2. Kapitel
Marliese Röhrich wusste nicht, wie lange sie auf dem Boden der Schlafkammer gelegen hatte. Als sie erwachte, fühlte sie einen stechenden Schmerz hinter ihren Schläfen. Sie blinzelte und stöhnte. Schräg fielen die Strahlen der Nachmittagssonne auf die Bodenbretter.
Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Ein paar Stunden, ein paar Minuten? Ein schepperndes Geräusch hatte sie geweckt, aber Marliese wusste es nicht einzuordnen.
Sie stützte die Handflächen auf den Boden, um sich aufzurichten. In ihrem Kopf begann es sich zu drehen, die Übelkeit in ihrem Magen trieb einen sauren Geschmack in ihren Mund.
Sie schluckte mehrfach, um gegen den Drang, sich zu übergeben, anzukämpfen, doch vergeblich. Mit einem lauten Würgen erbrach sie sich auf allen vieren am Fußende des Ehebettes. Tränen und Speichel flossen über ihr Gesicht. Sie wischte es sich mit der flachen Hand ab.
Endlich gelang es ihr, sich aufzurichten.
Sie setzte sich auf das Bett, starrte auf ihre im Schoß gefalteten Hände und versuchte, ruhig zu atmen.
Er hatte sie in die Kammer getrieben wie ein störrisches Stück Vieh, sie geschubst, so dass sie hart auf den Boden fiel … Sie biss sich auf die Lippen.
Auch ohne die neuerliche Demütigung wusste Marliese, wie sehr ihr Mann sie verachtete, wie sie ihn anwiderte und anekelte. Konnte sie es ihm verübeln? Der Frau, die sie heute war, gebührte kein Respekt. Unwillig wischte sie mit zwei Fingern eine Träne weg.
Wie Gift sickerte aus ihrem tiefsten Inneren dieser Schmerz hervor, den sie mehr als alles andere in ihrem Leben fürchtete und den sie nur auf eine einzige Art zu betäuben verstand. Ihre Hände begannen zu zittern.
Branntwein, sie brauchte Branntwein.
Die letzten Schlucke hatte sie herausgewürgt. Ihr Körper fieberte vor Gier nach neuem Schnaps.
Sie erhob sich, verharrte einen Moment und bemerkte zu ihrer Erleichterung, dass das Schwindelgefühl nachließ. Mit staksigen Schritten verließ sie die Kammer, trat in die Wohnküche.
Der Raum war leer, das Feuer im Ofen fast niedergebrannt, die Tür zum Hofplatz stand sperrangelweit offen. Sie zog die Schultern hoch, als ein Frösteln ihren Körper schüttelte.
Dann begann sie mit fahrigen Fingern, die Schränke und Regale nach Branntwein zu durchstöbern.
Sie atmete schwer, als ihre Suche erfolglos blieb, stützte sich auf den Küchentisch, bemühte sich, ihre flatternden Gedanken zu ordnen, während sich auf ihrer Stirn Schweißperlen bildeten.
Im Schuppen … Hatte Johann das Fässchen Branntwein, das er aus Büdingen mitgebracht hatte, bei seinen Werkzeugen versteckt? Wo sonst? Das sähe ihm ähnlich, den Schnaps vor ihr in Sicherheit zu bringen und sie verdursten zu lassen.
Sie wandte sich um und trat aus der Tür. Der Schuppen mit den zerborstenen Fenstern und dem löchrigen Dach lag dem Haus schräg gegenüber, rechts davon die langgezogene Scheune und der Kuhstall.
Der Gedanke, die freie Fläche des Hofs zu überqueren, ließ Panik in ihr aufsteigen. Sie atmete schneller, kämpfte gegen die unvermittelt einsetzende Todesangst an. Es musste sein, ihr blieb keine Wahl.
Wie eine Marionette setzte sie einen Fuß vor den nächsten. Sie wusste, warum sie das Haus selten verließ, obwohl sie sich diese Ängste nicht erklären konnte. Ihr Herz hämmerte, als wollte es aus der Brust springen. Die Luft wurde ihr knapp.
