13. KAPITEL

Um sie herum war alles schwarz. Kein winziger Lichtschimmer oder Schatten. Die Welt war schwarz und still und mit Panik erfüllt.

Izzy befahl sich, ruhig zu atmen. Sich zu konzentrieren. Die Operation war erst einen Tag her. Einen einzigen Tag. Sie musste eine ganze Woche überleben. Was sieben Tage waren. Und wie viele Stunden? Sie versuchte, es auszurechnen und stieß dabei gegen einen Tisch im Flur und hätte am liebsten aufgeschrien. Wer war so dumm, Tische in den Flur zu stellen? Jeder wusste doch, dass sie nichts sehen konnte.

Nur dass der Tisch da schon seit ihrer Ankunft auf Nicks Ranch gestanden hatte und sie alle Räume auswendig gelernt hatte, um sich leicht in ihnen bewegen zu können. Sie kannte den Tisch, genau wie sie die Treppen und Türen und Wände kannte.

Aber jetzt war es anders. Jetzt war da nur totale Finsternis. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr sie sich auf ihre schwache Sehkraft verlassen hatte, um herauszufinden, wo sie war und wo sie hinwollte. Sie würde alles neu lernen müssen.

„Ich habe eine Woche“, sagte sie laut und hörte im gleichen Augenblick Schritte.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht gut ist, wenn du Selbstgespräche führst.“ Aaron klang so fröhlich wie immer. „Und versteh mich nicht falsch, aber dieser Verband um deinen Kopf, der deine Augen bedeckt? Nicht gerade dein bester Look.“

„Oh, danke.“

„Ehrlichkeit ist die Grundlage unserer Freundschaft. Ich zum Beispiel bin ganz begeistert, dass du dich hast operieren lassen. Nächste Woche, wenn du wieder sehen kannst, möchte ich eine ernsthafte Unterhaltung über meine Frisur führen. Ich überlege, ob ich mir Strähnchen machen soll. Steve hat welche, und ich finde die Idee wirklich reizvoll, würde aber gerne noch eine zweite Meinung dazu hören.“

Wie beiläufig nahm Aaron ihren Arm. „Es ist fast Zeit fürs Mittagessen. Erinnerst du dich noch an den Weg?“

„Vielleicht“, sagte sie, dankbar für seine Hilfe. „Ich dachte, ich hätte mir das Haus eingeprägt. Schätze, damit lag ich falsch.“

„Du bist doch erst ein paar Stunden wieder hier. Gib dir ein bisschen Zeit.“

„Danke.“

Die Nacht nach der Operation hatte sie im Krankenhaus verbracht. Nick hatte regelmäßig nach ihr gesehen und sie am Morgen wieder zurück auf die Ranch gebracht.

„Norma hat dein Lieblingsessen gemacht. Sandwiches mit Bacon, Salat und Tomate. Und Pudding.“ Sie spürte, wie er sich schüttelte. „Bananenpudding.“

Sie lachte. „Was hast du gegen Bananenpudding?“

„Alles. Hättest du dir nicht wenigstens ein leichtes Sorbet oder in Schokolade getauchte Erdbeeren wünschen können?“

„Ach, die Erdbeeren würde ich auch essen.“

„Dann vergiss nicht, ihr das zu sagen.“

„Das mach ich. Außerdem glaube ich, dass es mehr zum Mittagessen gibt als nur Sandwiches.“

„Vielleicht, aber ich möchte gerne darauf hinweisen, dass sie für mich noch nie solche Mühen auf sich genommen hat, und ich bin derjenige, der ihre Biskuits in den Himmel lobt. Ich fühle mich nicht ausreichend gewürdigt. Hoppla, jetzt kommt eine Stufe, dann noch eine.“

Sie streckte die Hand aus, um den Türrahmen zum Esszimmer zu ertasten, nur um festzustellen, dass sie nicht mehr wusste, wie weit es zum Tisch war. Es war so komplett und undurchdringlich dunkel. Was, wenn sie so den Rest ihres Lebens verbringen musste? Was, wenn es nie wieder etwas anders als ihren Hör- und Tastsinn für sie geben würde?

