11. KAPITEL

Die Sitzung zum Thema Schadensbegrenzung begann damit, dass einer der Partner in Jasons Kanzlei die Möglichkeiten gerichtlicher Schritte erörterte. Nathan hörte gar nicht hin. Ob er eine Klage anstrengen würde oder nicht, spielte keine Rolle, denn es war nichts weiter als eine langfristige Lösung für ein kurzfristiges Problem. Da die Bauausschusssitzung in weniger als einem Monat stattfinden würde, brauchte er sofort etwas, um sein Bild in der Öffentlichkeit wieder geradezurücken.

Ihm fiel auf, dass allen Anwesenden der Witz an der Sache entging: dass nämlich in diesem Artikel lediglich die Wahrheit stand. Tatsächlich hatte er das Geld unter der Bedingung gespendet, dass Kerri mit ihrem Sohn in seinem Interesse auftrat. Er hatte kein Gesetz gebrochen, keine Regel verletzt. Aber nun stand er da wie der kaltherzige Schuft, der er war. Etwas, das die öffentliche Meinung nicht vergeben konnte. Ein erfolgreicher Mann, der nicht bescheiden war. Wenn sie könnten, würden sie ihn von seinem Sockel herunterholen. Er musste dafür sorgen, dass dies nicht geschah.

„Das wird sich in der Presse schon totlaufen“, meinte Jason. „Wir müssen ihnen etwas anderes liefern, worüber sie schreiben können. Die Kehrseite. Mit einer Reihe von Interviews könnten wir anfangen. Kerri Sullivan hat …“

„Nichts damit zu tun“, führte Nathan seinen Satz mit Bestimmtheit zu Ende.

„Sie wird es müssen. Sie ist der Katalysator für alles. Wenn wir sie losschicken …“

„Das werden wir nicht! Sie hat genug um die Ohren. Lass sie in Frieden.“

Die Frustration seines Freundes war deutlich, und Nathan wusste, warum. Ohne Kerri würde es nicht viel zu erzählen geben. Aber er würde sie nicht darum bitten, sich in seinem Interesse zu äußern. Nicht jetzt.

Falls man ihn drängte, wollte er erklären, dass es daran lag, dass Cody nun im Rollstuhl saß. Aber er wusste, es war mehr als das. Der Grund war das, was sie zu ihm gesagt hatte, als sie ihn für das beschuldigt hatte, was mit ihrem Sohn geschehen war.

Natürlich war ihm klar, dass ihre Vorwürfe irrational waren. Mit Gott oder dem Schicksal oder irgendeinem anderen Träger der Macht ließ sich nicht verhandeln. Cody hatte so lange überlebt, weil sein Körper besser dafür gerüstet war, mit der Krankheit fertigzuwerden. Das war der Grund. Aber Kerri begriff das nicht. Und er wusste, dass er keinerlei Möglichkeiten hatte, sie dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern.

„Ich möchte sie da nicht mit hineinziehen“, erklärte er Jason.

Im selben Augenblick wurde die Tür zum Konferenzzimmer aufgestoßen, und Kerri kam herein. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Es war viel Verkehr.“

„Zu spät“, murmelte Jason.

Nathan starrte ihn zornig an. „Du hast sie angerufen?“

„Gestern. Ich dachte, du wolltest sie dabeihaben.“

„Das wollte ich nicht.“

Kerri blickte zwischen den beiden hin und her. „Dass ihr mich nur nicht alle gleichzeitig willkommen heißt!“, sagte sie schmunzelnd. „Das würde mir zu Kopf steigen, und dann ist den ganzen Rest des Tages nichts mehr mit mir anzufangen.“

Nathan stieß sich vom Sessel auf. „Du solltest bei der Arbeit sein.“

„Heute ist Montag, mein freier Tag. Warum freust du dich nicht etwas mehr, mich zu sehen? Ich kann das Problem lösen.“

Er erinnerte sich daran, wie sie es anfangs gewagt hatte, ihm entgegenzutreten – dass er sich geschworen hatte, sie wie die unbedeutende Wanze zu zertreten, die sie war. Eine Friseurin ohne Geld, die sich mit ihm anlegen wollte …

Doch dann hatte sie doch gewonnen, und das mit relativer Leichtigkeit. Er wäre ein Idiot, wenn er sich nicht anhören würde, was sie beizutragen hatte.

