Sie stand schräg, zur Hälfte in diesem höllischen Staub vergraben. Das ist etwas äußerst Weiches, äußerst Zartes - das Feinste auf der ganzen Welt -, weißt du? Eine fast unberührbare Substanz.., der leichteste Daunen leistet auf Erden einen weit größeren Widerstand. Die Teilchen sind so unwahrscheinlich winzig… Ich schaute hinein - er war aber nicht in der Rakete. Ich sagte, daß sie schrägstand; ich war dessen aber durchaus nicht sicher; ein Mensch konnte dort die senkrechte Lage nicht ohne Spezialapparate bestimmen, und das hätte dann_ sowieso ungefähr eine Stunde gedauert. Ein einfaches Gewicht, federleicht, würde am Ende einer Schnur wie eine Fliege herumsausen, statt diese redlich zu spannen… Also war ich auch nicht erstaunt, daß er keinen Start versucht hatte. Ich kroch hinein. Sofort sah ich, daß er eine präzise Senkrechte zusammenzubasteln versucht hatte, aus Dingen, die er unter den Händen fand, und daß es ihm nicht gelungen war. Eßvorräte gab es sogar noch genug, dafür aber keinen Sauerstoff mehr. Er mußte wohl alles, was er noch hatte, in die Flasche seines Raumanzugs gepumpt haben, und stieg dann aus.« »Warum?«
»Ja, die Frage habe ich mir auch gestellt. Er war dort schon drei Tage lang. In so einer Rakete gibt es nur einen Sessel, einen Bildschirm, einige Hebel und eine Klappe hinter dem Rücken. Ich saß dort eine Weile. Ich begriff bereits, daß ich ihn nicht finden würde. Eine Sekunde lang dachte ich, er wäre gerade dann ausgestiegen, als ich angeflogen kam, hätte die Rückstoßpistole benutzt, um zum >Prometheus< zurückzukehren, und säße schon dort, während ich in diesen trunkenen Trümmern herumkroch…
Ich sprang so energisch aus der Rakete, daß es mich wieder hochtrug und ich fliegen mußte. Gar kein Orientierungsgefühl, nichts. Weißt du, wie es ist, wenn man in der völligen Finsternis einen Funken sieht? Wie die Augen dann über ihn zu phantasieren anfangen? Was für Strahlen und Visionen sie darin erblicken -na also, mit dem Gleichgewichtssinn… das ist so ähnlich. Dort, wo es überhaupt keine Gravitation mehr gibt, ist es noch halb so schlimm, wenn sich der Mensch daran gewöhnt. Aber wenn die Gravitation nur äußerst schwach ist, wie eben auf diesem Scherbenhaufen da - wird der Gehörkanal gereizt und reagiert eben auf diese Art - fehlerhaft, um nicht zu sagen - verrückt. Einmal kommt dir vor, du fliegst hoch wie eine Kerze, dann fällst du wieder runter in einen Abgrund und so immerfort. Dazu gibt es noch das Herumwirbeln und die gegenseitige Verschiebung von Armen, Beinen, Rumpf- als ob die alle ihre Stellen vertauscht hätten, als ob der Kopf nicht mehr an dem richtigen Platz säße…
So flog ich denn, bis ich gegen irgendeine Wand schlug, mich abstieß, an etwas hängenblieb, zusammengerollt wurde. Ich hatte aber noch Zeit, mich an einem hervorstehenden Felsbrocken zu klammern. Jemand lag dort. Thomas.«
Sie schwieg. In der Dunkelheit rauschte der Stille Ozean.
»Nein. Nicht das, was du denkst. Er lebte. Setzte sich auch gleich auf. Ich schaltete das Radio ein. Bei einer so kleinen Entfernung konnten wir uns ausgezeichnet verständigen.
>Bist du das?< meldete er sich.
>Ja. Ich bin’s<, sagte ich. Eine Szene wie aus einer miesen Komödie, eigentlich unmöglich. Aber so war es. Wir standen beide auf. >Wie fühlst du dich?< fragte ich.
