NICOLAI
Deutsche Erstausgabe
Übersetzung der bei Editions Ramsay 1990
erschienenen französischen Ausgabe EUROPA EUROPA
Aus dem Französischen von Brigitta Restorff
Mit dem Verfasser erstellte Neubearbeitung des Textes
Redaktion: Carolin Hilker-Siebenhaar und Gerd Rüdiger Um-
schlaggestaltung unter Verwendung des Plakates zum Film
HITLERJUNGE SALOMON, © Jugendfilm-Verleih GmbH, Berlin
© 1992 Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH
und autorenagentur lansk mehr, beide Berlin
5. Auflage 2004
Satz: Mega-Satz-Service, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 3-87584-424-6
Dem Andenken meiner Mutter Rebekka,
meines Vaters Israel
und meiner Schwester Bertha,
die dem Holocaust zum Opfer fielen,
und dem Andenken meines Bruders Isaak
gewidmet, der starb, während ich
diesen Bericht verfaßte.
Man hat mich in letzter Zeit häufig gefragt, weshalb ich mit
meiner Geschichte in al den Jahren nie an die Öffentlichkeit
getreten bin. Leider war es mir bislang unmöglich, darauf eine
eindeutige und befriedigende Antwort zu geben.
Es lag wohl vor al em daran, daß ich an die Vergangenheit
und die tragischen Ereignisse, die sie prägten, nicht erinnert
werden wol te. Ich gab mir im Gegenteil die größte Mühe, zu
verdrängen und zu vergessen. Der graue Al tag sorgte dafür, daß
ich das Thema auf die lange Bank schob und nur sehr selten
Gelegenheit fand, mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Ich
glaube, die Zeit war einfach nicht reif.
Wenn ich auch manchmal den Drang verspürte, mein Aben-
teuer zu erzählen, so stel ten sich mir doch gleichzeitig die Fragen,
die mich geradezu lähmten: Hatte ich wirklich das Recht, mich
mit den Überlebenden des Holocaust zu vergleichen? Hatte ich
das Recht, mich als Teil ihrer Geschichte zu bezeichnen, meine
Erinnerungen mit den ihren auf eine Stufe zu stel en? Hatte ich
das Recht, mich mit den Widerstandskämpfern, den Gefangenen
der Konzentrationslager und der Ghettos zu vergleichen, mit
jenen, die sich in Wäldern, Bunkern und Klöstern versteckten?
Sie waren Helden. Mit ihrem Leid waren sie bis an die Grenze
dessen gegangen, was ein Mensch ertragen kann. Und doch war
es ihnen gelungen, sich mit letzter Kraft ihre jüdische Identität,
ihre Menschlichkeit zu bewahren.
Ich dagegen war zur selben Zeit unbehel igt unter den Nazis
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umhergegangen, hatte ihre Uniform und das Hakenkreuz auf
meiner Mütze getragen und »Heil Hitler!« gebrül t, als hätte ich
mich tatsächlich mit ihrer verbrecherischen Ideologie und ihren
barbarischen Zielen identifiziert.
Welche Botschaft könnte ich vermitteln? Würde man mir mei-
ne Geschichte überhaupt glauben? Würde man versuchen, sie
zu verstehen? Und wenn ich mich zur Niederschrift entschlösse:
Wäre ich imstande, die Einsamkeit eines langen Berichts inmitten
al der Alpträume, Gewissensbisse und Selbstzweifel zu ertragen?
Mehr als vierzig Jahre habe ich über diese Fragen nachgedacht.
Bis zu dem Tag, an dem mir keine andere Wahl mehr blieb.
Denn im Lauf der Zeit begriff ich, daß das Trauma, das ich zu
verdrängen suchte, sich nicht länger verdrängen ließ. Mit diesem
seelischen Druck konnte und wol te ich nicht länger leben. Um
mich davon zu befreien, mußte ich mir alles im wahrsten Sinne
des Wortes von der Seele schreiben.
Und dabei habe ich es mir versprochen, und ich verspreche
es auch dem Leser, mich von Anfang bis Ende an die Wahrheit
zu halten. Die Barrieren sind gefal en, und meine Hand kann
endlich zur Feder greifen, damit meine schmerzlichen Erinne-
rungen wachgerufen werden, die Erinnerungen an meine Shoa.
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Ich wurde am 21. April 1925 in Peine, nahe Braunschweig,
in Deutschland, Europa, geboren.
Meine Eltern waren 1918 hierhergezogen, als in Rußland
die Oktoberrevolution ausbrach. Die Weimarer Republik nahm
damals gerne Juden auf. Wir waren vier Kinder. Bei meiner
Geburt war mein älterer Bruder Isaak sechzehn Jahre alt, David
zwölf und meine Schwester Bertha neun.
Kurz nach ihrer Ankunft eröffneten meine Eltern in der
Breiten Straße, der Hauptverkehrsstraße, ein Schuhgeschäft,
mit dem sie die Familie ernähren konnten. Zu jener Zeit waren
uns die deutschen Nachbarn nicht feindlich gesonnen. Die
alteingesessenen Juden hingegen, die schon seit Generationen
in Deutschland lebten, begegneten uns kühl.
Wir waren für sie nur armselige Ostjuden. Hin und wieder
beklagte man sich zu Hause darüber, was mich jedoch wenig
störte. Ich habe den Unterschied zwischen einem Juden und
einem Nichtjuden nie begriffen, wie sollte ich da den Un-
terschied zwischen einem Juden und einem anderen Juden
begreifen!
Peine war keine moderne Stadt, doch der technische Fort-
schritt machte sich auch hier langsam bemerkbar. So erinne-
re ich mich noch sehr gut daran, mit welcher Begeisterung
wir Kinder die ersten Automobile begrüßten. Sie ähnelten
Kutschen ohne Pferde und hatten eine riesige Hupe neben
dem Lenkrad. Wir liefen ihnen in Horden hinterher, immer
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darauf erpicht, die »schwarze Birne« zu drücken, damit sie
hupte und hupte …
Damals trübte kein Wölkchen meinen glücklichen Kin-
derhimmel. Nichts deutete für uns auf eine ereignisschwere
Zukunft hin. Und doch sollten in den dunklen Jahren, die
herankamen, fünfzig Millionen Menschen aller Herren Länder
ihr Leben lassen, und die Shoa, der planmäßige Mord an den
europäischen Juden, unsere Geschichte bald tief erschüttern.
Am 30. Januar 1933 übernahm die nationalsozialistische
Partei unter ihrem Führer Adolf Hitler in Deutschland die
Macht.
Ein »schwarzbrauner« Totentanz begann: schwarz und braun
wie die Nazi-Partei, blutrot wie das Dreiecksemblem der SS,
SA und Hitlerjugend.
Zum Schutz der nationalsozialistischen Partei, die er gera-
de ausbaute, hatte Hitler bereits 1921 die Schaffung der SA,
der Sturmabteilung, erreicht. In die SA traten vornehmlich
ehemalige Soldaten ein, Männer, die sich in die Gesellschaft
nicht mehr eingliedern konnten. Der verlorene Erste Weltkrieg
hatte sie verbittert. Sie sollten Unruhe stiften, die Versamm-
lungen gegnerischer Parteien sprengen und gleichzeitig umge-
kehrt für den reibungslosen Ablauf von Parteiversammlungen
der Nazis sorgen. Sie verbreiteten Angst und Schrecken und
leisteten auf diese Weise ihren Beitrag, die Demokratie der
Weimarer Republik ohnmächtig erscheinen zu lassen und sie
damit auszuhöhlen. Nachdem Hitler und seine Freunde fest
im Sattel saßen, überließ er der SA die »Schmutzarbeit«: die
Verfolgung und »Liquidierung« der Regimegegner und Juden.
Die SS, 1925 geschaffen, war der SA unterstellt – formal.
Tatsächlich begriff sie sich aber als eigenständig, als Leibgarde
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Hitlers. Das wurde sie 1934 dann auch offiziell, direkt dem
Führer unterstellt. Himmler trat an ihre Spitze. Sein Macht-
apparat umfaßte überdies die Geheime Staatspolizei, Gestapo,
den Sicherheitsdienst, SD, dem die Konzentrationslager unter-
standen, und die »Einsatzkommandos«, die in den besetzten
Gebieten operierten und dort Männer, Frauen und Kinder
töteten.
1926 wurde die Hitlerjugend gegründet. Diese Organisa-
tion war aktiv an Straßenschlachten, Demonstrationen und
allen Veranstaltungen beteiligt, die die Überlegenheit des
Nazi-Terrors unter Beweis stellen sollten. Die »Elite« wurde
nach Körpergröße, nordischem Erscheinungsbild und arischer
Reinblütigkeit für die SS ausgesucht.
In Peine indes nahm das Leben seinen Fortgang, dabei
verdüsterte sich die Lage zusehends. Doch uns Kinder berühr-
te das wenig. Nichts konnte uns davon abhalten zu spielen
und wie wild durch die Stadt zu jagen. Zweifellos besaß ich
nicht die nötige Reife, um die Gefahr, die auf uns lauerte,
einschätzen zu können, zumal mein Vater wie viele andere der
Meinung war, dieser »Verrückte« werde sich nicht halten und
wahrscheinlich keine achtzig Tage regieren. Die Warnrufe, die
manche ausstießen, verhallten wie Rufe in der Wüste.
Zwei Jahre später bekam ich die Verfolgung zum ersten Mal
am eigenen Leib zu spüren: In Anwendung der Nürnberger
Rassengesetze wurde ich 1935 von der Schule verwiesen. Das
tägliche Leben gestaltete sich immer schwieriger und gefährli-
cher. Mehrmals wurde mein Vater zu Zwangsarbeiten bei der
Straßenreinigung und bei der Mül abfuhr herangezogen. Die SA
boykottierte jüdische Geschäfte, zerschlug die Schaufensterschei-
ben und machte sich anderer Gesetzesübertretungen schuldig.
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Der Schraubstock des Terrors, der unsere physische Exi-
stenz bedrohte, umschloß uns immer enger. Meine Familie
entschied sich, Deutschland nun unverzüglich zu verlassen.
Den Großteil unseres Besitzes mußten wir übereilt und
zu Summen verkaufen, die diesen Namen nicht verdienten.
Praktisch mittel os emigrierten wir nach Polen und ließen uns
in Lodz nieder. Den ersten Unterschlupf bot uns Tante Clara
Wachsmann, die jüngere Schwester meiner Mutter.
Es war nicht einfach, sich in dem neuen Land einzuleben.
Sprache wie auch Mentalität unterschieden sich stark von dem,
was wir bisher kennengelernt hatten. Es gelang mir einfach
nicht, mich mit dieser Veränderung abzufinden. Mich plagte
das Heimweh nach Deutschland, wo ich als Kind so glücklich
war. Ich war im Innersten erschüttert durch diese plötzliche
und grausame Entwurzelung.
Ich war ein Emigrantenkind geworden. Und zu allem
Unglück mußte ich erfahren, daß man für Emigranten nir-
gendwo Sympathie empfand. Das laute höhnische Gekicher
der einheimischen jüdischen Kinder über den Jeke Potz mit
a top kawe (den Deutschen mit einer Tasse Kaffee) tat mir
weh und verstärkte meine Verwirrung. Ich konnte mich gegen
diese Prüfungen der Eingewöhnung immer weniger wehren.
Doch das Leben ging weiter, und die heftigen Spannungen
verschwanden am Ende. Mit dazu beigetragen hat, daß ich
nun wieder die Volksschule besuchte. Ich war gezwungen,
mich zusammenzureißen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit
lernte ich meine neue Sprache, das Polnische.
Al mählich schälte sich so etwas wie eine neue Existenz her-
aus. Die Beschäftigung mit polnischer Geschichte, den großen
Männern Polens, die fortwährend für nationale Unabhängigkeit
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und gegen Teilung und fremde Vorherrschaft gekämpft hatten,
machte mir dieses Land sympathischer. Ich hatte langsam das
vage Gefühl, daß dies meine zweite Heimat werden könnte.
Drei Jahre verstrichen … Dann ging das Schuljahr 1939
zu Ende. Ich schloß die Volksschule erfolgreich ab, und da-
mit. hatte ich meine Grundausbildung an einer öffentlichen
Schule hinter mich gebracht. Nach den großen Ferien sollte
ich auf das hebräische Gymnasium von Lodz überwechseln.
Ich entsinne mich noch der Worte des Abschiedsliedes,
das wir in der Schule gesungen hatten, bevor jeder seiner
Wege ging. Mit Tränen in den Augen hatten wir es feierlich
angestimmt:
Rasch geht das Leben vorüber,
Die Zeit verrinnt wie ein Bach.
In einem Jahr, einem Tag, einem Augenblick
Sind wir nicht mehr zusammen,
Und tief in unseren Herzen
Bleiben nur Trauer, Bedauern und Sehnsucht.
Als wir dies sangen, ahnten wir nicht, daß wir nicht nur
»nicht mehr zusammen« sein, sondern viele von uns bald gar
nicht mehr sein sollten.
Es kam der 1. September 1939. Die Armeen Hitlers fielen
in Polen ein und rissen dadurch die ganze Menschheit in den
Zweiten Weltkrieg.
Wir hörten Hitlers bedrohliche Rede im Radio und die
Antwort des polnischen Generalstabschefs Marschall Ridz
Szmígly, der erklärte, daß Polen mutig kämpfen und kei-
nen Zoll Land abtreten werde. Wenige Tage später sollte sich
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Polen dem Willen der Nazi-Eindringlinge beugen. Einzig die
Hauptstadt Warschau hielt einen Monat stand. Ich war von
neuem dem Nazi-Terror ausgesetzt, vor dem ich soeben geflo-
hen war. Ich war ihm in Peine davongelaufen, in Lodz holte
er mich wieder ein.
Die ersten Wehrmachtseinheiten marschierten in Lodz ein.
Tausende von Deutschstämmigen begrüßten sie mit einem
Blumenregen und »Sieg-Heil-Rufen«.
Für die dreihunderttausend Juden der Stadt aber versank
die Welt in Finsternis. Das Leben wurde zum Alptraum. Der
Unterricht am Gymnasium wurde eingestellt. Niemand durf-
te sich mehr Herr seines Schicksals wähnen. Eine schaurige
Vorahnung beschlich uns. Der Antisemitismus verbarg sich
nicht mehr, er kam überall offen zum Ausbruch.
