4. KAPITEL

Als Nathan sie küsste, fühlte sich sein Mund warm an und fest, ohne jedoch fordernd zu sein, was Kerri überraschte. Sie hatte erwartet, überwältigt zu werden, nicht geküsst. Er fasste sie gar nicht an, sondern überließ stattdessen seinen Lippen das ganze Geschehen. Und die machten ihre Sache gut.

Flatternd schlossen sich die Augen, während sie sich dem Kuss überließ. Sie genoss die Wärme, den Druck, das leise Kribbeln, das ihr in die Arme fuhr. Ohne es eigentlich zu wollen, legte sie den Kopf leicht in den Nacken, eine stille Einladung.

Eine Einladung, die er übersieht, dachte sie betrübt. Seine Berührung war flüchtig, mehr Hitze als Substanz, und weckte in ihr den Wunsch nach mehr. Damit hätte sie niemals gerechnet. Als er zurücktrat, empfand sie völlig unerwartet ein leichtes Hungergefühl. Sicherlich lag es daran, dass sie keinen Mann mehr geküsst hatte, nachdem Brian gestorben war … vor Codys Geburt. War das nicht traurig?

Auch Nathan wirkte verblüfft, ganz, als hätte er gar nicht vorgehabt, sie zu küssen. Rasch beeilte sie sich, ihn zu beruhigen.

„Es ist in Ordnung“, versicherte sie ihm. „Es macht mir nichts aus.“

Seine Miene wurde hart. „Hat es mit dem Geld zu tun? Willst du jetzt deswegen mit mir schlafen?“

„Was? Nein. Abgesehen davon, du hast mich geküsst.“

„Es ist aber deine Schuld, dass es so weit kam.“

„Das zeugt von großer Reife.“ Warum machte er es so schwierig? „Ich habe nichts dagegen. Es ist in Ordnung. Ich bin dir etwas schuldig.“

„Dann wirst du also Sex mit mir haben?“

„Das ist jetzt nicht gerade die dezenteste Art der Annäherung.“ Kerri dachte einen Augenblick über die Frage nach und antwortete dann aufrichtig: „Wenn es dir so wichtig ist.“ Sie berührte seinen Arm. „Du hast dich für mich eingesetzt. Das bedeutet mir eine Menge.“

„Bedeutung im Wert von fünfzehn Millionen Dollar.“

Sie lächelte. „Wenigstens bin ich nicht billig.“ Ihr Lächeln verflog. „Mach nicht mehr daraus, als es ist. Ich war dankbar und habe in dem Moment etwas gesagt, ohne nachzudenken. Lance habe ich mal eine Niere angeboten. Das heißt noch längst nicht, dass ich jetzt schon einen Termin für die Operation vereinbare.“

„Also willst du nicht mit mir schlafen.“

„Bittest du mich darum?“

„Nein. Ich möchte nur Klarheit haben. Steht Sex zur Debatte?“

„Möchtest du das?“

„Hier geht es nicht um mich.“ Nathan klang frustriert.

„Aber du bist doch derjenige, der fragt.“

„Ich frage nicht. Ich bin nicht interessiert.“

„Dann haben wir auch kein Problem.“

„Aber wenn ich interessiert wäre, würdest du dann Ja sagen?“, fragte er und klang ganz so, als wollte er das wirklich wissen.

„Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Kerri schielte auf seinen Mund. Wenn damit weitere Küsse verbunden wären, vielleicht.

Dann zog sie ruckartig den Kopf zurück. Nein!, rief sie sich zur Räson. Sie musste all ihre Energie auf Cody bündeln, denn wenn sie auch nur eine Sekunde lang ihre Aufmerksamkeit von ihm ablenkte, könnte etwas Schlimmes geschehen.

„Du willst mich nicht, also ist es auch kein Thema“, stellte sie fest. „Richtig?“

Die Fahrstuhltüren gingen auf, und sie trat hinaus in die Parkgarage. Tim wartete neben der Limousine. Sie seufzte. Die Hinfahrt mit ihm hatte Spaß gemacht, und sie freute sich auf die Rückfahrt. Vielleicht könnten sie noch bei Kidd Valley anhalten und sich ein paar Burger holen, bevor sie auf die I-90 fuhren. Sie hatte tierischen Hunger.

Sie drehte sich zu Nathan um und rief ihm zu: „Wir sehen uns.“

Er murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte und drückte auf einen Knopf. Die Fahrstuhltüren schlossen sich.

Ein wirklich sehr seltsamer Mann, dachte sie und ging auf Tim zu.