>Ausgezeichnet. Und du?<
Das machte mich etwas stutzig, doch sagte ich:
>Danke, sehr wohl. Und daheim sind alle auch gesund.<
Idiotisch war das, aber ich dachte, er täte es absichtlich - um zu zeigen, daß er sich im Zaum hält, verstehst du?« »Ja.«
»Als er schon ganz nahe bei mir stand, sah ich im Schein meiner am Arm montierten Lampe seine Umrisse, als eine Art von dichterer Finsternis. Ich tastete seinen Raumanzug ab - er war heil.
>Hast du Sauerstoff?< fragte ich. Das war ja das Wichtigste.
>Ach, das ist unwichtig.<
Ich überlegte, was man nun tun sollte. Mit seiner Rakete starten? Wohl kaum, es war zu riskant. Um die Wahrheit zu sagen, war ich nicht einmal sehr erfreut. Ich hatte Angst - oder war vielmehr unsicher -, es läßt sich schwer erklären. Die Situation war irreal, ich spürte etwas Eigenartiges darin, ohne zu wissen, was es war, und ohne mir darüber ganz im klaren zu sein. Nur daß ich eben durch dieses wundersame Wiederfinden nicht erfreut war.
Ich überlegte, wie man die Rakete retten könnte. Aber das, dachte ich, ist nicht das Wichtigste. Erst mußte ich erfahren, wie es um ihn stand. Inzwischen standen wir so da, in dieser schwarzen Nacht ohne Sterne.
>Was hast du die ganze Zeit hier gemacht?< erkundigte ich mich. Ich wollte es wissen, denn es war auch wichtig. Wenn er irgend etwas zu tun versucht hatte, und sei es nur, Mineralstücke abzuschlagen, so wäre das ein gutes Zeichen.
>Verschiedene Dinge<, sagte er. >Und du, Tom?<
>Wieso Tom?< fragte ich. Mich überlief es kalt, denn Arder lebte schon seit einem Jahr nicht mehr, und er wußte es doch auch ge-Bau.
>Du bist doch Tom, nicht? Ich erkenne deine Stimme.<
Ich sagte nichts, und er berührte mit seinem Handschuh meinen Raumanzug, der schepperte, und sagte dann: >Eine verrückte Welt, nicht? Nichts zu sehen, und es gibt hier auch nichts Besonderes. Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Und du?<
Ich dachte, mit Arder wäre ihm wohl ein Irrtum unterlaufen, schließlich war so etwas schon.., mehreren passiert.
>Ja<, sagte ich. >Uninteressante Gegend hier. Wollen wir loszie -hen, Thomas, wie?<
>Losziehen?< staunte er. >Ja, wie denn… Tom?<
Ich achtete schon nicht mehr auf diesen Tom.
>Willst du denn hier bleiben?< fragte ich.
Er macht mich zum Narren, dachte ich, nun aber Schluß mit diesen Blödeleien.
>Nein<, sagte ich. >Wir müssen zurück. Wo ist deine Pistole?<
>Die habe ich verloren, als ich gestorben bin.<
>Was?!<
>Aber ich nahm es mir nicht zu Herzen<, sagte er. >Ein Toter braucht keine Pistole.<
>Na, na<, meinte ich. >Komm, ich lege dir den Gurt um, und dann fahren wir.<
>Bist du denn verrückt, Tom? Wohin?<
>Zum »Prometheus«.<
>Der ist doch nicht hier…<
>Er ist da ein bißchen weiter. Nun komm schon und laß mich dir den Gurt umlegen.<
>Warte.< Er schob mich weg.
>Du redest ja so komisch. Du bist nicht Tom!<
>Sicher nicht. Ich bin Hal.<
>Also bist du auch gestorben? Wann?<
Jetzt wußte ich schon ungefähr, wie und was, fing also an, mich ihm anzupassen.
>Na<, meinte ich, >schon vor einigen Tagen. Komm, laß mich dir den Gurt umlegen.<
Er aber wollte es nicht zulassen. Und wir fingen an, uns zu zanken, am Anfang wie im Scherz, später schon mehr im Ernst, ich versuchte ihn zu fassen, konnte es aber nicht wegen des Raumanzugs. Was tun? Ich konnte ihn keinen Augenblick allein lassen; denn ein zweites Mal würde ich ihn nicht mehr finden. Ein Wunder geschieht nicht zweimal. Und er wollte dableiben als Toter.