Eines Tages, als ich am hebräischen Gymnasium vorbeiging,
sah ich Soldaten eine Gruppe von Juden in den Eingang eines
Gebäudes schleifen, sie versetzten ihnen Tritte und überzo-
gen sie mit unflätigen Beschimpfungen, sie schlugen sie und
schnitten ihnen die Bärte und Schläfenlocken ab. Entsetzt
über das, was sich vor meinen Augen abspielte, floh ich nach
Hause. Ich glaubte zu ersticken, rang nach Luft, mein gan-
zer Körper verkrampfte sich. Auf dem Heimweg mußte ich
mich mehrmals verstecken, um einem ähnlichen Anschlag
zu entgehen. Sie beraubten uns brutal der Menschenrechte,
wir wurden zu Freiwild, jedem Psychopathen in Uniform
ausgeliefert.
Einige Monate später erreichten uns die ersten Gerüchte
über die Absicht der Nazis, alle Juden in einer geschlossenen
Zone, das heißt in einem Ghetto, zusammenzufassen.
Meine Familie versammelte sich, um zu beratschlagen, was
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zu tun sei, und nach dramatischen Diskussionen wurde be-
schlossen, daß mein älterer Bruder Isaak, der damals neunund-
zwanzig Jahre alt war, und ich, der Vierzehnjährige, nicht ins
Ghetto gehen, sondern versuchen sollten, uns einige hundert
Kilometer weit nach Osten durchzuschlagen. Wir sollten den
Grenzfluß Bug überqueren und zu den Sowjets stoßen. Dort,
so glaubten wir, wären wir außer Gefahr.
Mein Bruder David befand sich als polnischer Soldat in
deutscher Kriegsgefangenschaft, meine Schwester Bertha blieb
zu Hause bei den Eltern.
Mein Bruder und ich zögerten. Wir wollten uns nicht
von unseren Eltern trennen, wollten ihnen in diesen schwe-
ren Stunden helfen und beistehen. Doch ihre Entscheidung
war unumstößlich, und sie verlangten, daß wir uns auf den
Weg machten. Energisch setzten sie uns auseinander, sie seien
schon alt und wollten das Schicksal der anderen Juden der
Stadt teilen. Wir hingegen seien jung und dazu verpflichtet,.
jede noch so kleine Gelegenheit zu nutzen, um uns zu retten.
»Haben wir euch nicht zur Welt gebracht, damit ihr lebt?«,
sagte meine Mutter. Papa legte uns die Hand auf den Kopf
und segnete uns mit dem heiligsten jüdischen Segen, dem
Cohanim-Segen: »Geht in Frieden!« Und Mama fügte hinzu:
»Ihr sollt leben!«
Mit Rucksäcken bepackt, die wir mit Proviant vollgestopft
hatten, verließen wir das Haus. Wir hatten eine Unmenge
Selbstgebackenes eingesteckt, von meiner Mutter zubereitetes
»Kommißbrot« aus einem besonderen Teig, dem man Zimt
beimischte, damit es sich monatelang frisch hielt. Mein Va-
ter sah mißbilligend auf die Lasten, die uns seiner Meinung
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nach nur unnötig beschwerten. Ich trug meinen neuen An-
zug, den ich zur Bar-Miz’wa, dem jüdischen ›Einsegnungsfest‹,
bekommen hatte. Darüber schnallten wir – wie einen Gürtel
– zusammenfaltbare Regenschirme, damals eine ganz neue
Erfindung und entsprechend wertvoll.
Diesen »Gürtel« versteckten wir unter weiteren Jacken und
Mänteln, die wir noch darüberzogen. Die Schirme sollten
sich als hilfreich erweisen, weil wir damit Bauern »bezahlen«
konnten, die uns in ihren Pferdewagen mitnahmen, und weil
wir sie gegen Eßbares eintauschen konnten. Mein Bruder hatte
eine kleine Menge dieser Schirme im letzten Moment vor
der Plünderung der Firma »Gentleman« in Lodz, für die er
arbeitete, retten können.
Zunächst aber gelangten wir trotz der überall auf uns lau-
ernden Gefahren noch mit der Eisenbahn nach Warschau. Dort
kamen wir beim Direktor der polnischen Zentrale von »Gen-
tleman«, Silberstrom, unter, die Regenmäntel, Gummistiefel
und eben diese Klapp-Regenschirme herstellte und vertrieb.
Mein Bruder war aufgrund seiner Geschäftstätigkeit für die
Firma mit dieser jüdischen Familie gut bekannt. Er hatte auf
seinen Reisen hier häufig Station gemacht. Wir verbrachten
bei diesen Leuten vier Tage, in denen wir versuchten, ein
Höchstmaß an Erkundigungen einzuziehen, die uns die Be-
urteilung der Lage erleichtern sollten.
Ein Dutzend Meinungen und widersprüchliche Gerüchte
waren im Umlauf. Wir waren unschlüssig und beunruhigt
zugleich. Wir mußten uns für einen Weg entscheiden und
konnten nur beten, daß es der richtige sei … Konnte man noch
den Zug nehmen? Untersagten die Russen die Überquerung
bestimmter Grenzabschnitte? Auch die Straßenräuber, die
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überall ihr Unwesen trieben, mußten in die Planung einbe-
zogen werden.
Schließlich nahmen wir den Zug Richtung Grenzfluß Bug.
Er war überfüllt. Da ich eher mager und klein war, gelang
es mir ziemlich mühelos, einen Platz zu ergattern, während
mein weitaus größerer Bruder fast nicht mehr in den Zug
hineinkam. Es herrschte eine drangvol e Enge, und wir waren
dem Ersticken nahe. Der Zug fuhr furchtbar langsam. Nach
stundenlanger Fahrt, die kein Ende nehmen wol te, hielt er in
einer Kleinstadt, die etwa hundert Kilometer vor dem Fluß
lag. Diese Entfernung mußten wir zu Fuß zurücklegen. Eine
vielleicht zwanzigköpfige Gruppe bildete sich; alle waren sehr
viel älter als ich. Es war eisig kalt, und der Schnee türmte
sich bis zu den Strohdächern auf.
Gegen ein paar Münzen erklärten sich polnische Bauern bereit,
unser Gepäck auf ihrem Karren zu befördern. Wir machten
uns im bitterkalten Wind auf den Weg, hinter unserem Karren
hertrottend wie eine Trauergemeinde hinter dem Leichenwa-
gen, eingehül t in die Atemwolken des Pferdes. Das monotone
Stapfen auf dem knirschenden Schnee erinnerte mich an die
Vertreibung der Juden während der spanischen Inquisition, und
ich meinte während dieses endlos scheinenden Marsches die
sich immer wiederholende Melodie von Ravels Bolero zu hören.
Manchmal hielten die Bauern an, um uns auf einen na-
hegelegenen Stützpunkt des deutschen Heeres aufmerksam
zu machen. Danach nahmen wir unseren stummen Marsch
wieder auf. Ich fühlte die besorgten Seitenblicke Isaaks, der
das Gleichmaß meiner Schritte prüfte und meine Kräfte
überwachte. Dann ging ich ganz aufrecht und lächelte ihm
beschwichtigend zu.
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In der dritten Dezemberwoche 1939 erreichten wir das
Ufer des Bug, entkräftet, aber lebend. Auf der anderen Seite
des Flusses waren deutlich die Soldaten der Roten Armee mit
ihren grünen Mützen zu erkennen.
Auch zahlreiche andere Flüchtlingsgruppen hatten sich hier
eingefunden, und alle blickten sie nach Osten. Ein einziger
Kahn, der einem polnischen Bauern gehörte, diente als Fähre.
Ein Ansturm auf das Boot setzte ein, die Leute stießen ein-
ander, einige wurden handgreiflich, um als erste einsteigen
zu können. Mehr schlecht als recht erkämpfte ich mir einen
Platz, doch mein Bruder hatte kein Glück und wurde ans
Ufer zurückgeworfen. Schon legte der überladene Kahn ab.
Leute sprangen ins Wasser, um uns einzuholen. Sie hofften,
den Fluß überqueren zu können, indem sie sich an der Boots-
wandung festklammerten. Ich schrie nach meinem Bruder,
doch ich sah ihn nicht mehr. Ich brüllte aus Leibeskräften.
In dem Tumult ringsum hörte ich ihn dann rufen, ich solle
am anderen Ufer auf ihn warten.
Der Bauer ruderte schnel und kräftig. Die starke Strömung
drohte uns mitzureißen. Eisschol en rammten den Kahn. Wir
hatten die Flußmitte bereits überquert, als sich auf dem Gesicht
des Bauern plötzlich Angst und Entsetzen abzeichneten. Er
stammelte: »Jesus Maria!« und bekreuzigte sich. Da sah ich,
daß Wasser in den überladenen Kahn eindrang. Langsam, aber
sicher begann er, in den schwarzen, eisigen Fluten des Bug zu
versinken. Bis zum Ufer war es nicht mehr allzu weit, doch
unter den Flüchtlingen an Bord brach Panik aus. Manche
versuchten, sich schwimmend zu retten. Die Katastrophe ließ
nicht auf sich warten. Der Kahn kippte mit all seinen Passa-
gieren um. Die meisten Erwachsenen hatten bereits Grund
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unter den Füßen, sie konnten an Land waten, ihre Packen
auf dem Kopf balancierend. Ich aber war zu klein, meine
Füße fanden keinen Halt. Ich fing an, Wasser zu schlucken.
Verzweifelt versuchte ich, mich an Eisschollen zu klammern.
Ich konnte nicht einmal schwimmen, eingezwängt wie ich
war in mehrere Kleiderschichten, zwischen denen noch die
Klappschirme befestigt waren. Niemand kam mir zu Hilfe.
Zum Glück sah ein russischer Wachposten, daß ich zu ertrin-
ken drohte, und sprang, ohne zu zögern, ins Wasser. Als er
mich auf die Böschung gezogen hatte und ich wieder etwas
zu Atem gekommen war, schenkte ich ihm zum Dank, daß
er mir das Leben gerettet hatte, meinen Füllfederhalter, den
ich zur Bar-Miz’wa bekommen hatte.
Am folgenden Tag traf auch mein Bruder ein, und nachdem
wir uns zur Feier unseres Wiedersehens herzlich umarmt hatten,
setzten wir unseren Weg nach Osten, Richtung Bialystok fort.
Die nazistische Gefahr lag jetzt weit hinter uns.
Bialystoks Straßen und Amtsstellen quollen über von
Flüchtlingen aus Westpolen. Gemäß dem deutsch-sowjetischen
Grenz- und Freundschaftsvertrag blieb dieses Gebiet in den
Händen der deutschen Eindringlinge, während die Rote Armee
Ostpolen besetzt hielt. Zwischen den beiden Armeen verlief
wie eine Trennlinie der Bug.
Nach kurzem Aufenthalt in der Stadt wurde eine Lösung
für meine sichere Unterbringung gefunden. Man verfrachtete
mich in ein sowjetisches Waisenhaus in Grodno. Mein Bruder
machte sich weiter auf nach Norden, nach Wilna, wo er seine
alte Freundin Mira Rabinowitsch aufsuchen wollte.
Das Waisenhaus (Dietski Dom Nr. 1) befand sich in der
Orzeszkowastraße 15 in einem prächtigen Herrenhaus, das
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einem polnischen Adligen gehörte – dies erzählte man uns
zumindest. Dieser reiche Grundbesitzer war vor den Russen
geflohen und suchte Zuflucht bei den Nazis. Was für eine
verrückte Welt! Die Leute verließen Haus und Hof, die einen
in Richtung Osten, um den Nazis zu entkommen, die anderen
in Richtung Westen, um sich ihnen anzuschließen.
In diesem Waisenhaus hatte ich wieder das Recht, mensch-
lich zu leben, was ich lange schon nicht mehr gekonnt hatte.
Nach und nach wurde ich ruhiger und kam wieder zu mir.
Doch die alptraumhafte Zwangsreise hatte mich tief verstört.
Mein Verhalten und meine Gefühle waren völlig durchein-
ander. Den verständnisvollen Erzieherinnen hatte ich es zu
verdanken, daß ich mich wieder an ein normales Leben mit
regelmäßigem Stundenplan, vollständigen Mahlzeiten, einem
Bett, Unterricht und einem Chor gewöhnte. Alles hätte also
dazu beitragen müssen, dem Leben wieder Freude abgewinnen
zu können. Doch ich litt an Heimweh, und mich quälte die
Ungewißheit über die Lage meiner Familie. Ich wußte nicht,
was aus ihr geworden war – und ich lebte hier unbehelligt,
aß heißen Brei oder lernte ein neues Kapitel bolschewistische
Theorie aus dem »Kratki Kurs WKPB«, dem von Stalin ver-
faßten Ideologie-Lehrbuch.
Der Schmerz nagte an mir, an meiner Seele. Die physische
Reaktion trat dann auch bald ein. Ich wurde zum Bettnässer.
Jeden Morgen mußte ich unter den hämischen Blicken mei-
ner Mitschüler mein Bettzeug herausnehmen, es lüften und
trocknen. Das war mir noch nie passiert.
Wir verbrachten den Tag mit Lernen und musischer Beschäf-
tigung. Jeden Abend fanden wir uns, sauber und wohlriechend,
zum gemeinsamen Abendessen im weitläufigen Speisesaal ein,
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der nach dem Essen als Musiksaal genutzt wurde. Es gab
meistens Grießsuppe, die ich sehr gerne aß, weil sie mich an
ein Gericht erinnerte, das meine Mutter oft zubereitet hatte.
Als ich mir eines Tages diese köstliche Breisuppe schmecken
ließ, trat eine Erzieherin an mich heran und sagte, ich solle
in das Nebenzimmer gehen, wo eine junge Frau auf mich
warte. Ich stellte sogleich Vermutungen über die Identität
dieser Besucherin an. Viel eicht war es eine Schülerin aus dem
Nachbarwaisenhaus, die mich wegen irgendwelcher Aufgaben
befragen wollte, oder eine Schülerin der Theaterklasse. Ich
dachte sogar an Frau Kobrynski, die mich kurze Zeit vor mei-
ner Aufnahme ins Waisenhaus beherbergt hatte. Womöglich
brachte sie mir Nachrichten von zu Hause. Ich ließ hastig
meine dampfende Suppe stehen und eilte mit Riesenschritten
zum Nebenraum. Ich schloß gerade die Tür hinter mir, als
sich mir ein weinendes junges Mädchen an den Hals warf.