„Ich wollte nicht, dass du dich damit befassen musst.“

Sie lächelte. „Ich habe dir doch gesagt, ich bin hart im Nehmen. Mach dir keine Sorgen, Nathan. Ich werde dich retten.“

„Ich muss nicht gerettet werden.“

„Wir alle müssen gerettet werden.“

Sie setzte sich auf ihren Platz am Konferenztisch und sah erwartungsvoll in die Runde. „Also, wo stehen wir?“

Ein Kätzchen, das versucht, einen Hai zu beschützen. Er sollte sie hinauswerfen, aber das tat er nicht. Er konnte nicht. Er wollte sie hier haben, an seiner Seite, wollte, dass sie ihn verteidigte. Nicht, weil er das gebraucht hätte, sondern allein wegen der Bedeutung, die es für ihn hatte.

Lächerlich. Als Nächstes würde er sich noch einreden, dass ihm etwas an ihr lag.

Er ließ sich auf niemanden ein! Diese Lektion hatte er vor langer Zeit gelernt. Er war ein seelenloser Schuft, dem niemand wichtiger war als er selbst. Gewinn bedeutete alles. Um jeden Preis.

Er würde Kerri benutzen, weil es sinnvoll war. Weil er damit sein Ziel erreichen konnte. Letztendlich war der Erfolg alles, worauf es ankam.

„Das ist einfach nicht fair“, sagte Kerri, nachdem sie Nathan in sein Apartment gefolgt war und nun aus den Fenstern blickte, die vom Boden bis zur Decke reichten. „Dein ganzes Leben besteht aus einer atemberaubenden Aussicht nach der anderen. In deinem Büro, im Büro deines Anwalts, zu Hause. Es muss dich ja richtig langweilen, einmal in ein Restaurant zu gehen oder deine Sachen aus der Reinigung zu holen.“

„Vielleicht sorgt die normale Welt dafür, dass ich dies hier zu schätzen weiß.“

„Kann man sich an so etwas gewöhnen?“, fragte sie. „Fängt man an, es als selbstverständlich anzusehen?“

„Manchmal. Dann erinnere ich mich daran, womit ich angefangen habe.“

Mit nichts. Genau wie sie. Nur dass er mit seiner Zeit und seiner Energie sehr viel mehr zuwege gebracht hatte.

Sie musterte das cremefarbene Sofa. „Ich nehme mal an, dass der Bezug keine leicht zu reinigende Mikrofaser ist.“

„Keine Ahnung.“

Kerri strich mit der Hand darüber. „Wildleder. Sehr exklusiv.“

Sorgfältig klopfte sie sich den Rock ab, bevor sie sich setzte. Auf gar keinen Fall wollte sie es beschmutzen.

Er nahm dem Sofa gegenüber in einem übergroßen Sessel Platz. Zwischen ihnen ein eleganter Glastisch mit Metallrahmen. An den Wänden hingen abstrakte Gemälde, ein neutraler Teppich schmückte das Echtholzparkett, und dann diese Aussicht! Die Weite des Himmels und der Stadt dominierten den Raum.

„Du wohnst hier“, stellte sie mit einer alles umfassenden Geste fest. „Ich wohne in einem Mietshaus mit zwei Schlafzimmern. Beide haben wir mit nichts angefangen. Was ist es, das uns so voneinander unterscheidet?“

„Ich wollte Erfolg, den ich in Begriffen von Geld messen kann. Du nicht.“

Seine Antwort kam schnell, ganz, als hätte er gar nicht darüber nachdenken müssen.

