Sie konnte meine bange Neugier nicht stil en und vermutete,
daß es sich um eine bloße verwaltungstechnische Formalität
handele. Sie riet mir, mich vom Sportunterricht befreien zu
lassen und gleich morgen früh der Vorladung Folge zu leisten.
Ich verließ den sonnendurchfluteten Raum. Hitlers übergro-
ßem Photo gelang es, mich wie eine Spiegelfläche zu blenden.
Ich hatte vor, mich mit meinem einzigen offiziellen Dokument,
meiner Mitgliedskarte der Hitlerjugend, zu versehen. Ich hoffte,
daß der Riesenschwindel am nächsten Tag bei Gericht nicht
auffliegen würde. Eigentlich war ich davon überzeugt, daß
man mir der Ordnung halber nun endlich eine Kennkarte
des Deutschen Reichs aushändigen werde. Dafür wollte ich
ihnen durch einen besonders strammen Hitlergruß danken.
Ich ging in meine Klasse und an meine Arbeit zurück. In
jener Nacht schlief ich trotz al em wunderbar. Müdigkeit und
Erschöpfung, weil ich mit meinem Zimmergenossen Gerhard
bis spät in die Nacht gelernt hatte, taten gewiß das Ihre.
Am folgenden Morgen begab ich mich zu der Dienststelle,
die mich vorgeladen hatte. Ich ging gemächlich. Den Weg
kannte ich gut. Meine Kameraden und ich waren ihn oft
erwartungsvoll zum benachbarten Kino gelaufen, wo wir uns
die Tonfilme aus der Reichsfilmproduktion ansahen. Wenige
Häuser vom Gerichtsgebäude entfernt befand sich eine große
Konditorei. Da ich hin und wieder an ihr vorüberkam, be-
merkte ich eines Tages ein braunes Schild an der Eingangstür,
126
auf dem in schwarzen Buchstaben deutlich stand: »Für Hun-
de und Juden verboten«. Gerade deshalb ging ich bei jeder
Gelegenheit hinein und kaufte Kuchen. Es machte mir Spaß,
die lächelnde Verkäuferin anzustarren und sie unterwürfig
danken zu hören. Jetzt verspürte ich allerdings keine Lust
auf ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte.
Das Gerichtsgebäude war ein majestätischer Bau, der an die
alten Königspaläste erinnerte. Das Herz schlug mir bis zum
Hals, als ich eintrat. Der pfeilförmige Wegweiser zeigte mir
das Sekretariat, wo ich mich an einen Beamten wandte und
meine Vorladung präsentierte. In Habachtstellung wartete ich
auf seine Reaktion. »Setz dich«, sagte er höflich und begann,
in einem Stapel Papier zu wühlen. »Ach ja, es geht um die
Bestellung eines legalen Vormundes für dich.« Ich schwebte
im siebenten Himmel. Das drohende Gewitter war abgezogen,
und an seiner Stelle überfiel mich unbändige Freude.
Ich sollte meine Identität angeben. Dann legte man mir
mehrere Formulare vor, und ich unterzeichnete in Gegenwart
des Beamten ein offizielles Schriftstück über die Bestellung
eines rechtmäßigen Vormunds. Und wer wurde vor dem Gesetz
Großdeutschlands für mich als Verantwortlicher eingesetzt?
Kein anderer als der ehemalige Offizier der Waffen-SS, der
Heimführer der Hitlerjugend Karl R., mein unmittelbarer
Vorgesetzter. Sofort witterte ich hier eine neue Gelegenheit, mit
ihm auf das bewegende Ereignis mit einem Glas Cognac an-
zustoßen. Hier entstand ein wirklich ungewöhnliches Paradox,
eine in der ganzen Geschichte des Dritten Reichs einzigartige
Anekdote: Ein SS-Offizier nahm – natürlich unwissentlich –
ein jüdisches Kind unter seine Fittiche, um vor dem Gesetz
die Vaterstelle an ihm zu vertreten.
127
Unter dem kalten inquisitorischen Blick des Verwaltungs-
beamten unterschrieb ich. In ihrem Eifer und ihrem Wohl-
wollen würden sie eines Tages noch fähig sein, mich mit
einem blondbezopften Mädel zu verheiraten. Diese alberne Idee
war mir plötzlich gekommen. Bester Laune verabschiedete ich
mich von dem Beamten. Fröhlich pfeifend und mit wiegenden
Schritten eilte ich den Weg zurück, um dem Heimführer,
meinem Vormund, seine neue Rolle zu verkünden und ihm
meine Freude über das jetzt zwischen uns geknüpfte Band
zum Ausdruck zu bringen.
Wieder war eine »kleine« Gefahr an mir vorübergegangen:
Ich war glücklich!
Ich rannte den gepflasterten Weg zum Heim 7 entlang,
das um diese Zeit leer war. Auch das Büro des Heimführers
war zu meiner großen Enttäuschung nicht besetzt. Ich klopfte
vergeblich an die Tür. Also zog ich meine Arbeitskleidung an,
um mich zu meinen Kameraden in die Werkstatt zu begeben,
und verschob die Ankündigung der Neuigkeit und meinen
herzlichen Dank an Karl auf später.
Als ich in die Werkstatt zurückkehrte, schauten mich viele
neugierig und fragend an. Ich erklärte ihnen, daß alles in
Ordnung sei und es nur um einige Papiere gegangen war. Ich
nahm meinen Platz wieder ein und arbeitete da weiter, wo
ich am Vortag aufgehört hatte.
Seit 1940 wurde in der KdF-Stadt Wolfsburg mit Hochdruck
an der Konstruktion und Fertigung des VW-Schwimmwagens
gearbeitet. In unserer Werkstatt, die wie die gesamte Schule
mit ihren Heimen zum VW-Vorwerk gehörte, mußten wir
Spezialwerkzeuge für die geplante Massenproduktion dieses
Amphibienfahrzeuges herstel en. Im Herbst 1942 kündigte sich
128
in der KdF-Stadt ein großes Ereignis an: die erste Probefahrt des Schwimmwagens. Auch wir waren zu diesem Fest eingeladen. In einem geschmückten Omnibus wurden wir zum
VW-Werksgelände in Wolfsburg gebracht, wo die Probefahrt
stattfinden sollte. Wir hatten unsere schönsten Uniformen an-
gelegt und hatten Hakenkreuzfahnen dabei. Die ganze Fahrt
über sangen wir ausgelassen.
Den Anfang des Festes machte eine Besichtigung der
Produktionsstraße des Volkswagenwerks. Die Montagehal-
len, in denen peinliche Ordnung herrschte, waren mehre-
re hundert Meter lang. An den Wänden zeigten Gemälde
Motive aus der germanischen Sagenwelt. In diesen Hallen
trafen wir auch auf holländische, belgische und französische
»Gastarbeiter«, ebenso auf Zwangsarbeiter, die vor allem aus
Polen kamen. Sie mußten natürlich auch an diesem Fest-
tag an den Fließbändern stehen. Weder die einen noch die
anderen fanden unsere Beachtung. Wie wir ja überhaupt
alles verachteten, was »fremd« schien. Man tat außerdem
gut daran, sich Ausländern nicht zu nähern. Die deutschen
Konstrukteure, Ingenieure und Meister erkannte man an
den weißen Kitteln.
Ein Mitarbeiter von Professor Porsche, dem »Vater« des
Volkswagens, führte uns durch die Werkshallen und erklärte
die einzelnen Herstel ungsphasen, angefangen von der Montage
der Blechteile bis zur Lackierung und Endfertigung. Am Ende
der unvorstellbar langen Fertigungsstraße stand der Wagen
funkelnd da und wartete auf die Probefahrt.
Das Volkswagenwerk galt bei den Nazis als Musterbetrieb,
und finanziert wurde es zum Teil auch durch eine einzig-
artige Sparaktion. Jedem Deutschen wurde ein KdF-Wagen
129
versprochen: »5 Mark die Woche mußt Du sparen – willst
Du im eignen Wagen fahren!« Am Ende erhielt jedoch keiner
der fleißigen Sparer ein Auto, war es doch bei dieser Aktion
weniger um private Volkswagen als um die Finanzierung von
Kriegsgerät gegangen. Zu diesem Kriegsgerät sollte auch der
Schwimmwagen gehören – eine mißlungene Konstruktion,
die wir damals als Sensation bejubelten.
Nach einem reichhaltigen Mittagessen begaben wir uns
endlich auf das Probegelände. Vor uns erstreckte sich ein steiler
Abhang, an dessen Fuß ein künstlicher See angelegt worden
war. Wir stellten uns ganz in der Nähe auf. Rings um mich
erreichte die Begeisterung ihren Höhepunkt, als handelte es
sich um eine Entdeckung, von der der Kriegsverlauf abhing
und die den ›Endsieg‹ herbeiführen könnte.
Alle waren in bester Feiertagslaune. Wir fühlten uns mit-
verantwortlich, hatten wir doch erstklassige Präzisionsteile
hergestel t und sie in Windeseile vor dem letztmöglichen Termin
gerade noch fertigbekommen. Die von uns zusammengebau-
ten Teile waren zum Chassis des neuen Fahrzeugs verwandt
worden. Auch diese »Räder rollen für den Sieg«, hatte man
uns gesagt. Plötzlich erscholl das Kommando »Ruhe«. Der
große Moment war gekommen.
Wir hörten Motorengeräusche, und dann tauchte auf dem
Gipfel der künstlichen Anhöhe der Schwimmwagen auf, der
auf den ersten Blick nicht anders aussah als ein normaler
Geländewagen. Dann brauste er den Abhang hinab. Die Zu-
schauer hielten den Atem an und verkniffen das Gesicht vor
Spannung, bis das Fahrzeug unten klatschend auf dem Wasser
aufsetzte, das nach allen Seiten hochspritzte. Im selben Au-
genblick wurde eine Art Schiffsschraube am Heck des Wagens
130
angeworfen, und tatsächlich, er ging nicht unter, sondern
schwamm! Wir waren entzückt, und die anderen auch. Ich
ließ mich von dem Beifallssturm mitreißen.
Die Erprobung war gelungen, »das Vaterland gerettet«.
Trotzdem verhinderte die Erfindung des Amphibienfahrzeu-
ges die Niederlage nicht.
Berauscht vom Vergnügen und von der Freude über den
Erfolg, kehrten wir nach Braunschweig zurück. Die Heime,
die Klassenräume und Werkstätten füllten sich mit begeister-
ten Jugendlichen, die nun ein noch stärkerer Schaffens- und
Tatendrang beseelte.
Wir lernten noch engagierter, bohrten, schraubten und
schmierten weiter an unseren kleinen Rädchen in dieser gi-
gantischen Kriegsmaschinerie. Später wurde hier auch die
Vergeltungswaffe V1 gebaut.
Die Bombenangriffe der Alliierten auf Städte und Indu-
strieanlagen untergruben unterdessen die Moral des Volkes,
störten nachhaltig das Al tagsleben. Der Sieg wurde ungewisser.
Mit ihren blauen Augen begannen sie zu sehen, was wirklich
geschah, und sie zitterten angesichts der Blutströme, die ihre
Wunden nicht aufhören wollten zu vergießen.
Eines Tages wurde der Unterricht abrupt beendet. Wir
wurden aufgefordert, uns in die große Halle der Schule zu
begeben, um gemeinsam der Rede des Reichspropagandami-
nisters Joseph Goebbels zu lauschen. Die Rede wurde direkt
von der Massenversammlung im Berliner Sportpalast über-
tragen. Doch zuvor zählte der Sprecher die Anwesenden auf:
In der ersten Reihe saßen Schwerkriegsbeschädigte mit ihren
Medail en auf der Brust; nicht wenige waren verkrüppelt oder
noch in Gips, hinter ihnen hatten Wehrmachtsangehörige,
131
Abordnungen der braunen und schwarzen Organisationen
und die Menge der Bürger Platz genommen.
Ich versuchte mir vorzustellen, was geschehen würde. Hier
und da wurde wieder Hoffnung laut. Dann erklang Goebbels’
erregte Stimme, und er heizte die Atmosphäre auf, indem er
der versammelten Menge einhämmerte, daß die »unendlichen
Kraftreserven« des deutschen Volkes noch nicht erschöpft seien.
Er verurteilte scharf die Luftangriffe der »im Dienst der Juden
stehenden« Engländer und Amerikaner als barbarisch. Dann
die Eskalation mit der Frage: »Wollt ihr den totalen Krieg?«
Der Stoff vor den Lautsprechern vibrierte und wollte schier
zerreißen, als die johlende und enthemmte Menge ihm sein
»Ja« entgegenbrüllte.
Der totale Krieg wurde ausgerufen. Das Blut jedes
feindlichen Fliegers, der auf deutschem Gebiet abstürz-
te, durfte ungestraft vergossen, er auf der Stelle gelyncht
werden. In zahlreichen früheren Vorträgen waren die Bri-
ten als die natürlichen und potentiellen Verbündeten des
arischen Deutschland dargestellt worden. Aufgrund des
beiden Völkern gemeinsamen arischen Blutes wurden die
Engländer aufgefordert, sich Deutschland anzuschließen,
um das Abendland zusammen von der Gefahr des jüdi-
schen Bolschewismus zu befreien. Es kam anders, folglich
wurde Vergeltung geschworen, die V1 gebaut und das Lied
»Bomben auf Engeland« gesungen.
Der stellvertretende Bannführer, ein Kriegsversehrter mit
einer Holzprothese, die ein Handschuh bedeckte, sprach
mich auf einem Flur des Heims an und teilte mir mit, der
Bannführer habe die Absicht, mich während des wöchent-
lichen Appells am kommenden Sonntag allen Schülern des
132
Banns 468 vorzuführen. Er hörte kaum noch, was ich auf die
Ankündigung meiner »Eingliederung« erwiderte, so schnell
verschwand er.
Diese Ankündigung stürzte mich aber zunächst wieder ein-
mal in Verwirrung. Fortan und bis zur Stunde des erwähnten
Appells lebte ich in permanenter Angst. Ich empfand einen
tödlichen Schrecken bei dem Gedanken, mich vor Hunderten
von Augenpaaren argwöhnischer und fanatischer Jungnazis
aufzubauen. Ihnen hätten an meiner Abstammung plötzlich
Zweifel kommen können. Die Folge wären dann unliebsame
Fragen und Nachforschungen gewesen. Das Warten auf diesen
Appel und die Befürchtungen, die mich bis dahin Umtrieben,
schlugen mir solch tiefe Wunden, daß sie noch heute nicht
verheilt sind und wohl nie vernarben werden.
