3. KAPITEL
Die Demütigung ließ Izzy erstarren. Sie wollte aus dem Raum stürmen, wusste aber nicht, in welche Richtung sie hätte gehen müssen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war zu stolpern oder irgendwo gegenzulaufen.
Die Ungerechtigkeit von Nicks Worten bohrte sich tief in ihren Magen. Wenn sie sich ihres Zieles sicherer gewesen wäre, hätte sie den Teller nach ihm geworfen.
„Ich habe nicht um meinen Zustand gebeten“, sagte sie ruhig. „Weder um die Explosion noch um die Konsequenzen. Aber es ist ja leicht, mich zu kritisieren – denn mit dir ist ja alles in Ordnung, oder nicht?“
Anstelle einer weiteren sarkastischen Erwiderung hörte sie nur das deutliche Geräusch eines Klapses.
„Hey“, murrte Nick.
„Norma hat ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben“, flüsterte Aaron.
„Weiter so, Norma“, murmelte Izzy.
„Sei nicht so unhöflich“, sagte die andere Frau.
„Treib es nicht zu weit“, mahnte Nick.
„Als wenn ich Angst vor dir hätte.“
Izzy hörte Schritte, die sich in Richtung Küche entfernten.
Aaron räusperte sich. „Nick ist eigentlich gar kein so schlimmer Mensch.“
„Tatsächlich?“, fragte Izzy. „Ich wäre fast auf seine Vorstellung hereingefallen.“
„Du musst mich nicht verteidigen“, sagte Nick gleichzeitig.
„Muss ich doch“, gab Aaron scharf zurück. „Sieh mal, Izzy, er muss deine Grenzen testen. Herausfinden, was für ein Mensch du bist. Er will dir wirklich helfen.“
Sie schaute zu dem verschwommenen Schatten auf der anderen Seite des Tisches. „Was macht er mit den Leuten, denen er nicht helfen will? Wirft er sie vom Dach eines Hochhauses?“
Niemand sagte etwas.
„Izzy“, unterbrach Aaron nach einer Weile das Schweigen. Er klang ein wenig frustriert. „Einfach nur Mitgefühl zu haben funktioniert manchmal nicht. Aber was immer Nick tut, er tut es mit Liebe.“
„Wirklich?“ Izzy fühlte sich sowohl genervt als auch verlegen. „Das ist Liebe?“
„Auf jeden Fall“, bestätigte Aaron.
„Bist du immer sein Sprachrohr?“
„Irgendjemand muss es ja sein, und ich bin sehr gut darin.“
Nick verharrte weiter in Schweigen, was äußerst nervig war. Verstand er nicht, dass sie hier im Nachteil war? Wenn doch, dann machte es ihm anscheinend nichts aus. Irgendwie würde er es schon so drehen, dass alles ihr Fehler war.
Sie stocherte in ihrem Essen herum, ohne wirklich etwas davon zu sich zu nehmen. Norma würde sie dafür ausschimpfen, aber das war ihr im Moment egal. Doch als das Essen beendet war, räumte Norma den halb geleerten Teller kommentarlos mit ab.
In der Sekunde, in der Aaron ihren Stuhl nach hinten zog, war Izzy auch schon auf den Füßen.
„Ich bringe dich in dein Zimmer“, bot er an.
„Danke.“
„Ich mach das“, kam es von Nick.
„Das musst du nicht“, wehrte sie ab.
„Ich weiß.“
Aaron verschwand. In der einen Minute hatte er noch neben ihr gestanden, in der nächsten war er fort. Izzy atmete tief ein. Nur noch ein paar Minuten, sagte sie sich. Dann wäre sie in ihrem Zimmer und hätte endlich ihre Ruhe.
Der Schemen, der Nick war, ging los. Izzy folgte ihm und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an den kleinen Absatz im Boden, um ein erneutes Stolpern zu verhindern. Auf halbem Weg durch das große Wohnzimmer blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Sie nahm an, dass er sie anschaute.