Doch weiter, weiter! Der Schnaps würde ihr helfen und die Panik eindämmen.
Geräusche ließen sie innehalten, als sie an der Scheune vorbeistakste, deren Tor weit offen stand. Rasch verbarg sich Marliese mit immer noch rasendem Pulsschlag in der Nische zwischen den beiden Gebäuden hinter dem Misthaufen. Sie starrte in das Dämmerlicht des Schobers, während das Blut in ihren Ohren rauschte.
Sie sah den weißen, schlaffen Hintern ihres Mannes, zwischen seinen gespreizten Beinen schlanke junge Schenkel. Wie ein brünstiges Tier grunzte Johann im Rhythmus seiner Bewegungen.
Wieder stieg das Würgen in Marliese hoch. Mit offenem Mund atmend, stützte sie sich auf die Mistgabel, die gegen die äußere Wand des Schuppens lehnte, bis sie grüne Flüssigkeit erbrach, deren Geschmack sich gallebitter in ihrem Mund ausbreitete.
Wie gehetzt ging ihr Blick wieder zu Johann. Und … Christina. Natürlich. Das hätte sie sich denken können, er konnte die Finger von dem jungen Ding nicht lassen.
Dass er sich schon kurz nach der Hochzeitsnacht andere Weibsbilder genommen hatte, wusste Marliese. Sie erinnerte sich schwach, wie es in den ersten Jahren geschmerzt hatte. Bis sie herausfand, welch wirkungsvolles Mittel es gab, alles Fühlen zu betäuben.
Als sie nun beobachtete, wie Christina ihre Röcke richtete und Johann auf den Boden sank, mischte sich in die Panik ein unbändiger Hass. Wie er da neben seinem Erguss hockte mit seinem verrunzelten Glied, der benebelte Ausdruck in seinen kleinen Augen, die feuchten, wulstigen Lippen beim Atmen geöffnet …
Der Gestank des Misthaufens neben ihr drang in ihre Lunge, als sie tief Luft holte. Wie viel Leid hatte dieser Mann über sie gebracht. Wie hatte er sie gedemütigt, getreten, geschlagen, bespuckt … Und wie selbstgefällig nahm er sich, was ihm gefiel und worauf er glaubte, ein Anrecht zu haben.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte Marliese heftige Regungen, die sie mit dem Kiefer mahlen und die Mistgabel so fest umklammern ließen, dass sich die pergamentdünne Haut über ihren Fingerknöcheln zum Zerreißen spannte. Sie wusste, dass der nächste Schluck Schnaps diese Empfindungen auf der Stelle dämpfen und schließlich verklingen lassen würde.
Schon wollte sie ihren Weg fortsetzen, den Schuppen nach dem ersehnten Fässchen durchsuchen, da wandte sich Christina um.
Sofort verbarg sich Marliese, drückte sich an die Holzwand. Hörte wie durch trübes Wasser den kurzen Wortwechsel der beiden, bevor die junge Frau davonlief, um hinter dem Kuhstall die Milch abzufüllen und sich auf den Heimweg zu begeben.
Wenn sie krepieren, brauche ich zwei hungrige Mäuler weniger zu stopfen. Ich weine ihnen keine Träne nach.
Marliese wusste, was ihr Mann von ihr hielt. Aber diese Worte trugen dazu bei, dass sich der Hass in ihr verdichtete und gefährlich zu brodeln begann. Sie griff sich an den Hals, glaubte einen kurzen Moment lang zu ersticken, kniff die Augen zusammen.
Als sie sie wieder öffnete, stand er vor ihr.