Erneut stieg Panik in ihr auf, aber sie zwang sich weiterzuatmen. Gleichmäßige Atmung und eine Packung Beruhigungstabletten, falls die Angst zu groß wurde, waren ihre Rezepte, auch wenn Izzy vorhatte, ohne die Tabletten auszukommen. Dr. Greenspoon war der Beste. Sie vertraute ihm. Er hatte gute Arbeit geleistet und war mit dem Ergebnis der Operation sehr zufrieden gewesen.

„Woran denkst du gerade?“, fragte Aaron.

„Dass ich stark bin und das hier durchstehe.“

„Es ist nur eine Woche, Izzy. Und ich bin hier die Drama-Queen in unserer Beziehung.“

„Ich meinte, wenn die Operation schiefgegangen ist.“

Er tätschelte ihren Arm. „Ist sie nicht. Nick hat es mir erzählt. Der Arzt glaubt, dass deine Sehkraft wieder vollständig hergestellt ist.“

„Aber er ist sich nicht sicher. Und er kann sich auch erst sicher sein, wenn der Verband abkommt.“

„Stimmt. Und bist du nicht ein kleiner Sonnenschein? Hier ist der Stuhl. Fühlst du ihn?“

Sie streckte die Hand aus und fühlte den vertrauten Schwung der Rückenlehne. Sie tastete sich weiter vor und setzte sich schließlich hin. Sekunden später kam Norma hineingestürmt.

„Ich habe die Sandwiches gemacht“, verkündete sie. „Und ein paar verschiedene Salate. Oh, und natürlich Bananenpudding.“

Aaron stöhnte.

Izzy grinste. „Danke, Norma. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

„Ich weiß“, sagte sie. „Wo ist Nick? Er weiß, wie ich über Pünktlichkeit beim Essen denke.“

„Ich bin hier.“

Izzy drehte sich in die Richtung, aus der seine Stimme ertönte. Normalerweise hatte sie seinen Umriss sehen können, aber jetzt war da nichts.

„Wie geht es dir?“, fragte er und berührte sie sanft an der Schulter.

„Gut.“

„Ich hab sie dabei erwischt, wie sie mit sich selbst gesprochen hat“, sagte Aaron. „Das ist kein gutes Zeichen.“

„Zumindest kann ich mir so sicher sein, dass es eine angenehme Unterhaltung wird“, gab Izzy zurück.

„Diesen Kommentar ignoriere ich jetzt mal“, erwiderte Aaron.

Sie hörte, dass ein Stuhl nach hinten gezogen wurde, dann das Geräusch von Flüssigkeit, die in ihr Glas floss.

„Was kann ich dir geben?“, fragte Aaron. „Denn ich lebe, um zu dienen.“

„Für den Anfang vielleicht erst einmal ein halbes Sandwich.“ Sie könnte es in die Hand nehmen und so die Kontrolle darüber behalten. Besser, als irgendwelches Essen mit der Gabel auf dem Teller zu suchen.

„Glaub ja nicht, dass du drum herumkommst, den Pudding zu essen“, murmelte er ihr ins Ohr. „Der Eistee steht rechts von dir.“

Sie streckte die Hand in die Richtung aus, stieß aber auf warme Finger statt auf ein kaltes Glas.

„Hier“, sagte Nick und führte ihre Hand.

Das Essen schien sich stundenlang hinzuziehen. Izzy schaffte es, einen Teil ihres Sandwiches zu essen, aber sie hatte Probleme mit dem Tee. Aaron und Nick unterhielten sich, was eine nette Ablenkung hätte sein sollen. Stattdessen fürchtete sie die ganze Zeit, dass die beiden sie beobachteten und sich nicht entscheiden konnten, ob sie ihr helfen sollten oder nicht. Sie fühlte sich unbeholfen und verwirrt und hatte Angst, etwas zu verschütten oder ihren Mund zu verfehlen und sich das Sandwich in die Wange zu rammen.

„Vielleicht kann ich ab jetzt ein Tablett auf mein Zimmer bekommen“, sagte sie abrupt.

„Wenn sie Zimmerservice kriegt, will ich auch welchen“, sagte Aaron mit weinerlicher Stimme.

Trotz ihrer inneren Anspannung lächelte sie. „Du benimmst dich, als wärst du zwei.“

„Ach. Und was machst du?“

Sie brachte ein Lachen zustande. „Okay, der Punkt geht an dich.“

„Es ist alles gut, Izzy“, sagte Nick. „Das ist dein erster Tag. Du wirst dich daran gewöhnen.“

„Ich will mich nicht daran gewöhnen“, gab sie schnippisch zurück. Ihre gute Laune war mit einem Mal verflogen. Sie stand auf und merkte dann, dass sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie sich wenden musste. Verzweiflung brandete in ihr auf und ließ sie bereuen, überhaupt etwas gegessen zu haben. Sie war gefangen.