„Ich will dir nicht wehtun“, sagte er.
Sie presste ihre Lippen aufeinander und sagte nichts.
„Es ist jetzt alles anders“, fuhr er fort. „Was und wer auch immer du vorher warst, ist jetzt vorbei. Das hier ist deine Wirklichkeit. Wenn du die Operation nicht machen lassen willst, dann wirst du lernen müssen, blind zu sein.“
„Nichts davon geht dich etwas an.“
„Es geht mich seit der Sekunde etwas an, in der deine Schwestern mich angerufen haben. Du bist hier, Izzy, und du wirst nirgendwo hingehen. Du kannst es dir leicht oder schwer machen, aber du wirst es irgendwie überstehen.“
Ihre Verärgerung wandelte sich in Wut. Für wen zum Teufel hielt er sich? „Oh, Coach, wenn wir das große Spiel gewinnen, werden wir dann alle zusammen ein Eis essen gehen?“
„Nette Einstellung.“
„Das gefällt dir? Davon habe ich noch viel mehr auf Lager.“ Sie spürte, dass er sie anschaute.
„Was du nicht zu verstehen scheinst, ist, dass deine Art, dein Leben zu leben, Dinge zu meistern, vorbei ist. Du wirst lernen müssen, eine andere Person zu sein. Zäher. Stärker. Dein vorheriges Ich existiert nicht mehr. Vielleicht hast du dich gemocht, vielleicht auch nicht, aber das ist jetzt vollkommen irrelevant.“
„Dein psychologisches Wissen ist beeindruckend“, gab sie schnippisch zurück. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass du mich gute fünfzehn Sekunden kennst. Wo hast du diesen ganzen Quatsch her? Du bist einfach nur ein Typ, der Spaß daran hat, Schwächere zu quälen. Das muss dich wirklich stolz machen.“
„Das ist dein erster Fehler“, sagte er leise. „Anzunehmen, dass du schwach bist. Solange du schwach bist, kannst du niemals gewinnen.“
„Oh, richtig. Das ist also der große Plan? Mich zu brechen, damit du mich neu aufbauen kannst? Ich sage dir eines: Das wird niemals passieren. Du wirst nicht gewinnen, und du wirst mich nicht dazu bringen, dankbar für all das hier zu sein.“
„Dann haben wir ein Problem.“
„Ich bin froh, dass du das auch endlich erkannt hast.“ Sie schob sich an ihm vorbei und ging in die Richtung, in der hoffentlich die Treppe lag.
„Du hast alles“, rief er ihr hinterher. „Du bist jung, gesund. Du hast finanzielle Ressourcen und eine Familie, die dich liebt. Aber das ist dir nicht genug.“
Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Ich weiß. Ich will auch wieder sehen können. Wie lächerlich von mir, nicht wahr?“
„Alles, was zwischen dir und deinem Wunsch steht, ist die Operation.“
Eine Operation, die mich für immer blind machen könnte, dachte sie bitter. Aber darüber wollte niemand sprechen. Niemand wollte sich mit den Risiken beschäftigen. Denn für die anderen gab es keine.
„‘Lass dich operieren, Izzy’„, sagte sie mit scharfer Stimme. „‘Tu es einfach, Izzy. Warum nicht?’ Für dich oder die anderen gibt es keine negative Seite, sondern nur für mich. Wenn du etwas zu verlieren hast, können wir gerne noch mal reden. Bis dahin scher dich zur Hölle. Ich spiele dein Spiel nicht mit. Ich bin noch nicht einmal interessiert an deinem Spiel. Ich werde jetzt in mein Zimmer gehen, dass ich sehr gut alleine finde. Du wirst das hier nicht gewinnen, und je eher du das akzeptierst, desto einfacher wird es für uns alle.“
Sie wandte sich wieder der Treppe zu und umfasste das Geländer. Nachdem sie die erste Stufe ein wenig suchen musste, schaffte sie es, ihren Fuß daraufzusetzen, und langsam, aber stetig stieg sie die Treppe hoch, bis sie oben im Flur angekommen war. Sie hatte keine Ahnung, ob Nick sie beobachtete oder das Zimmer schon wieder verlassen hatte. Aber es war ihr auch egal. Sie war wütend und müde und wund und immer noch durstig. Ihre Schultern, Arme und der Rücken brannten von dem Sonnenbrand. Und schlimmer noch, sie war ganz alleine. Die beiden Menschen, die sie liebte und denen sie mehr als jedem anderen vertraute, hatten sie im Stich gelassen, und das würde sie ihnen niemals verzeihen.