Auf seinen Zügen machte der Ausdruck der Überraschung einer spöttischen Miene Platz, als er sie anstarrte. »Was gaffst du hier, Alte?« Sein Lachen ging in ein Husten über, aber die Fältchen um seine glitzernden Augen blieben. »Geilt es dich auf, mir beim Vögeln zuzuschauen, ja? Hat es deine vertrocknete Pflaume zum Leben erweckt?« Ein verächtliches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er mit ausgestreckter Hand, als wollte er sie im Schritt berühren, auf sie zutrat.
Sie wich zurück, die Mistgabel fest umklammert.
Er stierte auf die Zinken. Wieder ein hohnschnaubendes Lachen. »Was willst du mit der Harke? Willst du sie mir in den Bauch rammen? Mach dir nichts vor, Alte, selbst dafür fehlt dir die Kraft. Du bist zu gar nichts mehr zu gebrauchen.«
Als sie ein weiteres Stück zurückwich, um seiner Hand auszuweichen, stolperte sie und landete auf dem Misthaufen.
Johann stützte die Hände in die Hüften und legte beim Lachen den Kopf in den Nacken. »Ja, drück dich in die Hühnerscheiße, alte Vettel! Da gehörst du hin.«
Wie eine Rotte hungriger Ratten verbiss sich jedes einzelne Wort ihres Mannes in ihr. Marliese wollte schreien vor Schmerz, aber kein Laut drang aus ihrem weit geöffneten Mund. So oft hatte er sie in den letzten Jahren gedemütigt, aber nun, da sie fast ausgenüchtert war und vor Verlangen nach Schnaps am ganzen Körper zitterte, war es, als fehlte eine Schutzwand, und all seine Bosheit drang bis in ihr tiefstes Inneres.
Dann war es, als explodierte etwas in ihr, gefolgt von einem gleißenden Blitz hinter ihrer Stirn. Es war, als verließe sie ihren Körper und beobachtete sich selbst, wie sie auf einmal die Zähne knirschend zusammenbiss, sich emporstemmte, mit beiden Händen die Mistgabel packte, sie anhob. Sie sah, wie das Grinsen aus seinem Gesicht fiel, wie er die Arme hochreckte und einen Schritt zurückwich. Dann sah sie sich wieder selbst, wie sie zustieß.
Ein tiefer Schrei hallte über Haus und Hof. Marliese bemerkte erst einen Wimpernschlag später, dass sie selbst ihn hervorgebracht hatte, während die Zinken der Mistgabel durch Johanns Leinenhemd und in seine Gedärme drangen wie durch ranzige Butter. Das vergilbte Weiß des Hemdes färbte sich zu dunklem Rot.
Ungläubigkeit breitete sich in den verzerrten Zügen ihres Mannes aus. Dickflüssiges Blut gluckerte aus seinem Mund, die Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Wie eine Ewigkeit erschien es Marliese, während sie auf ihren wankenden Mann starrte, bis er endlich zusammenbrach. Der durchbohrte Leib sank seitlich vor ihre Füße, der Kopf mit dem Gesicht voran auf den im Schatten dampfenden Misthaufen.
Nicht weit entfernt, in der Schusterwerkstatt, plazierte Bernhard Röhrich an der Werkbank einen Flicken auf dem Sonntagsschuh des Schlachters, den dieser verschämt abgegeben hatte: »Mach nur das Nötigste dran, Bernhard. Du weißt …«
Bernhard hatte genickt. »Schon in Ordnung, Wilhelm.«
Der Schlachter gehörte zu den wenigen, die ihre Schuhe noch zum Ausbessern brachten. Die meisten anderen trugen sie, bis sie ihnen in Fetzen von den Füßen fielen, oder hielten sie mit umwickelten Stoffbahnen zusammen, bis sie an den ersten warmen Tagen barfuß laufen konnten. In diesen Zeiten hatte keine Familie in Hessen einen Kreuzer zu viel.
Im Herbst nach der letzten Schlachtung hatte ihm Wilhelm vorsorglich einen Kübel Talg vorbeigebracht, wertvolles Material, um die für den Winter dringend benötigten Kerzen gießen zu können. Deswegen war er ihm nun einen kleinen Dienst schuldig. Eine komplette Erneuerung, die das Schuhwerk dringend gebraucht hätte, ging allerdings über das hinaus, was ein Kübel Talg wert war. Das wusste Bernhard so gut wie sein Kunde.