Und so - während unseres Wortwechsels - als mir schon schien, daß ich ihn überzeugt hätte und er mir zustimmte - ließ ich ihn meine Rückstoßpistole halten… Er brachte sein Gesicht ganz nah an meins, so daß ich fast durch die doppelten Gläser sah, dann rief er: >Du Schweinehund! Betrogen hast du mich! Du lebst !< und schoß auf mich.«
Seit einer längeren Zeit spürte ich schon Eris Gesicht an meine Schulter gepreßt. Bei meinem letzten Wort zuckte sie zusammen, als ob sie einen Schlag erhalten hätte, und verdeckte meine Narbe mit ihrer Hand. Wir schwiegen eine Weile
»Es war ein sehr guter Raumanzug«, sagte ich. »Er zersprang nicht, weißt du? Er kam mir nun hierher ganz hinein, hat den Rippenansatz gebrochen, reingestopft, die Muskeln zermalmt, zersprang aber selber nicht. Ich hatte nicht mal das Bewußtsein verloren, nur konnte ich eine Weile den rechten Arm nicht bewegen und fühlte an der Hitze die innere Blutung.
Eine Zeitlang war ich wohl benommen, denn als ich aufstand, war Thomas nicht mehr da, und ich hatte keine Ahnung, wann und wo er verschwunden war. Ich suchte ihn blindlings auf allen vieren, statt seiner aber fand ich die Pistole. Er mußte sie gleich nach dem Schuß weggeworfen haben. Na, und mit ihrer Hilfe bin ich dann da rausgekommen.
Sie bemerkten mich gleich, als ich über die Wolke sprang. Olaf brachte das Schiff noch näher, und sie zogen mich hinein. Ich sagte, ich hätte ihn nicht gefunden. Ich hätte nur die leere Rakete entdeckt, und meine Pistole wäre mir aus der Hand gefallen und hätte geschossen, als ich stolperte. Der Raumanzug ist doppelwandig. Ein Stück Verkleidung im inneren Teil war abgesprungen. Das habe ich hier, unter der Rippe.«
Wieder Schweigen und das anwachsende, langgezogene Dröhnen der Welle, die sich anschickte, einen Sprung über sämtliche Strände zu tun, durch die Niederlagen einer unendlichen Reihe ihrer Vorgängerinnen nicht entmutigt. Flacher werdend, bäumte sie sich auf, zerbrach, man hörte ihr Weiches Stampfen, immer
näher und leiser, bis es zu der wiederaufkommenden Stille wurde. »Seid ihr abgeflogen?«
»Nein. Wir warteten. Nach zwei weiteren Tagen setzte sich die Wolke, und ich flog dann ein zweites Mal hin. Allein. Du verstehst wohl - alle anderen Gründe ausgenommen - warum?«
»Ja, ich verstehe.«
»Ich fand ihn schnell, weil sein Anzug in der Finsternis leuchtete. Er lag unter einem Nadelfelsen. Sein Gesicht war nicht zu sehen, die Glasscheibe war von innen beschlagen. Als ich ihn hochhob, meinte ich, in den Händen nur eine leere Schale zu halten.., er wog fast gar nichts. Er war es aber wirklich. Ich ließ ihn da und kam in seiner Rakete zurück. Später untersuchte ich sie dann genau und begriff, warum es passiert war. Seine Uhr - eine ganz ungewöhnliche Uhr - war stehengeblieben, er hatte die Zeitrechnung verloren. Diese Uhr zeigte nämlich sowohl die Stunden als auch die Tage an. Ich habe sie repariert und weitergestellt, so daß niemand dahinterkommen konnte.«
Ich umarmte Eri. Fühlte, wie mein Atem ganz leise ihr Haar zerteilte.