Es war Bertha! Bertha, meine geliebte Schwester! Endlich fiel
ein Lichtstrahl in meine Einsamkeit. Lange hielten wir uns
in den Armen und küßten uns. Ich wollte etwas sagen, doch
meine Worte gingen in einer Flut von Tränen unter, so aufge-
wühlt war ich. Bertha ließ mich nicht mehr los. Ich konnte
nur unzusammenhängende Worte stammeln, mit denen sich
mein übergroßes Glück Bahn zu brechen suchte.
Ich starrte Bertha immerzu ungläubig an. Ich sah ihre na-
türliche Schönheit, so wie sie mir noch heute im Gedächtnis
ist, und doch bemerkte ich rasch die Spuren des entsetzlichen
Leides in ihren Zügen, das Trennung und Flucht verursacht
hatten. Sie hielt ein armseliges Bündel in der Hand und sah
erschöpft aus. Mit einundzwanzig Jahren hatten sie die Prü-
fungen des Lebens bereits tief gezeichnet. Eine Stunde später,
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als der Rausch des Wiedersehens zu verfliegen begann, setz-
ten wir uns auf mein Bett, das einzige private Eckchen, und
unterhielten uns. Essen wollte sie nichts, um mich nur keine
Sekunde alleine zu lassen. Der Bericht ihres Abenteuers be-
stürzte mich. Mit einer Freundin war es ihr gelungen, durch
die Ghettotore zu entkommen, die sich wenig später endgültig
geschlossen hatten. Auf demselben Weg wie ich, die gleichen
Gefahren und Verwicklungen durchlebend, hatte sie den Bug
überquert und mich dank der Adresse, die ich auf meinen
Briefen in das Ghetto angegeben hatte, wiedergefunden.
Sie erzählte mir, daß es Vater und Mutter leidlich ginge,
daß sie glücklich seien, Isaak und mich an einem sicheren
Ort zu wissen, und daß die beiden beschlossen hätten, sie
nun ebenfalls in den Osten zu schicken. Mein Bruder David
schreibe keine besorgniserregenden Briefe aus dem deutschen
Gefangenenlager, in dem er saß.
Bertha schlief ein paar Stunden in einem freien Bett, und
in der Morgendämmerung des folgenden Tages nahmen wir
wieder Abschied. Sie ging nach Smorgon, nahe Wilna, wo
sie bei Isaak und Mira wohnen wollte, die gerade geheiratet
hatten.
Ich ahnte nicht, das dies eine endgültige Trennung sein
sollte. Während ich heute diese Zeilen schreibe, steht ihre
Photographie wie eine nie verwelkende Blume an meinem Bett.
Trotz der Ängste, die ich ausstand, lernte ich fleißig. Einmal
im Monat hatte ich die Freude, eine Karte meiner Eltern zu
erhalten. Auf diese Weise erfuhr ich, daß sie wohlauf waren,
mein Bruder David freigelassen worden und ins Ghetto ge-
kommen war und die Auserwählte seines Herzens, Pola Ros-
ner, geheiratet hatte. Mit zitternder Hand antwortete ich mit
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langen Briefen, die ich an folgende Adresse richtete: Familie
Perel, Franziskanskastraße 18, Ghetto Litzmannstadt.
Unterdessen war ich in die kommunistische Jugend, den
Komsomol, aufgenommen worden. Noch konnte ich nicht wissen,
daß ich in absehbarer Zeit einem ganz anderen Jugendverband
angehören würde.
Von den Pionieren, den Jüngsten, in den Komsomol des
Waisenhauses aufzurücken, war nicht einfach für mich: Arglos
und vertrauensselig hatte ich nämlich in das Aufnahmeformular
geschrieben, daß mein Vater Kaufmann sei. Damit bekannte
ich naiv, nicht aus dem Proletariat zu stammen.
Im Sekretariat unseres Komsomol wurde das Problem tat-
sächlich ernsthaft erörtert. Ich war zwar kleinbürgerlicher
Herkunft, doch da ich »hervorragende schulische Leistungen
und Eifer in allen Fächern« zeigte, einigte man sich auf einen
Kompromiß und gestand mir eine einmonatige Probezeit im
Komsomol zu.
Nach Ablauf dieser Frist wurde ich vor die Aufnahme-
kommission zitiert. Da ich durch meine Wortgewandtheit zu
überzeugen vermochte und meine Eignung glaubhaft machen
konnte, wurde ich schließlich in die Organisation aufgenom-
men, der anzugehören ich mir so heftig gewünscht hatte. Der
Tag der feierlichen Aushändigung der Parteiausweise war ein
wahrer Festtag für mich.
In Peine hatte ich Am Damm 1 gewohnt, und in der
linken Nachbarschaft, Hausnummer 6, befand sich das Ko-
lonialwarengeschäft des Herrn Kratz. Er war auch Sekretär
der KPD-Ortsgruppe Peine. Fast jeden Morgen schickte mich
Mama zu ihm, um frische Brötchen und Milch zu holen, und
immer bekam ich von ihm ein warmes Morgenglättchen über
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meine Haare und ein Hammer- und Sichelabzeichen auf die
Brust. Ich mochte es sehr. Und natürlich war meine volle
kindliche Sympathie mit seinen roten Glaubensgenossen, als
ihre Versammlungen im Volkshof von den mit Lastwagen
angefahrenen braunen SA-Horden gesprengt wurden. Die
darauf stattfindenden Straßenkämpfe waren blutig, und
meinen Segen bekamen immer die Peiner Kommunisten.
Eines erschien mir seltsam: Immer wenn die Polizei endlich
ankam, wurden die Angegriffenen verhaftet und nicht die
braunen Vandalen.
Dann verließ ich Peine, meine freundliche Kinderstätte, und
kam mit der Familie nach Lodz. Meine ersten Freunde dort,
Jakob und Jerzyk, kamen aus Familien, die der extrem linken
sozialistischen jüdischen Bund-Partei angehörten, und so wol te
das Schicksal eine weitere Fortsetzung der Weltanschauung
des Genossen Kratz aus Peine. Ich besuchte fast regelmäßig
den Kulturklub der Bewegung und nahm sogar aktiv Anteil
an den verbotenen Demonstrationen am 1. Mai. Nun sollte
es nicht anders sein, und nach der aufgezwungenen Flucht
vom Elternhaus kam ich in das sowjetische Kinderheim in
Grodno, und schon das erhaltene weiße Hemd mit der roten
Pionierkrawatte und die täglichen Lektionen über Marxismus-
Leninismus fielen fruchtbar auf schon so gut gedüngte Erde:
Sally wurde zu einem überzeugten Klassenkämpfer für die
bessere Zukunft der Menschheit!
Unser Waisenhaus wurde vom Panzerregiment der Roten
Armee unterstützt. Regelmäßig verbrachten wir die Abende in
Gesellschaft der Offiziere und Soldaten der Einheit, von denen
wir so herrliche Lieder wie Kalinka oder Katjuscha lernten.
Später habe ich diese Lieder mit meinen Kampfgenossen des
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Palmach während des israelischen Unabhängigkeitskrieges auf
hebräisch gesungen.
An diesen Abenden wurden freundschaftliche Verbindungen
zwischen den Waisenhauszöglingen und den Regimentssoldaten
geknüpft. Sie luden uns manchmal ein, zum Militärstützpunkt
zu kommen und bei verschiedenen sportlichen Ereignissen
mitzumachen oder zuzuschauen. All dies half mir, meine
Traurigkeit zu überwinden.
Bisweilen nahmen sie uns in das Kino der Stadt mit, wo
russische Filme gezeigt wurden. Eines Tages sahen wir Auf
der Suche nach dem Glück, einen Film über die Juden von
Birobidschan. Ich verstand nichts, weder, um welche Juden es
hier ging, noch, wie sie dorthin geraten waren. Doch wurde
in manchen Szenen jiddisch gesprochen, worüber ich mich
freute. Ich nahm mir vor, eines Tages die unbekannte jüdi-
sche Republik zu besuchen. Leider vereitelten die unmittelbar
bevorstehenden Ereignisse die Verwirklichung dieses abson-
derlichen Einfalls.
Zwei Jahre vergingen so, von 1939 bis 1941. Dann kam
der Monat Juni. Wir waren mit den letzten Vorbereitungen
zur Abreise in ein Sommerlager beschäftigt, das sich in der
freien Natur am Ufer des Njemen befand. Schon im Vorjahr
hatten wir den Sommer in jener Gegend verbracht, und nun
warteten wir ungeduldig darauf, daß diese wunderbare Zeit
wieder anbrechen würde.
Wir ahnten nicht, daß sich das deutsche Heer in diesem
Augenblick bereits zum Angriff rüstete und der Countdown
des Unternehmens »Barbarossa« lief.
22. Juni 1941. Der Angriff begann vor dem Morgengrau-
en. Um fünf Uhr fuhren wir beim Getöse der ersten von
29
den Deutschen abgeworfenen Bomben aus unseren Betten
hoch. Minuten später erfuhren wir, was geschehen war: Die
Deutschen hatten den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt
gebrochen und begannen mit dem Einmarsch in Rußland. Ein
sowjetischer Erzieher, ein Jude, stand plötzlich im Schlafsaal
und befahl al en jüdischen Kindern, sich anzuziehen und in das
Innere Rußlands zu flüchten. Mittlerweile waren fast überall
Lautsprecher angebracht worden, und man hörte die Stimme
Außenminister Molotows, der »den Krieg zur Verteidigung
des heiligen Vaterlandes« ausrief.
Wir machten uns mit einer ganzen Gruppe auf den Weg.
Wir dachten, daß die Rote Armee, noch bevor wir in Minsk
einträfen, mit den faschistischen Eindringlingen kurzen Prozeß
gemacht, sie mit ihren surrenden Maschinen dezimiert haben
würde. Davon jedenfalls sangen wir in unseren russischen
patriotischen Liedern, so jedenfalls tönte es in den Reden
der Parteigrößen, die nicht aufhörten, die Vernichtung jedes
Gegners zu versprechen, der es wagte, den Fuß auf unsere
Erde zu setzen.
Auf unserer Flucht aber bot sich uns ein anderes Bild: das
Bild der Niederlage der »ruhmreichen, unbesiegbaren Sowjet-
armee«. Straßen und Felder waren übersät mit Toten und
Verletzten. Brandherde breiteten sich überall aus, die Luft war
vol er beißendem Rauch. Süßlicher Leichengeruch stieg uns in
die Nase. Unsere Gruppe ergriff Panik, al e liefen auseinander.
Jetzt war ich al ein. Ich wol te auf den Norden, auf Smorgon,
zuhalten, um zu meinem Bruder Isaak zu gelangen. Doch
die Welle der Flüchtenden riß mich mit nach Osten in ein
kleines Dorf nahe Minsk. Dort erfuhr ich, daß weiter in den
Osten hinein zu fliehen nicht möglich war, da die Deutschen
30
die Stadt bereits eingenommen hatten. Überall sah ich die
schrecklichen Spuren der soeben angerichteten Verwüstungen.
Ich hatte Mühe, in diesem Alptraum einen klaren Kopf
zu behalten. Vor zwei Tagen erst war ich wie tausend ande-
re geflohen. Ich war von einem umkippenden Pferdekarren
gesprungen, ich hatte mich außen an einen überfüllten Last-
wagen gehängt. Und dabei hatte ich nur eins im Sinn: Ich
wollte überleben.
Unter dem Hagel der Bomben und Granaten fing die Erde
an zu brennen. Dichte Rauchschwaden stiegen zum Himmel,
der sich ohnehin verdüstert hatte. Das Pfeifen der todbrin-
genden, sprengstoffgefüllten Metallgeschosse verstärkte sich
und kam näher. Ich mußte mich flach auf die Erde werfen,
zu einem Schutz bietenden Felsen kriechen oder mich unter
einer Baumwurzel zusammenkauern, um der Druckwelle der
Explosionen zu entgehen, während über uns die hakenkreuz-
bemalten Flugzeuge dröhnten.
Zu Recht nannte man diese Invasion einen Blitzkrieg. Cha-
rakteristisch dafür war, gewaltige Panzerkolonnen in das innere
des feindlichen Gebiets vorzuschieben, ohne sich darum zu
scheren, was an den Flanken geschah. Hatten sie einen be-
stimmten Punkt erreicht, ließ man sie nach rechts und links
ausschwärmen, bis sie durch mannigfache Verzweigungen zu
den parallel operierenden Panzerkolonnen stießen. Auf diese
Weise gelang es den Deutschen, innerhalb weniger Tage Keile
zu schaffen, die ihre Armee von Nord nach Süd und längs
der gesamten Frontlinie kontrollierten. Wo die Rote Armee
operierte, wurde sie innerhalb dieser Keile eingekesselt. Die
Lage begann, dramatisch zu werden. Wohin ich auch blickte
– überall Brände, Verletzte und Tod …
31
Ich war sechzehn Jahre alt.
Meiner Jugend ist es zuzuschreiben, daß ich trotz der
furchtbaren Ereignisse noch einigermaßen bei Verstand und
in einem gewissen Sinne gleichmütig blieb. Ich hatte damals
keine genaue Vorstellung von der wirklichen Gefahr. Auch
was die Zukunft für uns bereithielt, konnte ich mir nicht
ausmalen. Es war mir gelungen, eine Zeitlang der Hölle des
Dritten Reiches zu entfliehen. Ich war aus Peine, aus Lodz,
aus Grodno herausgekommen. Meine jetzige dritte Flucht
von Grodno nach Minsk schien sich dem Ende zuzuneigen.
In Wahrheit hatte sie gerade erst begonnen.
Einen Tag nach meiner Ankunft in dem kleinen Dorf
traf ich frühmorgens auf hohe sowjetische Offiziere, die sich
über ausgebreitete Landkarten beugten. Die Rangniederen
sammelten die versprengten Soldaten ein. Sie versuchten, eine
geordnete Einheit zusammenzubringen, mit der sie die deutsche
Einkesselung durchbrechen und zu den regulären Verbänden
stoßen wol ten. Ob es ihnen gelungen ist, habe ich nie erfahren.
Ich hatte vor, zum nächsten Brunnen zu gehen und einen
Topf mit Wasser zu füllen, um mir die letzten Nudeln und
die letzten Zuckerstücke zusammenzukochen. Ich hatte sie
aus einer russischen Feldkantine mitgenommen, die bei dem
überstürzten Rückzug liegengeblieben war.
