos
in der Straßenbahn, begab ich mich zum vereinbarten Treff-
punkt. Das junge Mädchen war bereits da. Sie verhehlte nicht
ihre Freude, mich wiederzusehen. Wieder machten wir einen
langen Spaziergang bis zur Stadtgrenze. In einem günstigen
Augenblick fanden sich unsere Hände. Ich fühlte, wie mein
Blut schneller floß und ich wieder auflebte. Hände, die sich
ineinander verschränken, können unterschiedlich gedeutet
werden, sind Symbol für vieles. Diese sinnliche Berührung
hat sich mir tief eingeprägt und ist unvergessen.
Wir setzten unsere Unterhaltung vom Vortag fort, die ju-
gendliche Begeisterung läßt zwischen Fremden schnell eine
herzliche Beziehung entstehen. Die Welle der Symphatie, die
mir da entgegenflutete, rührte mich, obwohl es sich von vorn-
herein um ein Mißverständnis handelte. Hatte sie nicht gelernt,
190
den zu hassen, der ich in Wirklichkeit war? Und dennoch
besänftigten ihre Gefühle meinen Kummer.
Auf dem Rückweg erwartete mich eine Überraschung. Das
Mädchen überwand eine leichte Scheu, nahm all ihren Mut
zusammen und lud mich ein, die morgige Sylvesternacht bei
ihr zu Hause zu feiern. Zuerst antwortete ich ausweichend,
mir war nicht nach feiern zumute. Ich strebte aber auch nicht
nach Enthaltsamkeit. Folglich nahm ich ihre Einladung, die
mir wirklich herzlich erschien, an. Ich fragte nach der Adresse.
Und was soll ich sagen? Mein Erstaunen war grenzenlos, als
ich sie erwidern hörte: »Ich wohne ganz in der Nähe der Stel e,
wo ich dich angesprochen habe, in dem großen Eckhaus in
der Zakontnastraße 17.« Allmächtiger! Machten die Provoka-
tionen des Lebens denn vor nichts halt? In das Haus meiner
glücklichen, aber zerstörten Kindheit eingeladen zu werden!
Dort zu essen und zu trinken und zu tanzen, wenn mich
jede Fliese an Davids Lachen, Isaaks Liebe, Berthas Tangoun-
terricht und vor allem an meine geliebten Eltern erinnerte?!
Ich verheimlichte mir nicht, daß die Tatsache, daß ich feiern
gehen wollte, dem gesunden Menschenverstand widersprach.
Doch mein Wunsch, mich in einer Familie aufzuhalten und
meine Bitterkeit etwas in den Hintergrund zu drängen, gaben
den Ausschlag.
Mir war noch nicht mitgeteilt worden, in welchem Stock
und in welcher Wohnung ich mit dem Neuen Jahr 1944
verabredet war. Die Vorstellung, es könnte sich um unsere
beschlagnahmte Wohnung handeln, machte mich irre. Man
stieß mich auf meine konkrete Vergangenheit, und ich hatte
Furcht davor. Würde ich wie ein eingeladener, willkommener
Fremder auf den Dielen meiner Erinnerungen umhergehen?
191
Ohne es zu wissen, diente das Mädchen als Brücke zwi-
schen meiner Vergangenheit und mir. Sie ahnte nicht, welche
Bedeutung ihre Einladung, der ich entgegenfieberte, für mich
hatte. Ich hätte es mir nie verziehen, die Einladung zu dem
Fest abgelehnt zu haben, sol te sie doch zu einer außergewöhn-
lichen Reise in die Vergangenheit werden, zu einer Feier und
zu einer Trauerstunde.
Es würde eine Begegnung zwischen Jupp und Sally in all
ihrer Gegensätzlichkeit sein. Freude und Traurigkeit würden
in dem Haus aufeinanderprallen, das mir nicht mehr gehörte.
»In welchem Stockwerk wohnst du?« fragte ich. »Im zweiten,
rechte Tür, und vergiß nicht, zu kommen!« In meinem Kopf
ging al es durcheinander, und ich verstand nur mit Mühe. Also
würde der Empfang nicht in unserer Wohnung stattfinden,
sondern in der Etage über uns. Ich war enttäuscht. Ich könnte
unsere Wände nicht berühren, die noch die Küchendüfte
meiner Mutter ausströmten. Dagegen war ich in die Wohnung
unserer jüdischen Nachbarn eingeladen worden, deren Sohn
mit mir in die Klasse gegangen war. Wir hatten zusammen
Schulaufgaben gemacht. Jetzt befanden sie sich im Ghetto
oder in Auschwitz, und ich war bereit, bei ihnen zu Hause
zu feiern, unter Leuten, die vor kurzem von ihren Mördern
in ihre Wohnung gesetzt worden waren.
Die Wahrheit schwoll an und wollte explodieren.
Ich versuchte, Fassung zu bewahren und das Mädchen als
ahnungslose Partnerin in diesem dramatischen, verwirrenden
Spiel zu betrachten.
Als ich am nächsten Tag durch die Straßen schlenderte,
begegnete ich einer Menge Passanten, die eilig die letzten
Vorbereitungen zu diesem wichtigen Fest trafen. Ich schaute
192
sie unverhohlen an, als wollte ich ihnen sagen: »Heute bin
auch ich mit von der Partie. Heute abend werde ich nicht
zusammengekauert auf diesem verfluchten Bahnhof sitzen.«
Der stumme Dialog mit diesen Leuten ließ mich meine Ver-
lassenheit nicht ganz so heftig empfinden. Ich war in den
letzten Jahren eigensinnig geworden, und man konnte mir
nicht so leicht die Laune verderben.
Abends begab ich mich, wie aus dem Ei gepellt, zu dem
Empfang. Ich wollte nicht wissen, wer die anderen Gäste wa-
ren, ich vermutete, daß es sich um Verwandte oder Bekannte
handelte. Einer von ihnen war ein Wehrmachtssoldat, dessen
Einheit in der Umgebung stationiert war. Wir waren die beiden
einzigen waschechten Deutschen und als solche Ehrengäste.
Ich strotzte vor Selbstbewußtsein und Stolz.
Der Soldat und ich sprachen dieselbe Sprache. Ich verbarg,
daß ich selbst ein alter Fronthase und letztlich ein »eingemein-
deter« Volksdeutscher war. Ihm galt ich als richtiger Deutscher,
der aus Braunschweig stammte, und ein solcher wollte ich
in seinen Augen auch sein, jetzt und später. Er stieß saftige
Verwünschungen gegen die Russen aus, beklagte sich über ihre
Barbarei, weil sie Dumdum-Geschosse verwendeten und so die
Genfer Konvention brächen. Diese Geschosse drangen in den
Körper ein, explodierten im Körperinneren und verursachten
furchtbare Verletzungen. Er war am Schenkel getroffen wor-
den und erst nach Monaten wieder genesen. Deshalb befand
er sich augenblicklich im Hinterland in einer Flak-Einheit.
Trotz der sonst herrschenden Knappheit quoll das Buffet
von Lebensmitteln über. Es wurde reichlich Alkohol, Selbst-
gebrannter Schnaps und Landwein, und eine ganze Anzahl
von Gerichten serviert. Als Mitternacht näherrückte, stieg die
193
Stimmung. Meine Gastgeber besaßen ein altes Grammophon
und Platten.
Ich forderte meine Gastgeberin zum Tanzen auf. Al es sang,
tanzte, lachte Tränen. Auch ich. Doch ich weinte Tränen der
Trauer. Meine Bertha hatte mir den Tango beigebracht, den
ich jetzt tanzte. Ich schloß die Augen, drückte meine Partnerin
an mich und überließ mich der Flut der Erinnerungen. Sie
deutete diese Hingabe als Zuneigung, während ich mich in
den Schlingen quälender Erinnerungen verfing. Dank dieses
liebenswerten Mädchens konnte sich mein wahres Ich ablösen
und in die verbotene Vergangenheit gleiten, während meine
Fassade die angenehmen Gefühle und den Flirt genoß.
Der Tanz meiner Träume in meiner alten Welt wurde plötz-
lich unterbrochen. Bis zu dem mit soviel Spannung erwarteten
mitternächtlichen Glockenschlag waren es nur noch wenige
Minuten. Wir faßten einander unter und drehten feierlich
und jubelnd eine Ehrenrunde für Führer und Sieg. Ich auch.
Doch meine Wünsche richteten sich nicht auf denselben Sieg.
Ein Glück, daß Gedanken und Gefühle unsichtbar sind. Ich
behielt meine Stoßgebete für mich. Die Veranstaltung konnte
weitergehen.
Wie hätte ich ahnen können, daß mich das Geschick auf
diese Weise nochmals in mein Haus führen würde, vier Jahre,
nachdem ich es verlassen hatte, um in ihm einen Freuden- und
Tränenreigen zu tanzen! Ich »amüsierte« mich in der Wohnung
meiner Freunde und Nachbarn, während sie sich im Ghetto
befanden! Die Möbel, die dageblieben waren, schauten mich
stumm an.
Meine Zeit in Lodz ging langsam zu Ende. Mit äußerst
widersprüchlichen Gefühlen verließ ich diesen schicksalhaften
194
Ort. Ich wußte, ich hatte den Forderungen der Gegenwart
zu gehorchen und mein Dasein wie bisher weiterzuführen.
Die Fahrten, die ich noch durch das Ghetto unternahm,
brachten nur neue Enttäuschungen. Ich verlor alle Hoffnung,
ich war untröstlich. Jupps Freundin sah ich noch ein- oder
zweimal, dann nahmen wir Abschied. Ich sagte innerlich auch
dem seltsamen Straßenbahnfahrer Adieu, mit dem ich kein
einziges Wort gewechselt hatte, ich ließ ihn sich über meine
nervösen Hin- und Rückfahrten weiter wundern.
– In Israel saß unlängst bei einem Treffen von Juden aus
dem Ghetto in Lodz ein rüstiger, bemerkenswert vitaler Greis.
Im Laufe der Unterhaltung erzählte er mir, daß er gewöhnlich
in Schweden wohne, jedoch zweimal im Jahr nach Israel in
sein Haus nach Savyon fahre. Er hieß Binem Koppelmann.
Wir kamen auf die Shoa zu sprechen. Der Mann fing an, von
seinen Wanderungen zu erzählen, angefangen vom Ghetto in
Lodz bis zu seiner Ankunft in Auschwitz, wohin er mit den
letzten Transporten gekommen war. Er sprach ununterbrochen,
sprach leidenschaftlich und beachtete meine Fragen nicht. Es
gelang mir nicht, ihn zu unterbrechen. Mich hatte sein Beruf
stutzig gemacht. Er sei nämlich Straßenbahnfahrer gewesen,
sagte er. »Aber wie war es möglich«, fragte ich jetzt dazwischen,
»wie war es möglich, daß sich ein Jude außerhalb des Ghet-
tos bewegen durfte?« Seinen Worten nach war er der einzige
gewesen, der dieses Vorrecht genoß. In seiner Jugend hatte
er im Elektrogerätewerk AEG in Berlin gearbeitet, und als
er auf die Qualifikation verwies, die er dort erworben hatte,
hatten ihm die deutschen Behörden eine Sondererlaubnis zur
Führung der Straßenbahn ausgestellt.
Ich nutzte eine Pause in seinem Redeschwall und flocht
195
ein, daß auch ich das Ghetto in der Straßenbahn durchfah-
ren, mich aber damals unter einer Uniform der Hitlerjugend
verborgen hätte. Der Mann erschrak und verstummte. Er
runzelte erstaunt die Stirn. Ich spürte, wie seine Gedanken
zurückgingen, und er in seinem Gedächtnis kramte. Er schaute
mich lange an und murmelte dann zögernd: »Sie waren das
also? Waren Sie der Hitlerjunge, der jeden Tag hinter mir in
der Bahn stand? Ja, ich war der Fahrer. Ich hatte Angst vor
Ihnen und wagte nicht, nach einer Erklärung zu fragen. Es
war mir seltsam und ungewöhnlich vorgekommen. Aber nie
hätte ich gedacht, daß Sie Jude seien.«
»Und ich«, antwortete ich, »ich dachte, daß Sie Pole seien,
ein mißtrauischer Pole, der mir auf die Schliche kommen
wollte.«
Während uns beiden die Schweißperlen über das Gesicht
rannen, erzählte ich ihm meine Geschichte. Tatsache ist, daß
ich nach diesen zehn Ferientagen enttäuscht die Heimfahrt
in meine Schule antrat. Diesmal las ich keine Zeitung. Ich
setzte mich verwirrt irgendwohin. Ich war erschüttert, ich
wußte nicht mehr, zu welcher Gruppe ich gehörte, ich wußte
nicht mehr, wo ich mich aufgehalten hatte und was mich nun
erwartete, ich wußte nicht mehr, wo mein Zuhause war, wo
mein Vaterland, und wer ich wirklich war. Al e Möglichkeiten
flossen ineinander, meine Gedanken gingen in die Irre.