In der Nacht, bevor ich vorgeführt wurde, hatte ich einen
Traum. Ich sah mich vor einer Schar von sauber gekämmten
und Ausgehuniform tragenden Nazis stehen. Ihre stechenden
Blicke durchbohrten den Schutzpanzer, hinter dem ich mich
verbarg. Wir warteten auf die Ankunft des Bannführers, was
eine bange Ewigkeit dauerte. Dann kam er und informierte
die angetretene HJ lässig: »Hier, ich bringe euch einen jungen
Juden!« Das Schrecklichste, was geschehen konnte, geschah:
Mit wildem Geschrei stürzten sie sich enthemmt auf mich,
rissen mich in Stücke und spießten meinen Kopf auf den
Fahnenmast.
Dieser Traum verfolgt mich immer noch, fast unverändert.
In dem Augenblick, da mein Kopf auf dem Fahnenmast wak-
kelt, schrecke ich aus dem Schlaf hoch, schweißgebadet und
nach Luft ringend. Während sich die Traumnebel auflösen,
bin ich noch ganz benommen; bin ich aber erst ganz wach,
133
stelle ich glücklich fest, daß ich trotz allem noch am Leben
bin. In der Wirklichkeit verlief der Appell ganz anders. Daß
er entgegen meinen schaurigen Vorahnungen so gut ausging,
überraschte mich.
Nach den üblichen Befehlen: »Stillgestanden! Rührt euch!
Achtung! Augen geradeaus!« übernahm der Bannführer das
Kommando, verlas den Tagesbefehl, den ich in meiner Ver-
wirrung weder registrierte, geschweige denn verstand.
Dann kam ich an die Reihe. Er setzte alle offiziell davon
in Kenntnis, daß ich dem Bann zugeteilt worden sei und
meinen Unterricht an der Schule aufgenommen hätte, wie
es die Wehrmacht gewünscht habe, in der ich in der 12.
Panzerdivision an der Ostfront gedient hätte. Er fügte hin-
zu, daß er nun die Erklärung verlesen werde, die die Armee
geschickt habe und die die Unterschrift des Oberstleutnant
Becker trage. Während er damit beschäftigt war und Formu-
lierungen wie »Gute Führung, Tapferkeit und beispielhaftes
Verhalten« besonders hervorhob, entdeckte ich erleichtert, daß
dieselben Augenpaare, die ich so gefürchtet hatte, mich eher
bewundernd, ja voller Hochachtung anblickten. »Als Zeichen
der Anerkennung, dem Vaterland gedient zu haben, hat die
Führung des Banns 468 beschlossen, dem Mitglied der Hitler-
jugend Josef Perjel den Rang eines Scharführers zu verleihen«,
schloß Bannführer Mordhorst feierlich.
Die Bewunderung der anderen hatte ihren Grund. Die
jungen Deutschen waren nämlich alle wild darauf, an die
Front zu kommen und aktiv an den Kämpfen teilzunehmen.
Hatte einer der Schüler das Einberufungsalter erreicht und
flatterte der Stellungsbefehl ins Haus, verbreitete sich die
Neuigkeit in Windeseile, und alle stürzten herbei, um ihm
134
zu gratulieren und sich mit ihm zu freuen. Gleichzeitig war
Neid auf denjenigen spürbar, der endlich für Führer und Volk kämpfen durfte.
Und hier, während des Sonntagsappells, verkündete man
ihnen öffentlich, daß ein gerade siebzehnjähriger Neuling
eingetroffen sei, der schon an diesem »ruhmreichen« Krieg
teilgenommen, in einer der Panzereinheiten gedient und Ruß-
land auf Panzerspähwagen durchfahren habe, und all dies
tapfer und beherzt.
Mit einem Schlag waren alle Barrieren zwischen uns ge-
fallen, und ich war kein Fremder mehr, der versuchte, sich in
eine bereits existierende Gemeinschaft einzufügen. Ich wurde
wie ein gleichberechtigtes Mitglied, das die gleiche Achtung
genoß, aufgenommen.
Ich wußte die neue Lage zu schätzen. Ich atmete freier
und fühlte, wie mein Selbstbewußtsein wuchs.
Immer wieder wurden uns die Ziele des Nationalsozialismus
gepredigt, wurde uns eingehämmert, daß wir die zukünftige
Elite einer neuen Ordnung darstellen würden. Mit diesem
Ziel besuchten uns auch hohe Parteigenossen des Gau Nie-
dersachsen. Der Bannführer ging ihnen schon beim Empfang
mit großen raschen Schritten entgegen, schlug die Hacken
zusammen und hob zackig den Arm. Wir taten es ihm gleich.
Der Gauleiter wandte sich zu uns um und antwortete mit
einem knappen »Heil Hitler!« Dann hielt er eine Rede und
berichtete von seinem Besuch im Führer-Bunker, der Wolfs-
schanze, von der aus der Führer den Feldzug befehligte. Er sei gekommen, so sagte er, um uns von der großen Gelassenheit
des Führers, seiner Zuversicht und Standhaftigkeit zu erzählen.
Er wollte uns überzeugen, daß der Führer die beste Garantie
135
für den Endsieg darstelle. Über die Zukunft sagte er: »Nach
dem Sieg, wenn wir die ganze Welt beherrschen, werden wir
hunderttausend Führer brauchen.« Und mit dem Finger auf
uns zeigend, rief er mit prophetischer Emphase: »Und diese
Führer werdet ihr sein!«
In dem mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Saal wurde
es mucksmäuschenstill. Man konnte förmlich hören, wie den
Heranwachsenden die Brust vor lauter Größe und Ruhmsucht
schwol . Die Vorstel ung, selbst ein Führer zu sein, verzauberte
sie. Und sogar Jupp murmelte in sich hinein: »Also, hast du
gehört, Schloimele? Du könntest eines Tages sogar ein kleiner
Führer werden …«
Ende 1942, als die deutschen Erfolge ihren Höhepunkt
erreicht und der Ost-Feldzug als siegreich beendet angesehen
wurde, zweifelte niemand von uns am Dritten Reich. Selbst
Jupp glaubte daran. Ein Sieg folgte auf den anderen, und die
Propaganda ließ Zweifel gar nicht erst aufkommen. Es war
schwierig für die Jugend, sich von der strahlenden Zukunft,
die sie erwartete und die man ihr verhieß, nicht beeindrucken
zu lassen.
Hin und wieder beschäftigte mich die Frage, welcher Platz
und welches Schicksal mir in einem künftigen, die ganze
Welt beherrschenden Deutschland beschieden sein würde.
Die Aussicht bedenkend, daß auch ich meinen Teil Ruhm
abbekommen würde, wie die Parteigenossen behauptet hatten,
bekam ich eine Gänsehaut, aber wie immer wußte ich mich
zu beruhigen. Ich zählte auf meine Anpassungsfähigkeit an
alle Situationen, auch in einem künftigen Deutschen Reich,
das aus den Trümmern eines »schwachen, verkommenen Eu-
ropas« erstehen würde.
136
Wie immer auch meine Rol e aussehen mochte – einer Sache
war ich mir gewiß: Jupp würde niemals das oberste Gebot
vergessen, das lautete, Salomon zu schützen, dessen Funke
seines Ursprungs weiterglühte und niemals verglimmen würde.
Das Leben des Hitlerjungen Jupp nahm seinen vorbestimm-
ten Gang. Ich war sehr froh, daß Karl R. vom Gericht zu
meinem Vormund ernannt worden war – für mich war er
schließlich mehr als der Heimführer. Ich entwickelte eine
Art Vertrauen zu ihm, denn er war mir von Anfang an offen
und hilfsbereit gegenübergetreten. Das beruhigte mich und
gab mir auch immer wieder Sicherheit. So ging ich in seine
Kanzlei, um mich für seine Bereitschaft, diese Vormundschaft
zu übernehmen, zu bedanken. Einmal mehr war das eine der
Gelegenheiten, um zu plaudern und miteinander anzustoßen.
Er kannte meine wahre Geschichte nicht, und trotzdem fan-
den wir eine bestimmte Basis, auf der wir uns verstanden.
Ein neuer Vater oder auch nur Vaterersatz hätte er niemals
für mich sein können. Welch eine Vorstellung, ging doch
mein wahrer und geliebter Vater zur gleichen Zeit im Ghetto
von Lodz an den unmenschlichen und letztlich mörderischen
Nazi-Verordnungen zugrunde. Ich hatte nur einen Gedanken:
»Gebt mir, um des Himmels willen, meine verbotenen Eltern
zurück!«
Ich zog mich oft zurück, wollte allein bleiben und nahm
daher nur selten an den Ausgängen in die Stadt teil. Gerne
hätte ich wie die anderen Mädchen kennengelernt, aber davor
scheute ich mich. Al e Begegnungen, die die Neugier Fremder
hätten wecken können, vermied ich. Aber der Zufall wollte
es, daß mir Ernst Martins, der zweite Volksdeutsche aus der
Ukraine, ein BDM-Mädel namens Leni Latsch vorstel te. Dieses
137
hübsche Mädchen gefiel mir auf Anhieb. Sie erweckte Liebe
und Lust in mir, die ich aber unterdrücken und beherrschen
mußte. In Wahrheit brannte ich vor Begehren, wenn ich dieses
warmherzige junge Mädchen traf. Leni hatte einen ausgespro-
chenen Sinn für Humor. Wir ergänzten uns ausgezeichnet.
Sie war so fröhlich und lebendig, ich so ernst und einsam.
Wir befreundeten uns und sagten, was wir empfanden,
nämlich daß wir uns liebten.
Ich hätte Leni nur zu gerne mein Geheimnis enthül t, hütete
mich aber vor jeder Unachtsamkeit. Diese seelische Spannung
der verbotenen und deshalb nicht vollendeten Liebe machte
mich immer sensibler, empfindsamer. Ich suchte einen Ausweg
und schrieb Gedichte.
An einem trostlosen Abend, als ich mich allein in meinem
abgeschlossenen Zimmer aufhielt, verfaßte ich einige sehn-
süchtige, herzzerreißende Verse an meine Mutter. Ich hatte
nie eine poetische Begabung, aber mir genügten die einfach-
sten Worte, um meinen übermächtigen Schmerz darzustellen.
Ich war ein Junge, der sich nach seiner Mutter sehnte, die
zu verlassen er gezwungen worden war. Und das durfte ich
einer anderen Liebe gegenüber, Leni, nicht einmal erwähnen,
ja ich durfte nicht einmal darauf anspielen. Leni gehorchte
den Gesetzen und Zielen der Nazis. Ich fühlte mich zu ihr
hingezogen, und sie sich zu mir, und dabei wußte sie weder,
wer ich war, noch, in welch tragischer innerer Zerrissenheit
ich lebte. Als mein Gedicht fertig war, las ich es ihr, und
nur ihr, während eines romantischen Spaziergangs auf den
grünenden Wiesen außerhalb der Stadt vor. Selbstverständlich
sagte ich ihr nicht den wahren Grund der Trennung von
meiner Mutter. Wir setzten uns mit dem Rücken an eine
138
dicht bewachsene Böschung. Vorsichtig zog ich mein Blatt
Papier aus der Tasche und begann:
Mutter …
… Auch jetzt seh’ ich Dich vor meinen Augen
So vol er Mutterliebe und Herzenstreue
Drum sei gegrüßt aus weiter Ferne
Damit Dir das Schicksal viel Glück ins weitere Leben streue
Mein Herz ruft ja so nach Dir,
Denn es hat Dich doch so gern,
Trotz der Ferne zwischen uns
Ist Dein Herz meines Herzens Kern!
Fühlst Du wie mein Herz so klopft, –
Und die Träne aus dem Auge tropft, –
Wie das Heimweh meine Seele frißt,
Nur weil Du bei mir nicht bist.
Hörst Du meine rufende Stimme –
Sie ruft nur – »Mutter, Mutter« –
Und läßt mir keine Ruh,
Merkst Du wie ich voll Sehnsucht zu Dir schwimme,
Denn mein einziger Traum bist nur noch Du.
Siehst Du wie ich des öfters weine,
Wie mein Herz aus Liebe nach Dir zergeht,
Furchtbar, daß gerade uns beide
Das Schicksal hat auseinandergeweht.
Und dieses möchte ich noch wissen,
Wann wir uns wiedersehn müssen,
Ob die Stunde des Glückes auch für uns mal wieder schlägt,
Und das Schicksal mich zu Dir hinüberträgt! …
Ich könnte tausende Kilometer gehen,
139
Durch Wasser, Land, Berg und Tal,
Bei eisgem Frost und heißem Sonnenstrahl,
Nur um Dich für immer wiederzusehen!
»Ein sehr rührendes Gedicht«, sagte Leni. Sie schwieg eine
Weile und strich mir dann über das Haar. »Ich sehe, daß
sich auch ein Waisenkind nach der Mutter sehnt, obwohl es
sie nie gesehen oder gekannt hat«, fügte sie hinzu. »Liebste
Leni«, erwiderte ich, »der Mensch trägt seine Mutter stets in
sich. Hat sie ihm nicht das Leben, und sogar den Befehl zum
Leben gegeben?« Ich erinnerte mich an die Abschiedsworte
meiner Mutter …
Leni erfuhr also nicht den Grund meiner Gefühlsaufwal ung
und hörte aus meinem Munde nichts über das Schicksal mei-
ner Mutter. Anders ihre Mutter, eine sanfte, gutherzige Frau.
Als ich einmal meine Freundin besuchen wollte, öffnete
mir Lenis Mutter die Tür und teilte mir mit, daß ihre Toch-
ter nicht zu Hause sei. Ich wollte kehrtmachen und später
wiederkommen, sie aber lud mich ein, ins Haus zu treten, da
sie sich mit mir unterhalten wolle. Ich nahm an. Der Klang
ihrer Stimme und ihr Gesichtsausdruck ließen mich spüren,
daß dies keine harmlose Aufforderung war, sondern etwas
Ernstes dahintersteckte. Sie deutete auf einen antiken Sessel,
in dem ich fast versank. Sie setzte sich neben mich auf das
Kanapee. Ihre Lippen umspielte ein flüchtiges Lächeln. Ich er-
widerte es mit einem nervösen Lachen. Die Abenddämmerung
machte die im Zimmer herrschende ungewisse Atmosphäre
noch beklemmender. Wir schwiegen lange Minuten, dann
fragte sie unvermittelt: »Sag’ mal, Jupp, bist du wirklich ein
Deutscher?« Bisher hatte ich bei solchen Überraschungsfragen
140
stets genug Phantasie aufgebracht, um angemessen zu lügen.
