15. Kapitel
Mai 1766, Kasernenhof Oranienbaum bei Sankt Petersburg
Sie taumelten vor Freude darüber, endlich, endlich wieder die Erde unter den Füßen zu spüren, als sie zwei Tage später, von Ruderbooten übergesetzt, in Oranienbaum eintrafen.
Lachend und scherzend lernten sie das Gehen wieder, stützten sich gegenseitig, tollten wie Kinder und fielen sich in die Arme.
Doch das Strahlen in den Gesichtern verblasste, als sie sich umschauten.
Das sollte das Paradies sein?
Für diesen Kasernenhof, in dem bereits Hunderte weitere Deutsche lagerten, sollten sie die wochenlangen Schikanen ertragen haben?
Hier war es nicht anders als in der Lübecker Baracke, nur dass sich alles in einem noch erbärmlicheren Zustand befand.
Nicht für alle gab es Platz in der Kaserne – viele sollten unter freiem Himmel schlafen oder sich aus Holz und Reisig Hütten bauen.
Ein Schütteln durchlief Christina, als sie sich in die Schlange vor dem Kasernentor einreihte. Das war nicht das Ziel, ganz gewiss nicht.
Anton von Kersen wies die Familien mit kleinen Kindern, die Alten und die Kranken an, sich einen Platz in den Kasernen zu sichern, und riet den anderen, schleunigst mit dem Bau der Hütten zu beginnen. Er versprach den Kolonisten Billetts für die Anschaffung neuer Kleider, denn die meisten trugen inzwischen nur noch Lumpen an sich. Mit wichtigtuerischer Miene kündigte er an, dass sie in den nächsten Tagen nicht nur den Eid auf die russische Krone sprechen mussten, sondern dass die Zarin höchstpersönlich erwartet wurde. Sie wünsche die in diesen Tagen ankommenden Landsleute zu sehen.
Ein Flüstern ging durch die Reihen, aber mehr noch als eine Begegnung mit der Kaiserin wünschten sich die meisten ein Ende der Reise.
Wo war nun das Land, das ihnen versprochen worden war?
Wo durften sie sich niederlassen?
Anton von Kersen hob beide Hände und verkündete, dass der russische Kommissar Iwan Kuhlberg sich vorstellen werde, sobald sie sich ein wenig erholt hatten. Diesem konnten sie all die Fragen stellen, auf die er genauso wenig Antwort wusste wie sie.
Die Worte, die Kommissar Kuhlberg am nächsten Tag an sie richtete, waren für die Waidbacher Fausthiebe ins Gesicht.
Er erklärte den Menschen, dass sie dazu bestimmt seien, an der Wolga Bauern zu werden, und dass die russische Krone andere Pläne nicht dulden würde.
Kontakte zu Landsleuten in Sankt Petersburg oder in anderen großen Städten am Wegesrand seien strengstens verboten, die Trecks, die sich in wenigen Tagen in Bewegung setzen würden, sollten unter den größten Sicherheitsvorkehrungen geführt werden. Keinem sei es gestattet, den vorgeschriebenen Weg zu verlassen. Das Geld, das sie bereits erhalten hätten, diene ausschließlich für die Wegzehrung, bis sie das Ackerland in der Nähe von Saratow erreicht hatten, um sich dort als Bauern niederzulassen. An ihrem Ziel würden sie weitere Vergünstigungen erhalten, die es ihnen erleichtern sollten, das Land zu beackern und heimisch zu werden.
»Wie lange werden wir bis Saratow unterwegs sein?«, erklang da Adam Mais Stimme.
Schweigen senkte sich über die Menschen, während sie den Kommissar anstarrten und auf eine Antwort warteten. Seiner Miene war anzusehen, wie unwohl er sich plötzlich fühlte, und das trug nicht zur Besänftigung der Leute bei.
Er räusperte sich und strich sich ein paarmal mit den Fingern übers Kinn. »Nun, das hängt auch von eurer Disziplin ab«, erklärte er da. »Aber so Gott will, werdet ihr Saratow über Land- und Wasserwege noch vor Wintereinbruch erreichen.«
Empörte Schreie wurden laut, manche brachen schluchzend zusammen. Einige ahnten, dass eine so lange Reise weit über ihre Kräfte ging.