– Vor nicht allzulanger Zeit fragte mich eine Gymnasia-
stin, warum ich nicht versucht hätte, mich in das Ghetto
einzuschleichen und das Schicksal meiner Eltern zu teilen.
Ich habe geantwortet, daß man nicht vorhersehen könne, wo
das Todeskarussell, das sich unablässig über unseren Köpfen
drehe, anhalten werde. Ein innerer Mechanismus habe über
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meinen Weg entschieden. Ich hätte gefühlt, daß ich seinen
Befehlen gehorchen mußte. Bei meiner Rückkehr sah ich, daß
sich nichts geändert hatte. Der Himmel war nicht herabge-
fallen, und das Leben ging seinen Gang. Der Krieg trat in
sein fünftes Jahr, und alle glaubten felsenfest an den Endsieg.
Es gab ein fröhliches Wiedersehen mit meinen Kamera-
den, die beeindruckende Geschichten zu erzählen hatten. Ich
steuerte das Meine bei, soweit mir dies möglich war. Ich
umging alle peinlichen Fragen. Diesmal mußte ich mich sehr
anstrengen, um fiktive Abenteuer zu erfinden. Der Abgrund,
der die Realität von der Phantasiewelt trennte, war zu tief …
Die strenge Schuldisziplin und die gewohnte Umgebung
taten ihre Wirkung, und ich war bald wieder bei der Sache.
Im Unterricht wurde uns weiterhin die ruhmvolle Verän-
derung der Welt gepriesen, die wir im Begriff waren, herbei-
zuführen. Selbst die Errichtung eines Denkmals mit einer
Tafel, auf der die ersten, an der Front gefallenen ehemaligen
Internatsschüler geehrt wurden, konnte diese Geisteshaltung
nicht beeinflussen. Daß Mussolini von seinen Gegnern ge-
stürzt worden war und Italien nicht länger mehr Verbündeter
sein wollte, ließ sie kalt. Man erklärte uns, daß man sich
eines Verbündeten entledigt habe, der seit jeher ein unsicherer
Kantonist gewesen sei. Wir hatten den Eindruck, daß wir
auch alleine »durch das Schwert den Sieg erringen« könnten
… Auch das Attentat auf Hitler vermochte ihren glühenden
Eifer und ihre Glaubensgewißheit nicht zu erschüttern.
Wenige Tage später erschienen auf den Kinoleinwänden in
ganz Deutschland Bilder des verletzten Hitler, der von sei-
nen Getreuen umgeben war, von Männern, die bereit waren,
seinen wahnsinnigen Weg auch jetzt noch mitzugehen. Der
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Todesengel wütete weiter, und Millionen anderer Menschen
wurden der Vernichtung preisgegeben.
Wir wurden zu einer Versammlung zusammengetrommelt.
Man wollte uns über die Ereignisse aufklären. Der Bannführer
empörte sich über diese Verräterbande, die ihrer gerechten
Strafe nicht entgehen werde. Er schärfte uns ein, fest zum
Nationalsozialismus zu stehen, und wir schworen es mit er-
hobenem Arm und sangen die Nazihymne. Man zeigte uns
auch Auszüge aus einem Film, der bei der Verhandlung im
Volksgerichtshof gedreht worden war. Wir sahen die Verschwö-
rer, sahen, wie sie aus der Fassung gebracht und verurteilt
wurden. Ich erinnere mich einer Sequenz, in der der Gene-
raloberst von Witzleben, vor seinen Richtern stehend, seine
Hose mit der Hand festhalten mußte, weil man ihm den
Gürtel abgenommen hatte, und sie ihm herunterrutschte und
seine Unterhose entblößte, als ihm der Vorsitzende den Befehl
zum Strammstehen erteilt hatte. Das Saalpublikum fand dies
lustig und brach in Lachen aus.
Einige Angeklagte wurden an Fleischerhaken aufgehängt
– wie Schweine nach dem Schlachten.
Das Leben nahm wieder seinen gewohnten Rhythmus an.
Eines Tages, Ende Juli 1944, wurde ich in das Verwaltungsge-
bäude der HJ-Schule beordert. Dort teilte man mir mit, daß
die Aufforderung für mich eingetroffen sei, die besagte, daß
ich mir in einer bestimmten Dienststelle des Braunschweiger
Polizeipräsidiums einige Papiere zu beschaffen hätte.
Sofort verspannte ich mich, wurde hellwach. Ich wußte
nicht, worum es sich handelte, wußte aber, daß jede offiziel-
le Nachfrage meine ohnehin prekäre Lage noch gefährlicher
machte. In der Nacht schreckte ich mehrmals aus dem Schlaf
198
auf und verlor mich in Vermutungen, eine bedrohlicher und
entsetzlicher als die andere.
Am nächsten Tag machte ich mich nach dem Unterricht
mit den wenigen Papieren, die ich besaß, auf den Weg zu einer
weiteren möglichen Kreuzigung. Ich hoffte, daß sie, entdeckten
sie meine jüdische Abstammung, Mitleid mit mir zeigten und
mich nicht sofort töteten. Ich tröstete mich bei dem Gedanken,
daß sie mich vielleicht nach Lodz bringen würden, wo ich
meine Eltern Wiedersehen könnte. Sogar die Tatsache, mich
mit anderen Juden in einem Ghetto wiederzufinden, schien
mir weniger schlimm als meine ständige Einsamkeit.
Auf unsicheren Beinen betrat ich das Polizeigebäude; ich
hatte mich mit einer eventuellen Veränderung meiner Le-
bensumstände bereits abgefunden. Ich blieb kurz stehen, um
mich innerlich vorzubereiten und mir Haltung zu geben. Ich
klopfte an die Tür für »Innere Angelegenheiten, Abteilung
Deutsche Staatsangehörigkeit«. »Herein!« rief eine Stimme im
Raum. Aufrecht, kühn, bereit zu kämpfen, ging ich hinein.
Mir gegenüber saß ein Zivilbeamter mit Parteiabzeichen. Ich
reckte mich in die Höhe und schmetterte ein besonders zak-
kiges »Heil Hitler!«. Er antwortete mit einem kurzen Gruß
und bot mir einen Platz an. Betont höflich händigte ich ihm
meine Vorladung aus. Er machte ein langes »Hmm« und
begann, in einer neben ihm liegenden Akte zu blättern. Es
gelang mir, meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten
und mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Ich konnte
es nur dank eines Geschenks des Himmels und beharrlicher
Arbeit an mir. Die Minuten, die verstrichen, zerrten an mir,
doch der Beamte las in aller Ruhe in seinen Unterlagen und
sprach kein Wort. Plötzlich hob er den Kopf und fragte: »Aus
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welcher Gegend stammt der Name Perjell?« – »Aus Litauen,
aus dem Osten, Baltikum«, antwortete ich ohne zu zögern.
Ich erinnerte mich an den Namensexperten, den ich an der
Front in Minsk getroffen hatte. – »Stimmt, stimmt. Du hast
wahrscheinlich recht!« sagte er überzeugt. »Also wo ist deine
deutsche Abstammungsurkunde? Sie fehlt. Wir brauchen sie
zur Vervollständigung unserer Akte.«
Stolz holte ich die unschätzbare Verlustbescheinigung über
meine Ausweispapiere hervor und hielt sie ihm hin. Er nickte.
»Ja gut, diese Bescheinigung verdient allen Respekt. Aber zur
offiziellen Vervollständigung deiner Akte brauchen wir etwas
Amtliches. Du mußt dich unverzüglich an deine Heimat-
stadt Grodno wenden und eine Abschrift deiner deutschen
Abstammungsurkunde anfordern! Andernfalls müßten wir
zu den üblichen Maßnahmen greifen …«, sagte er lakonisch
und lächelte kalt. »Jawohl, ich werde noch heute einen Brief
nach Grodno schreiben, wie Sie wünschen!« antwortete ich
und überlegte hastig, welche andere Lösung sich anböte.
Während die Front bereits zusammenbrach und die Alli-
ierten in Frankreich ihr siegreiches Befreiungswerk fortsetz-
ten, brachten es diese Deutschen noch fertig, sich um die
Einsickerung artfremder Elemente in ihr Elitevolk Sorgen zu
machen! Wir tauschten noch ein paar Höflichkeitsfloskeln aus
und verabschiedeten uns mit dem üblichen Hitlergruß. Ich
sprang die Stufen hinab. Ich brauchte dringend frische Luft.
Ich atmete tief durch und fühlte mich besser. Dann blieb ich
ratlos stehen. Selbstverständlich würde ich nicht nach Grodno
schreiben, einfach weil dort kein Volksdeutscher namens Josef
Perjell geboren worden war.
Ich wunderte mich darüber, daß der Beamte nicht auf die
200
Idee gekommen war, selbst dorthin zu schreiben und dies
mir überlassen hatte. Daß ich einen Monat Zeit hatte und
mittlerweile irgendeine andere Lösung finden könnte, tröstete
mich. Ich hatte das Gefühl, frei zu sein, doch frei wie ein
zum Tode Verurteilter in einer Zelle ohne Gitterstäbe und
Türschloß.
In der HJ-Schule ließ ich mir meine düstere und sorgen-
volle Stimmung nicht anmerken. Ich beschloß, am nächsten
Sonntag der Familie Latsch einen Besuch abzustatten, um
mit Lenis Mutter über die drohenden Wolken zu sprechen,
die sich über mir zusammenzogen, und mir Rat zu holen.
Doch dazu kam es nicht mehr. Mein Schutzengel griff von
neuem ein. In der Nacht nach meinem Behördengang wurde
Braunschweig zum ersten Mal bombardiert. Bis dahin hatten
uns die alliierten Flugzeuge überflogen, ohne eine einzige
Bombe abzuwerfen. Die Luftangriffe galten Berlin. Daher war
der örtliche Luftschutz nicht besonders wachsam. Außerdem
bestärkte ein übrigens plausibles Gerücht die Bewohner in dem
Glauben, die Stadt werde verschont. Man erzählte, daß das
Haus Braunschweig mit der britischen Königsfamilie verwandt
sei und diese daher die Stadt ausgespart sehen wollte, um sie
unversehrt in Besitz nehmen zu können. Dieses Gerücht hielt
sich hartnäckig bis zu der Nacht, als Dutzende von Leucht-
raketen, sogenannte Weihnachtsbäume, den Himmel taghell
il uminierten und ein Bombenregen die Stadt in einen Schutt-
haufen verwandelte. Braunschweig brannte. Die Explosionen
hatten uns überrascht und lösten eine allgemeine Panik aus,
die größer war als diejenige in Grodno. Welch wankelmüti-
ges Schicksal! Wieder einmal war ich heftigen Luftangriffen
ausgesetzt, doch diesmal gereichten mir die Bomben zum
201
Vorteil. Schreckensschreie und sich widersprechende Befehle
ertönten und gingen im Bombenlärm der fliegenden Festun-
gen B17 unter.
Eine Ruine war nun auch das Gebäude mit der »Abteilung
Deutsche Staatsangehörigkeit«, in der meine Akte der Bestäti-
gung aus Grodno harrte. Das Haus wurde restlos zerstört, und
es wäre vergebliche Mühe gewesen, nach eventuel en Überbleib-
seln der Akte zu suchen. Alles war in Flammen aufgegangen.
Ich sandte dem Himmel ein Dankgebet für den anonymen
Piloten, der so trefflich gezielt hatte, bevor er seine Bombe
abwarf. Ich sagte mir: »Siehst du, Schloimele, jetzt werden sie
dir keinen Ärger mehr mit ihren Nachforschungen über deine
Abstammung machen!« Nach der Entwarnung rief man uns
zu den Trümmerkommandos. Wir hatten bereits Übung, da
wir in der Nachbarstadt Hannover, die häufig bombardiert
wurde, an solchen Hilfsaktionen teilgenommen hatten. Ich
zögerte nicht, mit meinen Kameraden hinauszugehen und
meine Pflicht zu erfüllen. Zumeist machten wir Kaffee und
belegte Brote und verteilen beides an den Straßenecken.
Ich bot aber auch all meine Kräfte und meinen ganzen
Mut auf, wenn es sich darum handelte, ein Menschleben zu
retten. Dies entsprach den Grundsätzen, nach denen mich
meine Eltern erzogen hatten. Für mich war ein Mensch ein
Mensch, gleichgültig, welchen Geschlechts, Alters oder welcher
Herkunft er war. Insofern geriet ich nicht in Gewissenskon-
flikte. Jeder unter den Trümmern seines Hauses begrabene
Verletzte hatte ein Recht auf meine Hilfe. Ich dachte weder
an sein vorheriges Verhalten, noch daran, was er mir zugefügt
hätte, wenn er erfahren hätte, wer ich war. Im übrigen muß
ich sagen, daß ich in diesen Momenten ganz Jupp war. Meine
202
äußere Erscheinung hatte die Herrschaft übernommen, ließ
mich umherhasten und bei den Rettungsarbeiten mit anpacken,
so wie es alle in meiner Umgebung taten.