Doch wie geschah mir jetzt? Was war das? Ein rätselhaftes
Gefühl des Vertrauens? Das plötzliche Bedürfnis, ein kostbares
Geheimnis zu beichten, das mich verzehrte? Eine momentane
Geistesverwirrung? Vertrauen auf meinen guten Stern, der mich
auch diesmal nicht im Stich lassen würde? Ich kann es nicht
erklären. In diesem entscheidenden Augenblick schien sich
alles versammelt zu haben, um den Felsbrocken ins Wanken
zu bringen, der sein Geheimnis nicht preisgab, und um mich
dazu zu bewegen, mein Innerstes zu offenbaren. »Nein, Frau
Latsch«, hörte ich mich flüstern, »ich bin kein Deutscher, ich
bin Jude …«
Ich hatte ganz ohne inneren Kampf geantwortet. Doch
kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, war ich erschüttert
über das, was ich getan hatte. Nur mein zitternder Körper,
meine schlotternden Knie zeigten mir, daß ich lebte und atmete.
Von meinen eigenen Worten völlig benommen, murmelte ich:
»Bloß nicht zur Gestapo!«
Lenis Mutter stand auf, beugte sich über mich, küßte mich
auf die Stirn, beruhigte mich und versprach, mein Geheimnis
niemandem zu verraten. Ein einziger Augenblick menschlicher
Schwäche, des Versagens meiner wundervollen Verteidigungs-
und Überlebenstriebe hätte mich das Leben kosten können.
Doch wieder einmal wurde ich auf wundersame Weise ge-
schützt. Ich hatte das Gefühl, auf eine fremde Frau, eine Frau
von Edelmut zu treffen, die mir Verständnis entgegenbrachte.
Nach dem gerichtlich bestellten Vater nun eine Mutter für mei-
ne seelischen Nöte … Diese Situation drückte sich in kleinen
Aufmerksamkeiten aus, in gestopften Socken, in einem Stück
selbstgebackenem Kuchen. Dafür vertraute ich ihr rückhaltlos.
141
Niemals befürchtete ich eine Denunziation von ihrer Seite.
Im Gegenteil, sie beschwor mich, um des Himmels willen,
mein Geheimnis ihrer Tochter Leni nicht zu enthüllen. Nicht
einmal die eigene Mutter war sich Lenis in diesem Punkt si-
cher. »Die Kinder sind heutzutage so ganz anders«, lautete ihr
einziger Kommentar. Als ich mich von dieser überraschenden
und gefährlichen Offenbarung etwas erholt hatte, wagte ich,
die unvermeidliche Frage zu stellen, woher ihr Interesse an
meiner Abstammung rühre. Es stellte sich heraus, daß die
lebenserfahrene, feinfühlige Frau verschiedenes merkwürdig
gefunden hatte. Ich hatte mich nämlich zweimal gedankenlos
in meinen kleinen Flunkereien verfangen, was meine Familie
betraf. Das eine Mal hatte ich erzählt, ich sei allein auf der
Welt, das andere Mal behauptete ich, meine Großeltern lebten
in Ostpreußen. Ich entsann mich nicht mehr, warum ich
dieses Detail erfunden und bei welcher Gelegenheit ich es
angeführt hatte. Doch meine Antwort überstieg bei weitem
ihr Vorstellungsvermögen. Sie ahnte zwar, daß ich nicht gut
Deutscher sein könne, daß ich aber Jude sei, wäre ihr im
Traum nicht eingefallen.
Hätten sich alle wie Heinz Kelzenberg und Maria Latsch
verhalten, wären Eichmann und Konsorten nur erbärmliche
Randerscheinungen gewesen.
Diese Beichte hatte mich ungemein erleichtert. Ich fühlte
mich weniger al ein und verlassen. Leni gestand ich die Wahr-
heit erst nach dem Krieg. Sie reagierte mit dem ihr eigenen
Humor: »Oh, da habe ich ja Rassenschande getrieben!«
Sie war tief bewegt, als sie erfuhr, daß ich an meine Mutter
im Ghetto von Lodz gedacht hatte, als ich ihr das Gedicht vor-
las. Ich bemerkte auch, daß das ganze Lehrgebäude des BDM
142
in ihr zusammenstürzte, als sie gewahr wurde, beträchtliche
Zeit mit einem Juden verbracht zu haben, der sie achtete und
der ihr näherstand als ihre Gesinnungsgenossen, mit denen
sie befreundet war.
Während der ganzen Zeit in Braunschweig fühlte ich immer
wieder den Drang, meiner nahen Heimatstadt Peine einen
Besuch abzustatten. Ich hatte mich aber stets zu beherrschen
gewußt, hatte keine unnötigen Gefahren auf mich nehmen
wol en. Peine hatte ich erst vor sieben Jahren verlassen, jemand
hätte Sal y, den kleinen Juden, mühelos wiedererkennen können.
Ungeachtet dessen packte mich eines Sonntagsmorgens im
Sommer der Leichtsinn. Irgendein Teufel ritt mich, und ich
fand mich am Bahnhof von Peine wieder. In meiner Kindheit
war ich mit meinen Spielkameraden oft hierhergekommen, wir
stellten uns damals meist auf die Holzbrücke, die die Glei-
se überspannte, und warteten auf den nächsten Zug, dessen
Rauchschwaden uns einhüllten und voreinander verbargen.
Auch jetzt stellte ich mich auf die Brücke, nun aber umgab
mich nicht das fröhliche Gelächter meiner kleinen Freunde,
sondern die trostlose Einsamkeit der Il egalität und Verfolgung.
Natürlich durfte mich niemand wiedererkennen. Ich wol te
lediglich einen traurigen Blick auf die Stätten meiner glück-
lichen Kindheit werfen und mich eilends davonmachen. Ich
wollte in die Erinnerung an mein Vaterhaus, den Kindergarten
und die Schule eintauchen. Denn ich hatte ja jetzt weder ein
Zuhause noch wahre Freunde. Wie ein Unschuldslamm war
ich gegangen, wie ein vom Wolf gehetztes Schaf kehrte ich
wieder. Doch dieses Schaf hatte seinen Pelz zu wenden gewußt.
Es ähnelte den anderen wilden Tieren; dies war seine einzige
Chance, den Henkern zu entkommen. Es sei denn, die Henker
143
witterten etwas und kamen ihm auf die Schliche … Aber ich
stel te fest, daß Salomon – entgegen ihrer Überzeugung – kein
besonderer Geruch anhaftete …
Eine ganze Weile betrachtete ich die Landschaft von mei-
ner Holzbrücke aus. Die Bretter schienen unter dem Tritt der
genagelten Stiefel gelitten zu haben. Ich stand und dachte
an die andere Brücke, die Brücke der Wahnideen, über die
man mich in die Fremde gejagt hatte. Aber meine Brücke
war endgültig hinter mir abgebrochen, oder würde sie eines
Tages von neuem die Gleise für mich überspannen? Würde ich
eines Tages als freier Mann, als Sal y Perel, hier wieder stehen?
Ich strich meine schwarz-braune Unform glatt, rückte meine
schwarze Krawatte zurecht, schaute auf das Hakenkreuz auf
meiner Armbinde und setzte mich langsam in Bewegung. Ich
starrte in die Schaufenster, um keine neugierigen Blicke auf
mich zu ziehen. Vor einer mir wohlbekannten Auslage blieb
ich stehen, und Schmerz und Kummer überwältigten mich. Es
gab einmal eine Zeit, vor der Sintflut, da hatte dieses Geschäft
meinen Eltern gehört. Heute war es ein Photoladen. Auf den
Borden standen keine Schuhe mehr, sondern Photographien
von Wehrmachtssoldaten, die den Arm um Frau und Kind
gelegt hatten. Vor der Eingangstür stiegen in mir wieder die
glücklichen Kindermomente hoch, als ich übermütig und laut
in das Ladeninnere stürmte und einen Groschen verlangte, um
mir eine Tüte Eis zu kaufen. War der Laden vol er Kundschaft,
tadelte mein Vater mich. Ungeduldig wartete ich, bis er et-
was Zeit fand. Sein Lächeln und das gewünschte Geldstück
machten dann alles wieder gut.
Aber ich entsann mich auch eines betrüblichen Vorfalls.
Mein Vater hatte mich eines Tages mit einer Geldsumme zu
144
meiner Mutter geschickt, die mit diesem Betrag die für unsere
Heizung notwendige Kohlenlieferung bezahlen wollte. Aber
just an diesem Tag hatte Hans Meiners, mein bester Freund,
Geburtstag. Folglich beschloß ich in meiner Naivität, ihm zum
Zeichen meiner Anhänglichkeit ein Geschenk zu kaufen. Ich
ging in das größte Spielwarengeschäft der Stadt, zu Spinzig am
Marktplatz. Für fünf Reichsmark erstand ich das Model eines
berühmten Schiffes. Die Verkäuferin wollte den achtjährigen
Kunden zuerst nicht ernst nehmen und forderte mich auf,
mit meiner Mutter wiederzukommen. Aber dickköpfig wie
ich war, gelang es mir, sie zu überreden, und ich erhielt, was
ich wollte. Stolz trug ich das schöne Geburtstagspräsent zu
Hans und überreichte es ihm mit herzlichen Glückwünschen.
Seine Mutter runzelte die Stirn. Sehr zufrieden mit mir hüpfte
ich nach Hause und händigte meiner Mutter den Rest des
Geldes aus. Ohne den Geschenkkauf zu erwähnen, ging ich,
als wäre nichts gewesen, anderen Dingen nach.
Plötzlich stand Frau Meiners in der Wohnung und flüsterte,
etwas peinlich berührt, mit meiner Mutter. Mir schwante nichts
Gutes. Meine Mutter wandte sich mir mit strengem Gesicht
zu und wollte wissen, ob das mit dem Geschenk stimme.
Stotternd und rot angelaufen gab ich es zu. Mama zog sich
an, und zu dritt begaben wir uns zu den Meiners, in deren
Wohnzimmer das tol e Geburtstagsgeschenk stand. Ich mußte
das Model boot in das Spielwarengeschäft zurücktragen. Frau
Spinzig empfing uns liebenswürdig. Ihr Kopfschütteln sollte
wohl bedeuten: »Ich habe es ja gleich gewußt …« Beschämt
stel te ich das Segelschiff, den Stein des Anstoßes, vorsichtig auf
den Ladentisch und trennte mich niedergeschlagen davon. Ich
täuschte mich aber, als ich glaubte, die leidige Angelegenheit
145
habe damit ihr Bewenden. Als mein Vater nach Ladenschluß
nach Hause kam und von meiner Missetat hörte, verabreichte
er mir eine denkwürdige Tracht Prügel.
Die Erinnerungen schlugen über mir zusammen. Ich dachte
an meine Eltern, ich dachte an Lodz. Dahin wollte ich.
Vor den Schaufenstern, die uns einst gehörten, verharrend,
fiel mir ein gewisser Abend des Jahres 1933 ein – in der
Morgendämmerung des »Tausendjährigen Reiches« –. SA-
Männer hatten in lange Farbschlieren ziehenden Buchstaben
»Kauft nicht bei Juden!« auf die Scheiben geschmiert. Von da
an blieb unser Geschäft für immer geschlossen. Nach und
nach verlegten wir das Lager in unsere Privatwohnung. Bei
Einbruch der Nacht stahlen sich treue und mutige Kunden
zu uns, die Lederschuhe und Schnürsenkel auch jetzt noch
von uns kaufen wollten. Nun waren sieben Jahre verstrichen.
Jahre des Leids und des Unglücks. Und ich stand da, fas-
sungslos und desorientiert, von der Vergangenheit träumend,
enttäuscht von dieser Welt.
»Wach auf, komm zu dir, denk’ an die Gegenwart!« mahnte
eine innere Stimme. Ich wachte wieder auf. Die Geschäfte
waren geschlossen. Die meisten Leute befanden sich im Sonn-
tagsgottesdienst. Früher schlich ich mich gerne in die Kirche,
um den von der Orgel gespielten und den Chören gesungenen
Chorälen zu lauschen. Ich setzte meinen Weg fort und kam
zum Marktplatz, wo Sonntagsstimmung herrschte. Spinzigs
Geschäft quoll von Spielzeug über. Mein Schiff war nicht
dabei. Als ich mich nach links wandte, meinem ehemaligen
Schulhof zu, erfaßte mich Rührung. Tor und Klassenräume
blieben auch Sonntags und an schulfreien Tagen geöffnet. Ich
schaute mich suchend um, und da ich niemanden sah, gab
146
ich meiner Lust nach und ging hinein. Der vertraute Geruch
nach Bohnerwachs, der Anblick der Bänke mit den Tinten-
fässern stimmten mich wehmütig. Ich setzte mich auf meinen
alten Platz. Hier hatte ich die unvergeßlichen, legendären
Geschichten von Herrn Philipps, meinem Lehrer, gehört. Er
hatte von wunderbaren Reisen auf verzauberten Sternen erzählt,
und unter seiner Leitung hatten wir den ewigen Singsang des
Alphabets skandiert.
In dieser Schulbank hatten aber auch eine ganz andere
Melodie und eine ganz andere Reise begonnen: der Totentanz
und die Flucht vor dem Todesengel. Eines Tages wurde ich
mitten aus dem Unterricht heraus zum Direktor befohlen. In
seinem Büro übergab er mir ein Schreiben an meine Eltern,
sagte mir, ich solle meine Sachen packen und nach Hause
gehen. Einfach so. »Nimm deine Mappe und verschwinde!«
Schluchzend ging ich und verstand nicht warum.
Von da an brach der Sturm los. Nichts war mehr sicher,
mein Leben nur noch das eines gehetzten Flüchtlings. Eine
Zukunft gab es nicht mehr, sondern nurmehr eine Gegenwart
voller Prüfungen und Erschütterungen. Ich wurde von der
Schule verwiesen, und mein Leben hieß von da an Flucht.
In der kleinen Schulbank sitzend, versuchte ich, diese Ver-
gangenheit zu vergessen. Ich war jetzt wieder das Kind von
einst. Doch jene Zeit war unwiederbringlich dahin.
Ich stand auf, wollte einen Blick auf mein Geburtshaus
Am Damm 1 werfen, in dem ich gelebt hatte. Ich war so
aufgeregt, daß ich eigentlich nach Braunschweig hätte zu-
rückfahren sol en. Von der Schule bis zu meinem Haus waren
es nur ein paar Minuten. Ich kannte jeden Stein und jede
Ecke in dieser Straße. Hier, genau hier, war ich eines Tages
147
von einem Fahrrad angefahren worden. Aber ich war wieder
aufgestanden wie ein Großer und hatte weitergespielt. Und
hier, hier an dieser Hausmauer hatten wir immer Murmeln
gespielt …
Gedankenvoll ging ich weiter und stand plötzlich auf der
Straßenseite gegenüber meines Geburtshauses. Der Nachbar,
Herr Nachtway, schaute aus dem Fenster. Beinahe hätte ich
ihn gegrüßt. Doch ich drehte den Kopf weg, aus Angst wie-
dererkannt zu werden. Denn er kannte mich sehr gut, der Alte.