Unterdessen kamen die Granateinschläge immer näher.
Tiefflieger feuerten Salven ab, und die verirrten Kugeln pfiffen
durch die Luft. Mutter Erde bot den einzigen Schutzschild;
hinter einem Hügel, einem Steinbrocken, einer Anhöhe oder
in einem Straßengraben konnte ich mich in Sicherheit bringen.
Plötzlich waren sie da.
Nachdem sich die Staubwolken verzogen hatten, erkannte
32
ich sie deutlich. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt und staub-
verkrustet. Große Fahrerbrillen bedeckten Stirn und Augen.
Die furchteinflößenden Stahlhelme, die grünspanfarbenen
Uniformen und die schwarzen Stiefel verliehen ihnen das
Aussehen von Ungeheuern.
Auf ihre Krad-Beiwagen hatten sie schußbereite Maschi-
nengewehre montiert.
Wir saßen in der Falle. Flucht war nicht möglich.
Plötzlich tauchte am Himmel ein Tiefflieger auf und warf
Flugblätter ab. Auf russisch und deutsch wurde uns befohlen,
die Waffen niederzulegen und den Anweisungen des Patrouil-
lenfahrzeugs Folge zu leisten, das auf einmal vor uns stand.
Befehle wurden gebrüllt. Dawai! Dawai! – »Los! Los!« Wir
mußten auf ein leeres Feld gehen und lange Reihen bilden.
Wir sollten sortiert werden. Ich stellte mich in die längste
Reihe, in der Offiziere, einfache Soldaten und Zivilpersonen
standen. Ich war das einzige Kind. Trotz meiner sechzehn
Jahre sah ich wie ein kleiner Junge aus.
Stunden wartete ich jetzt schon so, und die Schlange rückte
langsam zu den deutschen Wachposten vor. Die Gerüchte
jagten sich. Man flüsterte einander zu, daß die Wehrmacht
Juden und Politkommissare der Roten Armee nicht, wie
nach dem Kriegsrecht üblich, in Gefangenenlager brächte,
sondern sie in den nächstgelegenen Wald trieb und dort
erschießen würde.
Die Schlangen wurden von den Soldaten des deutschen
Kommandos scharf überwacht. Jeder unachtsame Schritt über
die Linie zog Beschimpfungen, Drohungen und Gewehrsalven
nach sich. Ich sah, wie russische Offiziere in meiner Nähe
ihre Abzeichen von den Uniformen entfernten; andere lösten
33
verstohlen den fünfzackigen Stern, das Zeichen des Politruk,
vom Ärmel ab.
Ich begriff, daß jeder Schritt nach vorn ein Schritt dem
Ende zu war. Denken konnte ich nicht mehr, Angst und Ent-
setzen lähmten mich, die Zunge lag mir wie ein Bleiklumpen
im Mund. Ich konnte gerade noch murmeln: »Mama, Papa,
Gott, wo seid ihr? Ich will noch nicht sterben.«
Fast schlafwandlerisch, ohne es wirklich überlegt oder ge-
nau bedacht zu haben, gelang es mir mit dem Mut der Ver-
zweiflung, mich aller meiner Papiere zu entledigen, die meine
jüdische Herkunft oder meine Zugehörigkeit zum Komsomol
bezeugten. Mit dem Schuhabsatz grub ich ein kleines Loch in
die weiche Erde und stampfte die verräterischen Dokumente
hinein. Und das vor der Nase der Wachposten! Ich hatte weder
an die Folgen noch an die Reaktion dieser Ordnungs- und
Perfektionsfanatiker gedacht, wenn sich ein Junge ohne Aus-
weispapiere präsentierte. Doch etwas wie eine innere Stimme,
eine Intuition der Zuversicht, ein Funke Hoffnung, flüsterte
mir zu: »Das ist nicht möglich, es wird dir nichts geschehen …«
Ein ähnlicher Hoffnungsschimmer muß auch noch im
Herzen der zum Tode Verurteilten glimmen, wenn die Hen-
ker sie aus den Zellen holen, um sie auf ihren letzten Weg
zu bringen.
Seit Kriegsende und noch heute sehe ich mich in meinen
Träumen am Rand einer frisch ausgehobenen Grube stehen.
Mir gegenüber wird exekutiert … die Kugeln pfeifen … sie
treffen oder treffen nicht … ich falle … falle … und wache
in meinem Bett auf. Ich bin schweißgebadet, starr vor Schreck,
ich ringe nach Luft, aber ich lebe, bin wohlauf. Es ist jedes
Mal, als würde mir das Leben von neuem geschenkt.
34
Die Reihe rückte auf. Bald lag nur noch eine winzige Strek-
ke zwischen den Soldaten und uns. Vor mir stand noch eine
Handvol Männer. Ich konnte bereits deutlich die Gesichtszüge
derjenigen erkennen, die darüber entschieden, wer leben durfte
und wer nicht. Ich hörte ihre bellenden Befehle. Schickte sich
meine Lebensuhr an, die letzte Stunde zu schlagen?
In diesem Augenblick hätte ich fliehen, vom Erdboden ver-
schwinden, mich in etwas anderes, in irgendein Tier verwandeln
oder unsichtbar werden mögen. Ich wäre so gerne erwacht
und hätte an der Brust meiner Mutter wieder Atem geschöpft.
Doch nichts dergleichen geschah. Ich stand wie festgenagelt. Die
Angst hatte einen unbeschreibbaren Höhepunkt erreicht. Sie
drang in jede Faser meines Körpers und drohte, ihn in tausend
Stücke zu sprengen. Unter dieser unerträglichen Anspannung
verlor ich einige Tropfen Sperma. Ich spürte ein Nachlassen der
Spannung und eine eigenartige Erleichterung. Meine Unterhose
wurde feucht, trocknete aber rasch wieder und wurde hart.
Ich schloß kurz die Augen, wie losgelöst zwischen Himmel
und Erde schwebend. Als ich sie wieder aufschlug, erblickte
ich das Koppel eines links von mir stehenden Soldaten, auf
dem »Gott mit uns« eingraviert war. Was hatten diese Worte
zu bedeuten?
War dies derselbe Gott, der uns Juden als die Kinder des
auserwählten Volkes bezeichnet hatte? Oder hatten sie einen
anderen Gott, den man mit Menschenopfern besänftigen
mußte? Der Mann mit dem Koppel schrie mich an: »Hände
hoch!« Ich war an die Reihe gekommen. Ein paar Sekunden
lang, vielleicht die letzten meines Lebens, dachte ich an Vater
und Mutter, an das Gute und Schöne auf Erden, an meinen
unbändigen Lebenswillen.
35
Ich bebte am ganzen Körper. Ich hob meine zitternden
Arme, und der stahlhelmbewehrte Wachposten näherte sich
mir, um mich systematisch zu durchsuchen. Ich sah mich
schon sterben, blieb aber stocksteif stehen und brach nicht
in Schluchzen aus.
Ich wartete. Er hob die Hand, und in dem Augenblick, da
sie meinen Körper berührte, überflutete mich der Lebenswil e
wie ein Orkan. Etwas Phantastisches war in mir vorgegangen,
eine Art Befreiungsengel wachte plötzlich über mich. Die läh-
mende Angst verflog. Auch meine bleischwere Zunge löste sich.
Zuversicht und Mut überkamen mich, und ich sagte leichthin
zu dem Mann, der gleich über mein Schicksal entscheiden
würde: »Ich habe keine Waffen!« und lächelte ihn breit an.
Er beugte sich nieder und tastete rasch meine Hose ab.
Er schielte von unten hoch und fragte mich lauernd und
drohend: »Bist du Jude?«
Ohne zu zögern, antwortete ich mit normaler, fester Stimme:
»Ich bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.«
Mein Leben hing an einem seidenen Faden. Ich befand
mich in den Händen eines Militärs, der vom Wahnsinn des
Krieges und der Mordlust vergiftet war. In seinen Augen war
ein Menschenleben keine Revolverkugel wert. Sein Wille und
sein Urteil bestimmten mein Schicksal. Würde er mir glauben?
Doch die Gefahr verschärfte sich, und die Lage wurde
nahezu aussichtslos: Ein hinter mir stehender junger Pole
sprang plötzlich vor und sagte, mit dem Finger auf mich
zeigend, zu dem deutschen Wachposten: »Der … Jude!« Ich
verneinte verzweifelt, halb tot vor Angst. Da ereignete sich
das Erstaunliche und Unglaubliche, das ich heute noch nicht
begreife. Der Nazi-Soldat glaubte mir, ausgerechnet mir! Der
36
verwirrte Denunziant bekam eine schallende Ohrfeige für
seine Unverschämtheit und den Befehl, »seine Schnauze zu
halten«. Wörtlich!
Mein Blick blieb von neuem am Koppel des Soldaten hängen.
Zum zweiten Mal las ich: »Gott mit uns«. Was war in diesem
alles entscheidenden Augenblick im Herzen dieses Mannes
vorgegangen? Hatte ihm ein göttlicher Funke, während er
vor mir stand, etwa zugeflüstert: »Dieser Junge muß leben!«?
Wenn es so war, warum dann ausgerechnet ich? Würde ich es
je erfahren oder begreifen? Bevor die Reihe an mir war, hatten
schon viele Juden die Kontrolle durchlaufen. Auch sie wollten
ihre Herkunft verbergen. Da sie des Deutschen nicht mächtig
waren, konnten sie sich schlecht als Deutsche ausgeben und
hatten daher erklärt, Polen, Ukrainer, Litauer, usw. zu sein.
Sobald jedoch in den Augen der argwöhnischen Soldaten
der geringste Zweifel bestand, befahl man ihnen, die Hosen
herunterzulassen. Entdeckte man, daß sie beschnitten waren,
trieb man sie fluchend zusammen und jagte sie zur nächsten
Gruppe, die in den Wald fuhr. Dort wurden sie erschossen.
Aber mir, mir hatten sie geglaubt.
Überraschend höflich bat man mich, beiseite zu treten. Ich
tat es. Unterdessen ging die Aussonderung weiter. Während
ich wartete, hörte ich das metallische Klirren der Schaufeln,
die die Gräber meiner Brüder aushoben, hörte ich ganz nah
die Maschinengewehrsalven. Die Schützen gehörten zu den
»Einsatzkommandos«, die den vordringenden Wehrmachts-
einheiten auf den Fersen folgten, aber nicht, um sich etwa
am Kampf zu beteiligen, sondern einzig, um unzählige Juden
und Politruks zu ermorden.
Ich stand noch immer da, bestürzt über die unglaublichen
37
Szenen, die sich vor meinen Augen abspielten. Diejenigen, die
nach rechts abgingen, wurden in den Todeswald befördert,
die linke Schlange in ein riesiges Lager getrieben, das man
eigens für sie errichtet hatte. Ich verharrte in der Mitte und
wartete auf mein Schicksal.
Hin und wieder lächelte mir der Deutsche, der mir soeben
das Leben gerettet hatte, aufmunternd zu, um mir zu bedeuten,
daß er mich nicht vergessen habe. Ein deutscher Unteroffizier
näherte sich. »Herr Unteroffizier, wir haben unter diesem Abfall
der Menschheit einen jungen Deutschen gefunden«, machte
der Soldat Meldung. Wohlwollend lächelnd nahm mich der
Unteroffizier in Empfang.
Ein wichtiges nationalsozialistisches Ziel war die Heim-
holung aller Volksdeutschen ins Reich. Zur Verwirklichung
dieses großen Unternehmens mehr oder weniger beizutragen,
erfüllte die Soldaten mit vaterländischem Stolz. Der Weg
war noch weit, bevor die Tausenden von Deutschen befreit
werden konnten, die am Wolgaufer lebten, und mit mir –
so glaubten sie – war ihnen die erste Schwalbe zugeflogen.
Etwa eine Stunde später fuhr eine mit Soldaten und Waffen
vollgeladene Zugmaschine vorbei. Der Unteroffizier hielt sie
an, wechselte ein paar Worte mit dem Hauptmann und sagte,
ich solle mich einmal auf den Kotflügel des Fahrzeugs setzen.
Die Insassen lächelten mir zu. Ein Soldat photographierte
die Szene, ohne zu ahnen, welch einzigartige Aufnahme ihm
da gelungen war. Erst 1987, also fünfundvierzig Jahre später,
hielt ich dies Photo in Händen. Ich fand es in Lübeck bei
Ehrenfried Weidemann, jenem Soldaten, der mich damals
gefangengenommen hatte.
Die Zugmaschine fuhr an, nachdem man mich hinein-
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gezwängt hatte. Das Kreischen ihrer Ketten übertönte die
Schüsse im Wald, und die Staubwolken verbargen mir die
unzähligen anderen, die in den Reihen des Schicksals gingen …
Der Vorhang senkte sich und hob sich wieder, und die
Reise in eine ungewisse Zukunft begann.
Ich hielt mich mit Händen und Füßen im Fahrzeug des
Feindes fest, ein Sturz wäre fatal gewesen. Die Fahrt dauerte
nur kurz. Wir gelangten schnell in das Lager der Panzerjäge-
rabteilung der 12. Panzerdivision.
Der Hauptfeldwebel der Kompanie, ein vierzigjähriger
Berliner namens Haas, empfing mich herzlich. Er verlor ein
paar mitfühlende Worte über meinen schwachen, verwirrten
Zustand, den Alptraum, den ich durchlebt haben mußte, und
versprach, sich um mich zu kümmern. Ich war tatsächlich
ausgehungert und trug nur noch Fetzen am Leib, da ich auf
meiner überstürzten Flucht oft durch Gestrüpp und steiniges
Gelände hatte kriechen müssen.
Ein junger Soldat wurde angewiesen, mir etwas zu essen
zu holen. Ich werde nie vergessen, mit welchem Heißhunger
ich eine ganze Platte mit belegten Broten leerfegte. Einem
anderen Soldaten wurde befohlen, mir Ausrüstung, Stiefel
und die kleinste Uniform zu besorgen.
Nachdem ich satt war und mich gewaschen hatte, schlüpfte
ich in die Uniform, die mir die Wehrmacht zugedacht hatte.