Nein, sagte sie sich und atmete tief durch. Nicht gefangen. Ihr ging es gut. Alles war in Ordnung. Sie war hart im Nehmen. Verglichen mit dem, was Heidi durchgemacht hatte, war das hier gar nichts.

Jemand anders stand auf und nahm ihren Arm. Sie wusste instinktiv, dass es Nick war.

„Du vermasselst mir gerade meinen großen Abgang“, sagte sie.

„Du bist schon so weit, alleine hier rauszustolzieren?“

„Eher nicht.“

Er führte sie aus dem Esszimmer in Richtung Treppe. Langsam nahmen sie eine Stufe nach der anderen. Als sie schließlich in ihrem Zimmer ankamen, zitterte sie.

„Ich versuche es“, sagte sie, als sie auf dem Bett sitzend darauf wartete, dass das Zittern nachließ. „Ich habe nur solche verdammte Angst.“

„Ich weiß.“

Sie hörte, dass er sich bewegte, dann nahm er ihre Hände in seine. Vom Winkel und der Art, wie seine Unterarme auf ihren Oberschenkeln ruhten, nahm sie an, dass er vor ihr kniete.

„Wenn Männer diese Position einnehmen, wollen sie normalerweise einen Antrag machen“, zog sie ihn auf. „Aber, Nick. Das kommt so plötzlich.“

„Nicht schlecht. Du hast es gepackt.“

„Nein, hab ich nicht“, gestand sie. „Jede zweite Sekunde überfällt mich wieder die Panik. Ich kann so nicht leben. Ich kann es einfach nicht.“

„Doch, das kannst du. Du bist stark, Izzy. Stärker, als du weißt. Es ist erst der erste Tag. Versuch, dich zu entspannen. Ich will, dass du dich hinlegst. Ich werde dir ein paar Atemtechniken beibringen. Und sobald du dich besser fühlst, kannst du deine Schwestern anrufen.“

Sie glaubte nicht, dass Atmen ihr viel helfen würde. „Wir könnten auch einfach nur Sex haben.“

Nick hielt inne. „So verlockend der Vorschlag auch ist, ich glaube, du musst erst noch ein bisschen mehr genesen.“

„Versuchst du, das Richtige zu sagen oder dich aus der Sache mit mir herauszustehlen?“

Statt einer Antwort beugte er sich vor und küsste sie. Sein Mund war heiß und hungrig und nahm ihren mit aller Macht in Besitz. Sie erwiderte den Kuss genauso leidenschaftlich und genoss, wie Leidenschaft und Erregung durch ihren Körper brandeten. Scharf zu sein war viel, viel besser, als Angst zu haben.

Er legte eine Hand an ihre Wange und saugte an ihrer Unterlippe. Erst, als sie sehr schnell zu atmen anfing, zog er sich zurück.

„Wie war noch mal die Frage?“, fragte er.

„Ich habe keine Ahnung.“

„Gut. Und jetzt leg dich hin und … Entschuldige, ich wollte sagen, schließ die Augen.“

„Das tue ich bereits“, sagte sie und berührte vorsichtig den Verband. „Und jetzt?“

„Hollister“, sagte Nick in den Hörer, während er weiter auf den Computermonitor schaute.

„Du bist uns eine Erklärung schuldig. Was hast du dir dabei gedacht, uns nicht Bescheid zu sagen? Erinnerst du dich an unsere Freundin Dana? Ich schwöre zu Gott, ich werde dich verhaften und deinen Hintern ins Gefängnis werfen lassen.“

Die Stimme kam ihm bekannt vor, wenn er sie auch nicht einordnen konnte. „Nur meinen Hintern? Den Rest von mir nicht?“

„Ich sehe, du hast zu viel Zeit mit Izzy verbracht.“

Jetzt endlich fiel der Groschen. „Hallo, Skye.“

„Sie hat sich operieren lassen.“

„Ich weiß.“

„Sie hat uns nichts davon erzählt, und das hast du gewusst. Und denk nicht einmal daran zu sagen, dass es ihre Entscheidung war, denn selbst wenn ich dich nicht einmal ansatzweise verprügeln könnte, bin ich mit einem ehemaligen Navy SEAL verlobt. Er könnte dich mit einem Q-Tip töten.“