Er hatte mich mehr als einmal auf den Knien gehalten und
mir spannende Kindergeschichten erzählt. Und jetzt durfte
ich ihm nicht einmal einen guten Tag entbieten.
An einem der Fenster meines ehemaligen Hauses tauchte
das Gesicht einer jungen Frau auf. Sie konnte nicht ahnen,
daß der, der da auf der anderen Seite stand, einst in densel-
ben Zimmern glücklich gewesen war. Hier war ich auf die
Welt gekommen, hier hatte ich gelacht und geweint, war ich
krank und wieder gesund geworden. Nun war mir der Eintritt
verwehrt. Das große, grünliche Haus der Meiners stieß an
unser rotes Backsteinhaus und bildete mit ihm eine Straßen-
ecke. Auch hier hinein durfte ich keinen Fuß setzen, obwohl
ich damals die meiste Zeit mit den Kindern dieses Hauses
verbracht hatte. In der rechten Gebäudehälfte befanden sich
eine Bierstube und ein Versammlungssaal: der Luisenhof. Jetzt
verkündete hier eine riesige Aufschrift: »Deutsche Arbeitsfront
– Ortsgruppe Peine«. Der weitläufige Innenhof umfaßte früher
einen Schweinestal , eine Scheune und ein Pissoir. Es erübrigt
sich wohl, die Geruchsmischung zu beschreiben, die daraus
entstand. Als ich noch hier wohnte, hatten mich die Trunken-
bolde, die nach ihrem Bierkonsum urinieren gingen und dabei
148
mit ihren unmelodischen Stimmen Gassenhauer grölten, immer
erschreckt. Sie führten Selbstgespräche und beschimpften al es,
was ihnen auf dem Weg in die Quere kam. Jedes Schlachtfest
sah mich als interessierten Zuschauer. Ich war fasziniert von
den quiekenden Schreien des Schweines und bewunderte die
geschickten Hände, die die Tötung vol zogen. Dann war da
noch die Scheune mit den Heuballen, in der wir mit Clara,
Thea und Hans heimlich »Vater-Mutter-Kind« spielten.
Im großen Saal hielten die örtlichen kommunistischen und
sozialdemokratischen Parteien bisweilen Versammlungen ab. Ich
hörte mir dann die leidenschaftlichen Reden an, ohne natürlich
zu begreifen, worum es ging. Verstanden hatte ich nur, daß
nach dem Scheitern des gemeinsamen Bündnisses gegen den
Nationalsozialismus ein Streit entbrannt war. Sie lagen sich
in den Haaren, bis sich das bekannte Sprichwort bestätigte:
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Meist gingen
die Versammlungen unfriedlich zu Ende. SA-Männer, begleitet
von Hitlerjungen, stürmten oft genug den Saal. Manchmal
wurden auch die Dolche und Messer gezogen und etliche
Teilnehmer verletzt. Einer der Saaldiener, der Metzgerlehrling
Emil, einer der besten Freunde meines Bruders, wurde eines
Tages bei solch einem Zusammenstoß totgeschlagen. Die Po-
lizei griff erst sehr spät ein und verhaftete dann jene, die zu
den Angegriffenen gehörten.
Von Anfang an hatte ich den Vorsatz gehabt, bei meinem
Besuch in Peine die Bierhalle zu meiden. Das schien mir ein
Selbstmord gleichkommender Leichtsinn zu sein. Ich erinnere
mich nicht mehr, wie es kam, daß ich plötzlich an einem der
kleinen viereckigen Tische saß. Eine unwiderstehliche Kraft
hatte mich in die Kneipe gezogen.
149
Die Gäste schlürften schäumendes Bier aus riesigen Krügen.
Dicker Qualm hing in der Luft. Am Stammtisch nahmen die
Meiners’ ihr Mittagessen ein. Mutter Meiners, noch immer so
korpulent, hatte sich nicht verändert. Auch die Glatze ihres
Ehemannes leuchtete wie ehedem. Aus den Töchtern waren
anmutige junge Frauen geworden. Hans war nicht dabei. Ich
vermutete, daß er bereits eingezogen worden war. Ein eisiger
Schreck durchfuhr mich plötzlich, ich hätte sofort aufstehen
und gehen müssen. Aber wie festgenagelt blieb ich sitzen,
die Beine aus Blei. All meine Alarmmechanismen versagten,
meine gewöhnlich so geschärften Sinne waren funktionsunfä-
hig. Wie hätte ich mich sonst in eine derartige Lage bringen
können? Die Familie Meiners hatte früher liberale, politisch
eher linke Anschauungen vertreten. Es war anzunehmen, daß
sie ihren Überzeugungen treu geblieben war, aber konnte man
wissen, in welchem Maß sie sich von der Nazipropaganda
hatte beeinflussen lassen, wie so viele Leute? Diese verbotene
Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart konnte eine
Katastrophe für mich heraufbeschwören. In Peine geboren,
in Peine verloren? Ich bereute mein leichtsinniges Verhalten
bitter; ich hatte dem Befehl meiner Mutter, um mein Leben
zu kämpfen, zuwidergehandelt. Aber jetzt gab es kein Zurück
mehr. Die erste, die den neuen Gast bemerkte, war Clara. Sie
legte ihr Besteck nieder, wischte sich die Hände ab und erhob
sich, um meine Bestellung aufzunehmen. Bang sah ich den
Dingen entgegen. Doch die Würfel waren gefallen.
Mit dem geschäftsmäßig höflichen Lächeln einer Kellne-
rin näherte sich Clara meinem Tisch. Ich bot meine letzten
Kraftreserven auf, um Ruhe zu bewahren. Ich wollte gelassen
erscheinen, um keinen Argwohn zu erregen. Und vor allem
150
wollte ich jeden Blickkontakt vermeiden. Was würde jetzt ge-
schehen? Würde sie es wagen, mich zu fragen, ob ich Sal y sei?
Oder wäre sie so unsicher, daß sie lieber nichts sagte? Denn
vor ihr saß ja ein tadelloser Hitlerjunge, ein Scharführer in
all seinem Glanz. Auch wenn ich aussähe wie Sally, würde
sie dies nicht für möglich halten. Daß ich Sally sein könnte,
war völlig undenkbar.
Ich bestellte ein gemischtes Bier, halb dunkel, halb hell.
In dieser Sekunde verlor ich zweifellos den Verstand. Ich hob
den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Ihr Blick lag for-
schend auf mir. Eine Welle der Angst überflutete mich. Ich
beschloß im selben Augenblick, jede Vermutung hartnäckig zu
leugnen, sollte sie mich wiedererkennen. Doch ihr Blick glitt
gleichgültig über mich hinweg, sie nahm meine Bestellung
entgegen und ging ihrer Arbeit nach. Ihr war nicht einmal in
den Sinn gekommen, eine Frage zu stellen. Angesichts ihrer
Gleichgültigkeit legte sich meine Aufregung etwas. Ich spürte,
daß sie sich natürlich verhielt und nicht versuchte, mich ab-
sichtlich links liegen zu lassen. Sie hatte mich einfach nicht
wiedererkannt. Ich hatte auf der Stelle bezahlt und leerte nun
meinen Krug in hastigen Zügen. Clara setzte sich wieder an
ihren Tisch, und ich verdrückte mich unbemerkt. Auf dem
Weg zum Bahnhof wandte ich kein einziges Mal den Kopf.
Ich schritt eilig aus. Ich hatte das Gefühl, daß mich jemand
verfolgte und mir jeden Moment den Weg versperren könnte.
Ich stieg in den ersten Zug nach Braunschweig.
– Als ich Clara Meiners-Frieling kürzlich traf, erinnerte sie
sich absolut nicht an meinen Besuch. Ihren Worten zufolge
waren mehrere Hitlerjungen Stammgäste in ihrem Lokal, und
sie entsann sich keines besonderen Ereignisses. –
151
Selbstverständlich erzählte ich Gerhard, meinem Zimmer-
genossen aus Peine, nichts von meinem heimlichen Besuch in
unserer gemeinsamen Heimatstadt. Ich schwor mir, niemals
mehr in die »verbotene« Stadt zurückzukehren, es sei denn
als freier Mann in eine »freie« Stadt.
Aber ein heftiges unabweisliches Bedürfnis trieb mich im-
merzu in die Nähe al dessen, was mich an zu Hause erinnerte.
Die herzliche Beziehung zu Fräulein Köchy verschaffte mir
manche Annehmlichkeit. Sie lud mich hin und wieder zu
Konzerten oder Opern in das Stadttheater von Braunschweig
ein. Diese Abende stellten für mich eine große kulturelle
Bereicherung dar.
Denn eine Sehnsucht konnte ich nicht unterdrücken: die
Sehnsucht nach einer familiären Geborgenheit, und sei sie
auch noch so gering. Ich hatte meine Jugend im Waisen-
haus, in Schützengräben, Bunkern und fremden Häusern
verbracht. Ich gierte nach einer warmherzigen, liebevollen
Atmosphäre, hätte so gerne wieder unsere Küchendüfte oder
den Geruch des Schlafzimmers in der Nase gehabt … Ich
beneidete meine Kameraden. Alle besaßen sie eine Familie.
War ich zufällig bei einem Mitschüler zu Hause, warf ich
neugierige Blicke um mich, erpicht darauf, alles in mich
aufzusaugen, was das normale Familienleben ausmachte.
Deshalb war ich überglücklich, als mich Fräulein Köchy
einmal in ihre Wohnung einlud. Ich genoß die Behaglich-
keit, die ich fast vergessen hatte und die ich so schmerzlich
vermißte, in vollen Zügen. Es war ein bescheidener Trost.
Aber ich stellte mir dabei meine Eltern vor, und mein Leid
wurde etwas gemildert. Für meine Gastgeberin war es ein
normaler Höflichkeitsbesuch. Nicht so für mich. Ich schaute
152
oft bei Fräulein Köchy vorbei, und diese Abstecher prägten
sich unauslöschlich in mein Gedächtnis ein.
Im Sommer 1943 organisierte die Familie Köchy einen
Ferienaufenthalt für mich bei nahen Verwandten in Thale,
einer kleinen Stadt im Harz, diesem Gebirge von seltener
Schönheit. Dort hatte der Dichter und Denker Goethe, auf
einem runden Felsen nahe einer kristallklaren Quelle und
umgeben von lichtgrünen Bergen, seinen berühmten Faust
verfaßt. Vom Gipfel des gegenüberliegenden Berges meinte
ich deutlich den Hexentanzplatz zu erkennen, von wo um
Schlag Mitternacht die Hexen zu ihrem teuflischen Ritt auf-
gebrochen sein sollen.
Ich unternahm jeden Tag einsame Spaziergänge in die Um-
gebung. Ich fühlte mich frei und glücklich. Auf Goethes Felsen
sitzend, vom Geheimnisvollen umschwebt, hing ich meinen
Träumen vom Elternhaus nach: Sehnsucht. Der Schmerz stach
mich mit tausend Nadeln. Ich riß einige Seiten aus meinem
Notizbuch und brachte ein persönliches, sehnsüchtiges Ma-
nifest, eine Beichte und eine Anklageschrift gegen die Welt
und ihren Schöpfer zu Papier. Während ich mich noch mit
der Formulierung meiner Gedanken herumschlug, kam ganz
in der Nähe ein französisch sprechendes junges Paar herüber.
Sie waren wohl Fremdarbeiter. Im dichten Gebüsch legten
sie ihre Kleider ab und sprangen nackt in die Flußströmung.
Die Berge warfen das Echo ihrer Freudenschreie zurück, als
wollten sie sagen: »Man darf nicht verzweifeln! Die Zukunft
gehört uns, gehört dir …«
Und hier und in diesem Moment verfaßte ich meine Bitt-
schrift: »Ich, Salomon Sal y Perel, der Jude, Sohn der Rebekka
und des Israel, jüngerer Bruder Isaaks, Davids und Berthas,
153
hinterlasse der Nachwelt diese Erklärung. Herr, mein Gott,
der Du bist im Himmel, der Du die Welt und den Menschen
erschaffen hast, wie kann ein unschuldiges Kind zur Einsam-
keit und Qual einer solch grausamen Verfolgung verdammt
werden? Ich habe die Kraft nicht mehr, sie zu ertragen. Ich
bitte Dich, gib mir mein Haus, meinen Vater und meine
Mutter zurück. Ich schließe ein Gebet an, damit der Tag, da
wir wieder vereint und frei sind, bald kommen möge. Amen.«
Ich faltete das Blatt sauber zusammen und steckte es feierlich
und mit einem stummen Gebet in eine Blechbüchse, die ich
gefunden hatte. Ich versenkte sie tief in eine Spalte des Felsens,
auf dem ich gesessen und unter Tränen geschrieben hatte.
Ich spielte sehr gerne Schach und verbrachte meine freien
Abende damit. Mein Partner war Otto Zagglauer, dem ich die
Grundbegriffe dieses fesselnden Spiels beibrachte. Er wurde
ein leidenschaftlicher Schachspieler und war glücklich, mein
Stammpartner zu sein. Eines Tages, als wir in das Spiel ver-
sunken waren, fragte er mich plötzlich: »Wer hat dich so gut
spielen gelehrt?« – »Frühere Freunde«, murmelte ich traurig
und ließ mich von der Flut der Erinnerungen in eine andere
Zeit und an einen anderen Ort versetzen. Ich konnte ihm nicht
gut Auskunft über diese Freunde geben. Sie heißen Jerzyk
Rappoport und Jakob Lublinski. In unserer Klasse in Lodz
waren wir, Jakob, Jerzyk und Salek – der polnische Name für
Sally –, das Freundestrio. Da war ich zwölf, dreizehn Jahre
alt. Wir lernten zusammen, spielten und fühlten zusammen
und entdeckten allmählich die Welt der Erwachsenen, trotz
kleiner Meinungsverschiedenheiten, die jedoch nicht gravie-
rend waren. Ich ging in den zionistischen Club Gordonia,
während meine beiden Kameraden glühende Anhänger des
154
Bund waren. Und der Bund war eine antizionistische, extrem
linke jüdische Partei. Das hinderte mich nicht daran, hin und
wieder ihren Club aufzusuchen, um dort jiddische Zeitungen
zu lesen und Vorträge zu hören. Später trat auch ich dem
Bund bei, und dort hatten mich meine beiden Freunde in die
Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht. Wir drei beugten
uns stundenlang über das Schachbrett.
Als der Krieg ausbrach, lösten sich alle Bindungen auf.