In den drei Jahren, die ich in der nationalsozialistischen
Schule verbrachte, war ich unablässig bestrebt, in allen Fä-
chern zu den besten Schülern zu gehören, und es gelang mir
mühelos. Eine ungeheure Kraft trieb mich an. Ich ging ganz
im Lernen auf. Andererseits wußte ich mich allem fern zu
halten, was mich hätte deprimieren oder in emotionaler Hin-
sicht erschüttern können. So muß ich also zugeben, daß ich
bisweilen meine Vergangenheit vergaß.
Mein Leben ähnelte einer Uhr, deren Pendel an zwei Ex-
treme schlug; auf der einen Seite befand sich das vorläufige,
falsche und auferzwungene Leben, auf der anderen das echte,
tief verwurzelte, doch verborgene.
Mein Pendel schlug unregelmäßig. Meist blieb es an Jupps
Welt hängen. Dann schlug es für eine bestimmte Zeit zum
anderen Ende aus. Kam es von Salomon zurück, unterzog
es sich zuerst einer Gehirnwäsche, bevor es wieder zu Jupp
zurückschwang.
Ich hatte manchmal Mühe zu erkennen, in welcher Persön-
lichkeit ich mich gerade aufhielt. Mein Doppelleben brachte
mich selber durcheinander, und oft hätte ich nicht zu sagen
vermocht, welche Rol e ich lieber spielte. So war auch ich über
die Siege »unseres Vaterlandes, unseres großen Deutschlands«
hellauf begeistert. Ich hielt mich sogar meinen Kameraden
gegenüber mit Freudenbezeugungen nicht zurück, wenn be-
eindruckende Heldentaten bekanntgegeben wurden. Sieges-
meldungen nahm man begierig auf. Handelte es sich um
einen großen Erfolg, brach Jubel aus, und al e umarmten sich.
203
Auch mich ließ dieses überströmende Glück nicht kalt. Ich
strahlte mit ihnen über jeden Schritt, der uns dem »Endsieg«
näherbrachte. Ich verschwendete keinen Gedanken an mein
Hauptziel oder an meine Zukunft nach der »Endniederlage«
und geriet nicht in innere Konflikte. Es war keine wil entliche
oder aufgezwungene Resignation, es war ein verhältnismäßig
sicheres Mittel zu überleben oder über das nazistische Mör-
derregime zu triumphieren.
Oft wurde Luftgefahr 15 gemeldet, was hieß, daß feind-
liche Flugzeuge fünfzehn Flugminuten von Braunschweig
entfernt waren. Laut Vorschrift mußten wir sofort unsere
Beschäftigung abbrechen und in die Luftschutzkeller ei-
len. Wir gewöhnten uns schließlich an den Luftalarm, und
mehrmals wurden wir überflogen, ohne bombardiert zu
werden. Die Wachsamkeit ließ also nach. Gleichgültigkeit
und Nachlässigkeit machten sich breit. Es gab »Mutige«, die
beschlossen hatten, die Gefahr einfach zu ignorieren und in
ihren Wohnungen zu bleiben. Doch was geschehen mußte,
geschah. An einem schönen sonnigen Morgen kündigte der
Rundfunk einmal mehr Luftgefahr 15 an, und diesmal ex-
plodierten die Bomben und trafen unsere Wohnanlage. Alles
rannte wie von Sinnen zu den Luftschutzkellern. Während
dieser überstürzten Flucht kam einer meiner besten Freunde,
Björn Folvik, der zu der jungen Garde der norwegischen
Quislinge gehörte, ums Leben. Ich hatte gerade noch Zeit
gehabt, mich in Sicherheit zu bringen, und war über den
Tod meines Kameraden tief betrübt. Ich nahm ein Blatt
Papier und verfaßte spontan ein Gedicht zu Ehren meines
toten Freundes, das so anfing:
204
Nun liegt er tot auf dem Rasen
mit dem Gesicht nach oben
als wol t er sagen:
Für’s heilige Vaterland
vorwärts Kameraden!
Ich verhielt mich und sprach wie die anderen, ich war mit Leib
und Seele Mitglied dieser Gruppe, sowohl in der Erscheinung
als auch innerlich.
Heute sehe ich klar. Mein damaliges Verhalten spottete jeder
Logik, und es fällt schwer, es zu begreifen und zu beurteilen.
Dennoch war es so.
Eines Tages prallten die beiden Identitäten aufeinander
und brachten mich aus dem Gleichgewicht. Es passierte im
Rassenkundeunterricht. Der Lehrer rief mich auf und bat mich,
die Notwendigkeit der Vernichtung der jüdischen Rasse zu
erklären. Verdutzt und fassungslos ging ich zum Podest, um
zu antworten. Wut und Ekel tobten in mir, zugleich sammelte
ich all meine Überlebenskräfte. Nur der Satan konnte eine
derartige Frage stellen und von einem solch besonderen Schü-
ler wie mir die Antwort erwarten. Als Bester unter meinen
Kameraden zu gelten, verlangte mir viel ab. Doch in diesem
präzisen Fal mußte ich meinem verwirrten Geist neue Kräfte
abringen, deren Existenz mir bis dahin unbekannt war. Plötz-
lich stieß meine Vergangenheit mit der Gegenwart zusammen
und deckte das trostlose Paradox in seiner ganzen Schärfe auf.
Gerade ich sollte mich zu diesem Verbrechen äußern! Ich war
in einer entsetzlichen Verlegenheit, wußte aber, daß ich mich
für die Zeit der Antwort beherrschen mußte. Ich hatte wohl
einen unendlichen Selbsterhaltungstrieb. Unter innerlichen
205
Qualen erklärte ich dem rassistischen Lehrer, was ich wußte.
Kein äußeres Zeichen deutete auf den Sturm, der in mir heulte.
Ich hatte den Eindruck, daß ihn mein Wissen befriedigte, und
wahrscheinlich erhielt ich eine ausgezeichnete Note.
Trotz der sich von Tag zu Tag verschlechternden Lage an der
Front war die Stimmung in der Bevölkerung gut. Sie wurde
sogar noch besser dank der ermutigenden Gerüchte, die die
Deutschen in ihren Hoffnungen bestärkten. Man munkelte,
daß eine Geheimwaffe am Ende den Krieg für die Deutschen
entscheiden würde. Man tuschelte, daß es fünf Minuten vor
zwölf sei, daß der Führer bald den Daumen heben würde, um
das Signal zum Abwurf einer Waffe auf die Schlachtfelder zu
geben, deren Zerstörungskraft in der Militärgeschichte ein-
malig sei. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß Nazi-Deutschland
fieberhaft an der Atombombe gearbeitet hatte und kurz vor
deren Herstellung stand.
In der HJ-Schule herrschte eine eigenartige Gleichgültigkeit,
trotz der veränderten Frontlage. Am 6. Juli 1944 entstand
mit der Landung der Alliierten in der Normandie eine zweite
Front. Gleichzeitig erzielte der große russische Durchbruch
entscheidende Siege. Die Sowjetarmee befreite die von den
Nazis eroberten Gebiete, marschierte über die polnische Grenze
und fügte der Wehrmacht schwere Verluste zu.
Der Krieg war faktisch entschieden. Währenddessen pfleg-
ten wir in der Schule unsere Großmachtsträume. Auch mich
machte die veränderte Lage nicht wankend. Ich war tief in
diese mir aufgezwungene Welt verstrickt, und die Dinge hatten
meinen Verstand endgültig betäubt. Mein Bewußtsein war
so umnebelt, daß kein Lichtstrahl der Realität eindrang. Ich
fühlte mich weiterhin wie »einer von ihnen«. Unerbittlich hieß
206
ich die abenteuerlichen und gefährlichen Maßnahmen der
letzten deutschen Anstrengungen gut. Ich sorgte mich nicht
mehr um mein Schicksal nach der Niederlage der Wehrmacht.
Als das Reich schon in Todeszuckungen lag, nahm ich, wie
gewöhnlich, an den verzweifelten Rettungsversuchen teil. Wir
schlossen uns dem Volkssturm an, der »spontanen« Truppe
aus Kindern, Hitlerjungen, Frauen, Greisen … aus all jenen,
die noch eine Waffe halten konnten, um die Grenzen des
Vaterlandes gegen den anrückenden Feind zu verteidigen.
Anfang 1945 wurden wir in den Wäldern um Braunschweig
an einer neuen Panzerabwehrwaffe, der Panzerfaust ausgebil-
det. Endlich bekamen wir eine Waffe in die Hand. Meine
Kameraden hielten sich schon für alte Kämpfer … Die Waffe
war einfach und wirksam, aber ihre Handhabung gefährlich.
Drückte man auf den Abzug und feuerte die Panzerfaust ab,
schoß hinten eine lange Flamme heraus. Mehrere Kameraden
erlitten dabei schwere Verbrennungen.
Man stel te eine Kompanie zusammen und schickte uns an
die Westfront. Meine Erfahrung brachte mir die Ernennung
zum Zugführer ein. Wir hatten Straßenbrücken zu überwachen
und sollten die Wehrmacht bei der Zerstörung feindlicher
Panzer unterstützen. Die Zeitungen veröffentlichten Fotos,
auf denen Hitler im Volkssturm kämpfende Hitlerjungen mit
der Tapferkeitsmedaille auszeichnete. Die junge Wikinger-
Generation konnte doch nicht zulassen, daß Fremde in ihr
geliebtes Vaterland eindrangen. Auf dem Weg zur Front hatten
wir starke Truppenbewegungen in der Gegenrichtung festge-
stellt. Da hörte ich zum ersten Mal die pikante Bemerkung
einiger »Waffenbrüder«: »Die da hauen ab und gehen nach
Hause. Für die ist der Krieg vorbei.«
207
Aber warum kroch ich nicht aus meiner Schale heraus bei
dem neuen Wind, der wehte? Trübsinnig blieb ich hocken,
verwirrt und ohnmächtig. Ich weiß nicht, welche seelische
Verfassung mich damals gehindert hat, aufzustehen und das
Weite zu suchen. Die Front war ziemlich weit entfernt, aber
man hörte deutlich den Kampflärm. Meine Stunde der Wahr-
heit hatte geschlagen.
Trotz meiner Verblendung hatte ich nicht vor, auch nur
eine einzige Granate auf einen »feindlichen« Panzer zu werfen.
Ich hatte nicht vergessen, daß nicht sie meine Feinde waren.
Endlich wollte ich sie sehen, um ihnen zu bedeuten, daß
sie willkommen seien. Tief aus meinem Innern stieg die so
lange betäubte Hoffnung wieder auf, zwar leuchtete sie noch
schwach, war aber stark genug, um allmählich die Nebel der
letzten Jahre aufzulösen, dieselben Nebel, die mit unerschüt-
terlicher Zuverlässigkeit meine wahre Herkunft eingehül t und
geschützt hatten.
Mein Erwachen erfolgte nicht blitzartig. Die ständige An-
spannung des Kampfes um mein Leben, unter der ich seit
Jahren stand, ließ nicht auf einen Schlag nach, sie dauerte an,
verminderte sich indes nach und nach. Ich konnte die Haut
des Feindes, in der ich überlebt hatte und die meine eigene
geworden war, nicht so ohne weiteres wieder abstreifen.
Der 21. April 1945 war der erste Tag meines zwanzigsten
Lebensjahres. Einer der mit mir in Stellung liegenden Kame-
raden gratulierte mir zum Geburtstag.
Sechs Jahre waren seit meinem Aufbruch in dieses aber-
witzige Leben vergangen, in vieren davon war ich meines Ichs
beraubt und ein anderer geworden.
Am Tag zuvor hatte der Führer Geburtstag. Wir hörten
208
Joseph Goebbels’ alljährlich wiederkehrende Ansprache an
das deutsche Volk, in der, wie immer an diesem Tag, Hitler
und ganz Deutschland gefeiert wurden. Ich erinnere mich gut
seiner letzten Sätze. Mit deutlich veränderter Stimme hatte
Goebbels erklärt: »Wenn wir Deutschen den Krieg verlieren
sollten, ist die Göttin der Gerechtigkeit eine Hure des Geldes,
und dann sind wir Deutschen nicht mehr würdig, auf dieser
Welt weiterzuleben.«
In derselben Nacht, zwischen dem Geburtstag des geschla-
genen Führers und meinem zwanzigsten Geburtstag, ereigneten
sich große Dinge. Das Kriegsende kündigte sich an!