Hektisch hieb Frankie auf die Tastatur ihres Computers ein und tippte auch dann weiter, wenn sie eigentlich gar nicht recht wusste, was sie sagen wollte. Rhythmus war ebenso wichtig wie Worte. Ihre Aufgabenliste schwebte irgendwo am Rande ihres Bewusstseins, aber überwiegend war sie auf ihren Beitrag für den monatlichen Newsletter konzentriert. Sie schrieb den Leitartikel.

Die Zerstörung am Puget Sound verbreitete sich in verheerender Geschwindigkeit. So viele Pflanzen- und Tierarten waren bereits von der Bildfläche verschwunden, und viele weitere waren vom Aussterben bedroht. Manchmal hatte sie beim Schreiben das Gefühl, dass das Schicksal des ganzen Planeten auf ihren Schultern lastete. Und dass sie, wenn sie nur die rechte Verbindung von Worten und Sätzen fand, alles verändern könnte.

„Frankie, hast du einen Augenblick?“

Frankie schaute zu ihrem Boss hoch und nickte, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr die Unterbrechung sie irritierte. Sie hasste es, gestört zu werden, bevor sie fertig war. Das brachte sie aus dem Rhythmus. Aber sie hatte gelernt, dass die meisten Menschen kein Verständnis dafür hatten.

Also beendete sie ihren Satz, speicherte ihre Datei und pumpte sich dann ein Desinfektionsmittel in die Handflächen und begann, es in ihren Händen zu verreiben.

Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Diese Viererreihen zählte sie exakt achtzehn Mal durch, denn die Zweiundsiebzig war ihre Lieblingszahl.

Schließlich folgte sie Owen in sein vollgestopftes Büro. Überall stapelten sich Berichte, Bücher und Büromaterial. Der Raum schien immer kleiner zu werden. Manchmal konnte Frankie es nicht ertragen, sich darin aufzuhalten. Sie brauchte Ordnung. Aber heute war sie stark.

Sie sah ihren Boss an und fragte: „Was ist los?“

Mit einem tiefen Seufzer erklärte er: „Wir werden es nicht schaffen, Frankie. Uns fehlen die finanziellen Mittel. Fast zwei Jahre lang habe ich mich jetzt mit ihnen angelegt, und es ist ein Kampf, den ich nicht gewinnen kann. Wir werden schließen.“

„Nein“, hauchte sie. „Nein. Nein! Ich gehöre hierher. Wir müssen dranbleiben. Wir müssen etwas verändern. Wir werden gebraucht.“

Owen, ein recht korpulenter Mann um die dreißig, zuckte mit den Schultern. „Die meisten Mitarbeiter sind doch schon längst gegangen. Um die Wahrheit zu sagen: Wir sind viel zu radikal, um die Unterstützung der breiten Masse zu finden. Der Randgruppe, die mit uns übereinstimmt, fehlt es im Allgemeinen an finanziellen Mitteln, und die kann ich nicht fortwährend von dir annehmen.“

„Mir macht es nichts aus“, versicherte sie ihm rasch. Sie brauchte das Geld nicht. Blutgeld, dachte sie und schloss die Augen. Da war es wieder, das Blut auf den Wohnzimmerwänden. Wenn im wirklichen Leben jemand erschossen wird, dachte sie, ist nichts klinisch sauber und geruchsneutral wie im Film. Es ist schmutzig. Es stinkt. Und es gräbt sich für immer in dein Hirn ein.

„Das geht doch nicht!“, widersprach Owen. „Du brauchst dieses Geld für dich selbst.“

„Nein.“ Wozu auch? Das hier war ihr Leben. „Wir brauchen öffentliche Aufmerksamkeit“, drängte sie. „Etwas Großes.“

Owen sah sie mit freundlichen Augen an. „Frankie, lass gut sein! Ich schätze, uns bleibt noch ein Monat, und ich würde es verstehen, wenn du jetzt gehen willst, um dich nach etwas anderem umzuschauen. Oder nimm dir doch einfach Urlaub, zum Teufel, damit du nicht jeden einzelnen Penny hierlässt. Kümmere dich doch mal um die bedrohte Pflanzenwelt auf Hawaii.“

„Wir können ihn kriegen“, erwiderte Frankie. „Er will diese Hochhäuser, und da wird es großen Widerstand geben. Das können wir ausnutzen. Wir können ihn kriegen.“

Mehr als alles andere war es das, was sie sich wünschte. Nathan King fertigzumachen. Ihn auf jede mögliche Weise zu bestrafen. Hinterher würde er schwach, allein und ängstlich dastehen.

„Du kannst nicht ewig damit weitermachen, Frankie.“

„Das kann ich. Das will ich. Ich werde einen Weg finden.“

„Es wird Zeit, dass du die Vergangenheit endlich einmal begräbst.“

Sie hatte so viel Vertrauen zu Owen, dass sie ihm erzählt hatte, was wirklich geschehen war. Niemals hätte sie geglaubt, dass er dies gegen sie verwenden könnte.