Jerzyk und Jakob blieben in Lodz, und ich zog mit meinem
Bruder Isaak gen Osten. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß
Jerzyk seiner Weltanschauung treu geblieben war. Er leitete
während des Krieges das Politbüro der Kommunistischen Partei
im Ghetto von Lodz, und viele Menschen schöpften seines
Mutes und seiner Aktionen wegen Kraft und Hoffnung. Sein
kurzes Leben ging auf tragische und merkwürdige Weise zu
Ende. Es war ihm gelungen, al es Leid des Krieges zu ertragen,
und er hatte das Glück, von den Soldaten der Roten Armee
befreit zu werden. Nach der Befreiung verliebte er sich in ein
jüdisches Mädchen, das seine Liebe nicht erwiderte und einen
anderen heiratete. Er war heftig entbrannt. Der Selbsterhal-
tungstrieb und die ungeheure Kraft, die ihn das Grauen der
Shoa hatten ertragen lassen, ließen ihn jetzt im Stich, und er
nahm sich nach dieser Enttäuschung das Leben.
Aber ich hatte die Freude, Jakob wiederzusehen. Als ich
noch im Waisenhaus in Grodno weilte, kündigte man uns
eines Tages das Eintreffen eines Laienorchesters eines Minsker
Gymnasiums an. Als das Orchester da war, entdeckte ich
Jakob unter den Musikern.
Wir fielen uns bewegt in die Arme. Ich wich nicht mehr
von seiner Seite bis zum Konzert und blieb auch später bei
155
ihm, bis der Morgen graute. Wir erstickten fast vor Lachen
und schmeckten unsere salzigen Tränen, Tränen der Freude
und des Kummers, die sich im Geschmack nicht unterscheiden
… Nach diesem ergreifenden Wiedersehen habe ich Jakob nie
mehr getroffen.
Ich schwieg, schmerzlich berührt. Al dies konnte ich Otto
Zagglauer ja nicht erzählen. Aber ich fühlte mich großartig,
wenn ich ihn ein um das andere Mal mattsetzen konnte. Zum
Dank, daß ich sein Lehrmeister und Partner gewesen war,
schenkte mir Otto ein kostbares Schachspiel, das er einmal
nach den Ferien von zu Hause mitbrachte. Ich benütze es
heute noch.
Eines Tages lud er mich zu einem Film ein, einer Komödie
mit Heinz Rühmann. Die Filme der damaligen Zeit, im all-
gemeinen kitschige Melodramen mit glücklichen Menschen in
sicherer Behaglichkeit, gingen stets gut aus. Das lief eigentlich
meiner persönlichen Lage völlig zuwider, erschütterte meine
seelische Verfassung und verstärkte meinen Kummer, anstatt
ihn zu besänftigen. Dennoch ging ich oft ins Kino, um mich
zu vergnügen und natürlich die Wochenschau zu sehen.
Auf dem Weg fiel unser Blick auf ein großes Plakat, das
an einer Litfaßsäule klebte, darauf ein scheußlich aussehender
Jude mit abstoßendem Gesicht, vorgewölbtem Bauch und mit
Diamanten beladen. Darunter stand: »Der Jude ist Kriegsan-
stifter und Kriegsverlängerer«.
Davon aufgehetzt, wechselte Otto den Gesichtsausdruck.
Er lief rot an und sein Kinn zitterte. Prahlerisch, irgendwie
lächerlich wirkend, griff er entschlossen zu seinem Dolch »Blut
und Ehre« und rief halb belustigt, halb ernst: »Ah, wenn jetzt
einer dieser Juden hier wäre …!«
156
Ich wußte tatsächlich nicht, ob ich lachen oder protestieren
sollte, und reagierte überhaupt nicht. Trotz der Wut, die in
mir kochte, hatte ich mich im Griff. Ich verzog nur verächt-
lich die Lippen. »Komm, sonst ist es für den Film zu spät!«
Ich zog ihn mit. Auch diesmal war es mir gelungen, ruhig
Blut zu bewahren. Das Plakat ging mir nicht aus dem Kopf.
Dessen Aussage war nicht harmlos, sondern die für die Nazis
typische Propaganda, den Juden zum Sündenbock zu machen.
Ihre Hoffnungen auf einen Blitzkrieg hatten sich nicht erfüllt,
im Osten blieb die Armee in den Schlammsümpfen stecken.
Zeichen der Unzufriedenheit machten sich bemerkbar, auch im
Hinterland. Man registrierte mit Bitterkeit die Leiden und den
Preis, den die unzähligen Opfer bezahlten. Der Reichspropa-
gandaminister Joseph Goebbels wandte sich an die Deutschen
und stellte ihnen die aufreizende Frage: »Wißt ihr, wer an
dieser schrecklichen Lage schuld ist? Die Juden. Sie haben
uns den Krieg aufgezwungen und haben ein Interesse daran,
ihn zu verlängern, um sich an ihm zu bereichern.«
Mein Freund Otto konnte damals nicht ahnen, daß, außer
Jupp-Salomon, binnen kurzem nicht mehr viele Juden in Eur-
opa übrig bleiben würden und daß es gerade seine Landsleute
waren, die sich an den Diamanten, den Goldzähnen, den
Knochen und Haaren dieser Juden bereichern würden – ich,
der Jupp, ahnte es auch nicht, obwohl wir im Unterricht
lernten, daß die Vernichtung der Juden eine Notwendigkeit
sei, nicht jedoch wie und wann.
Der Film ließ mich dann doch meinen Schmerz und
meinen Zorn über das Plakat etwas vergessen. Er war ganz
unterhaltsam und lenkte mich vorübergehend von meinen
inneren Spannungen ab.
157
Die Zuschauer bestanden hauptsächlich aus Frauen, denn
die meisten Männer waren eingezogen worden. Im Hinterland
verblieben einzig die Alten und Militärs auf Fronturlaub. Die
»Fremdarbeiter« erkannte man an einem Abzeichen an ihren
Kleidern.
– Otto sollte später in meinem Leben nochmals eine Rolle
spielen. Es mag eigenartig anmuten, aber ich gab noch ein-
mal dem Jupp in mir nach und traf mich nach dem Krieg
mit ihm. Das war 1947 in München. Ich wohnte bei mei-
nem Bruder Isaak. Bei ihm trafen sich befreundete Juden,
die im KZ überlebt hatten. Als ich denen erzählte, daß ich
bei der Hitlerjugend war, hielten sie es wirklich für Phanta-
sterei. Und wörtlich sagten sie sogar: »Du spinnst«. Ich hielt
dagegen: »Ich kann es euch beweisen«. Denn mir fiel Otto
aus München ein. Eigentlich kannte ich nur seinen Namen
und sein Geburtsdatum, aber diese Auskünfte genügten dem
Landeseinwohneramt, und ich erhielt seine Adresse. Ich konnte
es kaum erwarten und benutzte Straßenbahn und Omnibus,
um zu seiner Wohnung zu gelangen. Auf dem Klingelschild
stand: »Familie Zagglauer«.
»Ja, mein Sohn ist zu Hause.« Es war seine Mutter, die
mir die Tür öffnete.
Al es war noch so frisch und nahe. Ich hatte die veränderte
Lage, die unschätzbare Kostbarkeit namens Freiheit noch nicht
verarbeitet. Der Jupp in mir suchte den Kameraden. Sal y ließ
das kalt, war eher hochmütig und arrogant. Otto betrat den
Raum, und wir standen uns gegenüber. Seine Freude war of-
fensichtlich. Auch ich strahlte. Zunächst aber sprach nur noch
Sally, getrieben von dem Gedanken, ihm die Neuigkeit zu
verkünden, worauf ich so lange gewartet hatte: die Neuigkeit
158
vom Triumph des Lebens. Wir begrüßten uns herzlich. Die
Stunde der Wahrheit war gekommen. »Otto, hör jetzt zu! Ich
will dir mein Geheimnis verraten. Ich war nie Deutscher, ich
bin von Kopf bis Fuß Jude.« Peinliches Schweigen entstand.
Otto wurde bleich und fragte, wie ich das alles fertiggebracht
hätte. Er verdrängte seine anderen Gefühle und schien äu-
ßerlich völlig ruhig.
Ich erzählte ihm alles. Als ich geendet hatte, schaute er
mich bestürzt an und sagte: »Ja, ich gebe es zu, man hat
uns getäuscht. Das Drama ist, daß sich die Bevölkerung,
allen voran die Jugend, von der Propaganda der Obrigkeit
so leicht hinters Licht führen läßt und fest an die Aufrich-
tigkeit des eigenen Landes glaubt.« Seine Naivität machte
mich stumm. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Wir saßen
längere Zeit zusammen, schließlich gab es viel zu erzählen.
Und dann lud ich ihn ein, mit mir zu meinem Bruder zu
kommen. Er zögerte eine Weile – verständlicherweise, denn
ich sagte ihm, auf welchen Kreis er dort treffen würde. Er
stimmte trotzdem zu.
Am darauffolgenden Sonntag gingen wir zu Isaak und seiner
Frau Mira. Sie hatte aus diesem Anlaß einen traditionellen
Käsekuchen gebacken.
Eingeladen war derselbe Kreis, der zuvor noch an meiner
Geschichte gezweifelt hatte. Otto und ich berichteten von
unseren gemeinsamen Erlebnissen als Hitlerjungen und be-
seitigten damit die letzten Zweifel an der Wahrheit meiner
Schilderungen. Umgekehrt wurde Otto hier endgültig bestätigt,
daß ich ein Jude bin.
In unserem HJ-Heim bekamen wir alle vierzehn Tage
Ausgang. Meistens nutzten wir ihn, um in einer Bierstube
159
Kartoffelpüree mit Gemüse zu essen – das einzige, was ohne
Lebensmittelmarken möglich war – und ein Bier zu trinken.
An diesen Abenden schloß sich uns gewöhnlich ein hüb-
sches BDM-Mädchen an, das viele Liebhaber hatte, auch aus
unserer Gruppe.
Als es eines Tages hieß, daß einige von ihnen zu gewissen
ärztlichen Untersuchungen vorgeladen worden seien, versetzte
mir das einen gehörigen Schrecken. Sie sollte sich, so wurde
gemunkelt, einen Tripper zugezogen und einige Jungen an-
gesteckt haben.
Ein ungeheuerlicher Skandal! Unsere Hochburg der »Rein-
heit und Ehre« geriet in helle Aufregung. Ich hatte mich mit
dem Mädel zwar nicht vergnügt, aber die Furcht, daß alle,
mit denen sie sich getroffen hatte, vorgeladen werden könnten,
fraß an mir. Auf keinen Fall durfte es dazu kommen, denn
dann hätte es keine Chance mehr gegeben, mein Geschlecht zu
verbergen. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt.
Doch allmählich flatterten die Vorladungen seltener ins Haus
und hörten schließlich ganz auf. Mein Name befand sich nicht
auf der Liste! Ich atmete auf. Die Tage bangen Wartens waren
verstrichen, und der Alpdruck des nahen Endes wich von mir.
Es war im Dezember 1943. Die Weihnachtsferien standen
vor der Tür. Eines abends saß ich im Lesesaal und suchte
mir Unterlagen für ein Gespräch mit einer soeben bei uns
eingetroffenen Gruppe von Vierzehnjährigen zusammen. Als
Scharführer wurde mir die Verantwortung für die Gruppe
übertragen. Ich sol te den Jungen etwas über die Herausbildung
des Stolzes und die Bedeutung der deutschen Bauernschaft
vortragen, die das Blut und die Rasse »rein erhielt«. Ich ver-
tiefte mich mit dem angemessenen Ernst in die umfangreich
160
vorhandene Literatur. Ich war seit jeher wißbegierig gewesen.
Trotz der völlig unpassenden Rolle, die ich spielen mußte,
erfüllte ich meine Aufgabe freudig und gab mein Bestes. Ich
war als Jupp überzeugend. Die Jungen meiner Gruppe moch-
ten mich und hatten Respekt vor mir. Der Nimbus eines
»alten Veteranen«, der in einer Panzerdivision gekämpft hatte,
umgab mich. Ihre Gehirne waren bereits unrettbar vernebelt
und manipuliert. Ich kannte die Gedankengänge, ich wußte,
welcher Wind hier wehte, daher fiel es mir leicht, Vorträge
im nationalsozialistischen Geist zu verfassen.
Ich saß also an jenem Abend ruhig im Lesesaal und baute
meinen Vortrag auf. Da hörte ich die halblaute Unterhaltung
einiger am Nebentisch sitzender Kameraden. Ich verstand,
daß sie bereits ihre Urlaubsscheine für Weihnachten und ihre
Eisenbahnfahrkarten erhalten hatten. Sie schienen sich auf das
baldige Wiedersehen mit ihren Familien zu freuen. Das »bei
meinen Eltern« klang mir beständig in den Ohren und wurde
immer lauter. Mich überlief es heiß. Meine trockenen Lippen
formten lautlos: »Bei meinen Eltern … Bei meinen Eltern …«
Ein Gefühl tiefer Einsamkeit nagte an mir. Unwirsch raffte ich
die ganze vor mir liegende »Literatur« zusammen und stel te sie
ärgerlich an ihren Platz zurück. Wie von der Tarantel gestochen,
rannte ich in die Kanzlei zu Fräulein Köchy. Meine innere
Stimme begehrte auf: »Jupp! Alle werden sie die Feiertage
bei ihren Eltern verbringen, und nur du bleibst wieder allein,
hast niemanden, der dir nahesteht.« Dagegen lehnte ich mich
auf. Diesmal würde es nicht so sein. Auch ich, Sally, hatte
Eltern! Daß man sie ins Ghetto gesperrt hatte, änderte nichts
daran. Ich hatte ein Recht auf sie wie jedes Kind. Auch um
den Preis meines Lebens? fragte ich mich. Ich befand mich in
161
einen rauschhaften Zustand, und die Frage schien mir falsch
gestellt. Ich wollte mir die Gefahr nicht eingestehen. Wellen
tiefer Sehnsucht schlugen über mir zusammen, und ich ließ
mich von den Fluten mitreißen.
Entschlossen, in das Ghetto von Lodz zu fahren, tauchte
ich im Schulsekretariat auf. Fräulein Köchy war noch da. Sie
hatte mit den Vorbereitungen der zahlreichen Reisen al e Hände
voll zu tun, und als ich eintrat, beugte sie sich zusammen mit
dem Personalobmann über einen Stapel Papiere. Man mußte
die Weihnachtsurlauber nicht nur mit einem Urlaubsschein,
sondern auch mit Lebensmittelkarten, Taschengeld und Hin-
und Rückfahrkarten versehen.