Nick lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. Auch wenn Izzy ihm die liebste war, mochte er alle Titan-Schwestern. „Klingt für mich irgendwie nach einem doofen Plan. Wieso nimmt er nicht einfach eine Pistole?“

„Glaub ja nicht, dass du mich einwickeln kannst, denn das kannst du nicht. Was hast du dir dabei gedacht?“

„Dass es Izzys Entscheidung war. Sie wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht. Sie hat die Operation machen lassen und hat euch danach davon erzählt. Es ist passiert, und nun wisst ihr es.“

„Oh, ich verstehe. Du versuchst es auf die rationale Weise. Sag mir, Nick, hast du jemals eine Beziehung zu einer Frau gehabt? Hat die rationale Tour jemals funktioniert?“

„Nein.“

„Dann versuch was anderes.“

„Offensichtlich hast du mit ihr gesprochen. Du weißt also, dass es ihr gut geht. Aber du bist natürlich jederzeit eingeladen, sie hier zu besuchen und dich persönlich davon zu überzeugen.“ Er nahm den Hörer in die andere Hand. „Außerdem, wenn ich mich richtig erinnere, war der Grund für Izzys Aufenthalt hier, sie dazu zu bewegen, sich operieren zu lassen.“

Es folgte eine längere Pause. „Okay. Ja. Vielleicht. Wo wir gerade davon reden, du musst mir noch die Rechnung für ihren restlichen Aufenthalt schicken.“

„Stimmt so.“

„Aber ich hab dir nur eine kleine Anzahlung gegeben. Du wolltest mir wöchentliche Rechnungen schicken.“

„Ich habe meine Meinung geändert.“ Er wollte kein Geld dafür, dass Izzy bei ihm war. „Sie hat hart gearbeitet und ihren Anteil geleistet.“ Sie hat die Ranch mit Leben erfüllt, dachte er und fragte sich, wo der Gedanke hergekommen war.

„Aber wir schulden dir …“

„Nichts“, sagte er bestimmt. „Kommt am Samstag vorbei. Wir machen ein Barbecue. Bring alle mit. Wenn du deine Schwester mit eigenen Augen gesehen hast, wirst du dich besser fühlen.“

„Das klingt gut“, sagte Skye langsam. „Okay. Wir werden kommen.“

„Ich sag’s Izzy.“

„Danke für alles. Bis bald.“

„Tschüs.“

Er legte auf und schüttelte den Kopf. Frauen waren immer so kompliziert. Und wo er gerade daran dachte …

Er schaute zur Decke und warf dann einen Blick auf seine Uhr. Es war nach neun. Izzy hatte gesagt, dass sie müde sei und früh ins Bett wollte. Der Arzt hatte ihr geraten, es ein paar Tage langsam angehen zu lassen. Keine körperlich anstrengenden Aktivitäten. Kein Reiten. Und auch wenn er nicht direkt danach gefragt hatte, nahm Nick an, dass das auch bedeutete, keinen Sex.

Nicht unbedingt, was ich mir wünsche, dachte er und rief sich ins Gedächtnis, wie es war, die Nacht mit Izzy zu verbringen. Sie war so empfänglich, aufgeweckt und abenteuerlustig. Wie ein Wirbelwind. Einer, den er so schnell nicht wieder erleben würde.

Was auch besser war, redete er sich ein. Er würde sich nicht mit ihr einlassen. Das war eine Komplikation, die keiner von ihnen gebrauchen konnte. Trotzdem, sie war beim Essen so still gewesen. Er sicherte seine Datei und ging dann nach oben.

Izzy saß in dem Stuhl in der Ecke, die Beine an die Brust gezogen, der Kopf ruhte auf den Knien. Eine Schrecksekunde lang fürchtete er, sie würde weinen. Dann richtete sie sich auf und wandte ihr Gesicht in seine Richtung. Sie wirkte angespannt, aber er konnte keine Spuren von Tränen sehen. Der Verband machte es allerdings schwer, sicher zu sein.

„Hey“, sagte er.

„Hi.“

Ihr Mund verzog sich zu etwas, was wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte.