Der Vorhang fiel. Ich hatte die Rol e, die mich das Schicksal
auf der Bühne meines Lebens erfolgreich zu spielen gezwungen
hatte, ausgespielt! Ein anderer Vorhang wurde hochgezogen:
Die Selbstverleugnung und Isolation des jungen Juden Salo-
mon, Sohn des Israel, war zu Ende.
Ich erhielt das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich mir
und das sich wohl die ganze Welt vorstellen konnte!
In dieser entscheidenden Nacht wurde mein leichter Schlaf
durch gebrüllte Befehle in einer fremden Sprache und von
schmerzhaften Schlägen mit einem Gewehrkolben unterbrochen.
Meine schweren Lider konnten nur mit Mühe der gewalttä-
tigen Aufforderung nachkommen. Ich wurde nicht gewahr,
daß dies ein Erwachen nach einer ewigen Nacht war, in der
meine Seele in der Verbannung gelebt hatte, und daß sich
meine Augen nun dem Licht der Wahrheit und der Freiheit
öffnen würden.
Die amerikanische Armee nahm unser Lager im Sturm
ein, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen. Dann
erschien plötzlich eine kleine Einheit und befahl uns, uns an
209
der Wand aufzustellen. Die Männer beschlagnahmten alle
Waffen und die gesamte Ausrüstung, die wir noch besaßen,
und schichteten sie im Freien zu einem großen Haufen auf.
Ich sah, wie mein Fotoapparat aus meinem Beutel gerissen
wurde und in den Besitz eines amerikanischen Soldaten
überging. Ich wagte nicht zu protestieren oder eine andere
Reaktion zu zeigen.
»Nazis an die Wand!« brüllten sie, bis auch noch der
letzte von uns mit über dem Kopf gekreuzten Armen in
der Reihe stand. Ich stellte mich mit den anderen mit dem
Rücken an die Wand und sah einer neuen, unbekannten
Realität entgegen. Es war wie eine Sinnestäuschung. Neben
mir hörte ich es flüstern, daß man uns erschießen würde.
Siegestrunkene Soldaten, denen die Kriegsgreuel noch in
frischer Erinnerung waren, konnte der Rachedurst leicht zu
Übergriffen hinreißen.
Auf diese Weise sah ich mich also von neuem »feindlichen«
Soldaten gegenüber, wie vier Jahre zuvor auf einem Feld bei
Minsk.
Warum aber hatte ich damals vor dem deutschen Wachpo-
sten all meinen Mut zusammenzunehmen gewußt und erklärt:
»Ich bin Volksdeutscher!« Und jetzt war ich wie gelähmt, un-
fähig zu schreien: »Nicht schießen! Ich gehöre nicht dazu, ich
bin Jude, es ist wahr!« Da stand ich und sagte keinen Ton.
Ich steckte in meiner dicken und starken Hitlerschale und
konnte nicht heraus.
Welcher Zynismus wäre es, dachte ich, an meinem Geburts-
tag von den Befreiern erschossen zu werden, und das in dem
Augenblick, da die Freiheitsglocken schon erklangen! Mein
verschlungener Lebensweg würde für immer dem Vergessen
210
anheimfal en. Ich wol te ja schreien, aber ich hatte Angst. Die
Worte wollten einfach nicht kommen. Ich hatte einen Schock
erlitten und fand keinen Ausweg.
Glücklicherweise war von Erschießung keine Rede. Den
amerikanischen Soldaten war es auch nicht eingefallen, sich
an uns zu rächen. Sie sahen in uns irregeleitete Kinder und
hatten uns nur erschrecken wollen.
Eine lange Stunde standen wir vor den drohenden Ge-
wehrläufen, bis die Untersuchungen und Beschlagnahmun-
gen beendet waren. Die meisten Soldaten gingen. Eine kleine
Gruppe blieb zu unserer Bewachung zurück.
Man befahl uns, alle Naziabzeichen abzulegen, die fort-
an von den Alliierten verboten wurden. Rasch warf ich alle
Sportabzeichen, die ich angehäuft hatte, und das Koppel der
Hitlerjugend weg. Ich stieß sie weit von mir.
Wer war ich jetzt? Ich schwebte über fremden, unbestimmten
Gebieten, hatte keinen festen Boden unter den Füßen und
kein Haus, in das ich hätte zurückkehren können. Meine
wahre Identität war mir noch unbekannt. Es gab sie zu jener
Stunde noch nicht. Die Freiheit war unbegreifbar. Ich hatte
vergessen, wie sie aussah.
Am folgenden Tag wurden wir aus dieser kurzen Gefangen-
schaft entlassen. Wir zerstoben in al e Winde, jeder ging seiner
Wege, schloß sich den zahllos umherirrenden Flüchtlingen an,
die ihre versprengten Familien wiederzufinden hofften. Ich
hatte noch niemandem gesagt, daß ich Jude sei. Ich wollte
mich nach Braunschweig zu meiner Schule durchschlagen, um
dort meine Sachen zu holen und mich zu sammeln. Ich wol te
mit mir selbst zu Rate gehen, begreifen, daß die dunklen Jahre
der Tarnung nun vorüber waren, und mich an das Licht einer
211
neuen Welt gewöhnen. In völlig verwirrtem Zustand machte
ich mich auf zu meinem neuen Leben. Ich beschaffte mir
ein Fahrrad und legte die Entfernungen auf den Autostraßen
zurück. Tausende irrten umher, Flüchtlinge, die ihren Weg
suchten, besiegte und niedergeschlagene Wehrmachtssoldaten,
ausgezehrt von den Strapazen. Und dazwischen überall die
Alliierten, die Sieger. Ein Menschenwirrwarr auf Fahrzeugen
jeder Art wie behelfsmäßigen Karren und Fahrrädern oder
auf Schusters Rappen …
Und ich, wo sollte ich beginnen? Wie würde meine Zu-
kunft aussehen, und wie würde sie sich mit dem Vergangenen
verbinden? Würde ich mein zerborstenes Ich wieder herstellen
können? Könnte meine zerstörte Existenzgrundlage wieder heil
werden? Wäre es möglich, auf schwankendem Fundament ein
neues Leben aufzubauen? Natürlich hatte ich mich meiner
geliehenen Identität entledigt, aber noch fand ich meine wahre
nicht. Ich radelte im Niemandsland. Etwas war zu Ende, aber
etwas Neues begann nicht.
In einem Straßengraben machte ich Rast. Ich holte Ver-
pflegung aus meinem Beutel, die man an der Front noch
ausgeteilt hatte und die ich mir aufgespart hatte. Während
ich aß, betrachtete ich die in verschiedenen Richtungen vor-
beiziehenden Deutschen. Ich beobachtete die Gefangenen, die
man unter scharfer Bewachung zu den Sammel- und Vertei-
lungsstellen beförderte. Das Blatt hatte sich gewendet. Die
stolzen »Herrenmenschen« mit der unumschränkten Macht
schienen seit gestern am Ende zu sein.
Als ich mich Braunschweig näherte, erfuhr ich, daß die Stadt
gefallen war und ihre Bewohner zum Zeichen der Übergabe
weiße Fahnen an ihre Fenster hatten hängen müssen. Ich trat
212
mit neuer Kraft in die Pedale und kam müde und keuchend in
der eroberten Stadt an. Auf den Gebäuden wehten tatsächlich
weiße Fahnen, und an den Mauern klebten riesige Plakate.
Sie stammten von der amerikanischen Besatzungsmacht, die
klar und unzweideutig bekanntmachte, daß jeder Bürger im
Besitz einer Waffe oder von Nazizeichen und jeder, der die
Ausgangssperre mißachte, erschossen werde.
Ich beeilte mich, in meine ehemalige Schule zu kommen,
da die Stunde der Ausgangssperre näherrückte. An der Hek-
ke, die um das Internat wuchs, sah ich eine Menschmenge
stehen. Ich begriff, daß es sich um die Arbeiter handelte, die
man zur Arbeit im Volkswagenwerk aus dem Osten geholt
hatte und die nun befreit worden waren. Sie waren aus ihren
winzigen, stacheldrahtbewehrten Baracken aus- und in unsere
geräumigen Zimmer eingezogen. Ich konnte nun nicht mehr
dorthin zurück, um meine Sachen zu holen. Da ich keine
Wahl hatte, fiel mir das ehemalige Lager der Zwangsarbeiter
ein. Es war nicht weit, und es gelang mir, wenige Minuten
vor dem Beginn der Ausgangssperre durch den immer noch
vorhandenen Stacheldrahtzaun zu schlüpfen und in eine der
Baracken zu verschwinden. Dort ließ ich mich auf eine Prit-
sche fallen. Ich war allein auf dem Gelände, allein mit der
Vergangenheit.
Ich spürte, daß jetzt keine schützende Hand mehr über
mich wachte. Die Einsamkeit war eine ganz andere, wenn auch
nicht leichter zu ertragen. Ich hatte die Besiegten verlassen,
gehörte aber nicht zu den Siegern. Eine bittere und eigenartige
Lage. Ich fühlte, daß etwas Wichtiges in mir schmolz und
Tropfen um Tropfen versickerte. Meine geschärften Sinne, die
Fähigkeit, sofort auf alles eine Antwort zu haben und mein
213
starker Wille waren nicht mehr vorhanden. Sie hatten ihre
Funktion erfüllt. Dabei fühlte ich, daß ich sie jetzt nötiger
denn je brauchte.
Der Abend dämmerte, ich aß etwas von meiner eisernen
Reserve aus meinem Rucksack und schlief, in mich verknäult,
sofort ein. Mein tiefer Schlaf war eine Flucht, ein Abtauchen,
ein Mittel, die Konfrontation mit der Zukunft zu verschieben.
Ich brauchte eine Genesungszeit.
Traurig und widerwillig hatte ich damals meine Wehr-
machtseinheit verlassen, und jetzt, nach drei Jahren als Hit-
lerjunge in äußerlicher Normalität, aber ständigem Kampf
ums Überleben verspürte ich erstmals große Müdigkeit. Dabei
mußte ich doch gerade völlig neu beginnen, mich in einem
völ ig anderen Leben zurechtfinden. Ich wurde wieder zu einem
einzelnen, vom Baum abgerissenen Blatt, das der Sturmwind
forttrug, richtungslos, nicht wissend, wo und wann es auf
der Erde landen würde. Ich war erschöpft und verzagt. Mein
Tiefschlaf war der einzige Ausweg.
Aber ich hatte noch einen Funken Hoffnung. Die Über-
zeugung, daß sich auch in Zukunft alles irgendwie richten
würde, war nicht ganz geschwunden und genügte, daß ich
am Morgen aufstand, um den neuen Tag zu begrüßen und
einen neuen Anfang zu machen.
Ich erinnerte mich an eine Braunschweiger Freundin, die
in der Nähe wohnte. Wir waren früher manchmal zusammen
ausgegangen, und ich beschloß, sie aufzusuchen. Ich stieg
die Holztreppe ihres Hauses empor und klopfte an die Tür.
Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und sie
vorsichtig den Kopf heraussteckte. Sie freute sich, mich zu
sehen, fragte, wie es mir ginge, und entschuldigte sich, mich
214
nicht hereinbitten zu können, da sie Besuch von einem Freund
habe. Sie forderte mich auf, nachmittags wiederzukommen.
Durch die halboffene Tür sah ich eine nachlässig auf einen
Stuhl geworfene Uniform. Ich verstand, daß es ihr peinlich
war und ging sofort wieder. Ich war erstaunt und konsterniert:
Du? Und so schnell?
Ich nahm mir vor, nachmittags Frau Latsch und ihre Tochter
Leni zu besuchen. Einstweilen kehrte ich in meine Unterkunft,
das verlassene Arbeiterlager zurück. Auf dem weiten Gelände
traf ich auf einige Polen und Russen. Einer sagte zu seinen
Begleitern: »Sieh dir diesen Deutschen an, der hier herum-
streicht!« Drohend und Beschimpfungen ausstoßend kamen
sie näher. Ich versuchte, ihnen auf russisch verständlich zu
machen, daß sie sich täuschten, ich kein Deutscher, sondern
Jude sei. Wie aber sollten und konnten sie das glauben, wo
ich, Sally, doch immer noch in Jupps Uniform herumlief? Sie
verprügelten mich, obwohl ich schrie: »Ich bin Jude!« Schließ-
lich konnte ich davonlaufen.
Im Stadtzentrum wol te ich mich stärken und auf dem Rat-
haus die Lebensmittelkarten abholen, die mir zustanden. Die
Hauptstraße, in der sich die Behörden befanden, war vol er Pas-
santen. Ich konnte mir kaum einen Weg bahnen. Plötzlich blieb
mein Blick an einem Mann hängen. Er wirkte völ ig abgezehrt,
sein Kopf war rasiert, und er trug einen Sträflingsanzug. Ich
ging näher an ihn heran. Auf seiner Brust hatte er ein farbiges
Dreieck mit einer Nummer aufgenäht, darunter das Wort Jude.