Und da platzte ich herein und störte sie bei der Arbeit. Sie
blickten auf, und ich brachte mein Anliegen vor: »Ich möchte
in die Ferien fahren und Sie bitten, mir die notwendigen
Reisedokumente auszustellen«, sagte ich mit fester Stimme.
Überrascht starrten sie mich an. Nach kurzer Pause sagte der
Obmann: »Ach! Und wohin, bitteschön, möchtest du reisen?«
»Nach Lodz!« – »Und, was führt dich nach Litzmannstadt?«
Dieser nazistische Technokrat ließ nicht locker.
»Die Regelung einiger Angelegenheiten«, erklärte ich, et-
was unsicher geworden. Seine Stimme hingegen nahm einen
strengen Ton an: »Ich bin nicht willens, diesem Urlaub statt-
zugeben. Wir sind für das Wohlergehen und die Sicherheit
des Schülers Perjell verantwortlich. Das hieße, sich unnötig
in Gefahr zu begeben. Ich lade dich gern ein, mit mir und
meiner Familie Heiligabend zu feiern.« Ich war enttäuscht
und niedergeschlagen. Mein plötzlicher Entschluß ließ sich
nicht verwirklichen. Fräulein Köchy merkte mir meine Enttäu-
schung wohl an, denn sie griff ein, »erklärte« mein rätselhaftes
162
Reisebegehren. Sie machte den Obmann darauf aufmerksam,
daß die Zeitungen kürzlich über die Besiedlung eroberter
polnischer Gebiete berichtet hätten, daß man im Rahmen
des vom Reich beschlossenen Germanisierungsplans Tausende
von Volksdeutschen Familien aus dem Osten dort ansässig
gemacht habe. Unter diesen Siedlern könnten ja Leute aus
Grodno sein, und er, Scharführer Josef, wolle bestimmt ver-
suchen, Menschen aus seiner Heimatstadt zu finden, die ihm
über etwaige Familienangehörige Auskunft geben könnten. Sie
fügte hinzu, daß Josef sehr selbständig sei, Fronterfahrung habe
und daß man sich auf ihn verlassen könne. Die harmlosen
Vermutungen der liebenswürdigen Sekretärin rührten mich.
Ich dankte ihr innerlich für ihr Wohlwollen. Sie wußte nicht,
wie nahe ihre Worte der Wahrheit kamen! In der Tat hegte
ich auch die Absicht, Landsleute oder Verwandte ausfindig
zu machen, in erster Linie aber meine Eltern.
– Als ich 1985 nach Braunschweig reiste, wurde ich auch
von Fräulein Köchy empfangen. Sie erinnerte sich sehr genau
meiner damaligen Bitte und teilte mir etwas Erschreckendes mit,
von dem ich keine Ahnung gehabt hatte. Mein Wunsch, nach
Lodz zu fahren, hatte mehrere Personen im Internat höchst
erstaunt und gefährliche Gerüchte über mich ausgelöst. – Ich
dankte dem Obmann für seine freundliche Einladung, die
Weihnachtsfeiertage im Kreise seiner Familie zu verbringen,
wiederholte jedoch meine Bitte, nach Lodz fahren zu dürfen.
Die Sekretärin unterstützte mich, machte geltend, daß sie
persönlich einer solchen Reise nicht ablehnend gegenüberstehe.
Er ließ sich überzeugen und stimmte zu. »Ich bin Ihnen sehr
verbunden, vielen Dank«, sagte ich glücklich, »Heil Hitler!«
Von den Weihnachsferien trennten uns nur noch wenige
163
Tage. Alle möglichen Fragen stürmten auf mich ein. Wo-
hin würde mich dieses kühne Unternehmen führen? Ich
wünschte nichts sehnlicher als die Verwirklichung dieses
Traums, der einer so gewaltig anderen Realität angehörte.
Es war dies ein menschliches Abenteuer, das das Gute und
Böse, Glück und Vernichtung in sich trug. Was danach
kam, existierte nicht.
Inzwischen traf ich meine Reisevorbereitungen und be-
sorgte mir die vorschriftsmäßigen Papiere: einen offiziellen
Urlaubsschein, den Mitgliedsausweis der Hitlerjugend, einen
Führerschein, Lebensmittelkarten und – Taschengeld. Die
Kleiderkammer schickte mir tadellos gebügelte braune Hem-
den. Meine Winteruniform reinigte ich selbst und bürstete sie
sorgfältig aus. Jedem Abzeichen, jedem Rangabzeichen und
jeder Auszeichnung widmete ich mich besonders. Mein unge-
wöhnliches Vorhaben, das mir der Regisseur meines Schicksals
diktiert hatte, barg zahlreiche Risiken in sich. Ich hatte den
Eindruck, daß jemand das Drehbuch geschrieben hatte und
ich meine Rolle bis ins kleinste Detail überzeugend spielen
mußte. Kein Fehler durfte mir unterlaufen, um mein Ziel
zu erreichen. Ich hatte nicht nur lange Stunden im Zug zu
verbringen, sondern fuhr in eine andere Welt, um mein Volk,
meine im Ghetto lebenden Eltern wiederzufinden … Hier
prallten zwei Welten aufeinander, die Monde voneinander
entfernt lagen. Und ich stand dazwischen, stand in jeder von
ihnen und damit in keiner …
Was mich erwartete, wußte ich, wollte es mir aber nicht
eingestehen. Ich weigerte mich zu sehen, was geschehen könn-
te. Würde ich straucheln, ein Opfer einer unkontrollierbaren
Versuchung, und untergehen? Mein Inneres war in Aufruhr,
164
und dennoch meinte ich in aller Unschuld, meine Eltern
wiederzusehen, mit ihnen meine Schulferien zu verbringen
und danach wieder hierher zurückzukehren. So wie meine
Kameraden. Was war erstaunlich daran, daß ich, der Hitler-
junge Salomon, das gleiche wollte?
Der nebulöse Traum, der verzweifelte Ruf eines einsamen
Kindes, wurde an dem Tag Wirklichkeit, da ich mich von
meinen Kameraden verabschiedete, die ebenfalls in die Ferien
fuhren. Ich strengte mich an, mir nichts anmerken zu lassen.
Ich dankte ihnen für ihre guten Wünsche zu den Feiertagen
und für meine Reise und wünschte ihnen in der Hoffnung
auf ein baldiges Wiedersehen al es Gute. Aber würde ich denn
wiederkommen? Würden Sie mich Wiedersehen? Ich wußte es
nicht. Doch diese Fragen beschäftigten mich nicht eigentlich
und durchkreuzten keineswegs meine Pläne.
In meiner mit Ehrenabzeichen geschmückten Uniform
begab ich mich zum Bahnhof. Meine in mehreren Etappen
verlaufende Reise würde schwierig werden. Ich mußte mich
auf strenge Kontrollen der Gestapo und Kripo gefaßt ma-
chen. Diesen beiden Polizeiorganisationen war gemeinsam,
daß sie das Recht hatten, wen auch immer ins Gefängnis zu
werfen, zu foltern und zu ermorden. Obwohl die Gestapo
ein politischer Geheimdienst und die Kripo für kriminelle
Delikte zuständig war, bestand zwischen den beiden, was die
»Liquidierung feindlicher Elemente«, also der Juden, betraf,
kein Unterschied.
Selbst dieses Wissen konnte mich von meinem Vorhaben
nicht abbringen. Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof
und setzte mich dort gemütlich in ein Abteil.
Überal vermittelte sich vorweihnachtliche Stimmung. Der
165
Stationsvorsteher gab das Signal, und der Zug setzte sich in
Bewegung.
Ich vertiefte mich in die Zeitungen, die Artikel über die
»strategische Wiederherstellung der Ostfront« brachten. In
Wahrheit hatte man »Rückzug« zu lesen, den die offiziellen
Stellen in einen Sieg ummünzten. Schon nach kurzer Fahrt
beschlichen mich Zweifel. Ich sah von meiner Zeitung auf, und
betrachtete die vorbeifliegenden umgegrabenen Äcker. Eine
innere Stimme meldete sich und flüsterte: »Komm zu dir, es
hat doch keinen Sinn weiterzufahren. Kehr nach Braunschweig
zurück. Du setzt dein Leben für etwas aufs Spiel, das du nicht
verwirklichen kannst. Verlier den Überblick nicht, laß nicht
al es fahren!« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster, um meine
düsteren Gedanken verfliegen zu lassen. Dann ließ ich mich
wieder auf die Bank fallen, und biß, um meine Aufregung
zu dämpfen, in ein mit Rauchfleisch belegtes Brot.
Mir gingen unablässig widersprüchliche Gedanken durch
den Kopf. Die Stimme der Reue wurde lauter, wandte sich
an meinen Verstand. Der Zug dampfte weiter gen Osten.
Ich fühlte in mir die wütende Kraft von Wasserfluten, die
sich am Riff brechen. Keine Macht der Welt hätte mich in
diesem Augenblick zur Umkehr bewegen können.
Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her. Meine Augen
wanderten von den vorbeiziehenden Landschaften zu meinen
Zeitungen, auf die ich mich nicht mehr konzentrieren konnte.
Ich versuchte, etwas zu schlafen, aber meine Knie schlugen
immer schneller aneinander. Das monotone Rattern des Zuges,
die halblauten Unterhaltungen im Abteil und das unregelmä-
ßige Schlagen der Abteiltüren mischten sich. Draußen pfiff
die Luft am Zug vorbei. Plötzlich hörte ich von irgendwoher
166
eine befehlende Stimme: »Halten Sie Ihre Papiere für die
Kontrol e bereit!« Licht flammte auf, und Jupp nahm Haltung
an. Der aus dem nördlichen Niedersachsen stammende Josef
Perjel war für die Kontrol e bereit. Die Schiebetür öffnete sich,
und zwei streng blickende Männer erschienen im Rahmen.
Sie trugen lange schwarze Wintermäntel und breitkrempige
Hüte und wiesen sich als Polizisten aus. Die Papiere meiner
Abteilnachbarn wurden genau geprüft und die Reisenden selbst
mit hartem Blick fixiert. Einer von ihnen wurde nach dem
Grund seiner Reise gefragt, ein anderer mußte seine Tasche
öffnen. Dann kam ich an die Reihe.
Ohne zu zögern, hielt ich ihnen meine Reisegenehmigung
und meinen Mitgliedsausweis der Hitlerjugend hin. Ich ver-
suchte, möglichst überzeugt zu wirken, wol te Verständnis für
die notwendige Sicherheitskontrolle zum Ausdruck bringen.
Die beiden erfahren wirkenden Beamten begnügten sich mit
einem kurzen Blick auf mich, gaben mir meine Ausweise mit
einem »Vielen Dank, Heil Hitler« zurück und schlossen die
Abteiltür hinter sich.
Ich atmete tief durch. Wieder hatte ich ein Hindernis über-
wunden. Die gefährlichen Minuten waren ohne Zwischen-
fall verstrichen. Sie hätten mich auch in ihren Gestapokeller
mitnehmen können, wenn sie die erstklassige Beute entdeckt
hätten, die ich darstellte. Man hätte ihnen auf die Schulter
geklopft und sie gewiß beglückwünscht, wenn sie einen als
Hitlerjungen verkleideten Juden gefangen hätten …
Wir überfuhren die Grenze. Die Städtenamen und die
Landschaften bewiesen, daß wir uns in Polen befanden. Wir
näherten uns Lodz.
Spät in der Nacht traf ich auf dem Kaliszki-Bahnhof in
167
Lodz ein. Ich hatte von vornherein beschlossen, kein Hotel
aufzusuchen, um Risiken zu vermeiden. In Hotels mußte man
Meldezettel ausfül en. Ich wol te dort nicht mit den polnischen
Empfangsportiers in Berührung kommen, denn wer konnte besser
als sie jüdische Gesichter erkennen, sie geradezu »riechen«? Ich
zog es vor, auf Komfort und Gefahr gleichermaßen zu verzichten
und die Nacht lieber auf dem Bahnhof zu verbringen. Tag und
Nacht wimmelte es hier so von Menschen, daß es nicht auffiel,
wenn man sich nachts auf einer der breiten Holzbänke in den
Ecken der Wartehal en ausstreckte.
Ich nahm mir vor, jede Nacht die Bank zu wechseln, um
nicht aufzufallen. Ich wollte keine Vorsichtsmaßnahme außer
acht lassen, um ja nicht den deutschen Geheimdienstbeamten
und den polnischen Spitzeln in die Hände zu fallen, die sich
hier ständig herumtrieben.
Immerhin war ich zur Hälfte untadelig, ich trug eine Uni-
form und hatte echte Papiere. Die zweite Hälfte aber drohte,
wegen des ungewöhnlichen Verhaltens Argwohn zu erregen.
Ich konnte mich nicht zweiteilen, und wie aus einem Guß
zu sein, war auch nicht möglich. Also mußte ich ein Ganzes,
aber ein aus zwei Hälften bestehendes Ganzes bleiben.
Ich gab meinen Koffer in die Gepäckaufbewahrung und
behielt nur die allernotwendigsten Sachen. Ich streifte durch
den Bahnhof, den ich seit der Zeit, da ich ein »großer Junge«
geworden war, gut kannte. Kaliszki war ein riesiger Eisen-
bahnknotenpunkt. Zahllose Reisende strömten ständig aus
und ein. Ich irrte in diesem Bahnhof umher und erinnerte
mich an vieles. Früher hatte ich Lodz des öfteren über diesen
Bahnhof verlassen, zu einer Zeit, da die Sonne für mich noch
schien – weit vor dem Holocaust.
168
Einige Wochen, nachdem ich mit meiner Familie von Peine
nach Lodz übergesiedelt war, hatte mich ein naher Verwandter
väterlicherseits zu Ferien in einem der berühmtesten Kurorte in
Polen, nach Ciechocinek eingeladen. Dort gefiel es mir. Gärten
mit weißen und roten Blumen – den polnischen Nationalfarben,
den Symbolen der Unschuld und der Liebe – überzogen die
ganze Gegend. Ich verursachte meinem Verwandten al erdings
zunächst erhebliche Unannehmlichkeiten, als ich mich auf
der Hinfahrt ständig erbrach. Eine alte weise Frau half dem
peinlichen Übel ab. Sie riet ihm, mich in Fahrtrichtung auf
die Bank zu setzen.
Auf der gefahrvollen Reise, die ich jetzt hinter mich ge-
bracht hatte, litt ich ebenfalls unter einem Brechreiz, aber aus
anderen Gründen …
Ich entsann mich anderer aufregender Ferien. Am Ende
des Schuljahres 1938 hatten meine Eltern mich nach Chelm
und Zamosc zu Vettern meines Vaters geschickt. Als Schlo-
imele, als kleiner Jecke, wurde ich herzlich aufgenommen.