„So einfach ist das?“

„Ich hatte ein Stipendium. Das war ein Vorteil.“

„Bist du gern aufs College gegangen?“

„Ja. Ich wusste, dass es ein Ausweg sein würde.“

„Mich hat die Schule nie sonderlich interessiert“, gab sie zu.

„Was hast du dir gewünscht?“

Kerri dachte über die Frage nach. Mit achtzehn hatte sie getrauert, weil sie ihre Großmutter verloren hatte, und mit der Aussicht gekämpft, nun wirklich ganz allein in der Welt dazustehen. Die Zukunft war ihr dunkel und unheimlich erschienen. Sie hatte solche Angst gehabt.

„Ich wollte irgendwo hingehören“, antwortete sie. „Ich wollte ein Teil von irgendwas sein. Ich wollte eine Familie.“

„Die du bekommen hast.“

„Was hast du dir gewünscht?“

„Geld, Macht, Wertpapiere.“

Die er hatte. „Ist das die Antwort?“, fragte sie. „Der einzige Unterschied sind unsere Ziele?“

„In erster Linie. Entschlossenheit und Glück spielen eine Rolle. Für dich ist Geld nicht wichtig.“

„Wenn ich nicht genug habe, um die Rechnungen zu bezahlen, ist es das schon. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du Cody den elektrischen Rollstuhl gekauft hast, aber ich wünschte, ich wäre selbst dazu in der Lage gewesen.“

„Du wünschst dir genügend Geld, um leben und die Rechnungen bezahlen zu können. Ich will alles.“

„Es macht dir nichts aus, dass du allein bist?“

„Nein. Ich brauche Menschen nicht so wie du.“

Und sie brauchte Geld nicht so wie er.

Er beugte sich vor. Seine Miene war sehr ernst. „Kerri, nachdem du beschlossen hattest, fünfzehn Millionen Dollar für Dr. Wallaces Forschungen aufzubringen, hast du sie bekommen. Fünfzehn Millionen! Wie lange hat es gedauert? Vom Moment, in dem du erfahren hast, was gebraucht wurde, bis ihm das Geld überwiesen wurde?“

„Ich weiß nicht. Sechs Wochen, vielleicht sieben.“

„Fünfzehn Millionen sind eine Menge Geld. Du hast eine Möglichkeit gefunden, weil es wichtig war. Du bist zielstrebig und einfallsreich. Wenn es für dich wichtig wäre, reich zu sein, dann wärst du reich. Du machst dir nur einfach nicht so viel aus materiellen Dingen.“

So wie er das sagte, klang es so einfach. Sie nahm an, dass er recht hatte. Ein bestimmtes Auto brauchte sie nicht, es musste nur funktionieren, und Designermode interessierte sie nicht.

„Cody ist mir wichtig“, wandte sie ein. „Wenn du doch glaubst, dass ich fünfzehn Millionen Dollar aus dem Hut zaubern kann, sobald es für mich die größte Bedeutung hat – warum glaubst du mir dann nicht auch, dass ich meinen Sohn mit meiner Willenskraft am Leben erhalten kann?“

„Das ist nicht dasselbe.“

Für sie war es das, aber sie wollte nicht mehr darüber streiten. „Ich freue mich, dass Jason einen Plan aufstellt.“

„Es wird ein harter Kampf.“

„Wir werden gewinnen.“

„Du klingst so zuversichtlich“, stellte er fest.

„Das bin ich auch.“

„Es ist nicht dein Kampf.“

Sie lächelte. „Aber natürlich ist es das. Du besitzt mich doch, weißt du nicht mehr?“

In seinen dunklen Augen lag ein Flackern, das sie nicht identifizieren konnte, obwohl sie tief unten in ihrem Bauch ein deutliches Beben spürte.

