17. KAPITEL
N och nie hatte Kerri an einer Verhandlung des Bauausschusses teilgenommen und hoffte, dieses Erlebnis niemals wiederholen zu müssen. Das Gremium saß hinter Pulten am vorderen Rand eines Podiums. Darunter befanden sich mehrere Leute, und dann gab es noch den überfüllten Zuschauertrakt, in dem sich überwiegend Protestler und Presseleute aufhielten.
Man hatte sie in einer Ecke versteckt, um sowohl unterstützend zu sein als auch unbemerkt zu bleiben. Kerri war zwar nicht ganz klar, wie sie beides gleichzeitig bewerkstelligen sollte, aber sie hatte vor, ihr Bestes zu geben.
Eine Hand hielt sie an den Magen gepresst, der verrückt spielte, und sie wünschte sich, ihre Bauchschmerzen würden verschwinden. Von ihrem Platz aus konnte sie Nathan sehen. Er wirkte ruhig, ganz als wäre diese Sitzung keine große Sache. Zufällig aber wusste sie, dass beinahe eine Milliarde Dollar für ihn auf dem Spiel stand.
Bislang waren die Redner, die nacheinander aufgerufen wurden, einigermaßen gleichmäßig verteilt. Es waren einige gute Argumente gegen die Hochhäuser vorgetragen worden, jedoch mehr, die sie befürworteten. Dennoch konnte Kerri sich nicht entspannen. Nicht, nachdem sie an diesem Morgen in der Seattle Times gelesen hatte, dass Nathans eigene Schwester gegen ihn Partei ergreifen wollte.
Eigentlich spielt es keine Rolle, dass Frances King einer Randgruppe von Umweltschützern angehört, sagte sie sich, Niemand wird sich von dem beeindrucken lassen, was sie zu sagen hat. Leider wusste Kerri aber auch, dass es – wie auch immer man es drehen und wenden mochte – nicht gut war, wenn ein Familienmitglied sich gegen die Türme äußerte.
Kerri holte tief Luft und zwang sich, zu entspannen. Es würde kommen, wie es kommen musste. Mit dem Ergebnis hatte sie nichts zu tun. Nathan war an solche Sachen gewöhnt. Er hatte sich vorbereitet. Er hatte …
Eine zierliche Brünette erhob sich und ging zum Zeugenstuhl. Sie hatte dunkles Haar und eine blasse Haut. Ihre Bewegungen wirkten etwas seltsam. Irgendwie steif und ruckartig oder …
Kerri beugte sich vor, als sie die Ähnlichkeit zwischen der Frau Anfang dreißig und dem Mann bemerkte, den Kerri mittlerweile wirklich sehr gut kannte.
„Jetzt geht’s los“, murmelte sie leise.
Hätte sie noch Gebete übrig gehabt, sie hätte eins geopfert. Aber ihr gesamter Glaube war für Cody reserviert. Dennoch kreuzte sie die Finger und hoffte, dass alles gut ausging.
„Bitte nennen Sie uns Ihren Namen“, sagte der Verwaltungsbeamte.
„Frances King.“
„Mrs King, sie haben darum gebeten, heute in Mr Kings Angelegenheit angehört zu werden.“ Das Bauausschussmitglied runzelte die Stirn. „Sie haben denselben Familiennamen.“
„Er ist mein Bruder.“
„Verstehe. Und Sie haben Einwände gegen die Hochhäuser?“
„Sehr viele.“ Frankie, wie Nathan sie nannte, zog mehrere Papiere aus ihrer voluminösen Handtasche. „Auch wenn ich niemandem das Recht nehmen will, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, es besteht keinerlei Grund dafür, dass dieses Ungetüm existieren soll, nur um das aufgeblasene Ego von Nathan King zu befriedigen. Bauprojekte sollten eine Kultur und ein Volk ehren. Sie sollten denen dienen, die in der Umgebung leben. Nehmen Sie beispielsweise das Seattle Center: Dort gibt es Konzerte und Räume, die für alle da sind, Restaurants, Theateraufführungen und Straßenkunst. Oder den Pike Place Market. Man muss keinen Fisch mögen, um einen Nachmittag dort zu genießen. Mr Kings Plan hingegen ist nicht für die Bürger von Seattle gedacht – es sei denn, Sie haben ein paar Millionen Dollar übrig.“
Sie trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die sie mitgebracht hatte. „Mein Bruder interessiert sich nicht für die normalen Menschen. Ihn interessieren nur die Menschen, die über die Mittel verfügen, für das zu zahlen, was er vorschlägt. Unter keinen Umständen wird es einer von uns sich je leisten können, dort zu wohnen. Ich mit Sicherheit nicht. Ich lebe in einem Einzimmerapartment, und das befindet sich gleich neben einem seiner anderen Projekte. Viel Sonne fällt da nicht in meine Fenster.“
Sie lächelte, und der Knoten in Kerris Bauch vergrößerte sich um das Doppelte.