Meine Gastgeber besaßen Holzlager außerhalb der Stadt in
dieser eigenartigen kargen Landschaft. Dort nahm ich an
einer prächtigen jüdischen Hochzeit teil, der Hochzeit des
Sohnes des Hauses. Mein Zimmer lag direkt neben dem des
jungen Paares, und mein Bett stand direkt an der Wand zu
diesem Zimmer. Nach der Feier, zu später Nachtstunde, wurde
ich von ungewöhnlichen Geräuschen geweckt, die aus dem
Nebenzimmer drangen. Auf Zehenspitzen eilte ich zur Tür
und schaute durch das Schlüsselloch. Ich erkannte Schatten,
die sich bewegten. Ich stellte mir alles mögliche vor, und als
ich dann wieder in meinem warmen Bett lag, überließ ich
mich wohligen Gedanken und Gefühlen. Es war das erste
169
Mal, daß ich von diesem Teil der Liebe erfuhr. Das junge Paar
hatte mich nicht bemerkt … Aber mein Besuch in Zamosc
beschränkte sich nicht auf einen heimlichen Blick durch das
Schlüsselloch. Es eröffnete sich mir eine jiddische Welt, die
ich noch nicht gekannt hatte und die bald vernichtet werden
sollte. Wir verlebten unbeschwerte Tage, und niemand ahnte,
was bald in einer nahen Kleinstadt namens Treblinka gesche-
hen würde. Heute bin ich tief betrübt und bestürzt über das
tragische Schicksal der Hochzeitsgäste, über das Schicksal
meiner Verwandten, des jungen Paares und ihres wahrschein-
lich inzwischen geborenen Kindes. Wenn ich manchmal über
Treblinka spreche, habe ich diese Familie wieder vor Augen.
Mir bricht das Herz, wenn ich an diese geliebten Menschen
denke, die niemals mehr wiederkehren werden.
Nach dem Ende des Schuljahres 1939, das ich mit einem
hervorragenden Zeugnis auf der Grundschule Konstadt in
Lodz abgeschlossen hatte, fuhr ich mit meinen Eltern in ein
kleines polnisches Dorf in die Ferien, nach Kolumno. Der
Gedanke, daß ich nach den Ferien auf das hebräische Gym-
nasium von Lodz kommen sollte, erfüllte mich mit Freude.
Doch es kam anders. Der Überfall der Deutschen Wehr-
macht auf Polen bereitete den unbekümmerten Ferien in der
schönen Umgebung von Kolumno und damit auch al en Schul-
plänen ein jähes Ende. Aus diesem Dorf konnten wir nicht
mehr mit der Bahn nach Hause zurückkehren, weil die Gleise
durch Bombenangriffe zerstört waren. Wir liehen uns einen
Pferdekarren von einem polnischen Bauern. Damit schlugen
wir uns nach Lodz durch. Vier Monate später schickten mich
meine Eltern mit meinem Bruder auf die Flucht.
Und jetzt, in dieser Nacht, vier Jahre später, war ich
170
zurückgekommen, zwar heimlich, aber mit gültigen Papieren,
zwar frei, aber nur dem Anschein nach.
Die ganze Nacht quälten mich Erinnerungen. Ich konnte
nicht schlafen und verbrachte die endlos scheinenden Stunden
unter den vielen wartenden Reisenden. Die strenge Nachtkälte
spürte ich nicht. Ich fieberte den Ereignissen am folgenden
Morgen entgegen. Langsam zog er herauf. Einige Tassen
Ersatzkaffee, der hier verkauft wurde, halfen mir, die lange
Nacht zu überstehen. Im Morgengrauen glaubte ich, keine
Nerven mehr zu haben, und meine Ungeduld wuchs ins
Unendliche. Meine Eltern lebten unter demselben Himmel,
in derselben Stadt, aber sie waren so fern von mir, als befän-
den sie sich auf einem anderen, verbotenen Planeten jenseits
aller Grenzen, und das einzig und allein wegen des Wahns
dieser Rassisten.
Bevor noch der Tag anbrach, streckte ich meine vor Müdig-
keit steifen Glieder und begab mich zu den öffentlichen Toi-
letten, um mich zu waschen und meine Kleidung in Ordnung
zu bringen. Ich überprüfte mein Äußeres, und als ich mit mir
zufrieden war, machte ich mich auf den Weg zum Ghetto von
Lodz. Salomon-Jupp stieg selbstbewußt die steinerne Bahnhof-
streppe hinab und ging zur zentralen Straßenbahnhaltestelle.
Ich suchte die Bahn, die mich an mein Ziel bringen sollte.
Ich wußte, wo das Ghetto lag und wo meine Eltern wohn-
ten. Das hatten sie mir auf einer der Postkarten geschrieben,
die sie mir ins Waisenhaus nach Grodno geschickt hatten.
An dem ersten Wagen hing ein Schild: »Nur für Deutsche.«
Ohne zu zögern stieg ich ein. Ich war ja Reichsdeutscher. Es
war mir bewußt, daß ich ein anderer und, zumindest dem
Gefühl nach, wieder derjenige sein würde, der ich wirklich
171
war, sobald ich in die Gegend des Ghettos gelangte. Doch
wer war ich wirklich? Ich weiß es nicht …
Das Signal zur Abfahrt, die elektrische Klingel, holte mich
aus meinen Gedanken zurück. Es ging los. Neugierig suchte
ich die mir bekannten Straßen wiederzuentdecken. Als wir
uns über die Piotrkowskastraße dem Zentrum näherten, ka-
men mir die Gebäude immer vertrauter vor. Wir fuhren an
der hiesigen Filiale der Firma »Gentleman« vorüber, aus der
wir noch kurz vor ihrer Plünderung die zusammenfaltbaren
Regenschirme gerettet hatten, mit denen wir, mein Bruder
und ich, unsere Reise nach Osten hatten »finanzieren« kön-
nen. Einst hatte es in dieser blühenden Stadt regen Handel
gegeben. Arthur Rubinstein wurde hier geboren, Dzigan und
Szumacher und andere jüdische Künstler hatten hier gewirkt.
Jetzt ähnelte sie einer Geisterstadt. Die Bewohner, die von
den Besatzern gedemütigt und wie Abschaum behandelt wur-
den, schlichen durch die Straßen. Ein Teil der Geschäfte und
Lokale bot seine Dienste ausschließlich Deutschen an. Auch
ich fuhr in einem für Polen verbotenen Straßenbahnwagen …
Es fiel mir schwer, die niedere Gesinnung eines bestimmten
Teils der polnischen Bevölkerung zu begreifen und zu akzep-
tieren. Antisemitische Faschisten und Stiefel ecker warfen sich
vor ihren aus dem Westen gekommenen neuen Herren in den
Staub und boten ihnen ihre schandbare Mitarbeit an, anstatt
sich ihren Landsleuten anzuschließen, die für die Freiheit der
Menschen, für ein freies Polen kämpften.
Beinahe hätte ich meine Haltestel e verpaßt. Sie hieß früher
einmal Platz der Freiheit, und der bestach durch die Schönheit
seiner mit Statuen geschmückten öffentlichen Gebäude und
die malerischen Balkone. Die Deutschen benannten Lodz
172
in Litzmannstadt um und gaben auch diesem Platz einen
anderen Namen. Von hier gingen mehrere Hauptstraßen ab,
eine davon die Nowomaiskaallee, die zum Ghetto führte. Ich
legte den Rest der Strecke zu Fuß zurück und gelangte zur
Polnotznastraße, eine Ecke, die ich noch gut kannte. Meh-
rere Häuser waren abgerissen worden. So hatte man eine Art
Grenzstreifen um das Ghetto gelegt, um Fluchtversuche zu
erschweren. Vor dem Krieg hatte ich hier Verwandte besucht,
die in der Nummer 6 wohnten. Jeden Sabbat nach dem tra-
ditionellen Hamin- Essen machten wir einen Spaziergang bis
hierher und tranken bei unseren Verwandten Tee. Ich hatte
den Geschmack des Mohnkuchens noch auf der Zunge …
Ich kletterte auf einen Trümmerhaufen. Von dort aus konnte
ich zum ersten Mal in das Ghetto schauen. Ich erstarrte. Hinter
dem hohen Palisadenzaun bewegten sich graue Gestalten. Sie
gingen langsam und gebeugt.
Dieser furchtbare Anblick! Mir wurde schwarz vor Augen,
mich würgte es. Die Tränen liefen mir herunter, auf den Lip-
pen spürte ich ihren salzigen Geschmack. Einmal noch meine
geliebten Eltern sehen, damit sich ihr Bild in mir einbrenne!
Ich war ausgehungert nach dem Anblick der feinen Züge
meiner Mutter, nach dem Anblick meines zärtlichen Vaters
mit dem intelligenten Gesicht.
Ich wollte ihnen durch mein Erscheinen einen Funken
Glück bringen, ihnen einen Lichtstrahl in die schreckliche
Finsternis ihres Lebens senden und wenigstens ein bißchen
ihre Qualen mildern, die Sehnsucht nach ihrem Sohn. Wenn
ihr Tod wirklich verfügt war, so sollten sie doch in dem Wis-
sen, daß ihr Sohn Schloimele lebte, ihre letzte Ruhe finden.
Ich stand immer noch auf dem Trümmerhaufen und schaute,
173
überwältigt von dieser tragischen, schmerzlichen Erkenntnis.
Ich fühlte, wie sehr die aufgesetzte Gelassenheit von mir wich.
Mir verschwamm alles. Ich wußte nicht mehr, was ich war
und wer ich war, wen ich warum suchte … Ich stieg von dem
Schuttberg herab und näherte mich dem Zaun. Meine Schritte
schienen den Boden nicht mehr zu berühren, ich empfand eine
völ ige Leere um mich herum. Vor dem Zaun blieb ich stehen.
Ich berührte den dicken verrosteten Stacheldraht. Wie durch
einen Nebel bemerkte ich ein großes gelbes Schild, auf dem
in riesigen Lettern stand: »Jüdisches Wohnviertel – verbotene
Zone – Seuchengefahr.«
Vor meinen Augen bewegten sich die Juden des Ghettos wie
in sich versunkene Schatten. Meine Brüder in Lumpen gehül t,
aschfahl! Unsäglicher Kummer lähmte mich. Solange schon,
eine Ewigkeit hatte ich keinen Juden mehr gesehen … Außer
den grotesken Karikaturen in meinem Klassenzimmer … Ich
stand und schaute, wie hypnotisiert von ihrem schleppenden
Gang; sie schienen verzweifelt die winzige Flamme Leben zu
hüten, die noch glomm und die zu verglühen drohte.
In vier Tagen würden meine HJ-Kameraden die »Heilige
Nacht« der Geburt Jesu feiern. Im Chor würden sie Weih-
nachtslieder singen, unter den funkelnden Sternen am Tan-
nenbaum. Mein Herz fror, und nichts gab es, das es hätte
trösten können. Plötzlich ging hinter der Absperrung eine
Frau am Bordstein entlang. Sie hatte große Mühe, einen Fuß
vor den anderen zu setzen und war in einen grauen, schwarz-
gesäumten Wollschal gewickelt. Es war bitter kalt, und sie
versuchte sich warmzuhalten. Ich hatte auf einmal das Gefühl,
daß ich sie kannte. Sie sah meiner Mutter ähnlich. War sie
es? Ich starrte sie unverwandt an. Meine Phantasie überzeugte
174
mich, daß sie es ganz gewiß war. Großer Gott, ich war von
so weit hergekommen, um meine Mutter zu sehen. Hatte sie
einer deiner Engel zu mir geführt?
»Mama, Mama«, rief ich stumm, an meinem Zaun klebend.
»Ich bin gekommen, um dir Dank zu sagen, Mama, um
dir zu zeigen, daß das schreckliche Opfer, daß du gebracht
hast, nicht vergeblich war. Wenn ich größer sein und auch
ein Kind haben werde, kann ich vielleicht die Größe deines
inneren Kampfes und den tiefen Schmerz ermessen, den du
empfunden haben mußt, als du zu meinem Bruder sagtest:
›Isaak, mein Sohn, nimm den kleinen Sal y mit dir und führe
ihn dem Leben entgegen!‹ Ich wurde dir grausam entrissen
und komme jetzt wieder zu dir zurück. Nur ein Zaun trennt
uns. Ich sehe keine Kinder auf den Straßen … Und du in
deiner Größe, du hast mich gerettet!«
Die Frau setzte ihren Weg fort, sie schaute nicht einmal
in meine Richtung und bog um die Ecke. Ich stand da, wie
in Trance. Ich wollte sie anrufen, tat es aber nicht. Ein Kon-
trol mechanismus in meinem Gehirn hinderte mich daran. Ich
zerbarst innerlich. Fieber schüttelte mich. Den Zaun entlang
lief ich in die Richtung, in der die Frau verschwunden war.
Wie lange und wie weit, weiß ich nicht. Plötzlich stand ich
am Eingang des Ghettos.
Das Tor, dessen Flügel aus dicken Holzbohlen bestanden,
war offen. Ich schaute mich um, und mein Blick fiel auf das
Schild der Franziskanskastraße. Wie nahe war ich meinen
geliebten Eltern! Nur wenige Häuser trennten mich von der
Verwirklichung meines sehnsüchtigen Traums. Zur Nummer
18 zog es mich mit jeder Faser meines Wesens. Am Anfang
der Straße gingen einige Menschen, jeder von ihnen sah Vater
175
oder Mutter gleich. Mir zerbrach es das Herz. Und jetzt konn-
te der Zensor, der Kontrolleur meines Lebens, nicht verhin-
dern, daß ich wider mich selbst handelte. Ich trat durch das
Ghettotor und ging näher. Ich stand jetzt eine Armlänge von
ihnen entfernt. Ich fühlte mich seltsam gestärkt. Ich hatte den
Eindruck, nach Hause gekommen zu sein. Ich begriff nichts
mehr. Ich war so erschüttert und aufgeregt, daß ich beinahe
die Beherrschung verlor. Da stand ich in meiner schwarzen
Winteruniform bei gefangenen Juden, denen nahezukommen
mir verboten war. Die Gefühle und Gedanken überstürzten
sich in meinem Kopf. Mir fehlen die Worte, um zu schildern,
was in diesen Minuten in mir vorging.
Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Wenn sich nun
meine Mutter zufällig unter den Menschen befände, mich
wiedererkennen und »Schloimele, mein Sohn!« rufen würde?