„Du hast alle Lampen an.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass sie an sind. Nicht, dass ich sie sehen könnte. Oder irgendwas anderes.“

Er ging zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. „Komm. Du musst dich ausruhen.“

„Ich kann nicht. Jedes Mal, wenn ich mich hinlege, flippe ich aus. Es ist, als ob ich nicht atmen könnte. Hier im Stuhl geht es mir besser.“

„Du musst aber schlafen, damit du gesund werden kannst. Ich bin größer und stärker als du, also kannst du entweder freiwillig ins Bett gehen, oder ich mach das für dich. Und das wird nicht schön, ich werde deine Haare dabei in Unordnung bringen.“

Langsam stellte sie ihre Füße auf den Boden. „Siehst du mich lachen? Nein. Und wieso nicht? Weil es nicht lustig ist.“

„Ich weiß.“

Sie stand auf.

Er zog sie an sich und schlang seine Arme ganz fest um sie. „Ich bin hier. Du bist sicher. Du kannst atmen.“

„Das weißt du doch gar nicht.“

„Ich bin ein Mann. Ich weiß alles.“

Als sie darauf nicht reagierte, wusste er, dass sie mehr Angst hatte, als er vermutet hätte. Er führte sie zum Bett und streckte sich dort neben ihr aus.

„Ich bleibe hier“, sagte er. „Die ganze Nacht. Ich pass auf dich auf, Izzy, das verspreche ich dir.“

„Ich darf nicht weinen. Das sage ich mir die ganze Zeit. Ich darf nicht weinen. Das hat irgendwas mit den Tränenkanälen zu tun. Aber ich möchte es so gerne. Und ich möchte so schnell und weit davonlaufen, bis ich wieder Licht sehe. Aber das ist auch nicht möglich.“

Sie lag direkt neben ihm. Er fühlte, wie sie zitterte, und wusste nicht, was er tun konnte, damit es ihr besser ging. Vor lauter Frust hätte er am liebsten auf irgendetwas eingeschlagen, aber das würde Izzy auch nicht helfen. Stattdessen behielt er sie in seinen Armen und streichelte ihr mit der Hand über den Rücken.

„Erinnerst du dich an die Atemtechnik, die ich dir vorhin gezeigt habe?“

„Die war doof.“

„Vielleicht, aber wir könnten sie noch mal probieren.“

„Ich kann nicht.“

„Doch, du kannst.“

„Nein. Ich kriege keine Luft.“ Sie atmete scharf ein. „Irgendetwas stimmt nicht. Ich kann nicht atmen.“

„Du atmest ganz hervorragend. Wenn du nicht atmen könntest, könntest du auch nicht reden. Jetzt leg dich auf den Rücken.“

Sie rührte sich nicht.

„Ich werde die ganze Nacht bei dir bleiben. Du wirst mich nicht los. Aber du musst dich entspannen, und du musst schlafen. Komm schon, Izzy. Ich habe die ganze Welt bereist und mit den Besten der Besten trainiert. Ich komme nicht oft dazu, es zu üben. Also hilf mir.“

Er wartete, war sich nicht sicher, in welche Richtung es jetzt weitergehen würde. War sie noch kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, oder war es bereits passiert?

Sie rollte sich auf den Rücken und seufzte. „Stimmt, es geht ja auch nur um dich.“

Erleichterung durchflutete ihn. Sie war wieder da. „Natürlich, um wen denn sonst?“

„Du bist genau wie Aaron.“

„Hey, was soll das denn heißen?“

Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. „Nichts Schlimmes. Ich bete Aaron an.“

„Gut. Und jetzt fangen wir an zu atmen.“

„Wer sind wir? Ich mache hier die ganze Arbeit.“

Er beugte sich vor und küsste sie.

„Wofür war das?“, fragte sie.

„Weil ich Lust darauf hatte.“

„Das ist so typisch“, murmelte sie.

Aber ihr Lächeln wurde breiter, und ihr Zittern hatte aufgehört. Wieder einmal hatte sie bewiesen, dass sie zwar herumgeschubst werden konnte, aber nicht daran zerbrach. Das forderte ihm Respekt ab. Vielleicht sogar mehr als Respekt, aber das wollte er jetzt nicht untersuchen. Nicht jetzt und überhaupt nie.