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Bis jetzt war mein Fühlen
und Denken von diesem endlosen Alptraum bestimmt gewe-
sen, in dem ich keinen aktiven Anteil hatte, in dem ich nur
Statist gewesen war. Aber alles schien geschrieben zu stehen
und vorherbestimmt, und die Flügel des Schutzengels deckten
und retteten mich und gaben mir die passenden Worte und
39
Verhaltensweisen ein. Ich betrachtete mich im Rückspiegel
eines abgestellten Fahrzeugs.
Auf meiner Brust sah ich das Abzeichen mit dem preußi-
schen Adler, der das Hakenkreuz in seinen Raubvogelkrallen
hielt. Man bat mich, die Mütze mit den schwarz-weiß-roten
Streifen aufzuprobieren. Das ernüchterte mich vollends. Ich
fand mich erschreckend. Rings um mich, den kleinen Salomon,
war ein blutrünstiger Krieg im Gange – und ich steckte in
einer Nazi-Uniform! Es überrieselte mich eiskalt von Kopf bis
Fuß. Die Situation überforderte mich völlig, und ich wußte
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Angst vor mir
selbst und vor den anderen, die mich umgaben. Wen von
beiden ich mehr fürchtete, ist nicht sicher. Ich, das jüdische
Kind, hielt mich beim grausamsten Feind auf, und ich mußte
all meine Kräfte aufbieten, um die Nerven zu behalten und
zu verhindern, daß die gefährliche Wahrheit ans Licht kam.
Mit Todesangst im Herzen und schreckensbleichem Ge-
sicht war ich vor ihnen geflohen, seit ich denken kann. Und
jetzt befand ich mich in ihrem Lager, trug ihre Uniform
und gab vor, an einem sicheren Ort und in meiner Heimat
angelangt zu sein. Der Spiegel warf mir das Bild der Uniform
auf meinem abgemagerten Leib zurück, der Uniform, vor der
ich aus Peine, aus Lodz, aus dem Waisenhaus geflohen war.
Vielleicht war dies auch nur ein böser Traum, aus dem ich
sogleich erwachen würde. Aber ich öffnete die Augen und
erkannte, daß dies die neue Wirklichkeit war. Ich weigerte
mich zu glauben, was meine Augen sahen. Die aberwitzigsten
Wahnvorstellungen hätten sich eine derartige Umkehrung der
Situation nicht ausdenken können. Was ich empfand, hätte nur
ein in die Höhle des Löwen geworfenes Schaf nachempfinden
40
können. Nach langen Minuten hatte ich den Schock des jähen
Wechsels überwunden.
Jetzt dachte ich fieberhaft an die Antworten, die ich zu
geben, und das Verhalten, das ich an den Tag zu legen hatte.
Ich war noch in Gedanken, als man mich aufforderte, vor den
Feldwebel zu treten. Er saß in einem blauen Volkswagen, der
der Kompanie als fahrende Schreibstube diente. Neben dem
Lenkrad war ein Brett mit einer Schreibmaschine befestigt,
den Wagenfond fül ten Regale mit Verwaltungsakten aus. Die
germanische Ordnung.
Ich näherte mich ihm. Als ich mich auf gleicher Höhe mit
ihm befand, ergriff er sogleich einen Stift und sagte: »Deine
Papiere bitte!«
Meine Zunge war wie gelähmt, und ich konnte kaum
hinunterschlucken, was mir ein paar Sekunden Bedenkzeit
verschaffte. Sagte ich die Wahrheit, gestand ich, meine Papie-
re in der Erde vergraben zu haben, war mir der Tod gewiß.
Ich wußte, daß ich eine plausible Geschichte erfinden mußte.
Nun aber hatte man mich bisher nicht gelehrt, auf Anhieb
prompt und glaubhaft zu lügen. Das haben die Umstände
und die Nazis zuwege gebracht. Schnell ließ ich mich von
den überlebensnotwendigen Hirngespinsten mitreißen.
Die Lüge kam binnen Sekunden: »Herr Feldwebel, al meine
Ausweispapiere wurden durch den massiven deutschen Ar-
tilleriebeschuß des eingekesselten Gebiets, in dem ich mich
aufhielt, vernichtet«, antwortete ich selbstbewußt und ohne
den geringsten Zweifel an der Glaubwürdigkeit meiner Wor-
te aufkommen zu lassen. »Ach, du armer Kerl!« sagte der
Deutsche und lächelt mir verständnisvoll zu. Er nahm ein
leeres Blatt Papier und fragte: »Wie heißt du?« Unwillkürlich
41
nannte ich meinen richtigen Namen: Perel, und sofort schrillte
eine Alarmglocke in meinem Gehirn, Salomon, was hast du
gemacht? Du hast mit deinen eigenen Worten deine einzige
Überlebenschance zerstört! Perel ist ein ausgesprochen jüdi-
scher Name.
Offenbar war ich noch nicht geübt genug; ich hatte nicht
ganz begriffen, worum es ging, auch nicht, daß fortan jede
Minute meines Lebens von der Verschleierung der Wahrheit
und den spontan erfundenen Notlügen abhängen würde, ohne
die ein Überleben unmöglich war und die meine einzigen
Waffen darstellten.
Zum Glück konnte er meine Antwort wegen des Bomben-
lärms der Stukas und der brummenden Motoren der uns in
Wellen überfliegenden Doppeldecker nicht recht verstehen,
und so fragte er nach: »Wie? Wie?« Man gewährte mir also
noch eine Galgenfrist. Mir war klar, daß ich einen anderen
Namen finden mußte, der aber nicht völlig anders klingen
durfte – wie etwa Stuttwaffer oder Müller –, und ich erwi-
derte: »Ich heiße Perjell.«
Ich hatte anscheinend gut gewählt, denn ein daneben-
stehender Mann kam mir zu Hilfe, indem er verkündete:
»Perjell, Perjell, das ist typisch für die in Litauen ansässigen
Deutschen!« Natürlich stimmte ich sofort zu. Fragte man
mich später nach der Herkunft meiner Familie, hatte ich stets
die Antwort parat: »Litauen.« Auf die Aussage eines solchen
Namensexperten war ja Verlaß.
Die zweite Frage kam sofort: »Vorname?« Selbstverständlich
sagte ich nicht Salomon, ich hätte verrückt sein müssen. Die
Verzweiflung inspirierte mich, und ich nahm den erstbesten
Vornamen, der mir einfiel: »Josef.«
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Genau so, wie ich es berichte, kam meine neue Identität
zustande. Die Umstände hatten mir mein Vorgehen diktiert,
und so wurde ich zu Josef Perjell, einem Volksdeutschen aus
Grodno. In meiner Akte stimmte nur das Geburtsdatum. Da
konnte man nichts falsch machen. Al e Menschen werden auf
dieselbe Weise geboren, ein spezifisch arisches Geburtsdatum
gab es nicht.
Ich, Salomon Perel, das jüdische Kind aus Peine, muß-
te von diesem Tage an im Verborgenen und unter falschem
Namen weiterleben.
Die deutsche Ordnung funktionierte tadellos, und rasch
wurde ich der 12. Panzerdivision der deutschen Wehrmacht
mit ihrem Hauptfeldwebel Haas und dem Kompaniechef
Hauptmann von Münchow zugeteilt.
Die Neuigkeit machte die Runde, und mehrere Männer der
Einheit kreuzten auf, um mich in Augenschein zu nehmen
und das deutsche Kind, das »in der Beute enthalten« war,
willkommen zu heißen.
Lächeln zu müssen und einen zufriedenen Eindruck zu
erwecken, wenn einen innerlich Trauer und Angst zerreißen,
ist unvorstellbar schwer. Trotz ihrer Höflichkeit mir gegen-
über fürchtete ich sie wie die Pest. Ich wußte, daß mich eine
einzige Unachtsamkeit das Leben kosten würde.
Ich mußte mich seelisch organisieren, einen kühlen Kopf
bewahren und mich mit einem Spiel vertraut machen, dessen
Regeln ich nicht kannte. Aber noch ahnte ich nicht, daß dies
erst der Anfang einer irrwitzigen und nicht enden wollenden
Komödie des Schreckens war.
Die Nacht verbrachte ich auf dem Vordersitz eines Lastwa-
gens. Trotz der unerträglichen Angst, die mich nicht losließ,
43
gewann die Müdigkeit die Oberhand, und ich schlief tief
und fest.
Am nächsten Morgen wurde ich in die Ausrüstungskammer
geschickt, um alles Notwendige für einen einfachen Soldaten
in Empfang zu nehmen. Die zahlreichen Einzelteile lagen
akkurat in einem großen Militärsack. Ich war gerade mit
den morgendlichen Verrichtungen beschäftigt, als ich den
lauten, wiederholten Befehl zum Antreten hörte. Ich begann
zu zittern, und mir wurde flau. Glücklicherweise stellten sie
mich von dieser Verpflichtung frei und erlaubten mir, mich
in der Nähe aufzuhalten. Der Appell umfaßte die Inspizie-
rung der Bärte, der körperlichen Sauberkeit, der Waffen und
Schuhe, die Verteilung der Post und das Verlesen des Tages-
befehls. Ich begriff, daß das Unternehmen planmäßig verlief
und die Streitkräfte rasch nach Osten auf die vorgesehenen
Ziele vorrückten.
Kurze Zeit später, als ich einmal zusammen mit anderen
Soldaten der Kompanie antreten mußte, näherte sich mir der
Feldwebel mit einer Rasierklinge in der Hand. Vor Angst
bekam ich Bauchschmerzen. Auf meinem Gesicht mußte
sich Verwirrung abgezeichnet haben. Er entschuldigte sich
mit einem Lächeln und teilte mir gesenkten Kopfes mit, er
müsse mir die Hoheitszeichen des Reiches von der Uniform
abtrennen, da ich bisher weder auf den Führer noch auf das
deutsche Volk meinen Eid geleistet hätte. Ich würde noch
nicht als regulärer Soldat betrachtet werden und dürfe sie
daher nicht tragen. Er tröstete mich mit dem Versprechen,
daß ich bei nächster Gelegenheit meinen Eid ablegen und die
Hoheitszeichen dann offiziell zurückerhalten würde.
Ich hatte Tag und Nacht nur eines im Sinn: die Flucht.
44
Ich wollte den vordersten Frontabschnitt erreichen, die Linie
überqueren und zu den Kampfeinheiten der sowjetischen Armee
überlaufen. Sehr schnell wurde mir die Unmöglichkeit eines
solchen Planes klar, und ich beschloß, meine Fahnenflucht auf
einen günstigeren Zeitpunkt zu verschieben. Mittlerweile hatte
man mir eine breite Armbinde mit der Aufschrift »Dolmetscher«
verpaßt, weil ich ja Russisch sprach. Und es dauerte nicht
lange, bis man mich in ein provisorisches Gefangenenlager
führte, das in der Nähe errichtet worden war. Ich sollte das
Verhör von einigen gefangenen Offizieren dolmetschen. In dem
riesigen Lager drängten sich die von bewaffneten Soldaten
bewachten Männer zu Tausenden. Sie waren kahlgeschoren
und saßen im Schneidersitz ohne Wasser und Nahrung in
der sengenden Sonne.
Als ich eintrat, fiel mir sogleich ein Verletzter auf, der am
Boden lag und nur mit einem russischen Militärrock bekleidet
war. Der ganze Unterleib war nackt, anstelle des Geschlechts
klaffte eine tiefe Wunde. Er stöhnte und flehte um Wasser.
Ich dachte an den russischen Soldaten, der mich vor dem
Ertrinken gerettet hatte. Aber ich hatte weder die Mittel noch
die Möglichkeit, ihm zu helfen. Ich flüsterte ihm ein paar
tröstende Worte zu und folgte schweren Herzens den zwei
deutschen Offizieren.
Wir erreichten die von hohen Bäumen umzäunte Baracke
der gefangenen Offiziere. Im Gegensatz zu den unzähligen
einfachen Soldaten wurden die Offiziere bevorzugt behan-
delt und sahen noch menschlich aus. Man befahl mir, ihnen
das Reglement zu übersetzen, das auch Bestimmungen zur
Aufrechterhaltung der Ordnung und die Strafen im Falle der
Zuwiderhandlung enthielt.
45
Meine Dolmetschertätigkeit war nicht besonders schwierig,
und ich staunte, wie schnell ich mich in meiner neuen Funk-
tion zurechtfand. Bei jeder Begegnung mit meinen natürlichen
Verbündeten, den russischen Gefangenen, mußte ich meinen
Schmerz über ihre Niederlage und Demütigung unterdrük-
ken. Allmählich trug mir mein tadelloses Verhalten bei den
Verhören und Ermittlungen das Vertrauen und den Respekt
meiner »Kameraden« ein. Sie fanden mich komisch in meiner
zu großen Uniform und den riesigen Stiefeln, die mir das
Aussehen eines gestiefelten Katers verliehen. Ich galt als der
»jüngste Soldat der Wehrmacht«, was die Sympathie erhöhte,
die ich genoß. Ständig stopften sie mich mit Süßigkeiten
voll, fragten mich nach meinem Befinden und sorgten dafür,
daß mir tags nicht zu heiß und nachts nicht zu kalt war. Sie
begannen, mich ihren »Kumpel« zu nennen. Ich wurde für
sie das Maskottchen ihrer Einheit, und sie teilten zuerst mit
mir die Pakete, die sie von ihren Eltern erhielten.
Meine potentiel en Mörder, die Feinde meiner Familie und
meines Volkes, sahen in mir den Talisman für ihre Unversehrt-
heit und ihren Sieg, während ich innerlich darum betete, sie
mögen rasch sterben und den Krieg verlieren. Welch bittere
Ironie des Schicksals!
»Vorwärts, nach Osten!« hieß es bei jedem Schritt, und so
rückten wir jeden Tag mehrere Kilometer vor, bis der Stadt-
gürtel von Smolensk in Reichweite lag.
In der Einheit herrschte allgemein eiserne Disziplin. Be-
sonders gefürchtet war Hauptfeldwebel Haas. Hauptmann
von Münchow trat selten in Erscheinung. Bei jedem Stel-
lungswechsel wurde ein mit Wein- und Champagnerflaschen
vol beladener Wagen mitgeführt. In diesem Wagen verbrachte
46
er den Großteil seiner freien Zeit in Gesellschaft von Offizie-
ren der Nachbareinheiten. War ich zufällig allein in seinem
Bunker, nutzte ich öfter die Gelegenheit, von seinem Schreib-
tisch eine Zigarette zu stibitzen. Und die rauchte ich dann
mit Vergnügen!