Sie berührte meine Narbe, und plötzlich wurde diese Liebkosung zu einer Frage: »Sie hat eine so sonderbare Form…«
»Ja, nicht wahr? Weil es zweimal genäht werden mußte, beim ersten Mal heilten die Nähte nicht… Thurber hat mich zusammengeflickt. Denn Venturi, unser Arzt, lebte nicht mehr.«
»Der, der dir ein rotes Buch gegeben hat?«
»Ja. Woher weißt du das, Eri? Hab’ ich dir davon erzählt? Nein, unmöglich.«
»Das hast du Olaf gesagt - damals - weißt du noch…«
»Stimmt. Aber daß du das behalten hast! So eine Lappalie. Ach, eigentlich bin ich ein Schwein. Dieses Buch ist mit allen anderen Sachen auf dem >Prometheus< geblieben.«
»Hast du dort deine Sachen? Auf Luna?«
»Ja. Aber eigentlich lohnt es sich nicht, sie herzuholen.«
»Doch, Hal.«
»Mein Liebes, gleich würde daraus ein Erinnerungsmuseum werden. Und so etwas finde ich gräßlich. Wenn ich sie hole, so nur, um sie zu verbrennen. Ich werde nur ein paar Kleinigkeiten behalten, die ich von den anderen geerbt habe. Dieses Stein-chen… «
»Was für ein Steinchen?«
»Ich habe noch mehr davon. Einer ist von Kerenea, einer vom Thomas-Planetoiden- denk aber bloß nicht, daß ich mich da mit irgendwelchen Sammlungen beschäftigt hätte ! Die kleinen Stein-chen gelangten ganz einfach in die Rillen meiner Schuhsohlen, Olaf klaubte sie wieder heraus, versah sie mit entsprechenden Notizen und verwahrte sie. Diese Idee konnte ich ihm nicht ausreden. Unsinn, aber.., das muß ich dir erzählen. Ja, ich soll es sogar tun, damit du nicht denkst, daß dort alles so schrecklich war und außer Todesfällen nichts anderes passierte. Also - stell dir ein Zusammensein der Welten vor. Zuerst rosa, eine Unendlichkeit aus einem ganz, ganz leichten und feinen Rosa, in ihr - und sie durchdringend- dann eine zweite, schon dunklere, und weiter dann ein Rot, fast schon bläulich, dieses aber ganz weit, und rundum die Phosphoreszenz, schwerelos, nicht wie eine Wolke und nicht wie Nebel - anders. Ich finde dafür keine Worte. Wir stiegen beide aus der Rakete aus und schauten. Eri, ich verstehe das nicht. Weißt du, ich spüre sogar jetzt noch ein Würgen in der Kehle, so schön ist das gewesen. Denk bloß: Dort gibt es kein Leben. Es gibt da weder Pflanzen noch Tiere, noch Vögel, nichts, keinerlei Augen, die das sehen könnten. Ich bin ganz sicher, daß es seit der Erschaffung der Welt niemand je gesehen hat und wir, mit Arder, die ersten waren. Und wäre unser Gravimeter nicht kaputtgegangen, weshalb wir dort landen mußten - um ihn herzurichten, denn der Quarz war zerschlagen und Quecksilber herausgeflossen -, dann wäre bis ans Ende der Welt kein Mensch dort angelangt, keiner hätte es je erblickt. Ist das nicht unheimlich! Man hat direkt Lust- ach, ich weiß nicht… Wir konnten da ganz einfach nicht mehr weg. Wir haben vergessen, weshalb wir gelandet sind, und standen nur so, standen und schauten.«
»Was war denn das, Hal?«
»Ich weiß nicht. Als wir wiederkamen und davon erzählten, wollte Biel unbedingt hinfliegen, aber es ging nicht. Wir hatten nicht allzuviel Reservekraft. Wir hatten eine Menge Fotos geknipst, aber aus ihnen ist nichts geworden. Auf den Bildern sah das Ganze wie rosa Milch mit lila Palisaden aus, und Biel faselte über die Phosphoreszenz silihydrogener Ausdünstungen, mir scheint, er glaubte selbst nicht daran, aber vor lauter Verzweiflung, daß er es nicht würde untersuchen können, versuchte er es irgendwie zu erklären. Das war wie.., ja, wie nichts eben. Etwas Derartiges kennen wir nicht. Es war auch keinen bekannten Dingen ähnlich. Hatte eine riesige Tiefe, aber eine Landschaft war es nicht. Ich sagte dir doch schon von diesen Schattierungen, die immer ferner und dunkler wurden, bis die Augen flimmerten.