Sie blinzelte und versuchte, den langen Flur scharf zu stellen. Als das nicht funktionierte, brach ihr kurz der Schweiß aus. Wie sollte sie ihr Zimmer finden? Dann erinnerte sie sich daran, dass Nick gesagt hatte, es wäre die erste Tür auf der linken Seite.
Sie machte einen Schritt in die Richtung und streckte ihren Arm aus, um die Entfernung zur halb geöffneten Tür abzuschätzen. Sie drückte die Tür ganz auf und trat ein.
Die Sonne war schon lange untergegangen, und der Raum lag im Dunkeln. Sie fuhr mit der Hand an der Wand entlang, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Auf beiden Seiten des Bettes leuchteten Lampen auf.
Die Möbel waren nur verschwommene Schatten. Sie erkannte sie lediglich an ihrer Position im Zimmer. Das Bett war kein Problem, auch die Kommode nicht. Sie nahm an, dass der rechteckige Schatten am Fußende des Bettes ihr Koffer war, den Lexi oder Skye gepackt hatte. Kein Fernseher, was in Ordnung war. Sie konnte sowieso nicht richtig sehen, und nur zuzuhören machte nicht halb so viel Spaß.
Es gab zwei weitere Türen. Eine führte in einen Schrank, die andere zum Badezimmer. Sie schaltete auch dort die Lichter an und ging dann in das Schlafzimmer zurück, wo sie mit etwas Mühe den Reißverschluss ihres Koffers aufbekam.
Sie hatte keine Ahnung, was in den Koffer gepackt worden war, also hatte sie auch keine Erinnerungen, die ihr helfen konnten herauszufinden, welche Kleidung sie vor sich hatte. Ihre Jeans erkannte sie am Stoff. Ebenso ihre Panties, Tangas und BHs. Aber die T-Shirts sahen alle gleich aus. War das hier weiß oder hellrosa? Blau oder grün? Bei hellem Licht konnte sie die Unterschiede erkennen, aber die zwei Lampen auf den Nachttischen reichten dafür nicht aus.
Sie brachte ihre Kulturtasche ins Bad und stieß sich auf dem Rückweg ihre Hüfte an der Kommode. Der scharfe Schmerz ließ sie aufschreien, Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wollte sich einfach nur in einem dunklen Loch verkriechen und nie mehr gefunden werden.
Die Angst kehrte zurück. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Unbekannten. Dazu kam Wut. Wut, dass das ausgerechnet ihr passiert war. Es war nicht richtig, und es war nicht fair. Sie verdiente es nicht, so zu leiden. Und nun hatten Lexi und Skye sie auch noch zu einem Typen abgeschoben, den sie nicht einmal kannten.
Die scharfkantigen Gefühle versickerten und ließen reine Verzweiflung zurück. Sie konnte diese Schlacht nicht gewinnen. Also gab es auch keinen Grund, es überhaupt zu versuchen.
Sie schob den Koffer auf den Fußboden und krabbelte ins Bett. Sie hatte keine Tränen mehr. Sie hatte sich den letzten Monat über leer geweint. Sie rollte sich auf der Seite zusammen. Ihr Inneres brannte von den in ihr tobenden Gefühlen und ihr Äußeres vom Sonnenbrand. Sie schloss ihre Augen und öffnete sie dann schnell wieder, um sicherzugehen, dass das Licht noch an war.
Es würde eine lange Nacht werden.