Folgende Geschichte gibt ein Bild von der strengen Diszi-
plin: Die Einheit rückte in unabhängiger Formation vor. Sie
bestand aus einigen Dutzend Fahrzeugen, an deren Spitze
sich der Wagen des Hauptmanns befand. Von Zeit zu Zeit
fuhren der Offizier vom Dienst oder der Feldwebel mit ihren
Motorrädern den Konvoi ab, um zu kontrollieren, ob alle
Mann ihre Ausrüstung komplett dabeihatten, die Hände an
der Waffe lagen und der Helm korrekt saß. Unsere Kampf-
anzüge mußten bis zum letzten Knopf geschlossen sein. Nur
in den heißen Nachmittagsstunden, wenn die Sonne stach,
geruhte Herr Hauptmann sich unserer zu erinnern und gab
den Befehl: »Obersten Knopf öffnen!« Die Weisung ging von
Fahrzeug zu Fahrzeug. Ich saß hinten auf dem zweiten Wagen
und durfte die erfreuliche Meldung weiter durchgeben. Lange
Minuten verfolgte ich, was im Rest des Konvois geschah. Wie
in einem Trickfilm drehte sich ein Kopf nach dem anderen,
um die Anordnung weiterzusagen, und hob sich eine Hand
nach der anderen zum obersten Knopf.
Während meines Aufenthalts in dieser Einheit entwickelte
sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen mir und dem
Sanitätsoffizier Heinz Kelzenberg. Mein ständiger Platz im
Konvoi war in seinem Wagen. Wir nahmen unsere Mahlzeiten
gemeinsam ein, und rasteten wir am Straßenrand, erzähl-
te er mir von seiner Familie, seiner Heimatstadt Köln und
Deutschland im allgemeinen. Er brachte mir ein paar kölsche
47
Volkslieder bei, und ich schloß mich ihm eng an. Er war groß,
hatte ein feines Gesicht und helles, sorgfältig gekämmtes, in
der Mitte gescheiteltes Haar. Er gab mir als erster den netten
Spitznamen »Jupp«, den die anderen rasch übernahmen. Bald
nannte mich keiner mehr Josef, sondern ich war Jupp, der
kleine Dolmetscher.
Wir rückten rasch vor, besonders am Tage. Bei Einbruch
der Nacht machte unsere Einheit auf einem günstigen Gelände
Quartier, und wir legten die Wachablösungen fest. Die ande-
ren trafen die Vorbereitungen für die Nacht. Der schlechten
hygienischen Bedingungen wegen kam eine Unterbringung
bei der Bevölkerung nicht in Frage. Wir zogen die Strohbal en
in den Scheunen vor, aus denen wir unsere Betten bauten.
Eines Nachts, ich schlief tief auf meinem Strohlager, fühlte
ich, wie mir eine Hand über den Unterleib strich. Ich riß die
Augen auf und sah Heinz’ vertrautes Gesicht neben mir. Ich
war verblüfft über diese sonderbare Berührung. Ich schob
mich schnell zur Seite, während er versuchte, mir näher zu
kommen und dabei flüsterte: »Sei still, Jupp, ich will nur ein
bißchen mit dir spielen.« Ich verstand nicht, was für ein Spiel
er meinte, doch widersetzte sich meine natürliche Naivität
diesem unbekannten Zeitvertreib. Ich packte meine Decke
und verzog mich in eine andere Ecke.
Am folgenden Tag taten wir beide so, als wäre nachts
nichts geschehen, und verhielten uns wie immer. Es verstand
sich von selbst, daß ich mir nicht erlauben konnte, einen von
ihnen zu verärgern. Mit jemandem einen Streit vom Zaun zu
brechen, wäre Wahnsinn gewesen!
Eines Tages gingen wir in einem großen Schulgebäude
in Stellung. An den Wänden hingen noch kommunistische
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Parolen und Farbphotos von Stalin mit seiner geliebten Toch-
ter Swetlana auf dem Arm. Auf ihrer weißen Bluse flatterte
lustig ihre rote Krawatte, und das ganze breit lächelnde Ge-
sicht strahlte Stolz und Glück aus. Sie salutierte nach Art der
Pioniere: »Stets bereit!«
Ich erinnerte mich, wie mein Vater mich einst auf den
Arm genommen und sich mit mir im Kreise gedreht hatte.
Ich hörte vergangenes Gelächter aufbranden. Nun war ich
ein verlassenes Kind, umgeben von Handlangern des Teufels.
Ich blieb allein in einem der Klassenzimmer. Das Heim-
weh übermannte mich, trotzdem schlief ich irgendwann ein.
Plötzlich spürte ich einen feuchten Lappen auf dem Gesicht.
Der scharfe Geruch von Äther stach mir in die Nase. Heftig
stieß ich den Lappen weg, bevor mich der Äther bewußtlos
machte. Ich stand mit einem Satz auf den Beinen und sah
Heinz vor mir, der murmelte: »So schlimm ist das doch gar
nicht …«
Mittlerweile hatte ich gezwungenerweise gelernt, mich in
meiner neuen Identität wie in einer zweiten Haut zu bewegen.
Schreck und Heimweh ließen nach und quälten mich weniger.
Der starke Überlebenswille überlagerte alles und machte den
Rest zweitrangig.
Wir blieben ein paar Tage bei Smolensk. Und hier hatte
ich Gelegenheit, an einem aufregenden historischen Ereignis
mitzuwirken. Ich wurde in das Hauptlager der Kompanie
gerufen, um das Verhör eines hohen russischen Offiziers zu
dolmetschen, der soeben gefangengenommen worden war. Sol-
che Begegnungen erfül ten mich mit heimlicher Freude, da all
meine Sympathie und mein Mitgefühl den Gefangenen galt.
Ich konnte ein wenig den inneren Aufruhr beschwichtigen,
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indem ich verstohlen eine Freundschaft pflegte oder den Ge-
fangenen etwas Nahrung zusteckte. Dies war mein armseliger
Beitrag zum gemeinsamen Kampf, der darin bestand, unter
solchen Bedingungen durchzuhalten. Meine neue Identität
hatte mein Bewußtsein noch nicht deformiert. Meine neue
Persönlichkeit begann sich eben erst herauszubilden.
Ein Motorrad holte mich ab. Nach einigen Kilometern
erreichten wir die Stelle, wo die russischen Offiziere festge-
halten wurden. Es war ein strohgedecktes Häuschen, dessen
Bewohner geflüchtet waren. Auf den Gesichtern der dort ein-
gesperrten unteren Chargen und einfachen Soldaten malten
sich die der Gefangennahme vorausgegangenen Schrecken ab.
Ich spürte ihre Angst und ihre Sorge um die unmittelbare
Zukunft. Die Wachposten zeigten auf einen Chargierten, und
die deutschen Offiziere – mit Oberleutnant Henmann von der
2. Kompanie der Panzerjägerabteilung der Panzerdivision an
der Spitze – näherten sich einem Gefangenen und begannen
unverzüglich mit dem Verhör. Ich war erstaunt, wie förmlich
und respektvoll sie ihm entgegentraten. Gemeinhin zeigten
sie sich den Russen gegenüber hochmütig und grausam.
Schon im ersten Stadium des Verhörs bestand an der Iden-
tität des Mannes kein Zweifel mehr: Es handelte sich um den
Artillerieoffizier Jakow Dschugaschwili, den Sohn Stalins. Er
saß hier fest, während sein berühmter Vater in aller Eile die
Verteidigung Moskaus organisierte.
Ich konnte kaum meine Erregung verbergen. Auch die
Gesichter der anwesenden Deutschen blieben nicht gleich-
mütig. Die Prüfung der Papiere brachte die Bestätigung. Sie
baten ihn um präzise Auskünfte über die Artilleriestellungen
seiner noch kämpfenden Einheit, doch er weigerte sich und
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machte – gemäß seinem Recht als kriegsgefangener Offizier
– lediglich Angaben zur Person.
Inzwischen hatte der Divisionskommandant von dem Ereig-
nis Meldung erhalten und ordnete die sofortige Überstellung
in das Hauptquartier an. Ich fand noch Zeit, ihm zuzulächeln
und ihm dobrowo puti, »gute Reise«, zu wünschen. Ich habe
ihn nie wiedergesehen.
Der Blitzkrieg ging weiter und riß mich mit. Die Not-
wendigkeit, unter Erwachsenen zu leben, veränderte meine
Lebensweise gründlich. Wider Wil en hörte ich ihre gemeinen
Reden, hörte ihre schlüpfrigen Witze, ihre Liebes- und Frau-
engeschichten, ihre Unterhaltungen über Eroberungen und
Sex. Nicht alles, was sie sagten, war uninteressant, zumeist
jedoch war es hohles, vulgäres Geschwätz. Manchmal konnten
auch sie die Sehnsucht nach ihrer Familie oder das Heimweh
nach Deutschland nicht verbergen. Sie trösteten sich aber mit
der Aussicht auf den Sieg, den sie lange vor Einbruch des
schrecklichen russischen Winters erringen würden und der
sie schnell wieder nach Hause brächte.
Keiner hatte je einen Vorbehalt oder eine eigene Meinung
über diesen Krieg zu äußern gewagt, in den sie al e verwickelt
waren, und dies, obwohl die kugeldurchsiebten und granat-
splitterzerfetzten Leichen ihrer Kameraden von Tag zu Tag
zahlreicher wurden. Am Anfang waren es noch Einzelgräber,
doch je näher Moskau rückte, je mehr verwandelten sich die
Felder in Friedhöfe.
Wie jene, die einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren,
wiederholten sie unablässig die gleichen Phrasen. Sie bestä-
tigten sich gegenseitig damit, hier nach fünfundzwanzig Jah-
ren kommunistischer Herrschaft solch primitive Verhältnisse
51
vorzufinden. Das al es war für sie ein Ausdruck von Schlamperei
und Schwäche. Von wegen ›Paradies‹, Adolf Hitler könne man
nur danken, der sie hierhergeführt und ihnen so die Augen
über diese Regierungsform geöffnet hätte.
Der »Beweis war erbracht«, daß der Führer recht hatte,
daß es einer lenkenden Hand bedurfte und daß diese von der
Vorsehung bezeichnete Hand nur die des deutschen Reiches
sein konnte. Letztlich käme das ja auch den »Iwans« zugute,
wie die deutschen Herren ihre zukünftigen Vasallen nannten.
Doch manchmal war das tägliche Leben auch lustig. Ich
spielte schon gut Mundharmonika und lernte ihre Lieder dazu,
ich lernte Skat spielen und schunkeln, während mir das Bier
die heisere Kehle hinabrann. Aber auch in den übermütigsten
Momenten verließ mich die Angst keine Sekunde. Was würde
geschehen, wenn sie die Wahrheit erfuhren?
Im Bewußtsein meines schrecklichen Geheimnisses lebte
ich also mein tragisches Doppelleben weiter. Gab es unter
ihnen denn keinen einzigen verläßlichen Menschen, dem ich
mich anvertrauen konnte? Ich hatte das brennende Bedürfnis,
mich jemandem mitzuteilen. Doch ich lernte, meine Zunge zu
hüten und meine Worte zügeln und gab dieser gefährlichen
Versuchung nicht nach.
Eines Tages überbrachte mir der Gefreite Gerlach den Befehl,
zum Kompaniechef zu kommen. Er fragte mich, ob ich wisse,
wie man vor einen Vorgesetzten tritt und grüßt. Ich antwortete,
daß ich mich bemüht hätte, es zu lernen, und ich ihm keine
Schande machen würde. Ich polierte meine Schuhe, klopfte
meine staubige Uniform aus und rückte meine Mütze zurecht.
Von widerstreitenden Gefühlen zerrissen, ging ich. Mein Herz
schlug schneller. Hauptmann von Münchow fürchtete ich
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sehr. Er hatte stets eine verschlossene Miene, die Vorsicht
und Distanz gebot. Er war behängt mit Auszeichnungen, und
mitten auf der Brust prangte das Eiserne Kreuz. Er war die
Verkörperung des Junkers, Sohn konservativer preußischer
Adliger. Für mich war er der Inbegriff des Nazis. Befand ich
mich in seiner Nähe, verkrampfte ich mich unwillkürlich.
Ich fürchtete, daß er Verdacht schöpfen und mich aushor-
chen könnte, oder Ermittlungen anstellen ließ und dann aus
meinen stammelnden Antworten die Wahrheit heraushören
würde. Er hatte schon wiederholt Interesse für meine Person
bekundet und fragte regelmäßig nach mir. Stets antwortete
ich lächelnd, daß es mir gut ginge, doch verbarg das Lächeln
schlecht die Röte, die mir ins Gesicht stieg.
Jetzt sollte ich in seinem Zelt vorstellig werden. Würde es
diesmal auf ein strenges Verhör hinauslaufen, dem ich nicht
gewachsen war und unter dem ich zusammenbrechen würde?
Ich flehte Gott um Beistand an.
Mit der Zeit hatte ich mir eine einfache, überzeugende
Geschichte zurechtgelegt, die ihr Mißtrauen zerstreuen und
mir lästige Fragen ersparen sollte. Ich hatte vor zu erzählen,
ich sei sehr früh Waise geworden, weshalb man mich ins Wai-
senhaus von Grodno gebracht habe. An meine Eltern könne
ich mich kaum erinnern und wisse auch nicht viel von meiner
nächsten Verwandtschaft. Kurz: Ich sei allein auf der Welt.
Um glaubwürdiger zu wirken, hatte ich mir noch eine Tante
ausgedacht. Die habe mich früher hin und wieder besucht,
und mit der hätte ich auch deutsch gesprochen. Wohin sie
das Schicksal verschlagen habe, wisse ich nicht.
Ich schritt zügig aus wie ein Soldat, der zum Appell
beim Kommandanten antreten muß. Ich war in höchstem
53
Alarmzustand. Im Zelteingang standen Wachen. Ich trat
heran und salutierte zackig. Innen hörte man wohl, wie ich
die Hacken zusammenschlug. Das gefiel, und ich wurde mit
einem Lächeln empfangen. Hauptmann von Münchow bot
mir einen Platz an, und der Gefreite Gerlach mußte Wein
und Gebäck auftragen. Plötzlich kamen mir Zweifel. War dies
ein Traum oder Wirklichkeit? »Hast du schon einmal Wein
getrunken?« fragte mich der Hauptmann. Ich verneinte. Ich
hatte meine Lektion gelernt. Ich war in der Lage, die Wahrheit
zu denken, während, ohne daß ich mit der Wimper zuckte,
genau das Gegenteil aus meinem Munde kam.