Am nächsten Morgen suchte Izzy sich ihren Weg zum Stall. Es war schwer, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, wenn nur ihre Erinnerung und ihre anderen Sinne da waren, um sie zu leiten. Sie fürchtete, über etwas zu stolpern oder in ein tiefes Loch zu fallen – auch wenn es bisher keine tiefen Löcher auf der Ranch gegeben hatte. Plötzlich erschien der Gebrauch eines Blindenstockes durchaus sinnvoll.

Als sie näher kam, leitete der Geruch von Heu und von Pferden sie in die richtige Richtung. Die Zusammensetzung des Bodens wurde eine andere. Sie spürte es bei jedem Schritt und wusste, dass die Erde hier von zahllosen Hufen platt getrampelt worden war. Sie hob ihren Arm, um das Gebäude zu erfühlen, und stieß drei Schritte später gegen die Wand.

„Wie machst du das?“, fragte sie Rita, sobald sie am Eingang zum Stall angekommen war. „Wie findest du heraus, wo die Sachen sind und wo du bist?“

„Übung. Meine anderen Sinne helfen mir.“

„Ich bin fast die ganze Zeit über panisch vor Angst“, gab Izzy zu und setzte sich auf die Bank. „Letzte Nacht hatte ich meine erste Panikattacke.“

„Wie war es?“

„Nichts, was ich noch mal erleben möchte.“

Rita setzte sich zu ihr. „Es ist nur eine Woche, Kleine. Das schaffst du. Sieh es einfach als charakterstärkende Übung.“

„Mein Charakter hat mir bisher eigentlich ganz gut gefallen.“

„Aber jetzt wird er noch besser.“

„Oh, welche Freude.“

Sie wusste, dass mehr auf dem Spiel stand als nur ihr Charakter. Da lauerte die Möglichkeit, dass die Operation nicht funktioniert hatte. Dann würde sie für immer in der Dunkelheit leben. Kein Gedanke, der meine Stimmung hebt, ermahnte sie sich.

„Ich kann nicht reiten“, sagte sie. „Aber ich kann immer noch die Pferde putzen und bei anderen Sachen helfen.“

„Dann werde ich dich dafür einsetzen.“

„Ich mag es, mit diesen Pferden zu arbeiten. Flower hat einen unglaublichen Einfluss auf Heidi gehabt.“

„Ja, das ist oft so. Zu reiten ist ein Vorgang, der gegenseitiges Vertrauen erfordert. Kinder, die von jemandem betrogen wurden, der sie eigentlich hätte lieben müssen, vertrauen nicht mehr so leicht. Wenn wir mit den Pferden anfangen, baut das ihr Selbstbewusstsein auf.“

„Hast du etwas in dieser Richtung studiert?“

Rita lachte. „Ich habe eine gute Portion gesunden Menschenverstand. Wenn du mich fragst, ist das manchmal besser als die raffinierteste Ausbildung.“

Was ihren eigenen gesunden Menschenverstand anging, war Izzy sich nicht so sicher. „Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge dumme Sachen gemacht.“

„Wer hat das nicht?“

„Ich bin mit Haien schwimmen gewesen.“

„Dann bist du tatsächlich dumm.“

Izzy lachte. „Meinst du, das College würde mir helfen?“

„Es ist ein Muss.“

„Ich bin nie hingegangen. Ich habe die Schule gehasst und konnte es kaum erwarten, sie hinter mir zu lassen. Dann bin ich für ein paar Monate durch Europa gereist, bin zurückgekommen und habe mich der Bergwacht in Colorado angeschlossen. Von da ging es dann langsam immer mehr bergab … im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Ich bin noch nie Skifahren gewesen. Ich weiß, dass es spezielle Programme für Blinde gibt, aber ich hasse die Kälte. Was würdest du denn gerne studieren?“

Izzy zögerte. Nicht, weil sie es nicht wusste, sondern weil die Idee so neu, so zart war, dass sie leicht zerbrechen konnte.

„Psychologie“, sagte sie dann. „Kinderpsychologie. Insbesondere Traumatherapie. Ich will Kindern wie Heidi helfen. Aber wieder in die Schule gehen? Ich weiß nicht, ob ich das kann. Die Schule war nie mein Ding.“

„Du warst bisher ja auch nicht motiviert. Das bist du aber jetzt. Man hört, dass Frauen, die später aufs College gehen, die erfolgreichsten Studenten sind.“

„Ehrlich?“

„Ja. Fang klein an. Geh erst mal auf ein Community College, dann kannst du später immer noch wechseln.“

Community College? Daran hatte Izzy noch nicht gedacht. Aber erst einmal nur zwei Jahre auf eine Schule zu gehen, anstatt vier Jahre auf ein normales College, schien ihr machbar. „Das klingt nach einer guten Idee“, sagte sie.