Aber damit werden wir gar nicht erst wieder anfangen, rief sie sich selbst zur Räson. Denk nur daran, was beim letzten Mal passiert ist! Willst du etwa das Risiko eingehen, dass Cody abermals etwas Schreckliches zustößt?

„Ich stehe voll und ganz dahinter“, sagte sie, um sich von der andauernden Verlockung abzulenken, die sie empfand.

„Ich werde es Jason mitteilen. Wie geht es Cody?“

„Gut.“

„Kommt er mit dem Rollstuhl gut klar?“

„Es gefällt ihm, dass er sich jetzt so schnell fortbewegen kann. Tim hat eine Rampe gebaut, über die er mit Leichtigkeit ins Haus und wieder heraus kann. Unser Teppich ist so heruntergekommen und alt, dass es ihm witzigerweise tatsächlich hilft, darauf herumzufahren. Er zischt durchs ganze Haus.“

„Wie kommt er in der Schule zurecht?“

„Wozu all diese Fragen? Du bist doch sonst nicht so an ihm interessiert.“

In Nathans Miene zeigte sich keinerlei Veränderung, aber sie spürte, dass er sich zurückzog, als hätte sie ihn verletzt.

Keine Chance! sagte sie sich, obwohl sie sich ein klein wenig schuldig fühlte und dadurch erst recht ärgerlich wurde. „Du fragst nie nach ihm!“, warf sie ihm vor. „Selbst wenn er im Zimmer ist, ignorierst du ihn. Du sprichst nicht mit ihm oder schaust ihm in die Augen. Ich nehme an, dass es etwas mit deinem Sohn zu tun hat, und es tut mir leid, wenn Cody dich an ihn erinnert. Ich möchte nicht, dass du leidest, aber ich hasse es, wenn du so tust, als würde er nicht existieren.“

„Du übertreibst.“

„Ist das so? Ich weiß, was du hinter dir hast, denn es ist das, was ich gerade erlebe. Vielleicht bist du wütend, weil ich möglicherweise etwas schaffen könnte, das du nicht geschafft hast. Oder vielleicht wird es mir eines Tages so gehen wie dir. Vielleicht werde auch ich dann kein anderes Kind mehr ansehen können, ohne dass es mich an Cody erinnert. Ich glaube, du findest es ungerecht, dass mein Sohn lebt und deiner nicht mehr. Vielleicht ist das das eigentliche Problem. Du versuchst so zu tun, als wäre es nicht so, wo wir doch beide wissen, dass es so ist.“

„Du interpretierst viel zu viel in all das hinein.“ Nathan stand auf. „Ja, das tust du. Du kannst nicht wissen, was ich denke, und ebenso wenig kannst du kontrollieren, ob dein Sohn lebt oder stirbt. Du glaubst, dass du sein Schicksal beeinflussen kannst, weil du dann nicht wie jeder andere Sterbliche herumstehen und zusehen musst. Das Leben oder Sterben ist den Launen von Umständen unterworfen, die du nicht beeinflussen kannst. Willkommen in der wirklichen Welt, Kerri! So ist das Leben. Du wirst es nicht aufhalten können, indem du dich zu einer Nonne machst oder die Wahrheit sagst oder dich dreimal gegen den Uhrzeigersinn um die eigene Achse drehst, während du die Sonne anstarrst und wie ein Huhn gackerst. Es ist reine Glücksache, und manchmal verliert man. Mein Sohn hat verloren. Wahrscheinlich wird auch deiner verlieren. Aber ob er lebt oder stirbt, es hat nichts mit dir zu tun.“

„Da irrst du dich!“, widersprach sie laut. „Du irrst dich total! Ich muss meinen Teil der Abmachung einhalten. Der Glaube ist wichtig. Der Glaube ist wichtiger als alles andere. Jeden Tag geschehen Wunder.“

„Wie viele davon wurden verdient, und wie viele sind einfach geschehen?“

Kerri hasste das! Sie hasste seine Worte und seinen Mangel an Gottvertrauen.