Eine Bewegung… nein, eigentlich nicht. Es floß und stand zugleich. Veränderte sich, als atmete es, blieb aber stets gleich. Wer weiß, das Wichtigste daran war vielleicht doch diese Riesengröße. Als ob hinter der grausamen schwarzen eine zweite Ewigkeit, eine zweite Unendlichkeit existierte, so gesammelt und groß, so hell, daß der Mensch, indem er die Augen schloß, aufhörte, an sie zu glauben. Als wir uns dann ansahen… Du hättest Arder kennen müssen. Ich werde dir sein Bild zeigen. Das war ein Kerl, noch größer als ich, sah so aus, als ob er durch jede Mauer durchkönnte, ohne dabei auch nur bemerkt zu werden. Er sprach immer langsam. Hast du von.., diesem Loch auf Kerenea gehört? « »Ja.«
»Er steckte dort fest, im Felsen, unter ihm kochte so ein gluthei-Ber Sumpf, der jede Minute den Siphon, in dem er steckenblieb, ausfüllen konnte, und er sprach dabei: >Hal - warte mal. Ich will mich hier noch umsehen. Könnte vielleicht die Flasche abnehmen
- nein. Nehme sie nicht ab, die Gurte haben sich verheddert.
Aber warte du noch.< Und so weiter. Man könnte meinen, daß er per Telefon aus einem Hotelzimmer sprach. Er posierte durchaus nicht, er war eben so. Der Nüchternste von uns allen. Hat immer alles berechnet. Deshalb flog er dann später mit mir, nicht mit Olaf, der sein Freund war - aber davon hast du ja schon gehört…« »Ja.«
»Also… Arder. Als ich ihn ansah, dort - da hatte er Tränen in den Augen. Tom Arder. Übrigens schämte er sich dessen überhaupt nicht, weder damals, noch später. Als wir nachher darüber sprachen, und das taten wir noch oft, häufig kamen wir darauf zurück-, wurden die anderen böse. Weil wir dann so - so… fromm wurden. Komisch, nicht wahr? Nun zur Sache. Wir sahen uns also an, und uns kam die gleiche Idee. Obwohl wir nicht wußten, ob wir die Skala dieses Gravimeters richtig hinkriegen würden. Anders konnten wir den >Prometheus< nicht wiederfinden. Aber wir dachten, daß es sich gelohnt hatte. Nur deswegen, um dort so zu stehen und diese farbige Erhabenheit zu erblicken.«
»Habt ihr auf einem Berg gestanden?«
»Ich weiß nicht, Eri, dort gab es eine ganz andere Perspektive.
Wir schauten so von oben her, aber es war gar kein Abhang. Warte mal. Hast du den großen Colorado-Canon gesehen?«
»Ja.«
»Stell dir also diesen Canon tausendfach vergrößert vor. Oder millionenfach. Aus rotem und rosa Gold, fast völlig durchsichtig, sämtliche Schichten, Bergmulden, geologischen Sattel seiner Formation, und das alles schwerelos, fließend, und dich fast wie gesichtslos anlächelnd. Nein, nicht das. Mein Liebes, wir beide, Arder und ich gaben uns redlich Mühe, es irgendwie den anderen zu erzählen, aber daraus ist nichts geworden. Dieser kleine Stein stammt eben von dort… Arder nahm ihn als Glücksbringer mit. Trug ihn immer bei sich. Auch auf Kerenea hat er ihn gehabt. In einer kleinen Schachtel für die Vitamintabletten. Als er zu verwittern anfing, hat er ihn in Watte eingewickelt. Dann - als ich allein zurückkam, fand ich ihn, er lag unter der Koje in seiner Kabine. War ihm wohl herausgefallen. Olaf, scheint mir, dachte, es wäre aus diesem Grunde passiert, traute sich aber nicht, das laut zu sagen, es hätte zu dumm geklungen… Was konnte schon so ein kleiner Stein für einen Zusammenhang mit dem Drähtchen haben, das Arders Radio außer Betrieb setzte?… «
Inzwischen gab Olaf immer noch kein Lebenszeichen von sich. Meine Unruhe wurde zu Gewissensbissen. Ich befürchtete, er könnte etwas Verrücktes angestellt haben. Er war ja weiterhin allein und das noch mehr, als ich es vorher gewesen war. Ich wollte Eri nicht in unvorhersehbare Dinge hineinziehen, die eine Konsequenz meiner auf eigene Faust unternommenen Suchaktion sein konnten, deshalb entschloß ich mich, vorerst zu Thurber zu fahren. Ich war nicht sicher, ob ich ihn um einen Rat bitten sollte - ich wollte ihn nur sehen. Die Adresse hatte ich von Olaf; Thurber hielt sich im Universitätszentrum Malleolan auf.