Irgendwann später – vielleicht nur fünf Minuten, vielleicht eine Stunde – hörte sie ein Klopfen an der Tür.
Großartig. Nick war anscheinend noch nicht fertig damit, sich wie ein riesengroßes Arschloch zu benehmen.
„Geh weg“, rief sie.
Die Tür öffnete sich.
„Ich konnte dich nicht hören“, sagte Aaron. „Es war so undeutlich, klang aber wie ein ‘Komm rein’, also hier bin ich.“
Izzy setzte sich hin. „Hat er dich geschickt? Ich meine es ernst. Dann kannst du gleich wieder gehen.“
„Mit er meinst du Nick? Nein, er hat mich nicht geschickt. Ich habe hier etwas Aloe vera für deinen Sonnenbrand. Schmeißt du deine Klamotten immer auf den Boden? Dann stolperst du nachher doch nur darüber.“
Sein Schatten versteifte sich, dann beugte er sich vor. Sie spürte das Gewicht des Koffers auf ihrem Bett.
„Du bist beinahe fertig mit dem Auspacken“, sagte Aaron. „Ich räum nur schnell den Rest weg, damit wir den Koffer wegpacken können. Wie klingt das für dich?“
Er war nervtötend fröhlich, aber aus irgendeinem Grund konnte sie zu ihm nicht böse sein. Vielleicht, weil Aaron so offensichtlich glücklich und fürsorglich war. Vielleicht, weil er in dem ganzen Schlamassel nicht ihr Feind war.
„Ich lege einen Pyjama hier auf die Kommode“, sagte er, während er die Klamotten durch das Zimmer trug. „In der oberen Schublade findest du deine Unterwäsche. Socken sind direkt darunter. Ein paar Hemden habe ich aufgehängt. Oh, das rote hier ist hübsch. Aber dir steht grün sehr wahrscheinlich am besten. Es bringt die Farbe deiner Augen zur Geltung. Echtes Haselnussbraun. Sie wirken manchmal eher grün und manchmal blau, oder? Ich habe einfach nur braune Augen. Lang-wei-lig.“ Er seufzte. „Okay, das ist alles. Ich mache deinen Koffer wieder zu und stelle ihn ganz hinten in den Schrank.“
Er verschwand in der Dunkelheit und tauchte kurz darauf wieder auf. „Das wäre erledigt. Jetzt kümmern wir uns um deinen Sonnenbrand. Zieh dein Trägerhemd aus.“
Sie setzte sich gerader hin und schaute ihn an. „Wie bitte?“
Sie hörte ein Schnauben, dann sagte er: „Ich schätze, ich muss dir sagen, dass ich gerade meine Augen verdrehe. Bitte, Izzy. Du bist süß und ich mag dich, aber Liebes, ich könnte nicht weniger an dir interessiert sein. Ich will nur Aloe auf deinen Sonnenbrand auftragen. Nun zieh dein Hemdchen aus. Oh, wir müssen auch deine Haare hochstecken. Hast du etwas dafür im Bad?“
Er verschwand wieder. Izzy wusste nicht, was sie davon halten sollte, dann entschied sie, dass es ihr egal war. Sie zog ihr Hemd aus.
Aaron kehrte zurück. Sie erkannte es daran, dass er mit einem kleinen Aufschrei zusammenzuckte.
„Das muss ja höllisch wehtun“, sagte er. „Autsch. Wenn sich Blasen bilden, müssen wir dich zum Arzt bringen. Hast du irgendwas genommen? Ich werde dir ein paar Aspirin bringen. Aber erst mal tragen wir das Gel auf. Ich werde auch ganz vorsichtig sein.“
Er reichte ihr ein paar Haarklammern. Sie drehte ihr langes Haar zu einem Zopf, den sie dann am Hinterkopf aufrollte und feststeckte. Aaron setzte sich neben ihr aufs Bett.
„Zuerst kümmere ich mich um deinen Rücken“, sagte er.