Trotzdem verrichtete Bernhard das vom Vater erlernte Handwerk sorgfältig und konzentriert, als wäre ein Edelmann aus der Stadt der Kunde und nicht etwa der zerlumpte Wilhelm vom Nachbarhof.
Alles, was Bernhard anpackte, erledigte er mit Bedacht und höchstem Anspruch an sich selbst.
Der harzig-würzige Geruch nach altem Leder und Leim umgab ihn, die milchige Sonne blinzelte durch die Fenster der Werkstatt und ließ aufgewirbelte Staubkörner blinken. Bernhard strich sich eine Strähne der schulterlangen Haare, die er im Nacken mit einem Lederband zusammenhielt, hinter die Ohren und griff nach der Drahtbürste, um den Schmutz rund um das Loch im Schuh zu entfernen. Bis zum Einsetzen der Dunkelheit sollte er diese Arbeit erledigt haben.
Die Flickschusterei war nicht das, was sich der Zwanzigjährige vom Leben erträumte. Es gab allerdings auch nichts anderes, wonach er sich gesehnt hatte, bis vor wenigen Wochen in der Kirche zum ersten Mal das Manifest verlesen worden war.
Ein, zwei Abende lang hatte er in der Stille vor dem Einschlafen, wenn der Mond in seine Kammer schien, mit dem Gedanken gespielt, ganz allein nach Russland aufzubrechen, allem Elend den Rücken zu kehren, aber sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe.
Er konnte sie nicht im Stich lassen.
Seine hilflose Mutter nicht, nicht den schwachsinnigen Bruder und die Schwester, die an ihm mit einer so unerschütterlichen Zuneigung hing, dass ihm der Gedanke, sie zu enttäuschen, das Herz schwer machte. Dem Familienvater sollten Liebe und Respekt gehören, aber Johann hatte schon vor vielen Jahren mit seinem herrischen, jähzornigen Gebaren alles Ansehen eingebüßt.
Schließlich hatte der Vater selbst die Angelegenheit zur Sprache gebracht. Warum nicht auswandern, wenn sie ohnehin nichts mehr zu verlieren hätten?
Bernhard hatte gezögert. Was sollte drüben, in dem großen Reich, anders sein, wenn sie ihr erbärmliches Familienleben dort fortsetzten? Er bezweifelte, dass der Himmel über Russland Einfluss auf den Charakter seines Vaters haben würde, und Fusel für die Mutter, der sie zu einem hilflosen Wrack verkommen ließ, gab es überall.
Trotzdem aber unterstützte Bernhard seinen Vater, holte sich alle notwendigen Auskünfte von einem der zahlreichen Werber der Zarin, hörte sich nach zahlungskräftigen Käufern für die Werkstatt, den Hof und das Vieh um.
Ein Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging, ließ ihn in seiner Flickarbeit innehalten. Er lauschte.
Was war das? Ein verletztes Tier? Eine der Hofkatzen, die sich am Waldrand mit einem Fuchs anlegte? Aber nein, der Schrei kam von drüben, von der Scheune her.
Bernhard legte Schuh und Werkzeug beiseite, wischte sich die Hände an den Beinlingen ab und öffnete die Werkstatttür. Sein ungewöhnlich hoher Wuchs hatte ihn schon in frühester Jugend gelehrt, mit gebeugtem Rücken zu gehen, um nicht gegen Türrahmen zu stoßen. Die krumme Haltung gehörte zu seinem Erscheinungsbild wie der mit einem Lederband umwickelte Zopf im Nacken.
Die Hof lag keine zwanzig Schritte entfernt, dazwischen nur der Gemüsegarten, in dem die Mutter Rüben und Kohl zog und früher, als sie noch Freude an solchen Dingen hatte, Levkojen und Lilien.