„Manchmal müssen wir einfach weitermachen“, erklärte sie ihm. „Manchmal geht es einfach nur ums Überleben. Es geht nicht darum, es zu verdienen. Als Brian sein Leben verloren hatte, wollte auch ich sterben. Ich stand kurz davor, mir selbst das Leben zu nehmen. Dass das schwach war, wusste ich, aber er war alles, was ich hatte, und plötzlich war er nicht mehr da. Ich war allein und verzweifelt.“

Sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, denn Nathan war vor ihren Augen verschwommen.

„Immer wieder hatte ich es verschoben, vor allem weil ich wusste, dass Brian enttäuscht gewesen wäre, wenn ich mir das Leben genommen hätte. Er hätte mehr von mir erwartet. Also habe ich damit gewartet. Morgen, habe ich mir gesagt. Morgen werde ich es tun. Dann habe ich festgestellt, dass ich schwanger bin. Das war mein Wunder. Ich weiß nicht, ob ich es verdient hatte, aber ich weiß einfach, dass es geschehen ist.“

Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie brauchte all ihre Kraft, um die Wahrheit zu sagen.

„Wenn ich meiner Verzweiflung nachgegeben hätte, wäre ich gestorben, ohne zu wissen, dass ich sein Baby in mir trug. Einen weiteren Tag hatte ich durchgehalten, nur noch einen Tag, und das hat alles verändert. Ich hätte gar nicht schwanger sein dürfen – wir hatten verhütet. Aber ich war schwanger, und das war ein Geschenk. Ein Zeichen, dass ich weitermachen sollte, stark sein sollte. Ich habe geschworen, dass ich für die Sicherheit seines Kindes sorgen würde, unter allen Umständen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um mein Wort zu halten. Der Glaube ist alles. Er kann Berge versetzen. Er hält Cody am Leben. Es gibt nichts, was du sagen könntest, um mich von etwas anderem zu überzeugen.“

Nathan schaute sie lange Zeit nur an. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte oder fühlte.

„Dann werde ich aufhören, es zu versuchen“, sagte er schließlich. „Du kannst die Schuld ruhig dahin schieben, wo du sie eigentlich haben willst, Kerri. Ich kann damit umgehen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Du denkst gar nicht, dass es deine Schuld ist, dass Cody im Rollstuhl sitzt – du denkst, es ist meine. Ich bin der Teufel, der dich auf den dunklen und bösen Pfad gelockt hat. Ich bin der Mann, der dich in seinem Bett haben will. Das kannst du nicht verzeihen.“

„Es hat nichts mit dir zu tun.“

„Tatsächlich?“

Und dann, weil er recht hatte, sagte sie das Einzige, das ihr einfiel: „Es tut mir leid.“

„Mir auch.“

„Nebenbei bemerkt, ich mache nicht nur dir Vorwürfe. Mir auch.“

In dieser Nacht konnte Kerri nicht schlafen. Sie lief unruhig durch ihr kleines Haus. Wieder und wieder spielte sie im Kopf ihr Gespräch mit Nathan durch und fand Dutzende von Stellen, von denen sie wünschte, sie hätte etwas anderes gesagt.

Schuldgefühle kannte sie, denn ständig hatte sie das Gefühl, nicht genug zu tun. Aber die Scham war neu. Sie hatte ihm einen Platz zugewiesen, den er nicht verdient hatte. Um sich selbst nicht mehr ganz so schuldig fühlen zu müssen, hatte sie ihm die Schuld gegeben.

Ich bin der Teufel, der dich auf den dunklen und bösen Pfad gelockt hat. Ich bin der Mann, der dich in seinem Bett haben will. Das kannst du nicht verzeihen.

Er hatte recht. Das konnte sie nicht verzeihen. Aber ebenso wenig konnte sie es vergessen.