War der Herr Hauptmann naiv? Er hätte sich doch sagen
müssen, daß ich zumindest am Seder abend vier Gläser Wein
getrunken habe. Diese Mizwot, diese angenehmen Pflichten
eines gläubigen Juden, mochte ich besonders gerne. Ich ent-
sinne mich, daß mein Vater einmal an einem Sabbat vor dem
traditionel en Essen ein Stück süße Hala, das weiße Zopfbrot,
in ein stark alkoholisches Getränk getaucht und es mir zu
kosten gegeben hatte. Ich wäre fast erstickt, Tränen traten mir
in die Augen, und die Umsitzenden brachen in schallendes
Gelächter aus.
Während ich an diese glücklichen Augenblicke in meinem
Vaterhaus dachte, antwortete ich, daß das Essen im Waisen-
haus ungenießbar gewesen sei und selbstverständlich nie ein
Tropfen Wein meine Lippen benetzt habe.
»Wenn das so ist, kannst du ja mal einen guten Wein, ei-
nen deutschen Mosel probieren.« Der Wein rann angenehm
die Kehle hinab, das Gebäck war mürbe und köstlich. Was
für ein schöner Krieg für den Herrn Hauptmann, dachte ich.
Es entspann sich eine lockere Unterhaltung. Hauptmann von
54
Münchow äußerte nicht den leisesten Zweifel oder Verdacht,
als ich ihm mein Leben so erzählte, wie ich es mir vorgenom-
men hatte. Ich war beinahe erstaunt darüber. Ich meine sogar,
diese Geschichte machte mich ihm sympathischer. Er lobte
meinen Mut, mein tadelloses Betragen, meine ausgezeichnete
Disziplin. Dann machte er mir einen verblüffenden Vorschlag.
Er besaß ein großes Gut in Stettin in Pommern, war sehr
reich, hatte aber keine Kinder. Und da ich ihm so gefiel,
wollte er mich adoptieren … »Du wirst dann kein Waisen-
kind mehr sein und in deinem neuen Vaterland ein schönes
Zuhause bekommen.«
Ich fiel aus allen Wolken. Etwas in mir flüsterte: »Wie
kannst du dem zustimmen, du hast doch Eltern! Wäre das
nicht ein Verbrechen an ihnen?«
Mein Gewissen rebellierte, und ich zögerte mehrere Se-
kunden lang. Die widersprüchlichsten Gedanken schossen
mir durch den Kopf. Dann sagte ich: »Ich möchte gern.« Es
gelang mir sogar, glücklich auszusehen und zu lächeln. Er
bemerkte nicht, konnte gar nicht bemerken, was in diesen
Augenblicken wirklich in mir vorging. Äußerlich schien ich
ruhig und erfreut, in meinem Innern aber tobte ein Sturm.
Schmerz, Heimweh, Tränen drohten mich zu überwältigen …
Die Adoption sollte unmittelbar nach dem Sieg, nach der
ruhmvollen Heimkehr der Truppen ins Reich in die Wege
geleitet werden. Ich würde meinen Adoptivvater auf seinem
Gut wiedertreffen, wo man die notwendigen Formalitäten
erledigen wollte.
Mein ›zukünftiger Vater‹ unterhielt sich noch eine Weile
herzlich mit mir. Als er mich verabschiedete, umarmte er mich
und sagte: »Du wirst Josef von Münchow heißen. Ich werde
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meine Frau von deiner Zustimmung in Kenntnis setzen. Sie
wird überglücklich sein und dir bestimmt bald schreiben.«
Ich trat an die frische Luft hinaus, noch immer ganz be-
nommen und lautlos nach Vater und Mutter rufend.
Mit der Zeit, so mochte es scheinen, ließ auch ich mich
von der gespannten Erwartung des nahen und unbestreitbaren
Sieges anstecken. Bevor ich nachts in den Schlaf fiel, versuchte
ich mir krampfhaft dieses Gut und meine Adoptivmutter
vorzustellen, aber ich dachte auch an meine eigene Familie.
Würde ich sie je Wiedersehen? »Wirst du wieder Salomon Perel
werden, oder wirst du Josef von Münchow bleiben?« fragte ich
mich. Ich wundere mich noch heute, daß ich über all dem
nicht verrückt geworden bin.
Dennoch hörte ich nicht auf, darüber nachzudenken, wie
ich eine Flucht bewerkstelligen könnte. So hoffte ich, an die
vorderste Frontlinie zu gelangen und zu den Sowjets über-
zulaufen. Ich wußte, daß mein Platz auf der anderen Seite
war und ich durch diese »Fahnenflucht« die Opfer der Nazis
würde rächen können.
Eines Tages bot sich mir die Gelegenheit – zumindest
glaubte ich es. Man befahl mir, mich unverzüglich zu einer
Stellung zu begeben, die man soeben erobert hatte, um ei-
nen von den überstürzt geflohenen Russen zurückgelassenen
Sender abzuhören, der noch intakt war und Meldungen von
der anderen Seite empfing. Die Deutschen erhofften sich
Aufschluß über die feindlichen Angriffspläne, um so ihren
ohnehin raschen Durchbruch noch zu beschleunigen. In der
Umgebung hörte man anhaltendes Maschinengewehrfeuer.
Die Gräben führten zufällig an die Position heran.
Ich blickte mich verstohlen um, schätzte meinen Weg
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ab und plante meine Flucht. Vor mir erstreckte sich offenes,
leicht abschüssiges Gelände, auf dem am anderen Ende, in
etwa zweihundert Metern Entfernung von mir, ein dichtes
Birkenwäldchen stand.
Ich wurde immer aufgeregter. Nur noch zweihundert Meter
bis zu meiner Befreiung. Wie ich den ersten Schritt tun sollte,
wußte ich nicht. Ich war von deutschen Soldaten umgeben,
die mich scharf beobachteten, aber nicht, weil sie mich im
Verdacht hatten, fliehen zu wollen, sondern weil sie fürchte-
ten, mir könnte etwas zustoßen. Sie wiederholten mir ohne
Unterlaß, mich nicht auf den Stahlhelm zu verlassen und
nur nicht meinen Kopf aus dem Graben zu stecken. Rings-
um lagen frische Gräber, die die noch warmen Leichen der
deutschen Soldaten bedeckten. Darüber aus Birkenzweigen
zusammengeschlagene Kreuze mit der Inschrift »Gefallen für
Führer, Volk und Vaterland«. Wir erreichten den Sender, und
ich wurde gebeten, den Hörer zu nehmen und das Gehörte
zu übersetzen. Ich zögerte. Sollte ich Wort für Wort überset-
zen oder das Gesagte entstellen, damit es keinen Informati-
onswert hätte? Glücklicherweise war es ohnehin unmöglich,
im unaufhörlichen Gefechtslärm ein Wort zu verstehen. Ich
konnte zwar ein paar Wörter aufschnappen, die aber keinen
Sinn ergaben. Eifer und Interesse vortäuschend, bat ich den
Verbindungsmann, den Sender besser einzustel en, begriff aber
an seinem Kopfschütteln und seinen Flüchen, daß da nichts
zu machen war.
Die Gruppe beschloß, mich augenblicklich zum Stützpunkt
zurückzubringen. Meine inständigen Bitten, mich doch noch
eine Weile hierzulassen, fruchteten nichts. Ich schützte vor,
ich sei zum ersten Mal an der Front und wol e das Geschehen
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noch ein wenig verfolgen. In Wahrheit plante ich, den Ein-
bruch der Nacht abzuwarten und bei der ersten Gelegenheit
in den Wald hinüberzukriechen. Doch sie ließen sich nicht
erweichen und forderten mich mit Nachdruck auf, mit ihnen
zurückzugehen. »Die Feindseligkeiten können jeden Moment
wieder einsetzen, dann ist die Hölle los. Nur ein Dummkopf
würde hierbleiben, wenn er nicht muß«, sagte einer lächelnd.
Es war wirklich schwierig, ihnen zu entkommen. Ich be-
gnügte mich also damit, zu beten und auf eine günstigere
Gelegenheit zu hoffen.
Enttäuscht kehrte ich zu meiner Einheit zurück. Die Männer
interessierten sich für al e Einzelheiten der gefährlichen Mission,
deren Hauptperson ich gewesen war. Ich gab mächtig an, und
das gefiel ihnen. So stieg ich in ihrer Wertschätzung noch.
Ein typischer Vorfall macht deutlich, wie sehr sie mich
achteten: Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit ei-
nem in der Einheit ziemlich unbeliebten Soldaten, der sich
nie wusch und ständig schlecht roch. Wir wurden laut, und
irgendwann brauste er auf und beschuldigte mich, mich wie
ein Jude aufzuführen. Die Reaktion der anderen ließ nicht auf
sich warten. Sie bespritzten ihn mit Wasser, beschimpften ihn
wegen seiner Unverschämtheit und verlangten nachdrücklich,
daß er sich bei mir entschuldige. Ich war so erstaunt wie ver-
wirrt. Worin bestand »diese Schuld«, die mir wieder einmal
vor Augen führte, wie sehr meine Sicherheit, mein Leben an
einem seidenen Faden hing?
Großer Gott! Wenn sie gewußt hätten, daß dieser Schmutz-
fink recht hatte!
Im Laufe der Woche erfaßte die an der Ostfront kämp-
fenden Soldaten erste Bitterkeit. Dieser Feldzug war lang und
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mühsam. Sie hatten einen leichten Sieg erwartet und schilder-
ten genüßlich die Blitzniederlagen der Polen und Franzosen.
Geifernd rühmten sie die Vergnügen dieser ›netten‹ Kriege.
Aber die Pläne verwirklichten sich nicht wie vorgesehen. Bald
mußten sie erfahren, daß die Meldung des Armeekommandos,
die sowjetische Führung in Moskau habe abgedankt, falsch
war, und daß Stalin persönlich die Verteidigung der Stadt in
die Hand genommen hatte. Die Beton- und Stahlbefestigun-
gen, die man um Leningrad gebaut hatte, hatten ebenfalls
standgehalten, überdies erreichten uns verwirrende und wi-
dersprüchliche Nachrichten aus der Stadt. Zu allem Unglück
kündigte sich der russische Winter an. Die Soldaten hatten
Napoleons Niederlage von 1812 und die Worte Puschkins
nicht vergessen:
War es zu glauben?
Moskau niedergebrannt,
Und so den Franzosen übergeben!
Die Angst saß ihnen im Nacken, und dies um so mehr, als
das Oberkommando und die zuständigen Stellen für einen
Winterfeldzug keinerlei Vorsorge getroffen hatten.
Die Wehrmachtsverbände verlangsamten zwar ihren Vorstoß,
rückten jedoch weiter vor und zermalmten alles, was ihnen
unter die Räder kam. Ich entsinne mich, traurig mitangesehen
zu haben, wie die stahlkettenbewehrten Zugmaschinen den
reifen Weizen auf den goldenen Feldern niederwalzten. Und
entzückt beobachtete ich, wie die Halme sich wieder aufzu-
richten versuchten. Manchen gelang es, als wollten sie sagen:
»Auch wir sind nicht bereit, uns dem Eroberer zu beugen. Wir
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werden es dem Besatzer nicht leichtmachen.« Und ich auch
nicht! Mich, das jüdische Kind Salomon, werden sie nicht so
leicht unterkriegen!
Mittlerweile hatten wir in einem großen russischen Dorf
nordwestlich von Smolensk Quartier gemacht. Man beschloß,
uns drei Ruhetage zu gewähren. Die »alten Organisierer« der
Einheit hatten, Gott weiß woher, ein Schlachtschwein aufge-
trieben. Sie beschafften auch große Kochkessel, Eimer und
Zuber für das gemeinsame Bad, die Körperpflege und die
Instandhaltung der Ausrüstung. Wir waren schweiß- und
staubbedeckt. Einige Soldaten entdeckten eine verlassene
Bauernkate und verwandelten die große, mit einem riesigen
Herd ausgestattete Küche in ein Badezimmer.
Das Wasser in den Kesseln begann zu sieden, und schnell
war die Küche von Dampfschwaden und dem Gesang der
Badenden erfüllt. Man badete gemeinsam, gruppenweise.
Selbstverständlich konnte ich meiner Beschneidung wegen
am Gemeinschaftsbad nicht teilnehmen. Die furchtbaren Se-
lektionsszenen waren mir noch im Gedächtnis und werden
es immer bleiben.
Unter verschiedenen Vorwänden lehnte ich die Aufforderung,
mich dieser oder jener Badegruppe anzuschließen, ab, und
wartete geduldig, bis der letzte Mann die Küche verlassen hatte.
Versehen mit einem Handtuch, einem Stück Seife und
sauberer Unterwäsche betrat ich den Raum und verriegelte
sorgsam die Tür. Ich stellte mich in einen Zuber, das heiße
Wasser reichte mir bis an die Knie. Draußen spielte ein Soldat
Mundharmonika, und während ich badete, sang ich fröhlich
eine Melodie aus dem Bajazzo mit.
Plötzlich schrak ich zusammen. Dicht neben mir flüsterte
60
jemand. Ohne daß ich noch recht begriffen hatte, was vorging,
wurde ich heftig von hinten umarmt. Ich spürte, wie sich ein
nackter Körper an mich preßte. Ich erstarrte. In meinem Ge-
hirn schrillten tausend Alarmglocken. Als das erigierte Glied
in mich eindringen wollte, machte ich einen Satz, als hätte
mich eine Schlange gebissen. Es wäre klüger gewesen, so ste-
henzubleiben, den Rücken zu zeigen, doch instinktiv hatte ich
mich aus der Umarmung gelöst. Mit einem Sprung war ich
aus dem Zuber und drehte mich, nackt wie ich war, herum.
Vor mir stand Heinz Kelzenberg, der Arzt in spe. Sein
Gesicht war dunkelrot angelaufen, es spiegelte Verwirrung
und die Enttäuschung darüber wider, sein brennendes Be-
gehren nicht stillen zu können. Er lächelte gezwungen. Tiefe
Stille herrschte im Raum. Minutenlang standen wir uns so
gegenüber, nackt wie am ersten Tag.