„Hier aber geht es um mehr als nur ein Wohnhaus mit Aussicht für die Superreichen“, fuhr Frankie fort. „Hunderte von Arten, die am Puget Sound heimisch sind, wären dadurch gefährdet. Hunderte, die aussterben werden, wenn diese Türme gebaut werden. Nicht nur kleine einzellige Organismen, die wir nur mit Mühe sehen können, sondern schöne Vögel und Tiere. Diese Kreaturen haben dasselbe Recht zu leben wie wir selbst. Dasselbe Recht auf Sicherheit. Mein Bruder hat es sich zur Angewohnheit gemacht, sich um niemanden zu kümmern, ausgenommen sich selbst. Das ist falsch. Jemand muss ihn aufhalten. Ich kann es nicht. Ich hoffe, Sie werden es tun.“
Kerri unterdrückte ein Stöhnen, als Frankie geendet hatte. Die Frau erhob sich, und plötzlich waren ihre merkwürdige Art und die schlecht sitzende Kleidung völlig bedeutungslos. Mit großer Überzeugung und redegewandt hatte sie ihre Argumente vorgetragen. Kerri verspürte den Wunsch, sich auf ihre Seite zu schlagen, und dabei sollte sie doch in Nathans Team mitspielen.
Später, nachdem alle Vorträge gehalten waren und der Ausschuss die Sitzung vertagt hatte, um über die Entscheidung nachzudenken, verließ Kerri das Gebäude und setzte sich hinten in Nathans Limousine. Es war vereinbart, dass er sie hier treffen würde, sowie er mit der Presse fertig war. Anschließend wollten sie essen gehen. Sie fragte sich, ob er überhaupt einen Bissen hinunterbekommen würde.
Er brauchte fast vierzig Minuten, bis er sich zum Wagen durchgeschlagen hatte. „Entschuldige“, sagte er, als er sich neben sie setzte und Tim seinen Platz hinter dem Lenkrad einnahm. „Ich hatte nicht vor, dich so lange warten zu lassen.“
„Schon in Ordnung“, versicherte sie ihm. „Wie geht es dir?“
„Beschissen.“ Er lockerte seine Krawatte. „Das falsche Projekt zur falschen Zeit.“
„Du glaubst also nicht, dass dir die Genehmigungen erteilt werden, die du brauchst?“
Er sah sie an. „Glaubst du das etwa?“
„Deine Schwester war sehr überzeugend.“
„Sie konnte sich schon immer gut ausdrücken – schon lange bevor dann die Hölle losbrach.“
„Jason sagte etwas von einem Widerspruchsverfahren“, erinnerte sie ihn. „Also wenn du jetzt nicht gewinnst, dann eben später.“
„Ich werde keinen Widerspruch einlegen.“
Kerri wusste nicht, was sie denken oder sagen sollte. Schließlich war ihr bekannt, welch große Bedeutung die Türme für Nathan hatten, was sie für ihn repräsentierten. Nicht zuletzt hatten sie beide ein Abkommen wegen dieser Türme.
„Das ist doch nicht dein Ernst“, redete sie ihm zu. „Du kannst gewinnen. Ich werde dir helfen. Es gibt noch viel mehr, das ich tun kann. Da bin ich mir sicher. Wir werden uns etwas einfallen lassen.“
Er zog seine Krawatte ab und steckte sie in die Tasche seines Jacketts. „Ich weiß deine Haltung zu schätzen, aber wozu? Es ist vorbei.“
„Auf keinen Fall. Du wirst nicht aufgeben. Das ist einer der Gründe für deinen Erfolg. Du kannst nicht aufgeben. Wie viel hast du bereits in dieses Projekt investiert? Im Ernst, willst du das etwa alles abschreiben?“
„Ja.“
Kerri war nicht sicher, ob es sie mehr überrascht hätte, wenn Nathan ihr sagen würde, dass er vorhätte, sich in eine Frau umwandeln zu lassen.
„Das glaube ich dir nicht.“
Er griff nach dem Scotch und nahm sich ein Glas. „Möchtest du etwas trinken?“, fragte er sie.