Ich schickte ihm ein Telegramm über meine Ankunft und habe mich zum ersten Mal von Eri getrennt. In den letzten Tagen wurde sie schweigsam und unruhig; ich schrieb es ihrer Sorge um Olaf zu. Ich versprach ihr, nach Möglichkeit schnell wiederzukommen, wahrscheinlich schon in zwei Tagen, und nach dem Gespräch mit Thurber keinerlei weitere Schritte zu unternehmen, ehe ich mich mit ihr ausgesprochen haben würde.
Eri brachte mich bis Houl, wo ich einen direkten Ulder nahm.
Die Pazifik-Strände waren schon leer, weil bald die Herbststürme kommen sollten, aus den Ferienorten verschwanden die Mengen buntgekleideter Jugend, und ich war kaum erstaunt, fast der einzige Passagier des Silbergeschosses zu sein. Der Flug in den Wolken, der die Gegend irreal machte, dauerte kaum eine Stunde und endete gegen Abend.
Die Stadt tauchte aus der aufkommenden Dunkelheit mit mehrfarbigen Feuern auf - die höchsten Bauten, Kelchhäuser, leuchteten im Nebel wie ganz dünne, reglose Flammen, ihre Silhouetten zwischen den weißen Nebelstreifen hatten die Gestalt von Riesenschmetterlingen, durch in der Luft hängende Bogen der höchsten Verkehrsebene verbunden. Die weiteren, niedrigen Straßenetagen bildeten gewundene, sich kreuzende, mehrfarbige Flüsse. Vielleicht lag es am Nebel, vielleicht war es der Einfluß der Glasbauten, jedenfalls schien das Zentrum von dieser Höhe aus eine Masse hochwertigen Schmelzes mit gemeinsamer Maserung, eine mit Juwelen bedeckte Glasinsel zu sein, errichtet in einem Ozean, dessen Spiegelfläche die immer schwächer leuchtenden Stockwerke wiederholte, bis auf die schon kaum sichtbaren, letzten. Als ob vom Untergrund der Stadt ein rubinrot glühendes
Gerippe durchschiene. Es war schwer zu glauben, daß diese ineinander fließende Palette der Flammen und Farben ganz einfach nur die Wohnstätte einiger Millionen von Menschen war.
Das Universitätszentrum befand sich außerhalb der Stadt. Erst dort, in einem großen Park auf einer Betonpiste, landete mein Ulder. Von der Stadtnähe zeugte nur ein schwacher Lichtschein, der am Himmel über der schwarzen Wand alter Bäume stand.
Eine lange Alle e führte mich zum Hauptgebäude, das dunkel, wie ausgestorben dalag.
Kaum öffnete ich die große Glastür, flammte im Inneren Licht auf. Ich befand mich in einer gewölbten Halle, die mit blaßblauen Intarsien ausgelegt war. Ein System von Durchgängen mit Schail-isolierung brachte mich zu einem langen Gang, der gerade und irgendwie streng war- ich öffnete eine und noch eine andere Tür, aber sämtliche Räume waren leer und schienen längst verlassen zu sein. Über eine gewöhnliche Treppe stieg ich nach oben. Wahrscheinlich gab es irgendwo einen Fahrstuhl, aber ich hatte keine Lust, ihn zu suchen, äußerdem war diese Treppe an sich schon eine Sehenswürdigkeit, da sie unbeweglich war. Oben ging nach beiden Seiten ein gleichartiger Gang aus. Es gab dort auch ähnliche menschenlose Zimmer; auf einer Tür sah ich dann einen kleinen Zettel mit den deutlich geschriebenen Worten: »Hier, Bregg!« Ich klopfte und hörte sofort die Stimme von Thurber.