„Oder du bleibst einfach hier und heiratest Nick.“

Izzy war froh, dass sie saß, fand es aber doof, dass sie Ritas Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. „Was?“

„Du hast mich schon verstanden. Ich mag ja blind sein, aber trotzdem sehe ich doch, was zwischen euch los ist.“

„Aber wir … ich … Was?“

Natürlich war da was zwischen ihnen, aber doch nur, dass sie sich mochten und gemeinsam eine intensive Zeit durchmachten. Er hatte ihr letzte Nacht sehr geholfen, was sie zu schätzen wusste. Aber heiraten?

„Ich gehe keine Verpflichtungen ein. Nie.“ Das würde ja bedeuten, dass sie jemandem darin vertrauen musste, immer da zu sein, sich um sie zu kümmern. Nicht gerade eine ihrer Stärken. „Und Nick ist auch nicht auf der Suche nach was Festem.“ Solange er nicht wenigstens den ersten Schritt auf dem Weg machte, sich selbst zu vergeben, war er nicht in der Lage, sich um jemand anderen zu kümmern.

„Er ist ein guter Junge. Ich kenne ihn nun schon eine ganze Weile. Und man sagt, dass er ja auch ganz hübsch anzusehen ist.“

Izzy versuchte zu lachen, doch heraus kam nur ein Schluchzen. „Das ist ein Thema, was mich dieser Tage nicht sonderlich interessiert“, sagte sie und berührte ihren Verband. „Wir sind nur Freunde.“

Rita schnaubte. „Sicher. Als wenn irgendjemand das glauben würde.“ Sie stand auf. „Die Pferde werden sich nicht alleine um sich kümmern. Komm, die Arbeit wartet auf uns.“

Mit Arbeit konnte Izzy umgehen. „Du hast wirklich ein paar komische Ideen.“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich freue mich schon mal drauf zu sagen: ‘Ich hab’s dir doch gesagt.’„

„Jed Titan ist hier, um Sie zu sehen. Er hat keinen Termin.“

Garth hob die Augenbrauen. Jed war hier, um ihn zu sehen? Das konnte nur Gutes bedeuten. Der Gewinner eines Krieges gab sich niemals mit persönlichen Besuchen ab.

Er drückte den Knopf auf seiner Sprechanlage. „Schicken Sie ihn rein.“

Er hatte kaum Zeit, um seinen Tisch herumzugehen, bevor die Tür sich öffnete und Jed hereinschlenderte.

Sein Vater war ein großer Mann, sportlich, mit nur einem Hauch Grau in seinen dunklen Haaren. Garth wusste, dass er selber Jed viel ähnlicher sah als Kathy. Auch die Skrupellosigkeit hatte er von seinem Vater geerbt, sein Streben nach Dominanz und den Geschäftssinn. Er hatte das Gefühl, dass alle weicheren Charakterzüge, die seine Mutter ihm vererbt hatte, nach und nach aus ihm herausgebrannt worden waren.

„Jed“, sagte er und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

„Garth.“

Sie schüttelten sich die Hände. Jed betrachtete ihn, als wenn er ihn abschätzen würde.

„Nettes Büro“, sagte er. „Das Gebäude gehört dir?“

„Sicher. Warum Miete zahlen, wenn man sie stattdessen kassieren kann?“

Jed nickte. „Gut. So etwas höre ich gerne.“ Er ging zu der ledernen Sitzgruppe in der Ecke und setzte sich. „Es ist ein bisschen früh für Bourbon, darum nehme ich einen Kaffee. Schwarz.“

Garth gab den Wunsch über die Sprechanlage an seine Assistentin weiter und setzte sich dann Jed gegenüber in einen Klubsessel.

„Die Cowboys haben dieses Jahr eine reelle Chance“, sagte Jed. „Interessierst du dich für Football?“

„Nicht direkt. Ich habe zu viel zu tun.“

„Es sind immerhin die Cowboys. Das Team Amerikas.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob der Rest des Landes dem zustimmen würde.“

„Scheiß auf sie.“

Der Kaffee wurde gebracht. Als die Tür sich schloss und sie wieder alleine waren, beugte Jed sich vor.