„Nein danke.“
Er schenkte sich einen kräftigen Schluck ein, den er in einem Zug wegkippte. „Gegen die Entscheidung werde ich nicht angehen, weil ich weiß, dass es zwecklos ist. Es ist ein Geschäft, und bei Geschäften pflege ich zu gewinnen.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Das ist einfach ein Bauchgefühl. Ich muss meinen Namen nicht an ein Gebäude hängen, um etwas zu beweisen. Ich ziehe mich zurück.“
Wie das? Er hatte sich so darauf konzentriert, war sich so sicher gewesen. Sie hatten ein Abkommen miteinander, das nur deshalb zustande gekommen war, weil er diese Türme so sehr wollte. Es musste einen guten …
„Ist es wegen Frankie?“, fragte sie ihn. „Hat es etwas mit deiner Schwester zu tun?“
Nathan schenkte sich einen weiteren Drink ein. „Vielleicht. Keine Ahnung.“
„Was ist mit ihr?“, fragte Kerri leise.
„Eine Menge. Sie hat Phobien, eine Zwangsneurose, weiß der Himmel. Sie wurde nie untersucht, es gab nie eine Diagnose.“ Er lachte, aber es klang bitter. „Oder vielleicht doch? Schließlich ist es nicht so, als hätten wir miteinander Kontakt.“
Während er seinen Drink in kleinen Schlucken trank, starrte er aus dem Fenster. Kerri fragte sich, ob er die Straßen von Seattle sah oder etwas völlig anderes.
„Mein Vater hatte für die Marine in Bremerton gearbeitet. Er war Zivilist, ein Arbeiter, vor allem auf dem Bau. Auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war hart. Was zu ihm passte. Er war ein harter Mann.“ Nathan schüttelte das Glas. „Er trank gern. Nüchtern war er gar nicht so übel, aber wenn er betrunken war, wurde er gemein, und die meiste Zeit war er betrunken. Er hat meine Mutter häufig geschlagen. Manchmal hat er sie wirklich übel zugerichtet. Das war seine Antwort auf alles, was ihn störte – er verprügelte seine Frau.“
Kerri wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie hatte zwar über Nathan im Internet recherchiert, aber dabei nirgends auch nur den geringsten Hinweis gefunden, dass er eine schwierige Kindheit gehabt hatte.
„Als ich dann ungefähr fünf oder sechs Jahre alt war, fing er an, sich auch an mir zu vergreifen. Das ging so lange, bis ich mit vierzehn groß genug war, mich zu wehren.“ Nathan leerte sein Glas und schüttete sich ein drittes Mal nach. „Ich weiß noch, dass ich mit meiner Mutter geredet habe und sie angefleht habe, ihn zu verlassen. Sie sagte, sie könne nicht. Einmal, weil sie uns nicht allein durchbringen könne, aber auch, weil sie ihn nun mal geheiratet habe – in guten wie in schlechten Zeiten. Diese Schwüre hatten eine Bedeutung für sie.“
Er schüttelte den Kopf. „Das einzig Gute war, dass er Frankie nicht geschlagen hat. Hin und wieder hat er ihr mal eine Ohrfeige verpasst, aber verglichen damit, wie er auf Mom und mich losging, war das nicht viel. Frankie sagte immer, dass er das nicht wage, weil er wusste, dass ich ihn damit nicht davonkommen lassen würde. Dann würde ich ihn verfolgen und umbringen, meinte sie. Vielleicht hatte sie recht. Ich weiß es nicht. Vor anderen Raufbolden habe ich sie beschützt. In der Schule, in der Nachbarschaft. Wir haben oft davon gesprochen, zusammen wegzulaufen, und überlegt, wie es wohl sein würde, wenn wir erwachsen sind. Ich bin immer davon ausgegangen, dass wir uns ewig nahestehen würden.“
Nathan stellte sein Glas ab und rieb sich den Nasenrücken. „Dann bekam ich das Footballstipendium für die USC. Frankie hatte mich angefleht, nicht wegzugehen, aber ich konnte es gar nicht erwarten, dort rauszukommen. Ich habe meine Taschen gepackt und mich mit dem Flugzeug ins sonnige Los Angeles abgesetzt.“
Kerri schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der ihr in die Kehle stieg. Sie wusste nicht, wie die Geschichte weiterging, aber sie ahnte, dass es kein Happy End gegeben hatte.