Die Gemeindeversammlung zog sich nun schon mehr als zwei Stunden hin, aber das machte Kerri nichts aus. Der Saal war voller Energie, einer Freude, die es früher nicht gegeben hatte. Sie nahm an, dass sie seit jener Explosion gefehlt hatte, die mehrere Menschen das Leben gekostet und die Schließung des Labors nach sich gezogen hatte.

Es geht immer um Hoffnung, dachte sie, als sie sich in dem überfüllten Saal umsah. Darum, sie zu haben oder nicht.

Nachdem das Labor wieder eröffnet war, standen die Dinge wieder gut. In den Geschäften herrschte reger Betrieb, Häuser wurden verkauft, Menschen zogen hierher. Songwood hatte im Sterben gelegen, aber nun war dem Ort eine Gnadenfrist geschenkt worden.

Die Bürgermeisterin warf einen Blick auf ihre Notizen. „Leute, wir haben noch einen weiteren Punkt auf der Tagesordnung. Kerri? Wo sind Sie?“

Kerri stand auf und winkte. „Hier hinten.“

„Oh, gut. Für alle, die es noch nicht wissen, dies ist Kerri Sullivan. Sie ist die Drahtzieherin hinter der Neueröffnung des Labors. Kommen Sie nach vorne, Kerri!“

Kerri schob sich zum Mittelgang vor, wo ein Mikrofon aufgestellt war. Plötzlich nervös geworden, räusperte sie sich. Ein paar Notizen hatte sie sich zwar gemacht, aber sie hatte nicht wirklich genau geplant, was sie sagen wollte.

„Hi“, begann sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht so zitterte wie ihr ganzer Körper. „Ich bin Kerri Sullivan. Vor ein paar Monaten bin ich nach Songwood gezogen, weil mein Sohn an der Gilliar-Krankheit leidet. Ich hatte von Dr. Wallaces Arbeit gehört und wollte von ihm hören, wie er mit seinen Forschungen vorankam. Als ich jedoch hier eintraf, musste ich feststellen, dass das Laboratorium geschlossen war und Dr. Wallace nur noch allein weiterarbeitete.“

Sie legte eine Pause ein, um Luft zu holen, wobei sie hoffte, damit auch ihr innerliches Zittern beruhigen zu können. Alle schauten sie an, was schließlich normal war, wenn man bedachte, dass sie diejenige war, die redete.

Es ist für eine gute Sache, erinnerte sie sich. Sie tat es nicht für sich.

„Ich erkundigte mich, was Dr. Wallace brauchen würde, um wieder anfangen zu können. Man nannte mir die abenteuerliche Summe von fünfzehn Millionen Dollar. Nun“, sagte sie lächelnd, „ich bin zwar eine fantastische Friseurin, aber selbst an meinen besten Tagen kommt das als Trinkgeld nicht rein.“ Ein paar Leute lachten, andere schmunzelten. Kerri schluckte und fuhr dann fort.

„Ich war entschlossen, das Geld zu aufzutreiben – aber wie? Schließlich habe ich beschlossen, mich an Nathan King zu wenden und ihn um eine Spende zu bitten. Und er hat zugestimmt.“ Nachdem ich ihn dazu erpresst hatte, dachte sie mit einem Lächeln. Aber es gab keinen Grund, dieses winzige Detail preiszugeben.

„Er hätte das Geld nicht geben müssen“, fuhr sie fort. „Weder kannte er mich aus der Sandkiste, noch hatte er je von Songwood gehört. Aber er hat zugestimmt. Einfach so. Dr. Wallace hat das Geld erhalten, und die Stadt wird davon profitieren. Ich weiß, dass in den Zeitungen eine Menge scheußlicher Dinge über Nathan King verbreitet werden. Was mich betrifft, so finanziert er das, was sich sehr leicht als ein Wunder erweisen könnte. Ich dachte, es wäre nur für meinen Sohn, aber nun sehe ich, dass es für uns alle ein Wunder ist. Deshalb dachte ich, dass wir ihm vielleicht alle gerne danken wollen.“

„Wollen Sie ihm Blumen schicken?“, rief irgendein Kerl.