Sie drehte sich von ihm weg und spürte kurz darauf das kühle Gel, gefolgt von dem intensiven Schmerz seiner Finger auf ihrer Haut. Sie wusste, dass er ganz vorsichtig war, aber jede Berührung war die reine Hölle.
„Arm“, sagte er und berührte ihren linken Arm.
Sie streckte ihn aus.
„Ich weiß, dass das schwer ist“, sagte er. „Hier zu sein, niemanden zu kennen. Die Sache ist die, Nick ist kein schlechter Kerl. Er erscheint anfangs ein wenig ruppig, aber man muss hinter die Fassade schauen, um zu sehen, wie er wirklich ist.“
„Ich kann hinter gar nichts schauen.“
„Das war nicht wörtlich gemeint. Ehrlich, Nick ist ein feiner Kerl.“
Sie wollte nichts über Nick hören, aber sie mochte Aaron. Was es ungleich schwieriger machte, unhöflich zu ihm zu sein.
„Wir bieten hier Seminare für Firmen an“, fuhr Aaron fort. „Manager kommen her und erkunden die Wildnis. Wir bringen ihnen bei, wie man sich von Bäumen schwingt, nur mit ein paar Steinen ein Feuer macht. Du weißt schon, dieser ganze gruppendynamische Kram.“
„Das qualifiziert deinen Boss kaum für die Seligsprechung.“
„Nein, aber es bezahlt unsere Rechnungen“, sagte er und berührte ihren anderen Arm. „Die echte Arbeit findet mit den Kindern statt, die etwas Traumatisches erlebt haben. Eine Schießerei. Ein Gewaltverbrechen. Eltern, die sich jahrelang streiten und sich dann am Ende gegenseitig umbringen. Wenn sie hierherkommen, sind sie total verschlossen. Es ist so traurig. Wir setzen sie auf Pferde, nehmen sie mit in die Natur. Bringen ihnen bei, wie man auf einen Baum klettert. Das hilft. Und das ist das, was Nick eigentlich tut. Er hilft diesen Kindern, wieder gesund zu werden.“
Sie wollte in Nick nichts anderes als den Teufel in Menschengestalt sehen. „Das ist toll, aber es hat leider nichts mit mir zu tun.“
„Und es geht immer nur um dich, richtig?“, fragte Aaron amüsiert. „Liebes, du hast vielleicht eine Art an dir.“
„Ich weiß. Früher passte es zu mir.“
„Könnte es immer noch. Jetzt sieh mich an.“ Er verrieb die kühle Aloe vera auf ihrer Brust. „In ein paar Tagen wirst du dich wie eine Schlange häuten. Okay, mehr kann ich im Moment nicht tun. Du bleibst jetzt hier so sitzen, bis das alles getrocknet ist. Ich hole dir in der Zwischenzeit Aspirin.“
Er verschwand für ein paar Minuten. Izzy saß da in ihrer Jeans und ihrem BH und fragte sich, ob wohl jemand an der offenen Tür vorbeigehen und die Show genießen würde, die sie bot. Machte es ihr was aus?
Aaron kehrte zurück. „Aspirin und Wasser. Ja, so bin ich zu dir.“
Sie nahm ihm das Glas und die Tablette ab. „Warum bist du hier? Warum bei Nick? Warum an diesem Ort?“
„Weil ich der texanische Typ bin.“
„Oh ja, bestimmt.“
„Ich könnte es aber sein. Ich versuche es zumindest.“ Er zögerte. „Ich mag es hier. Hier gehöre ich hin.“
Sie wusste, dass noch mehr dahintersteckte, aber sie war im Moment nicht interessiert genug, um ihn zu drängen.
„Danke für deine Hilfe.“
„Gern geschehen. Und jetzt schlaf ein wenig.“ Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe deine Haare. Wir sehen uns morgen früh.“
Dann war er fort.
Sie hörte, wie die Tür leise ins Schloss fiel, und das Gefühl, total allein zu sein, ließ ihre Haut kribbeln.