Ich schaute ihn an und setzte meinen Weg fort. Nach ein paar
Schritten blieb ich stehen. Da hatte Jude gestanden. Konnte
das stimmen? Es gab mir einen Stich: War denn noch ein Jude
Übriggeblieben? Außer mir kannte ich keinen.
215
Der Funke meiner Herkunft, der nie erloschen, sondern
nur von einem eisernen Panzer überdeckt war, flammte auf
und steckte mich in Brand. Ich machte rasch kehrt und holte
im Laufschritt den Mann ein. Ich baute mich vor ihm auf
und schaute ihn mit funkelnden Augen an, als wäre er eine
übersinnliche Erscheinung.
Mit einer unglaublichen Naivität fragte ich ihn: »Entschul-
digen Sie, mein Herr, sind Sie wirklich Jude?« Er richtete
einen freudlosen Blick auf mich. Natürlich konnte er sich
nicht vorstellen, daß ich ebenfalls Jude war. Ich trug noch
meine Uniform. Die dunklen Flecke auf dem fadenscheinig
gewordenen Stoff ließen keinen Zweifel daran, daß hier vor
kurzem noch die verfluchten und gefährlichen Abzeichen ge-
steckt hatten.
Ich hätte ihn schütteln mögen, um ihn von meiner Auf-
richtigkeit zu überzeugen. Aus dem hintersten Winkel meines
Gedächtnisses, aus einer dunklen Gehirnzelle holte ich die
schönsten und feierlichsten Worte, die ich fand, und sagte
zu ihm: Schma Israel, »Höre Israel«!
Ich fühlte, daß er mir glaubte. Ich umarmte ihn und flü-
sterte ihm ins Ohr: »Ich bin auch Jude. Ich heiße Salomon
Perel.«
Dies war der entscheidende Augenblick. Ich fühlte plötzlich,
wie eine Veränderung in mir vorging. Die fremde, aufge-
zwungene Welt versank im Abgrund. Ich war am Ziel. Ich
legte meinen Kopf auf seine Schulter … und weinte. Endlich
flossen die Freudentränen, in denen auch Dank mitfloß, und
ich schöpfte neue Kraft. Er ließ sich von meinen Gefühlen
mitreißen, und seine Augen leuchteten ebenso wie die meinen.
Dieser treue Mann, der mir soviel bedeutete, hieß Manfred
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Frenkel, ein Braunschweiger Jude. Er kam aus Auschwitz,
wohin er aus dem Ghetto in Lodz transportiert worden war.
»Sie waren also auch im Ghetto in Lodz?« fragte ich ihn
sofort. »Haben Sie dort viel eicht eine Familie Perel getroffen?«
»Ja«, antwortete er schlicht. Die Antwort genügte mir nicht.
»Ich habe eine Zeitlang auf einem Güterbahnhof bei Lodz
gearbeitet. In meinem Arbeitskommando war ein Jude namens
David Perel.«
»Aber das ist mein Bruder!« schrie ich auf. Ich fühlte, daß
dies der erste Meilenstein auf dem Weg war, der mich zu
meiner Familie führen würde. Aber er kannte keine weiteren
Einzelheiten. Ich begleitete ihn ein Stückchen. Er war derjenige,
der mir zum ersten Mal von diesem Schreckensort Auschwitz
erzählte, von den Gaskammern, den Verbrennungsöfen, den
Greueln.
Ich war sprachlos. Vier Jahre lang hatte ich unter ihnen
gelebt und nichts erfahren. Wie habe ich mir verhehlen können,
daß sie das, was sie uns im Unterricht über die Vernichtung
»dieses Volkes von Schmarotzern und Blutsaugern« beibrachten,
vor Ort auch auf grauenhafte Weise wahrmachen würden?
Wußten es meine deutschen Kameraden von ihren Eltern,
sprachen aber nur nicht darüber? Gab es eine stillschweigen-
de Übereinkunft? Hatten unsere Lehrer Kenntnis von den
Geschehnissen in Auschwitz? Sprachen sie aus persönlichen
Motiven nicht im Unterricht darüber? Die theoretische Pro-
vokation beherrschten sie ja perfekt.
Während jener Jahre hatte ich oft zahlreiche Arbeiter auf
den Straßen der Stadt getroffen. Sie trugen Zivilkleidung, und
aufgesetzte Flicken zeigten ihre Herkunft an und unterschie-
den sie von der örtlichen Bevölkerung. Ich sah regelmäßig die
217
Wochenschauen im Kino, aber nicht ein einziges Mal waren
Leute in Sträflingskleidung darin vorgekommen. Man darf
vermuten, daß die Mehrzahl der Deutschen im Dritten Reich
das Ausmaß der Vernichtung ahnte, niemals jedoch wurde
das Thema in einem Gespräch, bei dem ich zugegen war,
angeschnitten. Während all der Jahre, die ich unter ihnen
als ihresgleichen verbrachte, habe ich nie das leiseste Gerücht
oder die geringste Andeutung über den Völkermord gehört.
Im Rundfunk, in den Zeitungen wurde die »Endlösung« nie-
mals erwähnt. Oder waren meine Augen und Ohren dafür
geschlossen, hatte ich mich so vereinnahmen lassen?
Im Gegensatz zu dem Schweigen, das man über die Ver-
nichtung breitete, machte Goebbels’ Propaganda viel Lärm
um die Entdeckung eines Massengrabs von polnischen Of-
fizieren bei Katyn. »Wie kann die Welt über dieses von den
Bolschewiken angerichtete Gemetzel einfach hinwegsehen?«
fragten die Mörder von Millionen von Menschen zynisch.
Von ihren eigenen Verbrechen war nie die Rede. Erst Manfred
Frenkel öffnete mir die Augen. Im ideologischen Treibhaus der
HJ-Schule lernte ich zwar Rassentheorie, doch mein Gehirn
weigerte sich, eine Verbindung herzustellen oder zu erkennen,
daß diese Theorie zur selben Zeit in den verschiedenen To-
deslagern bereits zur Anwendung kam.
Der tiefe Schmerz, den ich empfand, ist seither mein stän-
diger Begleiter. Wie hatte ich das nur nicht begreifen können,
als ich so oft durch das Ghetto von Lodz fuhr, daß diese
Menschen dort nicht bleiben würden, sondern ein Kettenglied
in den Transporten zu der Vernichtung darstellten!
Blicke ich heute zurück, fällt mir auf, daß ich damals nur
Erwachsene, aber kein einziges Kind im Ghetto gesehen hatte.
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Diese Tatsache hatte mich nicht sonderlich beunruhigt, ich
hatte mich nicht gefragt, was dies zu bedeuten habe.
Das System, in das ich verwickelt war, schärfte zwar ei-
nerseits meine Sinne, andererseits aber betäubte es sie. In den
Nächten, die ich nur halb schlafend in dem aufgelassenen
Barackenlager verbrachte, fühlte ich mich tief deprimiert. Die
Gesichter aller Befreiten strahlten, wußten sie doch, daß sie
in wenigen Wochen in ihr Heimatland, in ihre Städte und
Dörfer zurückgeführt werden würden, wo sie Haus und Herd
wiederfänden und ihr normales Leben wieder aufnehmen könn-
ten. Und ich, ich hatte keinen Ort, an den ich hätte gehen
können. Alles war zerstört.
Ich erinnerte mich an die Hymne Hatikwa, die Hymne
der Hoffnung, die ich in der Gordonia in Lodz gelernt hatte,
und sang sie ab und zu vor mich hin. Sie tröstete mich.
Eines Tages hörte ich Stimmen aus der Nebenbaracke. Ich
schlich mich heran und sah zwei sowjetische Mädchen, die
sich über eine Pritsche beugten. Sie kümmerten sich um einen
russischen Arbeiter, der in seiner Trinklust riesige Mengen von
Methylalkohol in sich hineingeschüttet hatte. Seine Eingeweide
brannten ihm wie Feuer, und er hatte das Augenlicht verloren.
Der arme Mann tat mir leid. Er hatte einen schrecklichen
Preis für den Rausch der Befreiung bezahlt.
Mit einem der Mädchen hatte ich mich heimlich be-
freundet, als ich noch in den Werkstätten des Volkswagen-
werkes arbeitete und die Abzeichen eines Scharführers der
Hitlerjugend auf meiner Brust funkelten. Mehr als einmal
hatte ich mich mit ihr trotz des Verbotes in ihrer Sprache
unterhalten. Diese Beziehung hatte mir damals viel Freude
gemacht. Jetzt war alles erlaubt. Wir klärten rasch, was über
219
die Vergangenheit zu sagen war, und begegneten einander
herzlich und aufrichtig. Sie war von einer beeindruckenden
slawischen Schönheit.
Seit all den Jahren verwahre ich sorgsam die Adresse und
das Photo, das sie mir zum Andenken gab. Ich hatte mir
vorgenommen, sie zu besuchen, sobald die politischen Bezie-
hungen zwischen Israel und der Sowjetunion dies zuließen.
Ich wollte in die Gegend von Tewlinski fahren und in dem
Sowchos Karl Marx nach der Genossin Tschaika Gallina Ja-
kowna fragen. Als Josef Perjell, der Deutsche, hatte ich mich
von ihr verabschiedet, und als der Augenblick gekommen war,
ihr die Wahrheit zu sagen … Ja, da hatte ich mein Geheimnis
für mich behalten! Ich weiß bis heute nicht, warum.
Ich schaute auf einen Sprung bei der Familie Latsch vorbei,
und es kam zu jener letzten Begegnung mit Leni, die mein
Geheimnis bereits von ihrer Mutter erfahren hatte. Wir waren
fröhlich, gingen noch einmal zusammen aus und verabschie-
deten uns dann. Für unsere Freundschaft, die Freundschaft
zwischen einem BDM-Mädchen und einem Hitlerjungen, war
die Zeit abgelaufen. Mit ihrer Mutter korrespondierte ich
mehrere Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Leni wurde Ballett-
tänzerin und heiratete unseren gemeinsamen Freund Ernst
Martins, der für die Gestapo gearbeitet hatte. Sie wanderten
nach Kanada aus.
Es kam der Tag, an dem ich Braunschweig verließ. Doch
neben den schweren Dingen gab es auch fröhliche Ereignisse,
und so blieb ich der Stadt gegenüber gespalten. Ich verließ
die geheime Kampfarena als Sieger. Weder die schmerzlichen
Erfahrungen noch die angenehmen Momente werde ich ver-
gessen. Ich habe sie kunterbunt durcheinander im Gedächtnis
220
behalten. Ich ließ Braunschweig bewegt hinter mir und wandte
mich einer künftigen Welt vol er Träume und Hoffnungen zu.
Ich fuhr nach Peine, doch diesmal als freier Mensch. Ich
wol te mir einen Ausweis mit meinem wahren Namen besorgen.
Ich begab mich auf das Rathaus, um mir einen Auszug aus
dem Geburtenregister zu holen. Dort wurde meinem Ersu-
chen mit distanzierter Höflichkeit entsprochen, und das Papier
wurde unverzüglich ausgestellt. Man befreite mich sogar von
der Gebührenpflicht …
Bei den Beamten stieß ich hier und da auf ein gezwun-
genes Lächeln. Natürlich erinnerten sie sich an die Familie
Perel, wagten aber nicht zu fragen, was aus ihr geworden sei.
Maseltov, Glückwunsch, Sally Perel war wiedergeboren!
Allein und von meiner Welt getrennt, hatte ich meinen
Krieg ums Überleben geführt und hatte ihn gewonnen. Ich
hatte meine Geburtsurkunde erhalten, man hatte mir meine
widerrechtlich entzogene Identität wiedergegeben. Doch Jupp
blieb nach diesen Ereignissen noch in mir, er war mir teuer
wie ein aufregender Teil meines Lebens. Ja, ich stehe zu dem
Hitlerjungen Jupp. Ich habe nichts gegen ihn einzuwenden,
keinen Haß auf ihn, keine Anklage gegen ihn zu richten. Er
hat gehandelt wie er mußte. Unter den Umständen, unter
denen er lebte, konnte er sich nicht anders verhalten.
Beim Verlassen des Gebäudes stieß ich auf ein riesiges
Schild: »Hilfskomitee für die Opfer des Nationalsozialismus«.
Ich hatte Skrupel hineinzugehen. Ich kämpfte mit mir. Gehörte
ich auch zur Kategorie der Opfer? Ein Schauder überlief mich,
wenn der kleinste Gedanke in mir auftauchte, der mich auf
die Seite der Nazis stellen wollte. Es ist wahr, ich lebte frei
wie ihresgleichen im Glanz ihrer Welt. Aber was war mit
221
meiner geschundenen Seele, mit meinem Schmerz, meinem
stillen Leid? Was war mit meinen geraubten Eltern, was mit
der verlorenen Zeit, der beschädigten Zukunft?