Bernhard hastete weit ausschreitend über den von Unkraut überwucherten, mit glitschigen Kieselsteinen bedeckten Weg zwischen den verwilderten Beeten und um die Scheune herum.
Nach Atem ringend, blieb er stehen, sah, dass die Haustür weit offen stand. Die mageren Hühner pickten im Schlamm auf dem Hof.
Neben dem Misthaufen entdeckte er seine Mutter. Sie stand da wie ein Gespenst mit ihren ungekämmten, vom Kopf abstehenden grauen Haarflusen, das Gesicht kalkweiß, den Mund zu einem Schrei verzogen, die Augen blutunterlaufen. Die Arme hatte sie von sich gestreckt, die Hände und Finger verkrampft. Das dünne graue Kleid schlotterte um ihren knochigen Körper.
»Mutter!« Bernhard rannte los. Er wusste nicht, wann er sie das letzte Mal unter freiem Himmel gesehen hatte. Was hatte sie bewogen, die Sicherheit des Hauses zu verlassen? Und was, in Gottes Namen, hatte sie bewogen, so markerschütternd zu schreien?
Wenige Schritte vor ihr erkannte Bernhard, was sie aus der Fassung gebracht hatte. Er fühlte sich, als liefe ein eiskaltes Rinnsal über seinen Rücken. Der Stiel der Mistgabel, die noch in seinem Vater steckte, zeigte wie ein anklagender Finger auf die Mutter. Ein Gemisch aus Blut und Gedärm sickerte aus dem Körper des Toten in den Hofschlamm.
Bernhard riss den Blick von seinem toten Vater los und starrte in die wässrig rötlichen Augen der Mutter. Worum flehte sie stumm? Er möge die Tat ungeschehen machen? Er möge sie in den Arm nehmen und trösten, ihr beistehen im Angesicht des Toten?
»Bernhard, ich …«, begann sie schließlich mit heiserer Stimme zu stammeln.
Mit einem Satz war er bei ihr, umfasste, so sanft es ihm ob seiner brennenden Gefühle möglich war, ihre Schultern. »Was ist passiert, Mutter? Was?«
Sie schluckte. »Er war … Er hat wieder …«
»Hast du ihn umgebracht, Mutter? Hast du es getan?« Sein Herz brannte vor Mitgefühl, als er die Qual in ihren Augen erkannte. Tränen lösten sich und suchten sich ihren Weg zwischen den Furchen ihres Gesichts.
»Ich wollte es nicht, Bernhard. Du musst es mir glauben, ich … er …« Ihre Stimme schwoll an, klang nun fast hysterisch.
Wie gut konnte er sie verstehen … Ein Wunder, dass sie es nicht schon früher getan hatte.
Was konnte ein Mensch ertragen an Erniedrigung? Bernhard wusste um das Leid seiner Mutter, hatte in all den Jahren mit ihr gelitten, als Junge in die Kissen geweint, als Heranwachsender versucht, Herr über die Wut zu werden, die in ihm kochte wie Lava in einem Vulkan. Wut auf den Vater, Wut auf dieses Leben, zu dem er verdammt war … Nein, er würde keine Träne um den Toten weinen, der mit dem Gesicht im Misthaufen zu seinen Füßen lag.
Bernhard versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Situation war eindeutig. Jeder, der seinen Vater so liegen sah, würde wissen, dass er ermordet worden war.
Das durfte nicht geschehen …
Seine Mutter war viel zu verwirrt und schwach, um sich zur Wehr zu setzen. Sie würde alles gestehen, wenn nur ein scharfer Blick sie traf.
Er musste es anders arrangieren …
Er musste seine Mutter da heraushalten.
Sie hatte es nicht verdient, am Galgen zu hängen – wenn das einer verdient hatte, dann der Tote zu seinen Füßen, dem der letzte Rest Lebenssaft aus dem Körper floss.