Frankie stand auf. „Die Zeit wird nie kommen. Ich werde ihm niemals vergeben. Ich werde ihn vernichten! Und dann werden die Leute zuhören, und wir werden genügend Geld haben.“

Auch Owen erhob sich. „Frankie, er ist dein Bruder! Er ist derjenige, der dir das Geld gibt. Das kannst du nicht einsetzen, um ihn zu ruinieren.“

„Aber sicher kann ich das! Gerade das macht es doch zu einem perfekten Plan.“

Damit begab sie sich wieder an ihren Schreibtisch und begann erneut zu tippen. Nun aber waren ihre Gedanken nicht mehr bei dem Artikel. Sie dachte darüber nach, wie sie Nathan ein für alle Mal erledigen könnte.

„Aber ich habe keine Lust“, quengelte Cody. „Das wird total langweilig.“

„Wahrscheinlich wird es das“, stimmte Kerri ihrem Sohn zu und lächelte. „Lang und langweilig.“

„Dann können wir also zu Hause bleiben.“

„Du hast recht. Warum sollen wir uns um all die Kinder in der Welt sorgen, die nichts zu essen haben, kein Dach über dem Kopf haben und keine Spielsachen? Ich meine, sollen sie doch einfach sehen, wie sie klarkommen. Viel wichtiger ist, dass du dich nicht langweilst.“

Cody seufzte schwer. „Das sagst du doch nur, damit ich mich schlecht fühle.“

„Ich weiß. Funktioniert’s?“

„Ein bisschen.“

„Sieh es doch mal so: Ich wette, das Essen dort ist wirklich gut. Und es ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Kinder, also könnte es da auch ein paar lustige Sachen geben, mit denen du dich beschäftigen kannst. Wie auch immer, wir helfen, und darauf kommt es an.“

„Okay.“

Die Zustimmung wurde nur widerwillig erteilt. Kerri hätte ihm auch einfach sagen können, dass sie dort hinfahren, ohne ihm eine Wahl zu lassen, aber sie zog es vor, ihn als bereitwilligen Partner mitzunehmen. Abgesehen davon musste er lernen, wie wichtig es war, anderen zu helfen, auch wenn sie in Wirklichkeit nur deshalb zu dieser Veranstaltung gingen, weil Nathan King ihr per E-Mail mitgeteilt hatte, dass ihre Anwesenheit in Begleitung ihres Sohnes erwartet wurde. Jedenfalls hielt Kerri es für besser, dem Ganzen einen etwas freundlicheren Anstrich zu geben.

„Bekommen wir dann auch was von den Spenden?“, wollte Cody wissen.

„Diese Woche nicht.“

„Und wenn die da echt coole Sachen haben?“

„Dann weißt du ja, was du auf deine Geburtstagswunschliste setzen kannst.“

Obwohl – wenn es zu teuer wäre, würde sie es sich nicht leisten können. Aber, sagte sie sich, darüber kann ich mir auch später noch Gedanken machen. Glücklicherweise waren Codys Wünsche bislang immer noch einigermaßen im Rahmen geblieben. Letztes Jahr hatte er sich zu Weihnachten allerdings eine Spielkonsole gewünscht. Dafür hatte sie das Geld noch zusammenkratzen können … so gerade eben.

„Weißt du was?“, fügte sie hinzu. „Bei solchen Veranstaltungen gibt es normalerweise eine Tombola. Wenn die da was echt Cooles haben, werde ich dir fünf Dollar für die Lose geben.“

„Klasse.“ Cody grinste. „Glaubst du, dass wir Glück haben?“

„Wenn es ein Auto ist, hoffe ich das doch sehr.“

„Ich auch. Aber kauf keine Lose, wenn es was Komisches ist, okay, Mom? Weißt du noch, dieser Jahresvorrat an Suppen, den du vor zwei Jahren gewonnen hast? Die haben echt nicht geschmeckt.“

„Ich weiß.“

Es schien ein toller Preis gewesen zu sein, bis sie die erste Dose probiert hatten. Die Suppen waren ungenießbar.