Was geschehen mußte, geschah. Sein Blick glitt an mei-
nem Körper abwärts und blieb auf der Höhe des Geschlechts
hängen. Er stutzte, und verblüfft fragte er mich: »Bist du
Jude, Jupp?« Eine tödliche Angst lähmte mich. Ich murmelte:
»Mama, Papa, kommt, helft mir!« Ich brach in Tränen aus:
»Bring mich nicht um! Ich bin jung und will leben!«
Die Bilder von den Greueln, die ich seit einigen Tagen
mitansehen mußte, überstürzten sich in meinem Kopf. Wir
hatten uns in einem kleinen russischen Dorf befunden. Die
Männer der Feldgendarmerie, die zu unserer Einheit gesto-
ßen waren, befahlen den Dörflerinnen, alle Katzen in einem
verlassenen Haus einzusperren. Und dann begann das Ge-
metzel. Niemals werde ich vergessen, mit welch sadistischer
Lust sie durch die halbgeöffneten Fenster auf die armen Tiere
schossen. Die Katzen versuchten, den pfeifenden Kugeln zu
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entkommen, flüchteten sich in die hintersten Winkel, machten
riesige Sprünge und miauten grauenhaft, bis Todesstille eintrat.
Nun stand ich nackt und wehrlos vor einem deutschen
Offizier, war ein Spielball in den Klauen einer gigantischen
Vernichtungsmaschinerie und wartete auf das Todesurteil, das
vielleicht mit einem Revolver vollstreckt werden würde, wie
bei den Katzen. Und wenn er mich nicht auf der Stelle er-
schoß, würde er mich eben diesen Feldgendarmen ausliefern.
Sie hatten Routine darin, verdächtigen Bürgern die Kleider
vom Leib zu reißen und den Männern ein Schild mit der
Aufschrift »Ich war Partisan« um den Hals zu hängen und
den Frauen den Satz »Ich bin ein Flintenweib« an die Brust
zu heften. Danach knüpften sie sie auf Marktplätzen oder
an den am Straßenrand aufgestellten Galgen auf. Das sollte
die Bevölkerung abschrecken, sollte verhindern, daß sie sich
den Partisanen anschloß, die sich trotz der Anwesenheit der
Deutschen zu organisieren begonnen hatten.
Beim Schreiben fallen mir wieder die Überlegungen ein,
die dem Tod vorausgehen, all die Minuten, die ich für meine
letzten hielt … Meine Hand zittert, und ich muß die Feder
niederlegen, um mich zu beruhigen.
Heinz näherte sich mir, umarmte mich zart, zog meinen
Kopf an seine Brust und sagte sanft: »Weine nicht, Jupp, man
darf dich draußen nicht hören! Ich tue dir nichts und verrate
auch dein Geheimnis den andern nicht. Weißt du, es gibt
noch ein anderes Deutschland!«
Bevor Heinz den Raum verließ, mußte ich ihm versprechen,
mich niemandem zu offenbaren, vor allem nicht meinem ›zu-
künftigen Vater‹, Hauptmann von Münchow.
Ich beendete mein Bad, trocknete meine Tränen und verließ
62
gestärkt die Küche. Ich hatte einen Sieg über das Böse da-
vongetragen. Meine Vereinsamung und tiefe Not waren nun
bei einem wahren Freund aufgehoben. Er hatte mir die Hand
gereicht, als ich den Rest Vertrauen in die Menschheit verlieren
wollte, und ich entdeckte erstaunt, daß nicht alle, die mich
umgaben, potentielle Mörder sein mußten. Und ich begriff,
daß nicht alle Soldaten überzeugte Nazis sein mußten.
Weitab von den anderen setzte ich mich später mit Heinz
unter einen Baum und löste ihm das Rätsel. Ich erzählte ihm
alles von Anfang an, sprach von meiner Familie und unserer
Vertreibung aus Peine, kurz: verheimlichte ihm nichts von dem,
was mir bisher widerfahren war. Er hörte sich mitfühlend mein
tragisches Schicksal an. Ich war sechzehn, er dreißig Jahre alt,
und meine Einsamkeit rührte ihn tief. Die sexuellen Belästi-
gungen hörten auf, und es entstand eine echte und herzliche
Freundschaft. Er versprach mir, mich nach dem Krieg mit
nach Hause zu nehmen. Wir schworen, nichts von meinem
Geheimnis und meinem dramatischen Schicksal zu verraten.
Einige Wochen waren vergangen, als ein furchtbares Un-
glück geschah. Der rasche Vormarsch der Wehrmachtstruppen
kam irgendwo in der Umgegend der Moskauer Vorstädte zum
Stillstand. Fortan gab es hauptsächlich Stellungskämpfe. Die
letzten Herbsttage waren gekommen.
Die Oberste Heeresleitung entschied, daß man sich mit
der Übergabe Leningrads – das seit Monaten belagert wurde
– begnügen müsse, wenn man schon Moskau augenblicklich
nicht einnehmen könne. Meine Division wurde also nach
Norden verlegt, um an dieser Operation teilzunehmen. Un-
terwegs kam das Gerücht auf, daß wir alle, um wieder Kraft
zu schöpfen, Fronturlaub erhielten und nach dem Sieg nach
63
Frankreich versetzt würden. Man hatte die Meldung in Umlauf
gebracht, um die Soldaten anzufeuern. Nun begannen endlose
Diskussionen über französische Weine, die berühmte franzö-
sische Küche und die Frauen, die nicht ihresgleichen hatten
auf der Welt. Jeder malte sich die tollkühnsten Geschichten
aus. Ich bedaure, damals diese unglaublichen Phantasien nicht
aufgeschrieben zu haben. Beim Zuhören träumte auch ich von
Frankreich und seinen Wundern, und auch ich wäre lieber
dort gewesen. Ich verspürte nicht die geringste Lust, weiter
an der Front zu bleiben, wo ich unablässig Gefahr lief, an
einem Granatsplitter oder einem Irrläufer zu sterben. In der
Uniform meiner Feinde durch eine Kugel meiner Verbünde-
ten zu sterben! Welch groteske Tragödie! Doch was macht es
schon für einen Unterschied, durch welche Kugel man stirbt!
Kurz darauf erreichten wir die Wälder um Leningrad und
begannen, uns zum Angriff zu rüsten. Man brachte »Goli-
aths«, um die Befestigungen der Stadt zu durchbrechen. Diese
»Goliaths«, ein neues, mysteriöses Kriegsgerät, waren winzige,
dynamitgefüllte Spähwagen, die in die befestigten Bunker
eindringen und dann dort explodieren sollten.
Der Mißerfolg hätte nicht größer sein können. Sie versanken
alle ohne Ausnahme in den tiefen Sümpfen um Leningrad.
Zudem hatten die Russen ebenfalls etwas »erfunden«, eine
einfache, doch sehr wirkungsvolle Maschine: den »Eisernen
Iwan«, ein zweimotoriges gepanzertes Flugzeug, das in den
hellen Leningrader Nächten in lautlosem Tiefflug über die
deutschen Konvois strich und Verheerungen anrichtete. Nach-
dem es einige Bomben abgeworfen hatte – die stets ihr Ziel
trafen –, schoß es mit leichten Maschinengewehren aus dem
Hinterhalt präzise weiter. Man befahl uns, aus den Fahrzeugen
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zu springen und das Feuer zu eröffnen, doch es war sinnlos.
Ich erinnere mich noch genau an diese Szenen, die sich na-
hezu jede Nacht wiederholten, an die Schreie, das Laden der
Gewehre und den Beschuß durch die Flugzeuge über unseren
Köpfen. Bei solchen Zwischenfällen war mir jeder beliebige
große Gegenstand als Schutz recht, ich duckte mich dahinter
und beobachtete das surrealistisch anmutende Schauspiel. Doch
trotz aller Mißerfolge und Verluste ließen sich die Deutschen
von der Einnahme Leningrads nicht abbringen. Die Einheit
bezog in Schlüsselburg Quartier, von wo aus man die leuchten-
den Dächer der Stadt sehen konnte. Wieder befand ich mich
auf einer dicht an der Front verlaufenden Linie. Überall wur-
den verstärkte militärische Vorbereitungen getroffen. Schweres
Geschütz wurde hinten in Stellung gebracht, während man
die Panzer nach vorn schob und jeder sich seinen eigenen
Graben aushub. Unteroffiziere wurden zum Kommandoposten
beordert, um Weisungen entgegenzunehmen. Die Stunde X
war auf den Tagesanbruch des folgenden Morgens festgesetzt
worden. Unter den Soldaten stiegen Nervosität und Spannung:
Alle wollten rasch siegen, am Leben bleiben und bis zu den
versprochenen romantischen Ferien in Frankreich durchhalten.
In der Nacht warf der »Eiserne Iwan« von Marschall Wo-
roschilow unterzeichnete Flugblätter ab, in denen die Sowjets
ankündigten, die Stadt bis zum letzten Überlebenden zu ver-
teidigen. Die Feindhandlungen verliefen nicht mehr so, wie es
sich die Deutschen gedacht hatten. Eine Stunde vor Beginn
unseres Angriffs eröffneten die Sowjets das Feuer. Unsere
Stellungen wurden unter massiven Mörser- und Granatbe-
schuß genommen, was Menschenleben kostete und einen
erheblichen Materialverlust verursachte. Wie unter Schock
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verharrte ich reglos auf dem Fleck und kam nicht auf die Idee,
mich in Sicherheit zu bringen. Heinz sah die Gefahr, in der
ich schwebte. Mit einem Satz warf er sich auf mich und zog
mich gewaltsam unter einen neben einem hohen Gebäude
stehenden Panzer. Unter ihm lagen bereits die Panzerfahrer
in ihren rußgeschwärzten Uniformen. Wir schoben sie ein
wenig beiseite, um noch Platz zu finden. Die Luft war voller
Rauch und beißendem Brandgeruch.
Wenige Minuten später wurde Heinz zur Versorgung der
Verwundeten gerufen. Bevor er ins Freie trat, befahl er mir,
mich nicht von der Stelle zu rühren. Ich schaute ihm nach,
wie er gebeugt zu den Verwundeten lief. Plötzlich ein ent-
setzlicher Knall und ein gleißender Lichtstrahl. Ich drückte
mein Gesicht an die Erde, bedeckte meinen Kopf mit den
Armen. Schreie zerrissen die Luft. Ich hob den Kopf und
sah, nicht weit von mir, Heinz auf dem Rücken liegen, das
Gesicht blutüberströmt. Ich kroch zu ihm und nahm ihn
in die Arme. Jemand versuchte, die tiefe Wunde an seinem
Hals zu schließen und die Arterie zuzuhalten, aus der das
Blut sprudelte. Vergeblich. Seine weit aufgerissenen Augen
starrten in die meinen, und er murmelte etwas, was ich
nicht verstehen konnte. Er verlor das Bewußtsein und starb
in meinen Armen. Wollte er mir Adieu sagen oder sich
für die sexuellen Belästigungen entschuldigen? Ich werde
es niemals erfahren. Aber ich hatte ihm ja ohnehin schon
verziehen, und bis zu meinem letzten Tag werde ich seiner
voller Hochachtung gedenken.
Heinz’ Tod ließ mich verwaist zurück. Von neuem fühlte
ich mich bitter einsam. Ich hatte meinen einzigen Verbün-
deten verloren. Mit diesem jähen Tod gingen auch Hoffnung
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und moralischer Beistand dahin, die ich doch so dringend
brauchte. Uns hatte ein Geheimnis verbunden, und unsere
Beziehung war von absolutem Vertrauen geprägt gewesen. Das
al es hatte er mit ins Grab genommen. Ich konnte Heinz’ Tod
nicht verschmerzen. Ich hatt’ einen Kameraden …
Viele Soldaten wurden verletzt, andere waren gefallen, und
ein großer Teil des Materials war zerstört. Kaum eine Stunde
nach Beginn des Angriffs wurde der Befehl »Alles zurück in
die Fahrzeuge!« gegeben.
Der Rückzug. Zum ersten Mal sahen sich die stolzen Er-
oberer zum Rückzug gezwungen. Niemand legte mehr Wert
auf äußere Erscheinung, Disziplin oder einen obersten Knopf,
der geschlossen sein mußte. Alles rannte durcheinander, suchte
zusammen, was an Ausrüstung liegengeblieben war und lud
es auf.
Dann setzte Hals über Kopf die Flucht vor den Kanonen
ein. Ohne nachzudenken, beschloß ich, jetzt zu fliehen. Ich
wollte warten, bis der letzte Soldat außer Sichtweite war, und
dann gemütlich mit erhobenen Armen zu den vorrückenden
Russen überlaufen. Das Herz schlug mir bis zum Hals an-
gesichts der Möglichkeit, die sich mir da bot. Doch wieder
einmal hatte es das Schicksal anders vorgesehen …
Ich versteckte mich in einer Baracke, hoffend, daß meine
Abwesenheit in dem al gemeinen Durcheinander nicht auffal e.
Durch die Astlöcher in der Barackenwand beobachtete ich das
Chaos, in dem sich der Abzug der Kolonnen vollzog. Man
machte den Kommandowagen Hauptmann von Münchows
zur Abfahrt fertig. Plötzlich schrie mir der Gefreite Gerlach
zu: »Los komm, Jupp, schnell! Jetzt ist doch keine Zeit zum
Scheißen!« Mich länger verborgen zu halten oder zu fliehen,
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war nicht möglich, mehrere Augenpaare hatten sich mir be-
reits zugewandt. Also ging ich hinaus und machte mich an
meinem Hosenschlitz und an meinem Gürtel zu schaffen, als
hätte ich soeben ein dringendes Bedürfnis verrichtet. Man
warf mir einen Stahlhelm zu, und als ich im Wagen des
Hauptmanns saß, hielt mir dieser meinen Leichtsinn vor und
fügte hinzu, daß man mich streng bestraft hätte, wäre ich
Soldat gewesen. Aber ein unmerkliches Lächeln bedeutete mir,
diese Verwarnung nicht allzu ernst zu nehmen.
Al meine Fluchtversuche waren bisher gescheitert. Sie waren
überhall hinter mir her, in Peine, in Lodz, in Grodno, beim
Aufspüren des russischen Senders und jetzt in Schlüsselburg.
Nun gut. Ich verlor die Hoffnung trotzdem nicht …
Leningrad wurde nicht eingenommen. Die Bürger der Stadt,
die Soldaten und die Verteidiger verdienen unsere uneinge-
schränkte Bewunderung.
Unsere Einheit wurde in ein Nachbarland verlegt: nach