„Garth, ich habe dir einen Vorschlag zu machen.“

Sieg, dachte Garth und spürte ein Zufriedenheitsgefühl, das ihm bis tief in die Knochen reichte. Wenn nicht heute, dann ganz bald. Jed hatte die Hosen voll. Sein heutiger Besuch war Beweis dafür. Der Plan funktionierte.

„Und der wäre?“

„Eine Partnerschaft. Es war ein gutes Spiel. Du hast mir für mein Geld ganz schön was geboten, und das respektiere ich, aber wir reden hier vom Geschäft. Warum sollten wir Ressourcen vergeuden?“

„Weil ich mehr als genug Geld habe.“

Jeds Blick wurde schärfer. „Ich auch, aber es muss doch nicht sein. Hier ist mein Angebot: Ich mache dich zum Präsidenten von Titan World und zahle dir ein mehr als angemessenes Gehalt. Du erhältst eine ganze Lkw-Ladung an Anteilen. Der Rest geht nach und nach an dich über, sodass du, wenn ich nicht mehr bin, die Mehrheit an der Firma hast. Und ich meine die gesamte Firma. Nicht nur ein Stückchen hier oder da. Ich werde außerdem meine Töchter aus meinem Testament streichen. Du bekommst alles. Du gewinnst.“

Das ist ein Angebot der Verzweiflung, dachte Garth. Er war erfreut, aber auch gleichzeitig ein wenig enttäuscht. Er hätte nicht gedacht, dass Jed so schnell einknicken würde, und außerdem hatte er noch keine Lust, sein Spiel zu beenden.

„Was bringt dich zu der Annahme, es wäre in meinem Interesse, dass deine Töchter nichts kriegen?“

„Du hast ihnen ganz schön zugesetzt. Sieh mal, Garth. Ich bin beeindruckt und sehr stolz auf dich. Das ist ein einmaliges Angebot. Was sagst du?“

„Dass ich nicht daran interessiert bin, für dich zu arbeiten. Ich habe mir mein eigenes Geschäft aufgebaut.“

Jed starrte ihn an. „Das ist gar nichts im Vergleich zu Titan World.“

„Aber es ist auf einem guten Weg dahin. Gib mir noch ein Jahr. Und was die Aktien betrifft, mir gehören bereits fast zehn Prozent. Ich plane eine ganz altmodische feindliche Übernahme.“

Jed entspannte sich sichtlich. Er lehnte sich zurück, und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Du willst es also auf die harte Tour?“

„Auf jeden Fall.“

„Ich respektiere es, dass du es auf mich abgesehen hast. Du hast mit mir ein Hühnchen zu rupfen, und vielleicht habe ich es auch verdient. Aber mit den Mädchen ist es was anderes. Was du Izzy angetan hast, war einfach falsch. Und außerdem ungesetzlich.“

„Mit der Explosion hatte ich nichts zu tun. Ich habe vielleicht Spaß daran, ein wenig mit meinen Schwestern zu spielen, aber ich habe nichts getan, um ihnen wehzutun. Ich weiß nicht, was auf der Bohrinsel passiert ist, aber ich war es nicht.“

Jed schüttelte den Kopf. „Gib es doch wenigstens zu.“

„Wenn ich es getan hätte, würde ich das. Aber ich war es nicht.“

Was die Frage im Raum stehen ließ: Wer hatte es noch auf Jed abgesehen? Wer sonst noch hatte so viel zu verlieren, dass er eine Ölplattform in die Luft jagte?

Garths Blick wanderte zurück zu seinem Vater. War er von ihm in die Falle gelockt worden? Würde Jed seinem eigenen Kind so etwas antun, nur um Garth die Schuld in die Schuhe zu schieben? Warum nicht? Jed war äußerst skrupellos.

Garth stand auf. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber danke. Ich muss nicht für dich arbeiten, um Titan World zu kontrollieren.“

Jed erhob sich ebenfalls. „Du wirst nicht gewinnen, Junge. Ich werde dich zerquetschen.“

„Du wirst es versuchen, das ist ein Unterschied. Aber am Ende wird mir alles gehören.“

„Dann sehe ich dich in der Hölle.“

Garth zuckte die Schultern. „Nach dir.“