„Das nicht gerade. Ich dachte eher an so etwas wie einen Nathan-King-Ehrentag. Wir könnten ihm den Stadtschlüssel überreichen und eine Parade veranstalten. Nichts allzu Großartiges, vielleicht ein paar Autos, zwei Festwagen und die Highschoolkapelle.“

„Er hat dem Baseballteam neue Trikots gekauft“, sagte eine Frau. „Die sind wirklich hübsch und lassen sich nach einem Spiel leicht waschen.“

„Und er hat der Bücherei fünftausend Dollar gespendet“, meldete sich jemand anders zu Wort.

„Und den Zaun für die Grundschule.“

Kerri hatte völlig vergessen, dass sie diese Dinge gefordert hatte. Offensichtlich hatte Nathan jedoch ihre sämtlichen Forderungen erfüllt.

„All das unterstreicht nur, was ich sage: Wir sind ihm etwas schuldig.“

„Für ihn wäre eine solche Parade eine gute Werbung“, brüllte ein Mann. „Für seine Hochhäuser. Was gehen uns Wohnungen im Wert von Millionen an, die für die Reichen bestimmt sind?“

„Nichts.“ Kerri zuckte mit den Schultern. „Mich interessieren sie jedenfalls nicht. Ich werde niemals dort leben. Was ich aber weiß, ist, dass er sich eingesetzt hat, ohne es zu müssen. Dafür möchte ich ihm danken. Sollte das für ihn eine Hilfe bedeuten, freue ich mich, ihm helfen zu können. Aber das gilt natürlich nur für mich.“

Eine Frau erhob sich. „Ich möchte auch helfen. Diese neuen Trikots gefallen mir echt gut.“

Eine zweite Frau stand auf. „Mein Frank hat jetzt einen neuen Job im Labor. Uns ging’s ganz schön schlecht, wo es doch nicht mehr so viel Arbeit in der Holzfällerei gibt. Wir brauchen das Geld.“

„Wir auch“, sagte ein Mann. „Geben wir dem Mann doch seine Parade. Vielleicht startet er ja mal eins von seinen schnieken Bauprojekten hier bei uns.“

Die Bürgermeisterin schlug mit dem Hammer auf das Podium und ließ dann abstimmen. Zwei Minuten später war der Nathan-King-Ehrentag, mit dem die Stadt ihm ihre Wertschätzung erweisen wollte, beschlossene Sache. Eine Parade wurde ihm in Aussicht gestellt, und überall in der Stadt sollte sein Name groß auf Fahnen prangen.

Kerri sank auf ihren Stuhl zurück. Millie aus der Reinigung drehte sich um und drückte ihr die Hand.

„Gut gemacht“, meinte die ältere Frau. „Jetzt ist Nathan King dir etwas schuldig.“

„Nicht wirklich, aber ich freue mich, dass wir die Parade bekommen werden.“ Sie war sich keineswegs sicher, wie das Strategieteam darauf reagieren würde, aber es war jedenfalls eine positive Werbung.

Millie seufzte. „Er sieht wirklich gut aus, nicht? Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen.“ Sie strich sich die Locken glatt. „Natürlich nur, wenn ich ein paar Jahre jünger und nicht verheiratet wäre.“

„Natürlich“, murmelte Kerri und bemühte sich nach Kräften, sich Nathan und Millie nicht zusammen vorzustellen.