Sie ignorierte die Panik, die sich in ihr aufbaute, und alle anderen Gefühle, die durch ihren Körper tobten. Nachdem sie ihre Arme berührt und sichergestellt hatte, dass die Aloe getrocknet war, fand sie den Pyjama, den Aaron auf die Kommode gelegt hatte. Sie zog Jeans und BH aus und den Schlafanzug an und ging zurück zum Bett, wo sie zwischen die Laken krabbelte. Sie machte sich nicht die Mühe, die Lampen auszuschalten. Es war besser, wenn sie die ganze Zeit brannten. Alles war besser als die Dunkelheit.
Nick saß in seinem Büro im Erdgeschoss und starrte auf seinen Computer. Doch er sah die Wörter auf dem Bildschirm nicht, weil seine Gedanken immer wieder zu der Frau eine Etage über ihm abschweiften.
Izzy war in einer ganz schlechten Phase. Nur Angst und Abwehr. Beides konnte kanalisiert werden, ihr helfen, sich durchzukämpfen. Oder sie besiegen. Im Moment konnte er noch nicht sagen, welchen Weg sie einschlagen würde.
Sie war nicht sein typischer Klient – er nahm eigentlich keine Aufträge für Langzeitpflege oder individuelle Fälle an. Die Firmentypen kamen und gingen und waren leicht zu vergessen. Die Kinder … sie kamen in Gruppen von zwei oder drei, jeweils für ein Wochenende. Er hatte mal überlegt, das auf eine Woche auszudehnen, aber bis er das richtige Personal dafür hatte, war das ausgeschlossen. Außerdem war es einfacher, wenn er sich nicht zu sehr einbrachte. Wenn Izzy blieb, wäre das ein Risiko. Eines, das er unter Kontrolle halten müsste. Er könnte nicht emotional für sie verantwortlich sein … oder für überhaupt irgendjemanden.
Dazu kam die zusätzliche Herausforderung, dass sie kein Kind war. Sie war eine wunderschöne Frau. Er hätte so blind sein müssen wie sie, um das nicht zu bemerken, und mit seinem letzten Atemzug ringen, um nicht an die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zu denken. Aber das spielte keine Rolle. Sie war tabu.
Also, wie ging es nun weiter? Hatte er sie zu hart angepackt? Würde sie die Herausforderung annehmen oder daran zerbrechen? Jemanden zu fordern oder sich wie ein totales Arschloch zu benehmen war eine heikle Gratwanderung. Er tendierte dazu, sich in Richtung Arschloch zu verirren.
Sein Telefon klingelte.
„Hollister“, meldete er sich.
„Wie geht’s?“
„Wie immer“, sagte er, erfreut, die Stimme seines Freundes zu hören. „Und bei dir?“
„Blendend“, sagte Garth Duncan. „Es war ein guter Tag.“
Nick schaute auf seinen Monitor. „Der Markt war unten.“
„Nicht für mich. Und für dich auch nicht. Zumindest nicht, was deine Anteile an meiner Firma betrifft. Ich kann natürlich nicht für den anderen Mist reden, den du in deinem Portfolio hast.“
Nick lachte. „Das erwarte ich auch nicht.“ Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war beinahe zehn Uhr. „Bist du immer noch im Büro?“
„Sicher. Ich werde mich aber gleich auf den Weg nach Hause machen. Ich habe morgen Abend eine Wohltätigkeitsveranstaltung, also erledige ich heute noch ein paar Sachen.“
Garth war dazu geboren, ein Tycoon zu werden. Sie hatten sich an ihrem ersten Tag auf dem College getroffen, als das Schicksal sie zu Zimmergenossen gemacht hatte. Garth war ein charmanter, gut aussehender Achtzehnjähriger, dem es leichtfiel, Freundschaften zu schließen, und der das Selbstbewusstsein eines Menschen ausstrahlte, der wusste, dass er zu Höherem berufen war. Nick war ein dünner, verängstigter, fünfzehnjähriger Stipendiat gewesen, in der Theorie das klügste Kind am College, aber vollkommen ahnungslos, wenn es ums echte Leben ging.