Adam Mai nahm das Kind aus den Armen seiner Frau und drückte es an sich. Die Kleine hustete, ihre Stirn war fiebrig heiß. Er schloss die Augen und richtete das Gesicht gen Himmel. Seine Lippen bewegten sich im stummen Gebet.
Marliese Röhrich sackte nach vorn wie eine Marionette, der man die Fäden abgetrennt hatte. Ihr Sohn Bernhard war zur Stelle und fing sie auf. »Ich überlebe das nicht, Bernhard. Ich schaffe das nicht …«
Der Flickschuster biss die Zähne zusammen und fluchte leise vor sich hin, während er seine Mutter tröstend umarmte. Helmine sah auf die beiden mit überheblicher Miene herab, die Hände in die Hüften gestemmt. Alfons hockte sich mit weinerlich verzogenem Gesicht neben seine Mutter und heulte einfach mit, obwohl er gewiss nicht wusste, was sie aus der Fassung brachte.
Christina hörte mit unbewegter Miene zu, während der Kommissar mit weit über die Köpfe hinweg schallender Stimme sprach.
Bäuerin an der Wolga?, dachte sie. Was weißt du schon … Die Drohungen des Beamten schüchterten sie nicht ein.
Anders erging es Anja Eyring, die nicht weit von ihr stand und die Hände vors Gesicht schlug. Die Schultern bebten. Ihr Mann Franz wollte den Arm um sie legen, aber sie schlug ihn weg. Christina ahnte, dass Anja genau wie sie ganz andere Pläne verfolgt hatte und dass sie ihren Traum nun zerplatzen sah.
Doch sie selbst würde so schnell nicht aufgeben. Sie befanden sich nur wenige Meilen von Sankt Petersburg entfernt. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es ihr nicht unter Aufbietung all ihres Charmes gelingen würde, die wachhabenden Soldaten zu überzeugen, ihr zu helfen.
Ganz gewiss würde sie sich nicht wie ein Maultier in den Treck eingliedern, um durch dieses riesige unbekannte Land zu einem erbärmlichen Ziel zu trotten.
Eine andere Art von Autorität als die des russischen Kommissars ging allerdings wenige Tage später von Kaiserin Katharina aus. Christina kannte Bilder von ihr und die Geschichten, die man sich in den Wirtsstuben über sie erzählte, aber ihr gegenüberzustehen löste jeden Zweifel daran auf, dass diese Frau die mächtigste Herrscherin der Welt war.
Christina empfand tiefe Ehrfurcht vor dieser seltenen Verbindung von großer Schönheit und hoher Majestät. Genau wie die anderen Waidbacher versank sie in einen Knicks, als Katharina II. in der blauen Uniform des Garderegimentes im Schlossgarten von Oranienbaum die Reihen der Kolonisten abschritt.
Zu gern hätte Christina sie in einer kostbaren Robe aus Seide und Brokat gesehen, aber selbst in der streng geschnittenen, bis über die Oberschenkel reichenden, mit Gold bestickten Uniformjacke, mit den hohen schwarzglänzenden Stiefeln und dem Dreispitz kamen Katharinas unvergleichlicher Zauber und ihre betörende Aura zur Geltung.
Bei Vorsteher von Kersen verweilte sie ein wenig, fragte nach seinem Vaterland, seinem Gewerbe und ähnlichen Dingen, aber von Kersen presste nur stockend Antworten hervor.
Christina grinste versteckt – lag nicht von Kersens ganze Hoffnung in dem Wohlwollen der Zarin? War er nicht nur deshalb nach Russland gekommen, um in den Dienst Ihrer Majestät zu treten?
So tölpelhaft, wie er sich verhielt, sah sie seine Aussichten schwinden. Da – jetzt reichte sie ihm gar die Hand zum Kuss, aber von Kersen schien nicht zu verstehen, was sie von ihm wollte.
Christina hörte, wie Daniel, der neben ihr stand, einen tiefen Seufzer ausstieß. »Hoffentlich schließt sie von diesem ungehobelten Klotz nicht auf die Manieren ihrer Landsleute«, zischte er erbost und vollführte mit einem gewinnenden Lächeln eine tadellose Verbeugung, als die Zarin nun an ihm vorbeiging. Leider verzichtete sie darauf, sich die Hand von dem Gesellen küssen zu lassen, obwohl Christina darauf gewettet hätte, dass er ihr in diesem Fall mindestens ein anerkennendes Lächeln entlockt hätte.