Bernhard holte tief Luft, schaute hinab auf den Vater, in die Scheune, fasste einen Plan …
»Es war ein Unfall, Mutter«, sagt er schließlich. »Komm, pack mit an!«
»Was … was redest du da, Bernhard?« Hilflos hob Marliese die Arme und ließ sie wieder sinken. »Es war kein Unfall, ich habe ihn getötet …«
Mit einem Ruck wandte er sich ihr wieder zu, umfasste kräftig ihre Oberarme. »Wir ziehen ihn unter den Heuboden und verwischen alle Spuren … Am Ende wird es aussehen, als sei er unglücklich von oben herabgestürzt und geradewegs mit dem Bauch in die Mistgabel …«
»Aber … aber das ist nicht richtig, Bernhard. Der Herrgott wird uns strafen …«
Bernhard hatte bereits die Leiche unter den Schultern gepackt. »Nimm jetzt seine Füße, Mutter, und hilf mir! Der Herrgott wird uns nicht strafen. Er will nämlich, dass du mit uns nach Russland gehst, und nicht, dass du hier am Galgenbaum hängst.«
Kraftlos baumelten Marlieses Arme neben ihrem Körper. »Ich kann nicht mit nach Russland, Bernhard. Wie soll das gehen? Ich bin schwach, ich bin krank, ich bin euch Kindern nur ein Klotz am Bein …«
Bernhard biss für einen Moment die Zähne aufeinander. »Du wirst es schaffen, Mutter. Wenn du nicht mitgehst, bleibe ich auch hier.«
Marliese schloss die Augen und atmete tief ein, als brauchte sie unendlich viel Kraft und wüsste nicht, woher sie sie nehmen sollte. Schließlich hob sie die Lider, schluckte und bückte sich, um Johanns Füße zu packen, wie ihr älterer Sohn es angeordnet hatte.
Wie stark ihre Hände zitterten. Bernhard wusste, was sie brauchte. Doch der Branntwein musste warten, bis sie ihr Werk verrichtet hatten. Nichts war jetzt wichtiger, als den Anschein zu erwecken, dass der Schuster Johann Röhrich, Gott hab ihn selig, kurz vor seinem Aufbruch nach Russland bedauerlicherweise tödlich verunglückt war.
Mit mehlweißem Gesicht, die Augen rund wie Hühnereier, kauerte Alfons unterm Scheunendach im Heu und streichelte das haarige Knäuel in seinen Pranken, während sein Blick nicht von dem Geschehen unter ihm wich.
Er hatte alles gesehen. Wie der Vater mit der Christina gezappelt und gegrunzt hatte gleich einem Eber mit der Sau, wie der Vater wieder einmal die Mutter auszankte. Die Mistgabel hatte er auch gesehen. Und das Blut wie die Kesselsuppe beim Metzger nach dem Schlachten. Und jetzt Bernhard, der liebe, liebe Bernhard, der zusammen mit der Mutter den schlafenden Vater schleppte.
Wie komisch die Mistgabel aus dem rausguckte.
Alfons kicherte in seine Hand, und als es in der Rechten piepste, merkte er, dass er die kleine Katze viel zu fest gedrückt hatte. Rasch öffnete er die Faust, schmiegte für einen Moment die stoppelige Wange an das weiche Fell, bevor er das Tierchen wieder zu seinen fünf Geschwistern legte, die in dem Nest aus Stroh umeinander herumtollten, von der Mutterkatze beobachtet, die sich seitlich legte, um dem Nachwuchs die Zitzen anzubieten.
Ein warmes Gefühl wie heiße süße Milch an einem Frosttag durchströmte Alfons, als er nun beobachtete, wie sich die Kleinen auf wackeligen Beinen ihren Platz erkämpften.
Hier seid ihr sicher, dachte er, faltete die Hände, senkte die Lider und betete, dass der Vater noch sehr, sehr lange schlafen möge. Lange genug, bis die Kätzchen zu groß wären, um sie im Dorfweiher in einem Sack zu ersäufen.