„Und du wolltest nicht mal ein paar davon weggeben“, beschwerte er sich. „Wir mussten sie alle aufessen.“

„Ich wollte doch nicht, dass sonst noch jemand leidet.“

„Aber es war okay für dich, mich leiden zu lassen?“

„Aber immer“, versicherte sie ihm grinsend. „Du bist mein Kind. Dir kann ich alle möglichen schrecklichen Dinge antun. Wie zum Beispiel dich zwingen, Gemüse zu essen.“

Cody lachte. „Und mein Zimmer aufzuräumen.“

„Und Hausaufgaben zu machen. Oder wie jetzt, wenn ich dir sage, dass du dir was Nettes zum Anziehen raussuchen sollst.“

Leise murrend drehte er sich auf seinen Krücken um und verließ die Küche. Sie sah ihm nach. Sie erkannte so viel von ihrem verstorbenen Mann in ihrem Sohn wieder. Jeden Tag erinnerte Cody sie ein wenig mehr an Brian, was sie glücklich machte, ihr aber gleichzeitig immer noch das Herz brach.

Es klopfte an der Haustür, und Kerri ging durchs Wohnzimmer, um ihre Freundin hereinzulassen.

„Ich habe dir was schlichtes Schwarzes mitgebracht“, sagte Linda. „Dazu zwei Blazer und Accessoires.“

„Ich danke dir! Du bist meine Rettung. Ich besitze keine Garderobe, die fürs Spendensammeln gut genug wäre. Es ist zwar nur eine Nachmittagsveranstaltung, aber ich weiß, dass all diese reichen Leute wirklich schick sein werden, und ich muss mich da anpassen.“

„Das wirst du prima hinkriegen“, beruhigte Linda sie. „Dann wollen wir dich jetzt mal ankleiden.“

Kerri ging ins kleine Schlafzimmer voraus. Ihre Haare hatte sie bereits aufgedreht, und geschminkt war sie auch schon. Nachdem Linda die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen hatte, schlüpfte Kerri aus ihrem Kleid und sah sich dann die Auswahl an, die ihre Freundin mitgebracht hatte.

„Mir gefällt der schwarze Rock.“ Sie nahm ihn hoch und hielt ihn sich vor. „Schlicht, aber gut geschnitten. Letzte Woche habe ich mir im Secondhandladen ein paar schwarze Pumps gekauft. Stuart Weitzman, kaum gebraucht. Wer gibt so etwas weg? Wahrscheinlich ist jemand gestorben oder so, und die Familie hatte keine Ahnung, was sie da spendet.“

„Glück für dich!“ Linda hielt eine kobaltblaue Bluse hoch. „Was hältst du davon? Ich habe einen schwarzen Tweedblazer dabei. Damit wäre alles gut aufeinander abgestimmt, ohne allzu eintönig zu wirken. Mit ein paar Ohrringen und vielleicht noch einem Armband bist du fertig.“

„Es ist perfekt.“

Schnell probierte Kerri alles an. Die Bluse und der Blazer waren vielleicht eine Idee zu lang, passten ansonsten aber wunderbar. Die Schuhe waren in zweifacher Hinsicht der Himmel: Sie waren elegant, aber bequem. Sie schlüpfte aus dem Blazer und ging ins Bad, um sich die Lockenwickler herauszunehmen.

„Sag mir, dass ihr das Geld bekommen habt!“, rief sie Linda zu. „Ich werde keinen Schritt in diese Limousine setzen, wenn es noch nicht überwiesen wurde.“

Während sie sprach, prüfte sie im Spiegel, ob sie alle Wickler entfernt hatte. Linda war im Schlafzimmer geblieben.

„Es wurde überwiesen“, rief sie zurück.

„Gut. Dann werdet ihr also jetzt weitere Forscher einstellen?“

„Es braucht Zeit, das alles zu organisieren.“

Irgendwie klang das seltsam. Kerri ließ einen elektrischen Wickler ins Becken fallen und steckte den Kopf ins Schlafzimmer. „Gibt es ein Problem?“

Linda schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung. Es geht seinen Gang.“

Das war genau das, was sie hören wollte. Warum nur hatte Kerri plötzlich einen Knoten im Magen? „Das Geld liegt doch jetzt auf der Bank, oder?“

„Die ganzen fünfzehn Millionen. Offensichtlich von Nathan Kings Privatkonto.“

Kerri grinste. „Ja, so viel bekomme ich auch jeden Freitag ausbezahlt.“

„Oh, ja, ich auch,“, stimmte Linda lachend ein. „Sag mal, wie ist er denn so? Macht es Spaß, mit ihm zusammen zu sein?“

„Ich habe ihn noch nicht angebunden und von ihm verlangt, dass er mich Schnuckiputzi nennt.“

„Gut zu wissen. Das willst du dir lieber für die zweite Woche eures Zusammenseins aufheben wollen.“

„Wir sind nicht zusammen. Ich muss zugeben, dass er gut aussieht, aber sein Benehmen lässt zu wünschen übrig.“

„Es liegt wohl einfach nicht in deiner Natur, absolut dankbar zu sein, oder?“

„Ich bin ja dankbar, aber ich werde nicht auf den Knien vor ihm rutschen. Ich glaube, dass ich ihn reize, aber das ist nur eine zusätzliche Dreingabe. Er ist ein wenig prüde.“ Kerri verzog sich wieder ins Bad, nahm ihre restlichen Wickler heraus, lächelte dann gespannt auf Lindas Reaktion und fügte hinzu: „Aber kein schlechter Küsser.“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann erschien Linda in dem kleinen Badezimmer.