Wann immer sich in den nächsten Tagen die Gelegenheit ergab, knüpfte Christina Kontakte zu den wachhabenden Soldaten, ließ hier ein paar Münzen klingen, erfreute da einen jungen Burschen mit einem besonders hinreißenden Lächeln.
So kategorisch der russische Kommissar die Bestimmungen formuliert hatte, in den Reihen der russischen Soldaten herrschte eine lässigere Geisteshaltung, die mit dem ein oder anderen Entgegenkommen oder einem heißen Versprechen aus glutvollen Augen in Christinas Sinne beeinflusst werden konnte.
Christina dankte dem Himmel, dass endlich diese Übelkeit nachgelassen hatte. Sie aß seit einigen Tagen wieder mit gesundem Appetit und fühlte sich fast so kräftig und zuversichtlich wie zu Beginn der Reise.
Abends unter der Armeedecke tastete sie ihren Leib ab. Die sanfte Rundung, die in die Wölbung ihrer Hand passte, ließ unter den weiten Röcken noch keinen Verdacht auf ihre Schwangerschaft aufkommen, und das war ihr nur recht. Am liebsten hätte sie überhaupt keinen Gedanken mehr an diesen Bastard verschwendet, der da in ihr begonnen hatte zu wachsen.
Es fiel Christina nicht im Traum ein, den Eid auf die russische Krone zu schwören. In der lutherischen Schlosskirche von Oranienbaum sprach der aus dem Thüringischen stammende Pastor in feierlichem Ton den Eidestext in der Muttersprache der Kolonisten vor, den sie zu wiederholen hatten.
Christina bewegte nur die Lippen, ohne etwas zu sagen. Als sie sich vorsichtig umschaute, erkannte sie, dass sie nicht die Einzige war, die sich den Rückweg nicht versperren wollte, falls das Heimweh übermächtig werden sollte. Noch hatte ihr Russland nicht das geboten, was sie sich erträumt hatte.
Nach der feierlichen Zeremonie kündigte von Kersen an, dass die Weiterreise für den übernächsten Tag vorgesehen sei. Sie sollten sich bereithalten und den Anweisungen der russischen Soldaten Folge leisten. Jeder war angehalten, auf seinen Nachbarn zu achten und Sorge zu tragen, dass keiner die Abfahrt verpasste.
Christina lauschte ihm mit vor dem Mieder verschränkten Armen. Du jämmerlicher Zwerg, dachte sie. Was wird nun aus deinen hochtrabenden Plänen, in den Dienst der Zarin zu treten, he?
Von Kersen ließ sich seine Enttäuschung darüber, dass er genau wie alle anderen dazu bestimmt war, Bauer an der Wolga zu werden, statt in der kaiserlichen Armee zu dienen, nicht anmerken. Aber Christina bemerkte, wie fahl seine Wangen waren, wie müde seine Augen unter den buschigen Brauen blickten. In seine Stimme legte er mehr Autorität als jemals zuvor, aber Christina konnte er nicht täuschen. Er war innerlich gebrochen und würde die Maske des Vorstehers nur so lange tragen, bis sie ihm ein besser Geeigneter vom Gesicht riss.
In zwei Tagen sollte es also losgehen. Höchste Zeit, ihren raffiniert ausgetüftelten Plan in die Tat umzusetzen.
In dieser Nacht sollte es geschehen.
In dieser Nacht würde sie ihrem Traum, in Russland das Lebensglück zu finden, ein gutes Stück näher kommen.
Sie musste nur warten, bis alle in der Kaserne schliefen und bis Sergej, der Soldat, der sich am empfänglichsten für ihre Reize gezeigt hatte, seinen Dienst antrat.
Und dann musste sie ihre Schwester einweihen.
Eleonora ahnte nichts, aber Christina war überzeugt, dass sie sich ihr nach dem unvermeidlichen Zögern vertrauensvoll anschließen würde. Schließlich ging es nicht nur um ihre eigene Zukunft, sondern auch um das Glück ihrer geliebten Tochter. Wer mochte sich vorstellen, dass sich Eleonora wünschte, Sophia könnte als Ackerbäuerin enden?