Eine neue Sorge nagte an mir. Wie würden mich die Über-
lebenden der Lager aufnehmen? Würden sie mich als ihnen
gleichrangig betrachten? Wäre ich in ihrer Gesellschaft mit
mir selbst im reinen? Sie hatten gelitten, waren gedemütigt
und gefoltert worden, hatten unablässig an der Schwelle des
Todes gestanden, während ich mit ihren Mördern Umgang
pflegte und am Radio klebte, um ihrem Siegesgebrüll zu
lauschen. Welch furchtbarer Widerspruch! Vielleicht war ein
Brückenschlag unmöglich.
Meine Erklärungen beschwichtigen meinen schmerzhaf-
ten Gewissenskonflikt etwas, konnten ihn aber nicht lösen.
Schließlich entschied ich, daß auch ich ein Opfer der Verfol-
gungen und der braunen faschistischen Tyrannei war und ging
zu dem Komitee, das sich um die Überlebenden kümmerte.
Dessen Büro sah aus wie ein mit Lebensmitteln erster Güte
und Kleidern vollgestopftes Vorratslager. Politische Gefange-
ne, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt waren,
hatten diese Einrichtung geschaffen und verwalteten sie mit
den restlichen Sympathisanten der örtlichen Sozialdemokraten
und Kommunisten.
Ich stellte mich unter meinem echten Namen vor und
gab meine wahre Herkunft an. »Was?! Du bist der kleine
Sally der Familie Perel?« fragte mich fröhlich einer von
ihnen. »Ich erinnere mich an dich, mein Lieber. Ich kann-
te deinen Vater sehr gut.« Ohne nach einem Beweis oder
einer Erklärung zu fragen, schlug er mir vor, mir neue
Kleider auszusuchen. Man machte mir auch ein großes
222
Lebensmittelpaket zurecht. Ich wählte ein sehr hübsches
Hemd, einen neuen Anzug und andere Sachen. Zwei Wo-
chen nach der Befreiung zog ich endlich meine Uniform
aus und trat in mein neues Leben.
Doch als ich diesen Weg einschlug, wußte ich nicht, wel-
che Schwierigkeiten mich erwarteten. Nach und nach ging
mir die Bedeutung meines wundersamen Überlebens auf. Ich
freute mich.
Meine Gespräche mit den Überlebenden der Konzentrati-
onslager verliefen in einer ruhigen Atmosphäre. Sie baten mich,
am Aufbau weiterer Hilfsbüros in der Stadt teilzunehmen.
Ich stimmte gerne zu. Sie hatten vor, eine Liste der örtlichen
Nazi-Verbrecher aufzustel en und sie bei den militärischen Son-
dergerichten anzuzeigen. Wir beschlossen auch, dem Schicksal
der Jüdischen Gemeinde von Peine nachzugehen. Mittlerweile
hatten wir vom dramatischen Ende des Sekretärs der örtli-
chen Kommunistischen Partei, des Genossen Kratz, erfahren.
Er wurde mit Hunderten von Juden und anderen deutschen
KZ-Häftlingen wenige Tage vor Kriegsende auf einem alten
Schiff zusammengepfercht. Das Schiff wurde versenkt, die
Menschen ertränkt.
Als ich gerade gehen wol te und versprach, an der nächsten
Versammlung teilzunehmen, betraten zwei Juden den Raum,
die in ihr Heimatland Rumänien zurückkehren wollten. Ich
war glücklich, sie zu sehen. Sie hatten Bergen-Belsen überlebt.
Aus ihrem Munde hörte ich zum ersten Mal diesen Namen
und erfuhr von dem Furchtbaren, das dort geschehen war. Sie
sagten mir, daß sich das Lager in der Nähe von Cel e befände,
und ich beschloß, dort nach Familienangehörigen zu suchen.
Ich wünschte meinen befreiten Glaubensbrüdern al es Gute
223
für ihre Rückkehr ins Leben und verabschiedete mich von
allen in bester Stimmung.
Prächtig gekleidet und mit Paketen beladen, machte ich
mich auf den Weg. Meine schwarze Uniform warf ich in die
erste Mülltonne, die ich sah. Sie hatte ihre Funktion erfüllt.
Ich trauerte nicht um sie. Aber hatte mein Doppelleben wirk-
lich ein Ende?
Glückstrunken ging ich durch die altvertrauten Straßen von
Peine. Vor nicht allzulanger Zeit war ich über dieses Pflaster
gewandert, ich hatte mich hinter meiner Schirmmütze versteckt
und den Kopf weggedreht, um nicht erkannt zu werden. Jetzt
bot ich mich stolz und glücklich den Blicken aller dar. Salo-
mon Perel lebte. Trotz allem und trotz der Entschlossenheit
der Nazis, mich zu vernichten! Ich ging wie auf Wolken. Wie
wohl tat es, nach mehreren Kriegswintern den ersten Friedens-
frühling zu riechen! Der Duft der Maiglöckchen erfüllte die
Luft. Die Stadt war nicht bombardiert worden, und wären
nicht die unermüdlich hin- und herbrausenden Militärfahr-
zeuge gewesen, hätte man sich nicht vorstellen können, daß
diese Bevölkerung einen sechsjährigen Krieg erlebt hatte, der
der blutrünstigste und mörderischste aller Zeiten war.
Ich ging bei den Meiners’ vorbei. Das Nazi-Emblem über der
Tür war verschwunden. Ich betrat die Gaststätte. Es herrschte
eine spürbar andere Atmosphäre, doch der Bier- und Tabak-
geruch war derselbe.
Ich setzte mich an denselben Tisch wie schon einmal, be-
obachtete Thea und Clara und hörte den Unterhaltungen zu.
Einer der Gäste sagte, daß er die zahlreichen Opfer und den
schrecklichen Preis, den Deutschland bezahlt habe, beklage,
und daß seiner Meinung nach der größte Kriegsverbrecher
224
keineswegs Hitler, sondern Churchill heiße, weil der sich ge-
weigert habe, zusammen mit den Deutschen die Russen zu
bekämpfen.
Ich beschloß, mich nicht einzumischen und mich von sol-
chen Erklärungen nicht irritieren zu lassen. Mich beschäftig-
ten andere Gedanken in der Gaststätte Meiners. Ich weilte
in früheren Zeiten. Meine Kindheit, heiße Sommertage und
meine damaligen Phantasien waren mir eingefallen. Die Be-
stialität, die der nationalsozialistische Rassenwahn verkörperte,
hatte diese Träume zerstört. Ich kämpfte mit mir, um mich
nicht demoralisieren zu lassen. Ich schaute wieder Thea und
Clara an, die schon junge Frauen waren. Sie arbeiteten rasch
und präzise. Daran war nichts Erstaunliches. Bier wird im-
mer getrunken; manchmal, um etwas Freudiges zu begießen,
manchmal, um einen Schmerz zu lindern. Auch jetzt waren
die meisten Tische besetzt.
Ich bahnte mir einen Weg zu dem blitzenden Zapfhahn,
und als sich Clara näherte, um ein Glas zu füllen, grüßte ich
sie. Sie antwortete aus reiner Höflichkeit. Sie schaute mich
und dann den weißen Schaum an, der sich setzte. Sie erkannte
mich nicht.
Ich sprach sie an. »Ich bin es, Sally, ich bin nach Peine
zurückgekommen.« Überrascht hörte sie auf, Bier zu zapfen,
kam zu mir nach vorne und drückte mir herzlich die Hand.
»Stimmt, du bist Sally. Zehn Jahre haben wir uns nicht ge-
sehen.« Sie lächelte über das ganze Gesicht. »Nicht ganz«,
antwortete ich, »vor kurzem hast du mir hier ein Bier serviert.«
Sie begriff nicht, und ich versprach, es ihr später zu erklären.
Sie erzählte mir, daß ihre Eltern im letzten Jahr gestorben
seien und ihr Bruder Hans in ein Kriegsgefangenenlager nach
225
England gebracht worden sei. Er war Offizier der Waffen-SS
gewesen. Ein Anflug von Stolz schwang in ihren Worten mit.
Ich spürte auch, daß ihre Wiedersehensfreude nicht ganz echt
war. Mittlerweile hatte sich Thea zu uns gesellt. Sie reagierte
noch verhaltener.
Ich beschloß, nicht zu bleiben. Es war eindeutig, daß die
»braunen Jahre« an den beiden Schwestern ihre Spuren hin-
terlassen hatten. Diese enttäuschende Begegnung konnte mir
meine Laune jedoch nicht verderben und meine Freude nicht
trüben. Ich verließ die Schwestern Meiners.
– Dreißig Jahre später sah ich sie wieder, um die Geschich-
te mit meinem dreisten Besuch in ihrer Gaststätte zu Ende
zu erzählen. Ich dachte, sie fänden es schade, daß sie den
verkleideten Sally nicht erkannt hatten. Aber ich stieß eher
auf Unverständnis. Eine ehemalige Nachbarin, eine sehr alte
Dame, schlug mir vor, bei ihr zu wohnen. Ich hatte sie beim
Verlassen der Gaststätte getroffen und mich wieder daran
erinnert, daß wir sie als Kinder einst »die böse Alte mit dem
Stock« genannt hatten. Ich nahm ihr großzügiges Angebot
gerne an. Ich fühlte mich in dem mir zur Verfügung gestellten,
sehr gepflegten Zimmer wohl. Durch viel Schlaf erholte ich
mich ein wenig. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag nach
Bergen-Belsen zu fahren. Nach der Sintflut.
Am nächsten Morgen erwachte ich, glücklich darüber, einen
neuen Tag zu beginnen. Ich frühstückte mit der reizenden
alten Dame und ging aus dem Haus.
Am Bahnhof kaufte ich eine Fahrkarte nach Celle, der
Stadt, die Bergen-Belsen am nächsten lag. Die Reise war kurz,
in weniger als einer Stunde war ich am Ziel. Schon von wei-
tem sah ich das Lager, ein Fremdkörper in seiner Umgebung,
226
ein schreiender Widerspruch zu der umliegenden Landschaft.
Die grünen Felder und blumengeschmückten Bauernhäuser
schufen eine friedliche Atmosphäre. Hatte ich mich verlau-
fen? Befand sich in einer solchen Umgebung, die das Abbild
des Reichtums der Schöpfung war, ein Todeslager? Als ich
näherkam, zweifelte ich nicht mehr.
Ich entdeckte eine riesige braune Sandfläche, auf der die
hintereinander gereihten Baracken standen. Eine Staubwolke
lag über allem. Viele Menschen liefen herum, Krankenwagen
und Militärfahrzeuge der englischen Armee fuhren aus und
ein. Ich ließ mich von der Menge mittragen. Die befreiten
Gefangenen hatten einen harten Ausdruck. Nicht ein Funken
Freude lag in diesen Gesichtern nach all dem, was sie erlitten
hatten. Ich hörte Traktorenlärm. Mir wurde erklärt, daß die
zahllosen Massengräber, die sich hier befanden, zugeschüttet
und eingeebnet würden.
Plötzlich erhob sich aus der fremden Menschenmenge ein
Schrei. Jemand rief auf polnisch meinen Namen: »Salek, Salek!«
Überrascht blickte ich mich um. Vor mir standen die beiden
Brüder Zawatzki. Sie waren ungefähr in meinem Alter, und
ihre Erscheinung war relativ gepflegt gegenüber den anderen.
Ich war der erste Bekannte, den sie nach der Befreiung tra-
fen. Sie zeigten große Freude. Wir hatten viele gemeinsame
Kindheitserinnerungen. Ich ging gerne darauf ein, als sie mich
drängten, mit ihnen einige Tage im befreiten Bergen-Belsen
zu verbringen. Untergehakt wandten wir uns ihrer Baracke
zu. Sie boten mir eine Pritsche an, die durch den Tod eines
Mannes am Vortag freigeworden war.
Während der drei Tage, die ich in Bergen-Belsen verbrachte,
lauschte ich den Erzählungen und nahm entsetzliche Bilder in
227
mich auf. Ich verglich unablässig ihr bitteres Schicksal mit dem,
was ich durchgemacht hatte, und ich begriff, wie sehr mich
das Leben in dieser schrecklichen Zeit verschont hatte. Jetzt
hatten wir ein gemeinsames Schicksal. Ich schloß mich den
Überlebenden an, wir befanden uns alle in einem luftleeren
Raum – ohne Heimat, Vater und Mutter. Wir wußten nicht,
ob diese ungewisse Lage bald einer sicheren und dauerhafteren
weichen würde. Wir alle brauchten ein solides Fundament,
um von der Vergangenheit zu genesen.