Ich ging hinein. Er saß gebeugt gegen die Dunkelheit eines ganzwandigen Fensters, im Licht der niedrig herabgezogenen Lampe. Der Schreibtisch, an dem er arbeitete, war mit Papieren und Büchern - wirklichen Büchern - übersät und auf einem anderen, kleineren, daneben, lagen ganze Haufen von den Kri-stall-»körnern« und verschiedenartige Apparate. Er hatte einen Stoß Papier vor sich und notierte - mit einer in Tinte getauchten Feder! - verschiedene Bemerkungen an den Rand.
»Setz dich«, sagte er, ohne aufzublicken. »Bin gleich fertig.«
Ich setzte mich in einen niedrigen Sessel am Schreibtisch und schob ihn etwas zur Seite, weil Thurbers Gesicht im Licht nur ein einziger Flecken war und ich ihn doch gut sehen wollte.
Er arbeitete auf seine Weise, langsam, mit gebeugtem Kopf und durch gerunzelte Brauen sich gegen das Lampenlic ht wehrend.
Es war eins der bescheidensten Zimmer, die ich bisher sah, mit matten Wänden, grauen Türen, ohne eine einzige Verzierung, ohne eine Spur des widerwärtigen Goldes - beiderseits der Tür
gab es viereckige, jetzt nur blinde Schirme, die Fensterwand war mit Metallschränkchen vollgestellt, an einem lehnte eine hohe Rolle von Landkarten oder technischen Zeichnungen - und das war eigentlich alles. Ich blickte nun auf Thurber selbst. Kahlköpfig, massiv, schwer - schrieb er und wischte von Zeit zu Zeit mit dem Handrücken eine Träne vom Auge. Seine Augen tränten immer, und Gimma - der die Geheimnisse anderer zu verraten liebte, vor allem solche, die jemand besonders geheimzuhalten versuchte - sagte mir einmal, daß Thurber sich um sein Augenlicht Sorge mache. Darum konnte ich verstehen, warum er sich als erster hinlegte, wenn wir die Beschleunigung veränderten, und warum - in den späteren Jahren- er sich von anderen vertreten ließ - bei Arbeiten, die er vorher immer selbst ausgeführt hatte.
Mit beiden Händen sammelte er seine Papiere, klopfte damit gegen den Schreibtisch, um die Ränder auszugleichen, steckte sie in eine Mappe, schloß sie und sagte erst dann, indem er seine großen Hände mit dicken, nur mühsam sich biegenden Fingern hängenließ: »Grüß dich, Hal. Wie geht es dir?«
»Kann mich nicht beklagen. Bist du… allein?«
»Das soll heißen: ob Gimma hier ist? Nein. Er ist nicht hier; ist gestern weggefahren. Nach Europa.«
»Arbeitest du?«
»Ja.«
Ein kurzes Schweigen folgte. Ich wißte nicht, wie er auf das, was ich ihm zu sagen hatte, reagieren würde - wollte erst erfahren, wie er die Dinge in der von uns vorgefundenen Welt betrachtete. Da ich ihn ja gut kannte, erwartete ich keine Gefühlsäußerungen.
Er behielt den größten Teil seiner Meinungen immer für sich.
»Bist du schon lange hier?«
»Bregg«, sagte er, weiterhin so starr wie er dasaß, »ich bezweifle, daß dich das interessiert. Du redest um den Brei herum.«
»Schon möglich«, meinte ich. »Heißt das, daß ich sprechen soll?«
Wieder empfand ich dieselbe Zerrissenheit, etwas, was zwischen Gereiztheit und Schüchternheit lag, das mich stets ihm gegenüber befiel - die anderen wohl übrigens auch. Ich wußte nie, ob er scherzte, sich lustig machte oder aber im Ernst sprach; bei aller Ruhe und aller Aufmerksamkeit, die er dem Partner bewies, blieb er vollkommen undurchsichtig.