„Du hast ihn geküsst?“

„Er hat mich geküsst, aber trotzdem war es gut. Bei der Gelegenheit ist mir aufgefallen, dass ich seit Brians Tod keinen einzigen Mann geküsst habe. Mir fehlen Küsse und Berührungen.“ Aber nicht von irgendeinem dahergelaufenen Mann. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie beides gern mit Brian teilen.

„Nun kannst du ja all das haben“, meinte Linda. „Obwohl ich mir bei Nathan King nicht sicher bin. Sei vorsichtig! Der Typ ist gefährlich.“

„Nicht für mich. Ich bin weder an ihm noch an sonst jemandem interessiert.“

„Wie kam es denn dazu, dass ihr euch geküsst habt?“

Kerri versuchte sich daran zu erinnern. „Ich bin mir nicht sicher. Wir sprachen darüber, ob er auch mit mir schlafen könnte, wenn er die fünfzehn Millionen rausrückt.“

„Waaaas? Er erwartet Sex von dir?“

„Ich weiß es nicht genau. Ich dachte eher, es wäre eine intellektuelle Diskussion, dann hat er mich geküsst. Wahrscheinlich, um mich zum Schweigen zu bringen.“

Kerri beugte sich in der Taille vor und bürstete ihr Haar, das sie anschließend mit den Fingern toupierte. Sie richtete sich auf und griff nach der Dose mit dem Haarspray.

Es brauchte zwei gute Sprühgänge, um alle Locken in Form zu halten. „Kurz bevor wir aufbrechen, sprüh ich noch mal drüber.“

Sie steckte sich die falschen Perlen in die Ohren, legte eine Uhr aus Katzengold an, schlüpfte in ihre fantastischen Schuhe und zog den Blazer über. Anschließend prüfte sie ihr Bild im Spiegel.

„Ich bin immer noch ich“, stellte sie fest. „Ich hatte mehr erwartet.“

„Du siehst großartig aus!“

Kerri wusste, dass sie an guten Tagen als hübsch durchgehen würde, aber kein Mensch würde sie je schick oder elegant nennen. „Das ist nicht meine Welt. Ich werde nicht wissen, was ich mit den Leuten reden soll.“

„Lächle einfach, und wenn eine Frau dich anzickt, denk daran, dass auch sie Krämpfe und Blähungen hat wie wir alle.“

Erneut klopfte es an der Haustür. „Das wird Tim sein“, rief Kerri und durchkreuzte das Wohnzimmer, um ihm zu öffnen. „Plötzlich bin ich so gefragt.“

„Das liegt daran, dass du eine bedeutende Person bist“, neckte Linda sie.

„Langsam gewinne ich auch den Eindruck.“ Als Kerri die Tür aufriss, standen sowohl Tim als auch Lance auf ihrer kleinen Veranda. „Zwei für einen“, stellte sie lächelnd fest. „Heute ist mein Glückstag.“

„Sieht ganz so aus“, bemerkte Lance beim Eintreten und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Oh, eine Lady, die zum Lunch ausgeht. Tolle Schuhe.“

„Sind sie nicht fantastisch? Nicht mal zehn Dollar.“

Lance zuckte zusammen. „Das wirst du aber heute nicht noch einmal erwähnen.“

„Ich weiß. Hi, Tim.“

„Kerri.“

Tim grüßte mit einem kurzen Nicken, als er das Wohnzimmer betrat, das noch nie viel Platz geboten hatte. Nun aber mit vier Erwachsenen – einer davon groß wie ein kleiner Berg – schrumpfte der Raum sogar noch mehr.

Kerri stellte Linda vor.

„Ich weiß alles über Sie“, verkündete ihre Freundin. „Sie beide haben Kerri den Job im The Grill verschafft, sodass sie Nathan King attackieren konnte.“

Tim verlagerte ein wenig das Gewicht. Bei jedem anderen hätte Kerri es als ein Zusammenzucken bezeichnet.