„Aber auch wenn er sie nie geschlagen hat, gequält hat er sie trotzdem“, sprach Nathan mit einer ausdruckslosen Stimme weiter, die keinerlei Emotionen preisgab. „Er hat sie beschimpft und ihr gesagt, sie sei dumm und nutzlos. Nie war sie psychisch besonders stabil, und ich bin sicher, dass ihr Zustand sich verschlechtert hatte, nachdem sie im Zentrum seiner kranken Zuwendung stand.“
Er schaute Kerri an. „Ich habe sie ignoriert. Als sie mich anrief, weil sie es nicht mehr aushielt, habe ich ihr geraten, zu einer Freundin zu ziehen. Ich hatte den Platz gefunden, an dem ich sein wollte, und ich dachte nicht daran, ihn für irgendjemanden wieder zu verlassen.“
„Du warst damals kaum achtzehn.“
„Ich war mehr als alt genug, um zu wissen, wozu er fähig war. Ihr gegenüber hatte ich eine Verantwortung. Sie war meine Schwester, und ich habe sie alleingelassen.“ Er fluchte und fuhr dann fort: „Wie es scheint, war es schließlich doch zu viel für meine Mutter. An dem Tag, an dem Frankie die Highschool abschloss, hat sie unsere Eltern beide tot vorgefunden, als sie nach Hause kam. Meine Mutter hatte meinen Vater getötet und sich dann selbst erschossen. Ich habe die Polizeiberichte gelesen. Es war kein schöner Anblick. Alles war voller Blut.“
Kerri fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte. „Es tut mir leid.“
„Mir auch. Mit alledem musste Frankie allein fertigwerden, weil ich verdammt noch mal am College viel zu beschäftigt war. Zur Beerdigung bin ich dann raufgeflogen. Sie hat mir für alles die Schuld gegeben. Dann schrie sie mich an, ich sollte sie allein lassen. Das habe ich getan. Ich bin gegangen, weil das leichter war, als mich mit ihrem Leid auseinanderzusetzen. Zu der Zeit war sie achtzehn, daher kümmerte sich auch der Staat nicht um sie. Selbst damals schon war ich ein herzloser Mistkerl.“
„Du warst jung und egoistisch. Das ist ein Unterschied.“
„Kein sehr großer. Du musst mich nicht entschuldigen, Kerri, das habe ich selbst lange genug getan. Was immer sie mir vorwirft, es ist gerechtfertigt. Wegen mir ist Frankie so geworden, wie sie ist. Als ich Jahre später nach Seattle zurückkam, habe ich sie besucht. Sie war inzwischen … seltsam geworden. Das war mir unangenehm, also bin ich wieder einmal verschwunden. Ich habe ihr dann Geld geschickt, mir eingeredet, dass das reichen würde. Durch die finanzielle Unterstützung wollte ich meine Schuld bei ihr abtragen. Wir wussten es beide besser. Als ich dann endlich begriff, dass ich ihr die Hand reichen musste, war sie längst viel zu weit weg. Du hast recht, dich vor mir vorzusehen. Ich habe sie hängen lassen. Ich habe alle hängen lassen, die ich je geliebt habe.“
Kerri empfand Mitleid für ihn, für den Teenager, der er einmal gewesen war, und für Frankie, die so viel ertragen musste. Sie rutschte über den Sitz zu ihm und legte die Arme um ihn. „Du hast Fehler gemacht. Wir alle machen Fehler.“
„Nicht in einem solchen Ausmaß. Ich hätte mich um sie kümmern müssen. Ich hätte für sie da sein müssen, und ich hätte für Daniel da sein müssen. Ich hätte mich anders verhalten sollen.“
Sie fühlte seinen Schmerz, hielt ihn fest und wollte, dass er sich Vergangenes verzieh und darauf konzentrierte, es in Zukunft besser zu machen.
„Ich habe versucht, mit ihr zu reden“, bekannte er. „Ich möchte, dass sie Hilfe bekommt. Aber das interessiert sie überhaupt nicht. Ihr Ziel ist es, mich fertigzumachen.“
„Dann willst du die Türme also aufgeben, weil du Schuldgefühle hast? Weil es ihr vielleicht besser gehen könnte, wenn du sie nicht baust?“
„So etwas in der Art.“
„Um mal von verdrehter Logik zu sprechen.“
„Im Augenblick ist das alles, was ich zu meinen Gunsten vorbringen kann.“
Er zog sie an sich. „Danke dafür, dass du zugehört hast, ohne mir Vorwürfe zu machen.“
„Ich werde dich nicht verurteilen.“
„Das solltest du aber! Ich habe es verdient.“
So viel Leid, dachte sie traurig, für sie alle. Arme Frankie, die so viel hatte ertragen müssen!