Nachdem die Frau gegangen war, beugte sich Linda zu ihr herüber. „Du warst toll!“

„Ich war total nervös! Ich mag es überhaupt nicht, in der Öffentlichkeit zu reden.“

„Du strahlst, wenn du ein Anliegen hast.“

Kerri wand sich. „Das klingt, als stünde ich kurz vor dem Überschnappen.“

„Ganz und gar nicht. Wie bist du auf die Idee mit der Parade gekommen?“

„Ich wollte etwas Visuelles. Nathan hat das Richtige getan und verdient es nicht, auf die Nase zu fallen, weil ein Reporter es auf ihn abgesehen hat. Ja, wir haben ein Abkommen, aber es ist nicht dasselbe, als würde ich aktiv für ihn ins Feld ziehen. So ist es besser. Nun wird sich die Aufmerksamkeit dahin richten, wo sie hingehört – auf Dr. Wallaces Arbeit.“

„Und auf Nathan.“

„Er ist daran gewöhnt.“

Lindas Mine nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. „Bei alledem finde ich es schon interessant, mit welcher Energie du dich einsetzt. Ob Nathan von der Presse in die Mangel genommen wird oder nicht, hat mit dir nichts zu tun. Das Geld ist überwiesen. Abram kommt mit seinen Forschungen voran. Woher also die ganze Anteilnahme an Nathan King?“

Unruhig verlagerte Kerri ihr Gewicht. „Ich habe ihn kennengelernt. Er ist nicht der kaltherzige Hai, für den jedermann ihn hält. Er ist ein echter Mensch.“

„Ein wirklich gut aussehender echter Mensch.“

„Darum geht es nicht.“

„Das klang aber anders, bevor … als Cody ins Krankenhaus kam.“

„Ich weiß. Es ist kompliziert. Und verwirrend.“

„Der Mann oder deine Gefühle für ihn?“

„Ich darf keine Gefühle für ihn haben“, räumte Kerri ein. „Und ich habe sie nicht.“

„Lügnerin!“

Kerri wand sich. Sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. „Ich habe keine großen Gefühle für ihn. Wie ist es damit?“

„Ich weiß nicht. Du bist diejenige, die ein Problem damit hat.“

Mehr als ein Problem, dachte Kerri. Komplikationen. Sorgen und eine Menge anderer Dinge, die sie gar nicht näher bezeichnen wollte.

„Er ist nett“, sagte sie schließlich.

„Es ist das erste Mal, dass du ihn so beschrieben hast.“

„Er ist rücksichtslos und getrieben, aber er besitzt ein Herz. Er ist fürsorglich. Auch er hat ein Kind verloren. Er ist allein, und er hat etwas …“ Etwas, das sie zu ihm hinzog, auch wenn sie wusste, dass sie in die entgegengesetzte Richtung davonlaufen müsste. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihn mag, aber so ist es. Was die Presse mit ihm anstellt, finde ich schrecklich. Deshalb will ich auf diese Weise dagegen kämpfen.“

„Mehr ist es nicht?“, fragte Linda.

„Ein kleines Element Abbitte könnte eventuell auch noch mitschwingen. Als wir das letzte Mal zusammen waren, haben wir miteinander gestritten. Vor allem ich.“

„Hast du dich entschuldigt?“

„Nicht direkt.“

„Du bringst also eher eine ganze Stadt dazu, einen Danksagungstag für Nathan King auszurufen und eine Parade auf die Beine zu stellen, als dass du sagst, dass es dir leidtut?“

„So ist es nicht. Ich werde ihm sagen, dass es mir leidtut. Bis dahin hat er etwas, mit dem er arbeiten kann. Es ist eine große Geste.“

„Manchmal sind die kleinen Gesten wichtiger.“

Das wusste Kerri. Aber sie wusste auch, welche Gefahr damit verbunden war, sich auf ihn einzulassen. „Wir können keine Beziehung haben. Das ist nicht erlaubt.“

„Hast du dir mal überlegt, dass du schon längst eine Beziehung mit ihm hast? Und dass du es einfach nur nicht zugeben willst?“