Ich verließ meine Bergen-Belsener »Gastgeber« und kehrte
mit dem festen Vorsatz nach Peine zurück, weiterhin Nach-
forschungen über das Schicksal meiner Familienmitglieder
anzustellen. Ich wußte, daß ich dazu in andere Lager fahren
mußte. Nach meiner Rückkehr erhielt ich dank ehemaliger
Freundinnen meiner Schwester weitere Nachrichten und einige
Photographien von ihr.
Die Neuigkeit, daß eines der jüdischen Perel-Kinder wohl-
behalten nach Peine zurückgekommen war, machte schnell
die Runde. Mehrere Leute luden mich ein, sie zu besuchen;
einige dachten, ich sei David, andere, daß ich Isaak sei, aber sie
empfingen mich liebenswürdig. Die Mehrzahl dieser Einladun-
gen schlug ich aus. Ich ging nur zu den Familien, die Photos
meiner Eltern besaßen, Photos, die ich heute noch verwahre.
Aus reiner Neugier folgte ich al erdings der Einladung zu einer
spiritistischen Sitzung, bei der ich durch die Kontaktaufnahme
mit dem Geist der Toten, so wurde es jedenfalls versprochen,
über den Verbleib meiner Familie Aufschluß erhalten sollte.
Am vereinbarten Ort und zur bestimmten Stunde setz-
te ich mich, gespannt wie ein Flitzbogen, auf meinen Platz.
Ich war zuvor noch nie mit den Geheimwissenschaften in
228
Berührung gekommen. Ich betrat das Haus in dem Gefühl,
an einem geheimnisvollen Zauber teilzunehmen, und begriff,
daß der Abend eigens für mich veranstaltet wurde. Außer
demjenigen, der »die Geister anrief«, befanden sich noch acht
fremde Personen im Raum. Die doppelten Vorhänge wurden
zurückgezogen, und es wurde duster. Auf dem runden Tisch
lagen Briefe, Zahlen und verschiedene Karten, in der Mitte
stand ein umgestülptes Glas. Wir setzten uns um den Tisch
herum und faßten uns über dem Glas an den Händen.
Es herrschte gespanntes Schweigen. Lange Minuten verstri-
chen, aber niemand sagte ein Wort. Plötzlich gab das Medi-
um ein undeutliches Gestammel von sich. Ich bekam Angst,
konzentrierte meine Gedanken auf meine Familienmitglieder.
Da geschah etwas Überraschendes: Das Glas erzitterte, bebte
und bewegte sich. Genauso ist es gewesen. Ich hätte es nicht
geglaubt, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen. Das
Glas glitt in verschiedene Richtungen, hob sich leicht, als
überspränge es Hindernisse, und forschte weiter nach dem
Geheimnis der Seelen. Ich verfolgte aufmerksam das sich be-
wegende Glas. Ich schwitzte. Als das Glas still blieb, senkten
wir die Arme, und einer der Teilnehmer zog die Vorhänge
auf. Das Abendlicht drang in den Raum. Niemand sagte
ein Wort, auch das Medium nicht, das sehr erschöpft wirkte.
Nach einer Weile wandte sich das Medium an mich und
sagte: »Eines deiner Familienmitglieder, das dir sehr nahesteht
und dessen Name mit dem Buchstaben D beginnt, ist am
Leben und befindet sich sehr weit von hier, wahrscheinlich auf
einem anderen Kontinent.« Sofort dachte ich: »David, mein
Bruder, lebt. Ist das möglich?« Ich war in Aufruhr, nahm
die Nachricht aber mit großer Freude auf. Ich wünschte von
229
ganzem Herzen, sie möge wahr sein. Nach der Sitzung plau-
derte ich mit den Teilnehmern, die alle aus Peine stammten.
Sie teilten mir mit, daß die Jüdin Frau Friedenthal in ihrem
Haus in der Stadt überlebt habe, das sie nicht verlassen hatte.
Ihre Tochter Lotte, ein ungewöhnlich schönes Mädchen, hatte
man der Rassenschande bezichtigt und hingerichtet …
Glücklich verließ ich diese Leute und dankte ihnen herzlich,
mich zu solch einer bewegenden Begegnung eingeladen zu
haben. Wäre es nicht ein rechter Feiertag für mich gewesen,
hätte sich die Weissagung, daß mein Bruder David lebte, als
wahr herausgestellt?
Am nächsten Morgen suchte ich Frau Friedenthal auf, die
so überraschenderweise überlebt hatte. Die alte Dame freute
sich, mich zu sehen. Sie schien bei guter Gesundheit und
von erstaunlicher Geistesschärfe. Wieviel Mut und Seelengrö-
ße mußte sie gehabt haben! Über zwölf Jahre hatte sie den
Bannfluch und die Todesdrohungen ertragen, aber hatte an
ihrem Platz ausgehalten wie ein unerschütterlicher Felsen im
tobenden Meer.
Sie schlug mir vor, bei ihr zu wohnen, aber ich erklärte
ihr, daß ich die Absicht hätte, Peine zu verlassen und durch
die Konzentrationslager zu fahren, um meine Familie wie-
derzufinden. Ich wünschte ihr auch weiterhin Mut und gute
Gesundheit und versprach, wiederzukommen. Frau Friedenthal
ist nach Hannover in ein Altersheim umgezogen und starb
1978 in hohem Alter.
Auf einer meiner Fahrten traf ich zufällig einmal zwei
sowjetische Offiziere, die zu einer Delegation aus der sowjeti-
schen Besatzungszone gehörten. Ich freute mich und begrüß-
te sie in ihrer Muttersprache. Ich stellte mich als jüdischer
230
Flüchtling vor und bat um ihre Meinung und ihre Hilfe zur
Erlangung einer Durchreisegenehmigung durch Lodz und
Auschwitz. Sie versprachen mir ihre Unterstützung und ba-
ten mich, ihnen einstweilen als Dolmetscher zu dienen. Sie
spürten SS-Schergen auf und verhafteten sie. Es war mir ein
Bedürfnis, dabei mitzuwirken. Ich sah in diesem Vorschlag
eine Herausforderung und die Möglichkeit, der durch meine
Entwurzelung entstandenen Leere etwas entgegenzusetzen.
Ich nahm ihr Angebot begeistert an und fuhr nach Peine
zurück, um meine Sachen zu holen. Wir begaben uns nach
Magdeburg in Ostdeutschland, wo die Verbindungseinheit der
sowjetischen Besatzungsbehörden stationiert war. Die Fahrt
in dem eleganten Mercedes gefiel mir, und ich summte die
Hatikwa vor mich hin.
»Du singst da ein schönes Lied, Salomon Esrielowitsch,
woher stammt es?« fragte der höhere Offizier, der Major Pjotr
Platonowitsch Litschman.
»Das ist die jüdische Hymne«, antwortete ich stolz.
»Haben die Juden denn eine Hymne?« staunte er.
»Natürlich, wir haben sogar eine Fahne.«
Ich half seinem Wissen etwas nach. Ich erinnerte mich
an die Zeit der Gordonia in Lodz und stellte überrascht fest,
daß ich nichts vergessen hatte. Jetzt, unter diesen Umständen,
fiel mir alles wieder ein.
»Uns fehlt nur ein Land, Genosse Major«, fügte ich hinzu.
Ich ahnte nicht, daß drei Jahre später im Mai die Grün-
dung des Staates Israel verkündet werden würde. Die Hatikwa,
diese Hoffnung war einfach nicht vorstellbar.
Überall in der SBZ wurden zu der Zeit Erfassungsstellen
eingerichtet, bei denen sich alle Männer ab einer bestimmten
231
Altersklasse melden mußten, um Auskünfte über ihre Person
zu geben. Es wurde auch kontrol iert, ob sie eine Tätowierung
unter dem Arm trugen, das Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur
SS. Männer mit einer derartigen Tätowierung wurden auf
der Stelle verhaftet. Ich dolmetschte in einem dieser Büros.
Ich übersetzte auch die Gespräche zwischen den sowjetischen
Vorgesetzten und den Sekretären der sozialdemokratischen
und kommunistischen Parteien.
Die Sowjets wollten die beiden Parteien vereinen und den
Weg zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik
in Ostdeutschland ebnen. Die Sozialistische Einheitspartei
entstand.
Ich entsinne mich eines der übelsten Momente der Ge-
spräche, die ich dolmetschte. Es war eine Unterhaltung zwi-
schen Major Litschman und einem hohen Kirchenvertreter.
Der Nürnberger Prozeß der Naziverbrecherbande stand kurz
bevor. Der Kirchenmann tat seine Meinung hierüber kund:
»Bei den Christen findet das Jüngste Gericht vor Gott statt,
jeder, der Reue zeigt, darf auf die Vergebung des Barmherzigen
hoffen.« Litschmann war über eine derartige Rechtfertigung
empört und fragte, ob Gott auch den Mord an Mil ionen von
Kindern und Säuglingen rechtfertige und vergebe. Der Mann
erwiderte, die Kinder hätten unter dem Tod nicht gelitten,
nur die Erwachsenen hätten ihn gefürchtet. Gott habe die
Absicht, sie für ihre Fehler zu strafen und sie durch die Buße
auf den rechten Weg zurückzuführen. Nach dieser Antwort
wurde der fromme Mann hinausgeworfen.
Ich hatte die Suche nach meinen Eltern indes nicht aufgege-
ben und schrieb al en möglichen Stel en, um jeden Strohhalm
zu sammeln. Einer der Briefe ging an eine Freundin meiner
232
Schwester in Peine. Ich teilte ihr meinen augenblicklichen Auf-
enthaltsort mit und bat sie, mich über das mögliche Auftauchen
eines meiner Familienmitglieder in Peine zu informieren. Nach
einigen Wochen erhielt ich Antwort. Mechanisch öffnete ich
den Umschlag, doch als ich die ersten Worte gelesen hatte,
überflutete mich eine Wel e des Glücks. Sie schrieb, daß mein
Bruder Isaak und seine Frau Mira unlängst Peine besucht hät-
ten. Mein Bruder Isaak lebte! Ich war trunken vor Freude und
Glück. In ihrem Brief stand, daß er aus dem Ghetto in Wilna
in das Konzentrationslager Dachau gekommen sei und dort
von den Alliierten befreit wurde. Er wohne in München. Ich
schrieb ihm unverzüglich, er möge mich sobald wie möglich
besuchen, und fügte hinzu, daß ich mir aus ganzen Herzen
wünschte, ihn zu sehen, und ich die Möglichkeit hätte, ihn
über die Zonengrenze zu holen. Die gute Antwort ließ nicht
auf sich warten. Isaak und Mira waren auf dem Weg.
Wir sahen uns in der Grenzstadt Öbisfelde wieder, bewegt
und glücklich. »Mama, Papa, hört ihr? Euer Segensspruch
und eure Gebete sind wahr geworden. Ihr sollt leben! , habt ihr gesagt, und jetzt sind wir da.« Mein Glück kannte keine
Grenzen mehr, als mir Isaak sagte, unser Bruder David lebe
und befinde sich bereits in Palästina. Ich brach in Tränen aus.
Jetzt erfuhr ich auch vom Schicksal meiner Schwester Bertha.
Mira und sie Waren vor der Auflösung des Ghettos Wilna in
das Frauen-KZ Stutthof bei Danzig gekommen, Isaak wurde
in das KZ Dachau gebracht. Als 1944 die russische Front
näherrückte, sollte das KZ Stutthof nach Ravensbrück verlegt
werden, und es begann der später so genannte Todesmarsch.
Es herrschte bitterer Frost. Bertha erfroren die Füße, Mira
versuchte sie mit letzter Kraft zu stützen – ein verzweifelter
233
und vergeblicher Rettungsversuch. Bertha konnte nicht mehr
weitermarschieren. Sie bekam einen Genickschuß. Mira sah
noch, wie aus ihrem offenstehenden Mund das Blut in den
weißen Schnee am Wegrand floß. Oh Gott, wie schlimm, das
aufs gleichgültige Papier zu bringen …
Später dann fuhr uns der Dienstwagen in die Villa der
Litschmans. Maria Antonowna Litschman gab einen dem
Ereignis würdigen Empfang. Flaschen alten wunderbaren
Weines wurden aus dem Keller geholt und eine nach der an-
deren geleert. Wir feierten das Überleben des Restes unserer
Familie …
Stundenlang sprachen wir von der Vergangenheit und der
Gegenwart. Isaak informierte uns über den bewaffneten Kampf
in Palästina, der gegen die Engländer und für die ungehinderte
Einwanderung geführt wurde. Diese Neuigkeiten sol ten große
Bedeutung für mich erlangen. Ich hatte noch nicht darauf
geachtet, aber jetzt spürte ich, daß etwas in mir zu wachsen
begann, das dann so schnell zur Blüte kommen sollte. Hier
dachte ich das erste Mal an Palästina.