Lance grinste. „Hab ich dir das schon erzählt? Ich bin ein Held der Arbeit. Alle reden davon, wie ich mit der verrückten Frau fertiggeworden bin. Letzte Woche kam Nathan ins Restaurant und hat sich persönlich beim Manager für mein schnelles Eingreifen bedankt. Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen.“

„Beeindruckend“, meinte Kerri. „Und was hat Nathan davon?“

„Nichts“, antwortete Lance. Er warf Tim einen Blick zu und senkte die Stimme. „Es stecken ungeahnte Tiefen in unserem Mr King, Süße!“

„Das sagt man auch von der Antarktis, aber diese Tiefen sind eiskalt.“

„Er ist doch wirklich nicht nur böse und finster“, meinte Lance. „Schließlich hat er dir das Geld gegeben.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Sie wandte sich an Tim. „Möchtest du nicht jetzt das Wort ergreifen und deinen Boss verteidigen?“

„Nein.“

„Tim ist sehr verschwiegen, was seine Arbeit angeht.“ Augenzwinkernd fügte Lance hinzu: „Ein loyaler Angestellter. Die einzige Sorte, die Mr King einstellt.“

„Du solltest ihn Nathan nennen“, sagte Kerri.

„Sein Familienname macht ihn nur geheimnisvoller.“

„Weil du den Mann magst?“

„Tim mag ihn. Ich vertraue Tim.“

Schon allein deshalb, weil die Idee, die Fünfzehnmillionendollarspende an die große Glocke zu hängen, ja eigentlich von ihm stammte. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie sich auf sein Urteilsvermögen verließ, wenn es um Nathan ging.

„Wir sollten aufbrechen“, mahnte Tim.

„Ich hole Cody.“

Fünf Minuten später winkte Linda ihnen zum Abschied nach, während sie in die wartende Limousine einstiegen. „Ich will alles ganz genau wissen“, rief sie ihrer Freundin zu. „Mach dir Notizen.“

„Versprochen.“

Cody hievte sich in den Wagen. Kerri nahm ihm die Krücken ab und folgte ihm.

„Nette Kutsche“, bemerkte der Neunjährige grinsend, als er auf dem langen Rücksitz zur Seite rutschte. „Wenn ich groß bin, will ich auch so eine, dann lass ich mich überall hinfahren.“

„Ich dachte, du wolltest einen Sportwagen, der richtig schnell fährt.“

„Oh. Stimmt.“

„Nimm doch beide“, schlug Lance vor, der sich neben Kerri setzte und die Tür schloss.

„Ja“, hauchte Cody und rieb mit der Hand über den Ledersitz. „Ich nehme beide.“

Seine Worte schnürten Kerri die Brust zusammen. Bitte, lieber Gott, lass ihn lang genug leben, dass er diese Entscheidung einmal treffen kann! dachte sie, wohl wissend, dass Cody, wenn nicht ein Wunder geschah, aller Wahrscheinlichkeit nach seinen zwölften Geburtstag nicht mehr erleben würde, geschweige denn sechzehn Jahre alt werden und fahren lernen könnte.

„Wir sollten ein Los kaufen, Mom“, fuhr ihr Sohn fort. „Wenn wir einen fetten Gewinn machen, können wir uns schon jetzt so einen kaufen.“

„Und dann heuern wir Tim an.“

„Tim würde Nathan niemals verlassen, aber ihr könntet ja mich anheuern“, schlug Lance vor.

„Abgemacht.“

Cody sah Lance an. „Dieser Mr King, der ist wohl echt reich, hm?“

„Wir reden von Milliarden.“

„Cool.“

Kerri dachte an ihre Recherchen über den Mann und wusste, dass er ganz unten angefangen hatte. Aufgewachsen in Bremerton, einem kleinen Marinestützpunkt am Puget Sound, hatte er die Stadt verlassen, um zum College zu gehen. Und schließlich hatte er es geschafft, ein beeindruckendes Vermögen anzuhäufen.

Möglich, dass ich da einen Fehler gemacht habe, dachte sie, ohne sich zu grämen. Kerri hatte das College nie abgeschlossen, und die Kosmetikschule zählte anscheinend nicht.

„Ist dieses Wohltätigkeitsdings langweilig?“, erkundigte sich Cody bei Lance.

„Da werden viele Kinder sein, und die Spiele und das Essen sind ausgezeichnet. Du wirst Spaß haben. Sie haben eine riesige Spielhalle eingerichtet, und alle Videospiele sind umsonst.“

„Echt?“

Lance nickte und konzentrierte sich dann auf Kerri. „Dein Lippenstift gefällt mir nicht. Hast du noch einen anderen?“

Sie wühlte in ihrer Handtasche herum und fand schließlich ganz unten am Boden zwei weitere. Lance sah sich beide genau an, dann reichte er ihr den rosafarbenen.

„Leg den hier noch über den anderen.“

Während sie damit beschäftigt war, warf sie Cody einen Blick zu, der nur die Augen verdrehte.