Garth hatte einen Blick auf ihn geworfen und das Zimmer ohne ein Wort verlassen. Nick war es egal gewesen. Er war einfach nur dankbar, dem Horror der Pflegefamilien entronnen zu sein und sich nun in der einigermaßen sicheren Welt des Colleges zu befinden. Diese Erleichterung hatte zwei Wochen später ein jähes Ende gefunden, als ein paar Verbindungsstudenten meinten, ihm die Seele aus dem Leib prügeln zu müssen, um sich einen ewigen Platz in den Annalen des Colleges zu sichern.
Garth war dazwischengegangen, bevor sie ihn ernsthaft verletzen konnten. Er hatte Nick zurück in ihr Zimmer gezerrt und ihm gesagt, er solle sich zukünftig aus jedem Ärger heraushalten. Dann war er wieder gegangen. Als Dankeschön hatte Nick Garths Hausaufgaben in Infinitesimalrechnung fertiggestellt und ihm einen Spickzettel hinterlassen.
Irgendwann waren sie dann Freunde geworden, bedingt durch die tägliche Nähe und die ähnliche Herkunft. Nick war ohne Eltern aufgewachsen, Garth hatte keinen Vater gehabt. In den vier Jahren, die Garth brauchte, um seinen Bachelor zu machen, hatte Nick sein Studium zum Erdölingenieur beendet, seinen Master gemacht und war fast mit seiner Dissertation fertig. Garth brachte ihm bei, wie man Freunde machte und Mädchen kennenlernte. Nick half Garth, seine Kurse mit einem respektablen Zweierdurchschnitt zu bestehen.
Wie lange das her war, dachte Nick finster. Damals, als noch alles möglich schien.
„Deine Freundin ist angekommen“, sagte Nick.
„Wer?“
„Isadora Titan. Izzy. Die, von der du mir erzählt hast.“
Nick hatte Izzy auf Garths Bitte hin aufgenommen. Eine von Garths früheren Assistentinnen arbeitete jetzt bei Skye Titan, und Garth hatte sie gebeten, Druck zu machen, damit sie Nick wegen Izzy kontaktierte. Allerdings war Garths Name außen vor geblieben. Seiner Aussage nach waren die Titans Geschäftskonkurrenten, und er musste dafür sorgen, dass sie in guter Verfassung blieben, damit sie weiterhin eine Herausforderung für ihn darstellten.
Aber Nick wusste es besser. Garth war einer der Guten – schon immer gewesen. Und er hasste es, sich irgendeine Nettigkeit auf sein Konto schreiben zu lassen, die seinen Ruf ruinieren konnte.
„Wie macht sie sich?“, wolltr Garth wissen.
„Es fällt ihr schwer, sich einzugewöhnen.“
„Ich würde denken, dass es einige Zeit dauert, sich daran zu gewöhnen, blind zu sein. Aber du wirst schon noch dein Wunder vollbringen. Das tust du immer.“
„Es ist kein Wunder. Es ist die Wirklichkeit. Sie muss sich auf das Spiel einlassen, ansonsten wird sie die Operation niemals machen lassen.“
„Na ja, besser du als ich“, erwiderte Garth. „Ich hätte die Geduld nicht.“
„Ich hab sie an den meisten Tagen auch nicht.“
„Und trotzdem machst du weiter. Danke dir dafür. Ich weiß, du wolltest das nicht tun, aber es ist wichtig. Lass sie nur nicht wissen, dass sie auf meine Veranlassung bei dir ist.“
„Dein Ruf als rücksichtsloser Bastard in Geschäfts- und Privatangelegenheiten wird unangetastet bleiben“, versicherte ihm Nick scherzhaft.