„Du bist ein guter Mensch“, widersprach sie mit fester Stimme. „Du versuchst, die Dinge in Ordnung zu bringen.“
„Zu wenig, zu spät.“
„Lieber spät als nie.“
Er sah sie an. „Klischees?“
„Du bist derjenige, der damit angefangen hat.“
„Eine reife und wohlgesetzte Erwiderung.“
Aber er lächelte, als er dies sagte. Er lächelte und schaute sie an, als würde sie ihm etwas bedeuten. Als würde sie eine große Rolle für ihn spielen.
Wieder fühlte sie es, dieses Ziehen in der Brust. Eine winzige Bewegung in ihrem Herzen. Gefühl. Hoffnung. Erwartung. Ein Verlangen nach …
Und dann wusste sie es. Es war so lange her und geschah jetzt so unerwartet. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte nicht danach gesucht oder etwa gar versucht, sich zu verlieben. Es war einfach geschehen. Als sie gerade nicht aufgepasst hatte, hatte sie sich in Nathan verliebt.
Der Offenbarung folgte die Panik auf dem Fuß. Panik, weil es ihr nicht erlaubt war, jemanden zu lieben. Wie würde ihre Bestrafung aussehen?
Aber noch ehe sie komplett ausflippen konnte, holte sie einmal tief Luft und sagte sich, dass das Leben nicht so genau war. Liebe war die Antwort. Es war die höhere Ebene, nach der die Menschen strebten. Warum sollte sie dafür bestraft werden, weil sie sich verliebt hatte?
Fast von ihrer Logik überzeugt, schmiegte sie sich an ihn. „Was jetzt?“, fragte sie.
„Jetzt werde ich mich wieder meiner Arbeit widmen. Und du wirst nach Songwood zurückkehren und dein altes Leben wieder aufnehmen.“
Was so viel bedeutete wie … was? Würden sie sich nicht mehr sehen? Schließlich hatte er sie nur angeheuert, um ihm dabei behilflich zu sein, an seine Türme zu kommen. Weiter nichts. Sie hatte sich in ihn verliebt, aber sah er in ihr etwas anderes als eine Angestellte?
Kerri wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Welche Ironie! dachte sie. So weit zu kommen und dann die Liebe zu verpassen, weil sie ins falsche Abteil eingestiegen war. Oder war es der falsche Zug?
„Möchtest du denn noch immer, dass ich dich zu dieser Benefizveranstaltung begleite?“, fragte sie. „Du musst nicht Ja sagen. Wir können das Kleid zurückgeben.“
Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. Nachdem er sie geküsst hatte, sagte er: „Ich will noch immer mit dir zusammen dorthin. Ist das für dich in Ordnung?“
Die Erleichterung war süß. „Ja. Das will ich auch.“ Nicht, dass ihr daran gelegen wäre, mit einem Haufen reicher Leute rumzuhängen. Sie wollte einfach bei Nathan sein.
„Dann ist es ein Date.“
Ein Date. Ob er das in diesem Sinne meinte?
Nenn es lieber ein Desaster, dachte sie. Das Leben war noch so viel leichter gewesen, als er bloß ein Mittel zum Zweck gewesen war und nicht der Mann ihrer Träume.
Frankie traf ihren früheren Chef Owen bei sich zu Hause an. Sie klingelte an der Haustür und konnte es kaum erwarten, die frohe Botschaft zu verkünden.
Er öffnete. „Frankie. Was machst du denn hier?“
„Wir haben gewonnen!“ An ihm vorbei stürzte sie in sein Wohnzimmer. „Wir haben gewonnen! Der Bauausschuss wird Nathan die Genehmigungen für seine Türme nicht erteilen. Weißt du, was das bedeutet? Wir haben etwas erreicht. Wir werden finanzielle Zuwendungen erhalten. Wir können wieder loslegen. Die Presse wird sich für uns interessieren. Wir werden bekannt sein als die Gruppe, die sich mit einem der größten Bauunternehmer im Lande angelegt und gewonnen hat.“
Sie konnte gar nicht mehr aufhören, zu lächeln. Ihre Wangen schmerzten bereits, aber es war ein guter Schmerz. Ein glücklicher Schmerz. „Ich hatte wahnsinnige Angst, aber ich habe es durchgezogen. Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte, und es kam perfekt heraus. Er ist am Ende – oder zumindest doch angeknackst. Das ist ein Anfang. Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, was wir uns als Nächstes vornehmen können. Da ist die Rede von einer Brücke, und ich habe mich bereits gefragt …“
„Nein“, unterbrach Owen sie gelassen. „Frankie, nein.“
Sie starrte ihn an. „Was soll das heißen, nein? Wir haben gewonnen.“