„Nicht dein Ding?“, fragte sie ihn grinsend.

Er seufzte schwer. „Hat der Wagen auch einen Fernseher?“

Nathan hatte eine ganze Liste von Leuten im Kopf gespeichert, denen er aus dem Weg gehen wollte. Carol Mansfield gehörte dazu. Sie war die lange, dünne Exfrau eines sehr erfolgreichen Managers und selbst Besitzerin einer sehr erfolgreichen Boutique. Sie besaß das richtige Alter und den richtigen Stammbaum, wäre also eine Frau, die ihn eigentlich interessieren sollte. Aber Carol hatte etwas an sich, das ihn an einen Raubvogel erinnerte, der sich gerade auf sein Opfer stürzte.

„Bei solchen Veranstaltungen trifft man dich sonst nie“, sagte sie und legte ihm zur Begrüßung eine Hand auf den Arm. „Du bist doch eher der Typ, der bloß einen Scheck schickt. Nicht, dass es nicht schön wäre, dich zu sehen.“

„Ich halte dies für eine wichtige Sache.“

„Spenden für Kinder?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Eine bezaubernde Überraschung. Wartest du auf jemanden?“

„Wieso?“

„Du schaust dich ständig um. Entweder du wartest auf jemanden, oder ich langweile dich.“ Darüber lachte sie, als wäre die Möglichkeit, dass sie jemanden langweilen könnte, unvorstellbar.

„Eine Bekannte.“

„Verstehe. Eine Freundin?“

„Nein, nur jemand, den ich kenne.“

„Das heißt also, eine Frau. Ich wusste gar nicht, dass du liiert bist.“

„Bin ich auch nicht. Darum geht es nicht.“

Nathan sagte sich, dass er Carol keine Erklärung schuldig war, wobei er sich allerdings auch fragen musste, weshalb er eigentlich solchen Wert darauf legte, klarzustellen, dass er kein Verhältnis mit Kerri hatte. Vielleicht, weil sie klargestellt hatte, dass sie nicht an ihm interessiert war?

Wenn sie sicherstellen will, dass zwischen uns nie etwas geschieht, ist ihr das verdammt gut gelungen, dachte er grimmig. Er würde nie wissen, ob ihre Reaktion nun echt war oder nur ihre verdrehte Art, sich bei ihm für das Geld zu bedanken, und das versetzte ihn in eine unmögliche Lage. Verflucht!

Er hörte ein Lachen und drehte sich um. Gerade rechtzeitig warf die Sonne einen Blick durch die Wolken, um den Eingang des Hotels zu beleuchten und Kerri in ein goldenes Licht zu tauchen.

Vielleicht war es nur der Lichteffekt, aber sie sah gut aus. Sie war hübsch und hatte sich passend gekleidet. Ihr Haar war gelockt, was sie zwar anders, aber immer noch reizvoll aussehen ließ. Sie schaute sich um, und nun bemerkte er auch ihr Kind, das sich mit Leichtigkeit an seinen Krücken bewegte.

Nathan spürte eine leise Bewegung unter seinen Füßen, ganz als hätte es einen Erdstoß gegeben. Er blinzelte und sah anstelle von Cody seinen eigenen Sohn. Daniel an Krücken, dann Daniel im Rollstuhl. Denn das kam als Nächstes. Noch einmal blinzelte er, und sein Sohn war wieder verschwunden. Doch die Realität dessen, was auf Cody zukommen würde, blieb.

Nathan wusste, wie das Ende aussah. Der Körper wurde immer schwächer, und schließlich würde Cody vom Rollstuhl ins Bett wechseln müssen. Er wusste, wie es war, wenn am Schluss die Medikamente nicht mehr wirkten und der Junge nicht mehr anders konnte, als vor Schmerzen zu schreien.

Nathan wollte weglaufen, irgendwohin, nur weg von hier. Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht, als er sich auf diesen Handel eingelassen hatte?

„Du hast mir eine E-Mail geschickt“, sagte Kerri zur Begrüßung.

„Ja. Ich musste dir mitteilen, wo und wann wir uns treffen.“

„Das ist klar, aber meine Güte, woher hast du denn meine E-Mail-Adresse?“

„Ich habe eine ganze Akte über dich anlegen lassen.“

„Sicher, aber meine E-Mail-Adresse? Ist das nicht privat?“

„Nicht in meiner Welt.“

Einen Moment lang dachte sie darüber nach. „Du hättest mich einfach anrufen können.“

„E-Mail ist effizienter.“

„Ein Telefonanruf ist persönlicher.“

„Wir müssen nicht persönlich werden.“

Kerri lächelte. „Das sagst du jetzt.“

Spielte sie damit auf den Kuss an? Ärger loderte in ihm auf, aber das ignorierte er. Gefühle waren unproduktiv.