„Ein Ruf, der auf der Realität beruht“, erinnerte ihn Garth. „Hast du die neue Car and Driver gesehen? Was haben diese Typen nur mit BMW am Hut? Soweit es die betrifft, können die Deutschen ja gar kein schlechtes Auto bauen.“
„Nicht jeder hat eine Vorliebe für alte, britische Autos, die ständig kaputt sind.“
„Nicht alt“, korrigierte Garth. „Historisch. Das ist ein Unterschied.“
„Sicher. Es hängt alleine davon ab, wie viel Geld man bereit ist zu versenken. Du kannst es dir leisten, jemanden mit einem Abschleppwagen hinter dir herfahren zu lassen. Die meisten Leute können das nicht.“
„Wenn du für mich gearbeitet hättest, anstatt deine eigene Firma aufzubauen, könntest du jetzt auch einen eigenen Truckfahrer haben“, bemerkte Garth.
„Nein, danke. Ich fahre meine Pick-ups gerne selber.“
„Typisch Texaner.“
„Und stolz darauf. Geh jetzt nach Hause. Es ist spät.“
„Ja, das mach ich. Sehen wir uns, wenn du das nächste Mal in der Stadt bist?“
„Klar. Ich ruf dich an.“
Nick legte auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu.
So viel hat sich seit dem ersten Treffen mit Garth verändert, dachte er finster. Zu viel. Sie hatten über die Jahre eine Menge miteinander geteilt. Ein ganzes Leben. Das Einzige, was er seinen Freund niemals fragte, war, ob er nachts gut schlafen konnte. Hatte Garth die Vergangenheit besiegt, oder wachte er auch immer noch von den Schreien auf?
Garth Duncan legte den Hörer auf und drehte seinen Stuhl, sodass er die Skyline von Dallas sehen konnte. Lichter winkten ihm aus Dutzenden anderer Büros zu, die alle viele Stockwerke unter seinem eigenen lagen. Niemand hatte ein so hoch gelegenes Büro oder so einen perfekten Blick. Dafür hatte er gesorgt.
Es hatte lange gedauert – beinahe zwanzig Jahre –, aber endlich war er bereit, die Titans zu zerstören. Alles war an seinem Platz. Die Leinen waren ausgelegt. Er musste sie nur noch einholen. Sogar Izzy hatte kooperiert und war eine Mitspielerin geworden. Die verdammte Explosion.
Wer hätte gedacht, dass das Schicksal sich auf seine Seite schlagen würde?
Er wusste, dass die Titan-Schwestern ihn für das verantwortlich machten, was auf der Ölplattform geschehen war. Aber er war es nicht. Seine Zerstörung des Titan-Imperiums war subtil und hinterließ keine Spuren. Er war nicht an Leichen interessiert, er zählte seine Siege in Dollar und dem Recht zu prahlen. Er wollte Jed Titan zerbrochen und von der Gesellschaft, die ihm so viel bedeutete, verstoßen sehen. Wenn die Titan-Schwestern auf dem Weg dahin alles verloren, umso besser.
Wer hatte die Explosion verursacht? Die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen, aber Garth war überzeugt, dass die Behörden herausfinden würden, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Solche Zufälle passierten einfach nicht. Jemand hatte es absichtlich getan. Um ihm die Schuld zu geben? Oder gab es noch einen weiteren Feind der Titans, der darauf aus war, die Familie zu vernichten?
Egal wie, er würde es herausfinden. Und am Ende würde er Jed Titan alles nehmen und nicht den Hauch von Bedauern dabei verspüren.
Nun, ein bisschen vielleicht doch.
Er hatte Nick nicht benutzen wollen. Aber als sich herausstellte, dass Izzy blind war, war die Gelegenheit zu verlockend gewesen, um sie nicht zu ergreifen. Wenn Nick herausfände, dass er benutzt worden war, würde er nicht sehr glücklich sein. Aber Garth setzte darauf, dass die Jahre ihrer Freundschaft mehr zählen würden.
Außerdem war es das Risiko wert. Er musste gewinnen. Um jeden Preis. Auch wenn das Vertrauen des Mannes auf dem Spiel stand, der ihm einmal das Leben gerettet hatte.