„Es ist zu spät. Wir werden nicht wieder von vorne anfangen. Versteh doch! Du hast das sehr gut gemacht. An einem Nachmittag hast du mehr erreicht als wir in drei Jahren.“
„Nein. Das war nicht ich allein. Das waren wir alle zusammen. Es war unsere Zusammenarbeit.“ Er verstand nicht. Er musste es begreifen. „Wir werden wieder anfangen. Wir waren ein tolles Team.“
„Das Team gibt es nicht mehr“, erklärte er ihr. „Alle haben neue Jobs. Am Montag fange ich bei der Umweltschutzbehörde an. Wir alle wussten, dass es zu Ende ging, Frankie. Ich habe versucht, es dir zu sagen. Es ist vorbei. Ich will es nicht weiter versuchen.“
„Du gibst auf? Aber das kannst du nicht! Da ist viel zu viel Arbeit, die erledigt werden muss.“
Owen seufzte. „Melody ist schwanger. Ich kann nicht länger von ihr verlangen, in einem Dreckloch wie diesem hier zu leben.“ Er wies auf das winzige Apartment. „Wir wollen uns ein Haus kaufen und Kinder bekommen. Ich brauche eine Krankenversicherung, Frankie, einen festen Job, bei dem ich etwas verdiene.“
Entsetzen durchfuhr sie. „Du verrätst die Sache wegen eines Gehaltschecks und einer Krankenversicherung?“
„Wir haben nicht alle reiche Brüder, die für alles aufkommen“, fuhr er sie an. „Ein paar von uns verfügen nicht über den Luxus, sich mit hoffnungslosen Fällen abgeben zu können.“
Sie zuckte zusammen. „Ich habe Nathans Geld dazu verwendet, die Sache zu unterstützen.“
„Dir ging es doch nur darum, deinen Bruder zu erledigen. Fällt dir da nichts auf?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen. Das tun wir alle. Aber es ist vorbei. Du musst in deinem Leben weitergehen. Vielleicht suchst du mal einen Arzt auf oder so.“
Es war, als hätte er sie geohrfeigt. Frankie legte eine Hand an die Wange und trat einen Schritt zurück. „Ich brauche keinen Arzt.“
„Tut mir leid. Das wollte ich nicht sagen.“
„Ich bin nicht verrückt!“, schrie sie. „Es geht mir gut! Es geht mir gut!“
„Ich weiß. Es tut mir leid.“
Frankie drehte sich um und rannte aus der Wohnung. Sie benutzte die Treppe, weil Fahrstühle unsicher waren. Dann ging sie raus auf die Straße.
Es regnete, aber sie bemerkte die Tropfen nicht, die auf sie herunterprasselten. Sie blieb im Regen stehen, zählte immer wieder bis vier und wartete auf die Ruhe, die ihr die Zahlen gewöhnlich brachten. Sie zählte, bis sie völlig durchnässt war, und zitterte und wartete weiter. Aber alles, was sie empfinden konnte, waren Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Eine tiefe Leere. Und es gab nichts und niemanden, an den sie sich noch wenden konnte.
Kerri steckte die letzte Haarnadel ins Haar. Sie hatte die Heißwickler während der Fahrt auf dem Kopf behalten. Sehr schick! Aber sie brauchte Volumen, um ihre Haare lässig hochstecken zu können.
Nachdem sie genügend Haarspray aufgetragen hatte, um einem Hurrikan standzuhalten, warf sie ihren Umhang aufs Bett und schlüpfte in ihr Kleid. Den Reißverschluss zog sie noch allein hoch, wusste allerdings, dass sie Nathan die Haken und Ösen überlassen musste. Zuletzt stieg sie in ihre Stilettos.
„Besser wird’s nicht“, fand sie, als sie ihr Bild im Spiegel betrachtete. Sie ging zur Tür des Gästeschlafzimmers und zog sie auf. „Ich bin fertig, bis auf den Rücken. Da brauche ich deine Hilfe.“
Nathan kam ins Schlafzimmer und musterte sie eingehend. „Beeindruckend. Du bist wunderschön!“
Auch er sah gut aus in seinem schwarzen Smoking, der sein attraktives Gesicht und den muskulösen Körper zur Geltung brachte.
„Danke. Ich bin nervös wegen der Party.“
„Das schaffst du schon. Das Schlimmste, womit du rechnen musst, ist, dass dich alle anstarren werden, weil du so atemberaubend bist.“
Schön wär’s, dachte sie amüsiert. „Ich glaube, damit kann ich umgehen.“
„Wir werden sehen.“
Er befestigte ihr das Kleid im Rücken, dann zog er eine schwarze Samtschachtel aus der Jackentasche.
„Dass du mir nicht zu enthusiastisch wirst“, sagte er. „Sie sind nur geliehen.“
Leihjuwelen? So wie die Stars bei einer Preisverleihung?