„Also, was hat es mit dieser Geschichte hier auf sich?“, fragte Kerri. „Muss ich etwas Bestimmtes tun?“

„Spazier mit mir herum und gib vor, dich zu amüsieren.“

„Soll ich mir ein Schild umhängen, das der Welt verkündet, dass ich dich für einen Gott halte?“

„Jetzt, nachdem du das Geld bekommen hast, bist du bereits viel weniger ehrfürchtig.“

„Ich weiß. Ist das nicht lustig?“

„Sprich nicht über das Geld“, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Versprochen.“

„Sei einfach nur freundlich. Gib keine persönlichen Informationen preis, keine freiwilligen Auskünfte. Wenn dich jemand fragt, ob wir zusammen sind, sag Nein, aber mach ein neutrales Gesicht.“

„Wie bitte? Woher soll ich wissen, was mein Gesicht anstellt?“

„Du weißt schon, was ich meine.“

„Du überschätzt mich bei Weitem.“ Sie winkte Cody heran. „Cody, das ist Mr King. Nathan, mein Sohn.“

Er saß in der Falle. Also reichte Nathan dem Jungen die Hand, ohne ihn wirklich anzuschauen.

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, murmelte Cody.

„Du wärst jetzt sicher lieber an jedem anderen Ort als hier, nicht wahr?“, fragte Nathan und zeigte auf die gegenüberliegende Ecke, wo ein mit bunten Ballons geschmückter Türbogen lockte. „Alle Sachen für die Kinder sind dort drüben, auch die freie Spielhalle.“

Cody strahlte. „Cool.“

„Ich werde ihn hinbringen“, bot Lance an, „und aufpassen, dass er sich nicht verläuft.“

Kerri bedankte sich bei ihm und fügte hinzu: „Ich glaube, ich muss hier bei Nathan bleiben und die dankbare Bittstellerin spielen.“

„Und ich hatte dich immer für einen aufrichtigen Menschen gehalten“, flachste Lance.

„Bin ich auch.“ In Kerris Augen blitzte es. „Amüsier dich gut, Cody! Sei ein braver Junge, und bleib in der Kinderabteilung, bis ich dich holen komme.“

„Oh, Mooom!“

An Nathan gewandt erklärte Kerri: „Das ist Jungssprache und heißt: ‚Aber ja, Mutter, natürlich werde ich das tun. Ich würde dir niemals auch nur einen Augenblick lang Sorgen machen, weil du so liebevoll und fürsorglich bist.‘“

Cody grummelte noch etwas Unverständliches vor sich hin, während er mit Lance abzog. Nathan sah ihnen nach und fragte sich, ob seine Beziehung zu Daniel auch so ungezwungen gewesen war. Er hatte seinen Sohn geliebt, mehr als irgendjemanden sonst, aber manchmal hatte er nicht gewusst, was er tun oder sagen sollte.

„Er hat heute einen guten Tag“, berichtete Kerri glücklich. „Ich liebe diese guten Tage. Das hilft mir, an Wunder zu glauben.“

„Du musst einfach realistisch sein“, entgegnete Nathan, der sich von ihrem Glauben und Optimismus seltsam gereizt fühlte.

„Unmöglich.“ Mit ihren blauen Augen, die plötzlich ganz schmal geworden waren, sah sie ihn an. „Wenn ich realistisch wäre, würde Cody jetzt schon lange nicht mehr leben. Der Glaube ist wichtig. Bei meiner Großmutter wurde Leberkrebs festgestellt, und man hatte ihr noch sechs Monate gegeben. Sie hat sich einfach geweigert, das zu glauben. Ihren Arzt hat sie für einen Idioten erklärt. Dann hat sie noch sechs Jahre gelebt, weil sie meinen Highschoolabschluss erleben wollte.“ Kerris Kampfesstimmung ebbte ein wenig ab. „Und das hat sie. Bis in den Sommer darauf hat sie noch durchgehalten.“

Nun verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah Nathan eindringlich an. „Daher bin ich eine große Anhängerin des Glaubens, dass der Tod auszutricksen ist, und ich lege mich mit jedem an, der etwas anderes behauptet.“

Sie strahlte eine solche Kraft und Energie aus und dazu eine innere Schönheit, die er vorher nicht bemerkt hatte. In diesem Augenblick hätte er ihr beinahe geglaubt. Aber da gab es das Grab eines kleinen Jungen, das ihn daran erinnerte, dass Wunder nur billige Tricks waren. Und Glaube etwas für Trottel.