Mira war hochschwanger, und so mußten sie nach Mün-
chen zurückkehren. Wir verabschiedeten uns und beschlossen,
uns bald wiederzusehen. Einige Tage später erhielt ich eine
Karte, die mir mitteilte, daß Mira ihrer Tochter Naomi das
Leben geschenkt hatte.
Im Sommer 1947 war ich an einem Scheideweg angelangt.
Eines Tages wurde ich in das sowjetische Hauptquartier in
Berlin-Karlshorst beordert. Ein Zivilbeamter empfing mich
äußerst höflich. Weil ich mir als Dolmetscher einen guten
Ruf erworben hatte, schlug er mir vor, in eine Kaderschule in
der Sowjetunion einzutreten. Er stellte mir in Aussicht, nach
234
dem Ende meiner Studien eine aktive Rolle im Dienst der
sowjetischen Besatzungsbehörde zu spielen. Mir war unbe-
haglich zumute: noch ein Spezialinternat! Dabei war ich mir
bewußt, daß ich dort nicht auf eine doppelte Identität und
auf falsche Namen zurückgreifen mußte. Dennoch konnte
ich mich über solche Aussichten nicht freuen. Ich versprach,
die Sache zu bedenken, das Für und Wider abzuwägen und
baldmöglichst Antwort zu geben.
Ich kehrte in meine Unterkunft zurück und schloß mich
ein. Ich hatte zwei Möglichkeiten, entweder ein paar Jahre
in der Sowjetunion zu verbringen, um mich auf ein Leben
vorzubereiten, dessen Ausgang ungewiß, aber das doch ver-
heißungsvoll war, oder mich meinen überlebenden Brüdern
anzuschließen, um mich dem Aufbau und der Entwicklung
eines eigenen Staates zu widmen, in dem ich zu Hause wäre,
nämlich Palästina.
Die Würfel fielen rasch. Die zweite Möglichkeit verdrängte
die andere. Keine Verlockung und keine Macht konnten vor
meiner Sehnsucht nach Familie und nach einem eigenen Land
ein Hindernis errichten.
Plötzlich brannte mir der Boden unter den Füßen. Ich
beschloß, sofort aufzubrechen. Den Chauffeur von Major
Litschman unterrichtete ich von meinen Plänen.
Ich benötigte zwei Tage, um verschiedene persönliche Dinge
zu regeln, und am letzten Abend versammelten wir uns zum
Abschied. Wir waren alle traurig.
Alfred, der Chauffeur, holte mich am späten Abend ab. Wir
fuhren Richtung Grenze, und er zeigte mir einen Schleichweg
in den Westen. Im Zug kam ich auf dem zerstörten und vor
Menschen wimmelnden Münchner Bahnhof an. Ich nahm
235
ein Taxi zur Vorstadt Neu-Freimann, die mitten im Grünen
lag und voller Blumengärten war. Mit Herzklopfen klingelte
ich an der Tür im Sternweg 18.
Mein Bruder öffnete und war überrascht. Bewegt und
glücklich umarmten wir uns. Ich umarmte lange seine Frau
Mira und näherte mich wortlos der Wiege. Das hübsche lä-
chelnde Gesichtchen Naomis und ihre blonden Locken habe
ich nie wieder vergessen.
Nachdem ich mich sattgesehen hatte, beantwortete ich
die ängstlichen Fragen meines Bruders und meiner Schwä-
gerin. Meine einfache Erklärung beruhigte sie. Es war das
erste Mal, seitdem ich meine Eltern verlassen hatte, daß ich
mich wieder in einer Familie zu Hause fühlte. Die seelische
Spannung der letzten Jahre fiel allmählich von mir ab. Ich
gewöhnte mich an mein neues Leben. Jetzt war ich nicht mehr
gezwungen, mich nur noch auf mich selbst zu verlassen, und
ich betrachtete Isaak als Vaterersatz, und das blieb er bis zum
Schluß. Isaak arbeitete in der Redaktion einer in München
erscheinenden jüdischen Zeitung, dem Ibergang, die in jid-
disch, doch in lateinischen Buchstaben gedruckt wurde. Einige
Redaktionsmitglieder, Überlebende des Konzentrationslagers
Dachau, besuchten uns hin und wieder und sprachen über
ihre furchtbaren Erfahrungen.
Ich beteiligte mich an diesen Unterhaltungen nicht, son-
dern hörte erschüttert und fassungslos zu. Meine Shoa blieb
im Verborgenen. Ich fühlte mich etwas unbehaglich, ich ge-
hörte nicht ganz dazu. Die Last, die mir auf dem Herzen lag,
behielt ich für mich. Doch einmal fragte mich einer, welches
Schicksal ich gehabt und wie ich denn die Kriegszeit über-
standen hätte. Ich bekam kaum den Mund auf. Ein innerer
236
Widerstand hinderte mich daran, die ganze Geschichte zu
erzählen. Das wenige, das ich offenbarte, erregte ihre Neu-
gier. Die meisten wollten es nicht glauben, und einer von
ihnen ging sogar soweit, das, was ich sagte, als fantastische
Erfindung abzutun. Ich versprach, ihnen einen lebenden Be-
weis für meine Aufrichtigkeit zu bringen. Mit der Erlaubnis
meiner Schwägerin lud ich also meinen Münchner Freund
Otto Zagglauer zum Kaffee ein.
Ende 1947 öffnete die ORT-Schule ihre Pforten in Mün-
chen, und ich schrieb mich in einen Kursus für Feinmechanik
ein. Meine in den Spezialwerkstätten des Volkswagenwerkes
erworbenen Grundkenntnisse halfen mir. Ich studierte fast ein
ganzes Semester. An dem Tag, da ich von der Eröffnung eines
Büros für die Rekrutierung von Freiwilligen für die Hagana,
die jüdischen Verteidigungskräfte in Israel erfuhr, verpflichtete
ich mich mit pochendem Herzen. Ich hörte zum ersten Mal,
wie die Hagana-Mitarbeiter hebräisch miteinander sprachen.
Ich war sehr gerührt und bedauerte, kein Wort zu verstehen.
Die Rekrutierungsformalitäten waren rasch erledigt, und das
Datum der Einwanderung wurde auf den nächstmöglichen
Termin festgesetzt. Inzwischen hörte ich im Rundfunk die
Meldungen von großartigen Taten der jüdischen Kämpfer in
Palästina.
Ungeduldig wartete ich auf den Tag der Abreise und meine
Beteiligung am Kampf. Diesmal würde ich nicht gegen meinen
Willen oder in den Reihen des Feindes, sondern begeistert
und überzeugt für mein Volk und mein Vaterland – und für
mich kämpfen.
Zwei Tage, nachdem in Tel-Aviv die Unabhängigkeit verkün-
det worden war, erhielt ich die Reisegenehmigung. Ich verließ
237
Isaak, Mira und die kleine Naomile, die ich so sehr liebte,
und sprach die Hoffnung aus, sie mögen rasch nachkommen.
Ein großer, mit einer Plane bedeckter Lastwagen brachte
uns zum Hafen von Marseille. Wir blieben einige Wochen
im Lager Saint-Germaine, und in der Dunkelkeit einer Juli-
nacht des Jahres 1948 schifften wir uns auf der »San Antonio«
Richtung Haifa ein.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage wir auf dem Meer
verbrachten, aber mir schien, es dauere eine Ewigkeit. Wir
waren so begierig darauf, endlich anzukommen, und die Le-
bensbedingungen auf dem Schiff waren nicht einfach. Bis dann
eines sonnigen Tages auf dem tiefblauen Meer der Jubelschrei
ertönte: »Israel in Sicht!« Wir fielen uns auf Deck in die Arme,
überwältigt von unseren Gefühlen. Mein Reisegefährte Eliahu
Beth Josef, noch heute mein treuer Freund, warf sich mir an
den Hals, und wir weinten Freudentränen.
Wir schifften uns in der Nähe des Hafens von Haifa aus,
und ein Lastwagen fuhr uns ins Militärlager von Beth-Lid.
Dort wurden wir eingezogen. Wir leisteten unseren Eid auf den
Staat Israel und bekamen achtundvierzig Stunden Urlaub. Ich
beeilte mich, nach Tel-Aviv zu kommen, um meinen Bruder zu
sehen. Die Weissagung des Peiner Mediums hatte sich erfüllt.
Glücklich stand ich vor meinem Bruder David, unsere Freude
war grenzenlos. In einer Zimmerecke stand ein Kinderbett,
in dem Asriel, der erste Enkel unserer Eltern spielte.
Von David und seiner Frau Pola erfuhr ich vom tragischen
Ende unserer Eltern. Papa starb aus Hunger und Schwäche
und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Lodz beerdigt.
David und Pola haben ihn auf seinem letzten Weg begleitet.
– 1989 habe ich den Friedhof besucht, und ich fand dort
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das Grab meines seligen Vaters. Mit vierzehn Jahren hatte
ich ihn verlassen müssen, mit vierundsechzig Jahren stand ich
an seinem Grab. Es schloß sich ein trauriger Lebenskreis. –
Mama wurde Anfang 1944 zusammen mit anderen Ghetto-
insassen zu einem Transport in einen abgedichteten Lastwagen
hineingezwungen, in den während der Fahrt die Auspuffgase
einströmten. Auf diese Weise zu Tode gekommen, wurden
alle in Chelmo bei Lodz in ein Massengrab geworfen. Und
mit ihnen auch meine selige Mutter.
David und Pola, die sich unter den letzten achthundert
Juden des Ghettos von Lodz befanden, wanderten nach der
Befreiung durch die Rote Armee über Italien nach Palästina aus.
Die beiden Urlaubstage waren rasch verstrichen, und ich
fand mich wieder im Militärlager von Beth-Lid ein. Nachdem
wir uns ein wenig an die glühende Hitze und das trockene
Dornengestrüpp gewöhnt hatten, stiegen wir in einen Om-
nibus der Eged, der israelischen Verkehrsgesellschaft. Über
den kurvenreichen »Burma-Weg« erreichten wir das belagerte
Jerusalem. Dort wurde ich Soldat im Regiment 68 der Jeru-
salemer Division unter Führung von Mosche Dayan.
Ein neues Kapitel war aufgeschlagen worden. Aber diesmal
würde ich es mit Tausenden anderer Einwanderer teilen. Ich
wußte:
Ihr sol t leben …
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„So unglaublich es auch klingt, es ist
eine wahre Geschichte, die Sal y Perel
erzählt.“
münchner merkur
„Der phantasievol ste Drehbuchschrei-
ber würde sich heute nicht trauen, eine
solche abenteuerliche Zeitstory zu er-
finden, aber die Geschichte, die hier
erzählt wird, ist wahr.“
zdf
„Sie haben diese Geschichte sehr lange
bei sich behalten, bis Sie sie erzählt ha-
ben. Haben Sie al die Zeit gewußt, oder
zumindest geahnt, daß Sie da einen
Weltbestsel er mit sich herumtragen?“
hermann schreiber in der ndr-talkshow
„Ich bin der Jude Sally! Ich war der Hitlerjunge
Jupp!“ Das Undenkbare war Wirklichkeit: Hit-
lerjunge Salomon. Der Jude Sally Perel rettete
sein Leben in der Haut des Feindes als Hit-
lerjunge Josef Perjell. Das war keine gezielt
gewählte Tarnung, um zu überleben. Wenn
das Wort Schicksal Bedeutung hat, dann wohl
in diesem Fall: 1925 wurde Salomon Perel im
niedersächsischen Peine geboren. Als Zehnjähriger weicht er mit
seiner Familie der braunen Gefahr und zieht nach Lodz. Nach dem
Einmarsch der deutschen Truppen in Polen flieht er mit seinem
Bruder nach Rußland. Die Eltern bleiben im Ghetto zurück, wo
sie später umkommen. Bei Beginn des Blitzkriegs gegen Rußland
fällt er in die Hände der deutschen Wehrmacht. Den sicheren
Tod vor Augen, erklärt er: „Ich bin Volksdeutscher.“ So wurde aus
Sally Perel Josef Perjell. Die Soldaten erkoren ihn zum Liebling der
Kompanie. Er wurde nicht nur angenommen, er nahm auch selbst
die neue Rolle an und wurde zum Hitlerjungen. Das ist der Stoff,
aus dem unter der Regie von Agnieszka Holland der Film entstand
– preisgekrönt und vieldiskutiert. Das Buch „Ich war Hitlerjunge
Salomon“ ist die autorisierte Autobiographie des Sally Perel, der
hier über die Schilderung seiner aberwitzigen Erlebnisse hinaus
auch seine Gedanken und Gefühle offenlegt,
seine Zerrissenheit beschreibt, den inneren
Kampf mit dem Hitlerjungen Jupp, der er
wirklich war. Aus der Distanz von mehr als
vierzig Jahren versucht er, die Ereignisse zu
reflektieren und zu bewerten. Dabei blickt er
nicht nur zurück, sondern sucht die Spuren
der Vergangenheit auch im Heute.