Vor lauter Aufregung hüpfte sie regelrecht. „Sind es Saphire? So richtig dicke, fette, dass es schon unverschämt ist? Das wär mir grade recht. Sag mir, dass sie riesig sind, bitte! Bitte! Es ist nur für heute Abend. Damit kann ich umgehen.“
Er öffnete die Schachtel, und Kerri kippte beinahe aus ihren High Heels. Es waren Saphire und Diamanten. Und was für welche! Große, wunderschöne Steine, die funkelten und glitzerten und die ganz offensichtlich sehr ausgefallen und sehr teuer waren.
Die Ohrhänger bestanden aus je zwei prachtvollen rechteckigen Saphiren, die an einer beeindruckenden Reihe von Diamanten baumelten. Das Collier war noch raffinierter: eine wechselnde Reihe aus Diamanten und Saphiren, die zur Mitte hin größer wurden. Dazu gehörte auch noch ein glitzerndes Armband.
„Wie viel ist das alles wert?“, fragte sie, auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob sie es überhaupt wissen wollte. Wie viele Leben würde sie wohl brauchen, um den Preis zu erstatten, falls sie eins der Stücke verlieren sollte?
„Etwa eine halbe Million.“
„Dollar?“
Er grinste, nahm das Collier und legte es ihr um den Hals.
Atme! wies sie sich an. Sie durfte auf keinen Fall vergessen zu atmen. „Ähm … du hast doch eine Versicherung, oder?“, fragte sie, als sie einen der Ohrringe aufnahm und realisierte, dass der untere Stein mindestens drei Karat haben musste.
„Mach dir darum keine Sorgen. Wir sind abgedeckt.“
„Auch wenn ich einen Stein verliere? Nicht, dass ich das vorhätte, aber es könnte passieren.“
Er bückte sich und gab ihr einen Kuss auf die Schulter. „Entspann dich! Amüsier dich! Es wird nichts Schlimmes passieren.“
Sie wollte, dass er mit allem recht behielt. Sie wollte sich entspannen und den Abend genießen. Mit allem, was dazugehörte.
Anstatt sich von Tim so spät noch zurückfahren zu lassen, hatte sie vor, über Nacht zu bleiben. Cody war bei Michelle, und auch sie hatte ihr versprochen, dass nichts Schlimmes passieren würde – ebenso wie Nathan. Natürlich hatte Kerri ihrer Freundin im Gegenzug versprechen müssen, in allen Einzelheiten von der exklusiven Party zu berichten. Und der heißen Nacht, die sich mit Sicherheit anschließen würde. Kerri hatte vor, ihrem Wunsch nachzukommen – wenigstens, was die Benefizgala betraf … Dreißig Minuten später betraten sie den Ballsaal des Hotels, in dem sich die gut gekleidete Seattler High Society tummelte. An einem Ende war eine Bühne aufgebaut, wo später die Auktion stattfinden würde; rechts und links davon standen Tische, auf denen die Fotos der diversen Gegenstände ausgelegt waren, die ersteigert werden konnten.
„Man kann auf eine Reise nach Aruba bieten“, murmelte Kerri. „Ich war noch nie auf Aruba.“
„Es ist schön dort“, meinte Nathan. „Es würde dir gefallen.“
„Ich habe nicht einmal einen Reisepass.“
„Möchtest du einen haben?“
„Heute Abend nicht.“
Er zog ihre Hand in seine Armbeuge. „Bereit, dich bestaunen zu lassen?“
„Aber sicher doch. Ich habe kein Problem damit, mich mit reichen Leuten zu amüsieren. Ich sage mir einfach, dass sie gar nicht so viel anders sind. Es wird ein paar wirklich nette geben, und ein paar werden unangenehm sein. Und alle haben sie Probleme.“
„Gute Einstellung.“
Sie ließ sich von ihm zu der ersten kleinen Gruppe führen. Allgemeines Vorstellen, eine Menge Namen und Gesichter. Kerri lächelte und nickte, während sie sich im Geiste Notizen machte zu den Kleidern, dem Schmuck und wer was trank.
„Im Widerspruchsverfahren werden Sie Ihren Turm bekommen“, meinte einer der Männer. „Verfluchter Bauausschuss! Wieso müssen die so viel auf die Umwelt geben?“
„Schwer zu sagen“, murmelte Nathan.
„Ohne Arbeit, ohne eine blühende Wirtschaft werden wir allerdings reichlich Zeit haben, uns mit der gefleckten Eule zu amüsieren. Sie werden sie bekommen, Nathan. Sie werden gewinnen. Das ist doch immer so.“
Der Mann und seine Frau gingen weiter. Kerri sah ihnen nach.