Würde ich sie dann mit der ganzen mir verbleibenden Kraft
umarmen? Nein, dachte ich sogleich, ich würde nicht ant-
worten, ich würde so tun, als wäre sie mir fremd. Ein solch
ungewöhnlicher Vorfall hätte unser beider Ende bedeuten
können. Welcher Hitlerjunge hätte schon das Ghetto betreten,
um eine »alte Jüdin« zu küssen? Ein schweres Vergehen, auf
das der Tod stand. Wenn es so käme, überlegte ich weiter,
würde ich meiner Mutter lediglich verstohlen zu verstehen
geben, daß ich es tatsächlich sei. Wir würden uns in der
Hoffnung auf ein neues Wiedersehen mit einem Blickwechsel
begnügen. Aber könnten wir uns zurückhalten?
Diese Gedanken nahmen mich ganz in Anspruch. Plötz-
lich baute sich ein Mann in einem dunklen Mantel vor mir
auf. Er trug eine Schirmmütze mit einem weißen David-
stern. An der Armbinde erkannte ich, daß ich einen jüdischen
176
Ghetto-Polizisten vor mir hatte. Unsere Blicke trafen sich. Er
strahlte Autorität aus, doch die Verblüffung war ihm anzu-
merken. Ich hatte das Gefühl einer eigenartigen Schicksals-
gemeinschaft. Wir sahen einander wortlos an. Hinter mir
hörte ich jemand in dialektgefärbtem Deutsch fragen, was
ich denn hier wohl suche. Ein Wachposten, anscheinend ein
Volksdeutscher, stand neben mir. In der deutschen Hierarchie,
die strikt beachtet wurde, stand ich als Reichsdeutscher über
ihm. Daher setzte er eine verbindliche Miene auf. Über mei-
ner Hakenkreuzarmbinde waren die Worte »Bann 468 Nord-
Niedersachsen, Braunschweig« eingestickt. Er registrierte die
Stickerei, und ich brauchte mich nicht auszuweisen. Er teilte
mir aber höflich mit, daß ich mich verlaufen hätte. »Hier
wohnen die Juden, wußtest du das nicht?« Ich zuckte die
Schultern. »Der Eintritt ist verboten. Du kannst dir hier alle
möglichen Krankheiten holen, es gibt sogar Seuchen«, erklärte
er. Seine Sorge um meine Gesundheit »rührte« mich, und
ich dankte lächelnd für den Hinweis. Er solle sich aber nicht
weiter beunruhigen, ich würde seinen Rat befolgen und mich
entfernen. Ich kam wieder zu mir, ich hatte meine fünf Sinne
wieder beisammen – Jupp war Herr der Lage. Ich erklärte
ihm kaltblütig, daß ich mich auf der Durchreise befände. Er
verstand das so, daß ich in das nicht-jüdische Viertel jenseits
des Ghettos wollte und empfahl mir, die Straßenbahn zu
nehmen, die durch das jüdische Viertel hindurchfuhr.
Ich befolgte seinen Rat. Die Möglichkeit, das Ghetto mit
der Straßenbahn zu durchqueren, behagte mir. Ich ging vom
Tor weg zur Haltestelle, die nicht weit vom Ghettoeingang
entfernt lag. Wie immer, wenn man ungeduldig auf sie wartet,
ließ sich die Bahn auch dieses Mal Zeit. Verwundert stellte
177
ich fest, wie normal das Leben rings um das erbärmliche
Ghetto verlief, in dem Hunderte von Frauen, Kindern und
Männern an Hunger und Krankheiten starben. Auf keinem
der Gesichter der Passanten bemerkte ich Irritation darüber
oder irgendein Zeichen des Protestes. Ich war bestürzt über
das erschütternde Desinteresse und die Gleichgültigkeit, die
wenige Meter vor den Ghettomauern herrschten. Die Tatsache,
daß man sich an das Grauen gewöhnt, erscheint mir noch
heute als die erschreckendste Reaktion, deren die Menschheit
fähig ist. Die Gespaltenheit der Welt, die ich damals erfuhr,
hat mich unwiderruflich geprägt.
Die Straßenbahn kündigte sich durch lautes Rattern an.
Wenig später fuhr sie in die Straße ein, sie schaukelte in
der Kurve. Der Fahrer klingelte, die Räder kreischten, und
die Bahn kam genau vor der Haltestelle zum Stillstand. Ich
wandte mich dem Wagen zu, der den Deutschen vorbehalten
war, während die Polen, die mit mir gewartet hatten, in den
für sie bestimmten steigen mußten.
Ich zwängte mich nicht in das Wageninnere, um mich
neben die anderen Passagiere zu setzen, ich blieb bei der Front-
scheibe stehen. Ich wußte, daß ich bei der Einfahrt ins Ghetto
die Fassung zu verlieren drohte, was die arischen Reisenden
gewiß nicht verstehen würden, und wenn sie verstünden …
Der Fahrer, hinter den ich mich gestellt hatte, warf mir
einen raschen Blick zu. Er schaute prüfend denjenigen an, der
ihm in den Nacken blies, und kümmerte sich wieder um seine
Bahn. Seine Uniform war sauber und mit den Abzeichen der
Litzmannstadter Verkehrsbetriebe geschmückt.
Die schweren Torflügel schwangen zurück, die Bahn über-
fuhr die Ghettogrenze und hielt. Der jüdische Polizist, dem ich
178
gerade noch gegenübergestanden hatte, näherte sich, ging um
das Fahrzeug herum und verschloß mit einem Spezialschlüssel
alle Türen. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll-
te, daß Juden aus dem Ghetto in die Straßenbahn drangen;
jetzt konnte nur noch von innen geöffnet werden. Einem
deutschen oder polnischen Fahrgast wäre es jedoch sowieso
kaum eingefallen, einem Juden, der sein Leben retten wollte,
die Türen zu öffnen.
Als der Polizist außen alles verriegelt hatte, setzte sich die
Bahn langsam wieder in Bewegung. Sie bog in die Fran-
ziskanskastraße ein, und ich konnte nur mit Mühe dem
Gefühlssturm Herr werden, der jetzt in mir tobte, Minuten
äußerster Anspannung. Ich stand noch unter dem Eindruck
des verheerenden Widerspruchs zwischen der bestürzenden
Gleichgültigkeit da draußen und der Atmosphäre der Ver-
nichtung und Ohnmacht, die hier hinter der von einer be-
stialischen Herrschaft errichteten Mauer über al em lag. Mein
Körper war wie gelähmt. Ich sah die Hausnummern kaum.
Meine Augen irrten suchend voraus, um schon von weitem
das Haus meiner Eltern zu erkennen. Und da! Da tauchte
das Ziel meiner Reise vor mir auf! Da stand das Haus, in
das zu kommen ich mir so sehnlich gewünscht hatte. Ich
preßte mich gegen die Scheiben. Ich weiß nicht, wie das Glas
dem Druck meines Körpers standhalten konnte … »Halt an,
verdammte Straßenbahn! Bleib stehen! Laß mich noch eine
Minute schauen!« Ich brannte darauf, meine Mutter zu sehen.
Vielleicht waren ihre Gefühle noch nicht abgestumpft, und
vielleicht trieb sie ja der mütterliche Instinkt, daß ihr Sohn
in der Nähe war, ans Fenster.
Wir waren jetzt auf gleicher Höhe mit dem Haus Nummer
179
18. Hinter den dunklen Fenstern regte sich nichts. Das Wunder
geschah nicht. Die Räder drehten sich weiter. Meiner Kehle
entfuhr ein dumpfer Seufzer. Der Fahrer drehte den Kopf
und sah mich seltsam an.
Ich starrte stur nach draußen, viel eicht käme ein Verwandter
oder ein Freund des Weges. Wenigstens einen Blickkontakt
mit einem Bekannten herstel en! Meine Augen wanderten vom
Trottoir zur Straße, von den Passanten zu den Häuserfenstern.
Die Menschen auf der Straße erschienen mir unwirklich. Erst
nach dem Krieg erfuhr ich, daß sich zur Zeit meines Besuches
im Ghetto die meisten Juden aus Lodz bereits in Auschwitz
befanden. Die sich jetzt noch im Ghetto aufhielten, stammten
aus der Umgebung und sahen ihrer baldigen Deportation
entgegen.
Die deutschen Fahrgäste blickten nicht aus den Straßen-
bahnfenstern. Den lebenden Beweis menschlicher Greueltaten,
die sich hier verewigten, wollten sie nicht wahrhaben. Ihre
Gesichtszüge drückten völlige geistige Ruhe aus. Während
ich sie betrachtete, ging mir auf, wie Gleichgültigkeit und
Verbrechen in ihnen nebeneinanderher existierten. Wie war
das möglich? Hegten sie denn alle, alle ohne Ausnahme die
gleichen Gefühle? Schlug ihnen denn nicht das Gewissen?
Heute würden sie antworten: »Unser Herz war von Trauer
erfüllt über alles, was da geschah. Was aber hätten wir tun
können?«
Die Geschwindigkeit wurde in einer Kurve gedrosselt. Und
an der Biegung, auf gleicher Höhe mit dem Straßenbahnfenster,
bot sich mir der deprimierendste, der erschütterndste Anblick,
dem ich je ausgesetzt war. Vier Männer zogen und stießen
einen rumpelnden Karren, der mit Leichen beladen war, die
180
man mit einem Stoffetzen, wohl einem ehemals weißen Laken,
bedeckt hatte. Unter dem Leinentuch schauten die nackten
ausgemergelten Glieder der Toten hervor. Die Körper waren in
einer grotesken Vermengung durcheinandergeworfen worden.
Dieses furchtbare Schauspiel zerriß mir das Herz. Der Karren
fuhr in ein Schlagloch der schadhaften Straße. Arme und
Beine baumelten, hoben sich, fielen zurück, hoben sich von
neuem, fielen dann endgültig in ihre Ausgangslage zurück
und wurden weiter über das Pflaster geschleppt.
So wurden sie zu ihren Gräbern gezogen. Ein schrecklicher
Gedanke kam mir: Wenn sich meine geliebte Mutter unter
diesen Leichen befände! Oder mein Vater!
Herr der Welt! Hast du eine Antwort, hast du eine Erklä-
rung für das Geschehen an diesem Ort des Schreckens, an
dem die Gemeinde deiner Gläubigen lebt?
Am liebsten hätte ich mich auf den Boden des Wagens
geworfen und aufgebrüllt.
Doch die Straßenbahn setzte ihre Fahrt fort, und das
Martyrium meiner Glaubensbrüder blieb hinter mir zurück.
Mein Blick trübte sich, die Gegenstände verschwammen vor
meinen Augen.
Wir erreichten den Ausgang des Ghettos, die Bahn hielt.
Undeutlich sah ich einen anderen jüdischen Polizisten, der
die verriegelten Türen wieder öffnete.
An der ersten Haltestelle nach dem Ghetto stieg ich aus.
Ziel os irrte ich durch die Straßen. Ich hatte nirgendwohin zu
gehen, keinen Menschen, an den ich mich hätte wenden kön-
nen. Der Anblick des Ghettos und des grausigen Totenkarrens
hatte mich verstört. Vier Jahre waren verstrichen, seitdem ich
meine Eltern und mein Haus verlassen hatte, aber eine solch
181
tiefe Verzweiflung, eine solche Hoffnungslosigkeit hatte ich
bisher noch nicht empfunden. Gab es eine Macht, die meinen
Traum verwirklichen, die mich in die Arme meiner Eltern
führen könnte? Könnte diese Sehnsucht wahr werden, ohne
daß ich für meine Unvorsichtigkeit bestraft würde? Ich war
nicht gekommen, um zu sehen und zu sterben, sondern um
meinen Eltern zu begegnen und weiterzuleben. Ich war nicht
gekommen, um mich gefangenzugeben und den Nazis ihr
verbrecherisches Handwerk zu erleichtern, nicht, um mich dem
Henker auszuliefern, der mich, mit doppelter Freude natürlich,
hingerichtet hätte. Meine Mutter hätte mir ein solches Opfer
nicht verziehen; ich hatte die Pflicht, mich wieder unter die
Henker zu mischen, um den letzten Willen meiner Mutter
zu erfüllen: Du sollst leben!
Mir standen noch zehn Ferientage zu. Ich beschloß, sie
darauf zu verwenden, jeden Tag mehrmals das Ghetto zu
durchfahren, in der Hoffnung, daß mir Glück beschieden sei
und meine Suche Erfolg hätte. Aber ich durfte die mit dem
Plan verbundene Gefahr nicht außer Acht lassen, durfte die
Zahl der Fahrten nicht übertreiben, um nicht den Argwohn
eines Geheimbeamten oder anderer Neugieriger zu erregen.
So hätte sich der Straßenbahnfahrer, offensichtlich ein Pole,
etwa darüber wundern können, daß ein sich seltsam beneh-
mender Hitlerjunge, der von der Tür nicht wegging, ständig
im jüdischen Viertel hin- und herfuhr. Er hätte auf den Ge-
danken kommen können, dies der Gestapo zu melden, die
sich ein Vergnügen daraus gemacht hätte, mich zu verhaften
und Nachforschungen anzustellen.
Es versteht sich von selbst, daß ich in Anbetracht meiner
höchst prekären Situation jedes Ding mit äußerster Vorsicht
182
in Angriff nehmen mußte. Ich wußte nicht, wie oft die Bahn
fuhr, aber seit ich ausgestiegen war, waren mehr als zwei
Stunden vergangen. Ich überquerte den Damm und wartete
auf die Straßenbahn, die zurückfuhr. Ich mischte mich unter
die vor mir eingestiegenen Fahrgäste. Ich fühlte mich wie ein
Wesen von einem fremden Stern, wie ein einsamer Vogel, der
seine Fluggefährten verloren hatte. Wie war es nur möglich,
daß ich den geliebten Menschen räumlich so nahe war und
sie doch nicht sehen konnte? Konnte der Teufel mich derartig
verhöhnen?
Vor Kälte und Ohnmacht zitternd setzte ich mich auf die
Bank. Ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ich hatte
die Straßenbahn nur erwartet, um einen zweiten Blick auf
»mein Haus« werfen zu können. Als sie gekommen war, war
ich erneut in den Privilegiertenwagen gestiegen. Ich bemerkte
denselben Fahrer, der mich wieder merkwürdig ansah. Nach
dem Verriegelungsritual schlossen sich die Ghettotore wieder
hinter uns. Ich hatte auch dieses Mal nicht das Glück, meine
Eltern zu sehen.
Für meine späteren Fahrten bereitete ich einen Zettel vor,
auf den ich in Polnisch schrieb: »An die Familie Perel, Ghet-
to Lodz, Franziskanskastraße 18. Salek lebt. Beobachtet die
vorüberfahrenden Straßenbahnen!« Ich steckte das Blatt in
die Tasche, um es bei der ersten Gelegenheit nach draußen
fallenzulassen, hoffend, eine mitleidige Seele werde die Bot-
schaft meinen Eltern übermitteln. Doch selbst diese Mitteilung