„Ich mag Eulen“, sagte sie.
Nathan lachte. „Das überrascht mich nicht.“
„Du willst also niemandem sagen, dass du gar nicht vorhast, Widerspruch einzulegen?“
„Eine Ankündigung wird es nicht geben. Dazu sehe ich keinen Grund.“
Sie schaute ihm ins Gesicht. „Du gibst auf, weil du es nicht verdient hast, zu gewinnen?“
„Ich ziehe mich zurück, weil der Kampf sich nicht lohnt.“
Da er nicht zu denen gehörte, die schnell das Handtuch warfen, musste sie ihm einfach glauben. Aber war seine Entscheidung richtig oder falsch? Und was würde aus ihnen werden? Gab es überhaupt ein „ihnen“, über das sie sich Gedanken machen müsste?
Sie wusste, dass sie ihn nur fragen müsste, und Nathan würde ihr die Wahrheit sagen. Das Problem war nur: Sie war nicht wirklich sicher, ob sie die Wahrheit hören wollte. Nicht heute Abend.
Er berührte ihre Wange. „Ich freue mich, dass du heute Nacht hier bleibst.“
„Ich freue mich auch.“
„Wäre es dir lieber, im Gästezimmer zu schlafen?“
Sie beugte sich ein wenig vor. „Ich bin doch nicht aus Nächstenliebe hier, großer Junge. Ich bin hier, weil ich Sex will.“
Er lachte. „Gut. Ich auch. Ich werde uns einen Drink besorgen. Was möchtest du haben? Es gibt sehr exklusiven Champagner.“
„Dann werde ich damit mal anfangen.“
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Bin gleich wieder da.“
Kerri sah ihm nach.
„So hat er mich nie angesehen“, vernahm Kerri eine Frauenstimme neben sich. Die Sprecherin trug ein schönes schwarzes Abendkleid und seufzte. „Ich hätte alles dafür gegeben, aber es ist nicht dazu gekommen.“ Sie lächelte Kerri an. „Betina Hartly.“
„Hi. Kerri Sullivan.“
„Herzlichen Glückwunsch! Ich hätte nicht geglaubt, dass Nathan sich überhaupt noch einmal einfangen ließe. Nach seiner Scheidung war er einfach nicht mehr an einer ernsten Bindung interessiert.“
Kerri zwang sich, weiter zu lächeln. „Wir haben keine ernste Bindung.“ Zumindest glaubte sie nicht, dass es das für ihn war. „Wir sind … Freunde.“
„Wenn das, was ich gerade gesehen habe, Freundschaft ist, dann waren er und ich entfernte Bekannte.“ Betina lächelte. „Ist schon gut, ich will nicht neugierig sein! Dann ist es diesmal wohl Nathan, der hingerissen ist. Man darf gespannt sein.“ Sie hielt ihre linke Hand hoch, an der ein beeindruckender Ehering prangte. „Nicht, dass ich mich vergraben hätte … Aber … Nathan! Ich bin beeindruckt.“ Sie lächelte noch einmal. „Einen schönen Abend wünsche ich!“
Nathan kehrte mit den Drinks zurück. „Mit wem hast du gesprochen?“
„Mit einer deiner Exfreundinnen. Betina …“
„… Hartly“, fügte er hinzu. „Sie hat in eine große Bankerfamilie eingeheiratet.“
„Große Banken oder viele Familienmitglieder?“
„Große Banken.“
„Du warst eine Zeit lang mit ihr zusammen.“
Er trank einen Schluck Champagner. „Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
„Ich frage.“
„Ein paar Wochen. Es war nichts Ernstes.“
Für Betina schon, dachte Kerri und überlegte, ob ihr das gleiche Schicksal bevorstand. Würde auch sie sich eines Tages an Nathan erinnern und wissen, dass er nie an sie dachte?
„Gibt es noch viele Betinas, die da in den Schatten lauern?“
„Ein paar, aber du musst dir deswegen keine Sorgen machen.“
Noch bevor sie ihn allerdings fragen konnte, warum nicht, klingelte ihr Handy. Sie stellte den Champagner ab und zog es hervor. Gleichzeitig versuchte sie sich einzureden, dass es keinen Grund zur Panik gab, obwohl ihr die Kälte bereits in die Knochen fuhr.
„Kerri? Gott sei Dank!“ Michelles Stimme zitterte. „Es geht um Cody. Oh Kerri, es tut mir so leid. Bitte. Du musst sofort kommen.“