»Nein«, sagte er. »Vielleicht später. Wo kommst du her?«
»Aus Houl.«
»Direkt von dort?«
»Ja… und warum fragst du?«
»Gut«, sagte er, als ob er meine letzten Worte nicht gehört hätte. Er sah mich unbeweglich vielleicht fünf Sekunden lang an, als wollte er sich meiner Anwesenheit versichern, sein Blick war völlig ausdruckslos - aber nun ahnte ich schon, daß etwas vorgefallen war. Nur wußte ich nicht, ob er es mir sagen würde. Sein Benehmen war nie vorauszusehen. Ich überlegte, wie ich am besten anfangen sollte, und er betrachtete mich inzwischen mit steigender Aufmerksamkeit, geradezu so, als hätte ich mich ihm in einer ganz unbekannten Gestalt gezeigt.
»Was macht Vabach?« fragte ich, als sich diese stumme Betrachtung schon über Gebühr hinauszog. »Er fuhr mit Gimma zusammen.«
Nicht das bedeutete meine Frage, und er wußte es, aber ich war nicht wegen Vabach hergekommen. Wieder ein Schweigen. Ich fing schon an, meinen Beschluß zu bereuen.
»Ich hörte, daß du dich verheiratet hast«, sagte er plötzlich, wie leichthin.
»Jawohl«, antwortete ich, vielleicht allzu trocken.
»Hat dir nur gutgetan.«
Um jeden Preis versuchte ich, ein anderes Thema zu finden.
Außer Olaf kam mir aber nichts in den Kopf, und noch wollte ich ihn darüber nicht befragen. Ich hatte Angst vor Thurbers Lächeln
- ich wußte noch, wie er damit Gimma - und nicht nur Gimma allein - zur Verzweiflungbringen konnte, aber er hob nur leicht die Augenbrauen und fragte:
»Und was hast du für Pläne?«
»Gar keine«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Und möchtest du etwas tun?«
»Ja. Aber nicht irgend etwas.«
»Hast du bisher nichts getan?«
Jetzt wurde ich sicher schon rot. Ich war wütend. »So gut wie nichts. Thurber… ich.., ich bin nicht in meinen eigenen Angelegenheiten hergekommen.«
»Das weiß ich«, sagte er ruhig. »Staave, wie?«
»Ja.«
»Da steckte ein gewisses Risiko drin«, sagte er und stieß sich
leicht vom Schreibtisch ab. Der Sessel drehte sich gehorsam in meine Richtung.
»Oswamm hat das Schlimmste erwartet, besonders als Staave seinen Hypnagog weggeworfen hat.., du hast deinen übrigens auch nicht benutzt, wie?«
»Oswamm«, meinte ich, »was für ein Oswamm… ja, warte mal
- der vom ADAPT?«
»Ja. Am meisten war er über Staave beunruhigt. Ich habe ihn dann über diesen Irrtum aufgeklärt.« »Wie - aufgeklärt?«
»Aber Gimma bürgte für euch beide…«, beendete Thurber seinen Satz, so als hätte er mich die ganze Zeit über nicht gehört. »Was?!« rief ich und erhob mich von meinem Sitz. »Gimma?!«
»Selbstverständlich wußte er selber nichts«, Thurber spann weiter seinen Faden. »Und sagte es mir auch.«
»Ja, warum bürgte er denn, zum Teufel!« schrie ich, durch seine Worte verwirrt.
»Er meinte, er müßte es«, erklärte Thurber kurz. »Der Expeditionsleiter müßte seine Leute kennen.« » Unsinn. «
»Ich wiederhole nur, was er Oswamm gesagt hat.«
»So?« sagte ich. »Und dieser Oswamm - wovor hat er Angst? Daß wir rebellieren würden, oder was?«
»Und hattest du nie Lust dazu?« fragte Thurber ruhig.
Ich überlegte ehrlich. »Nein«, sagte ich endlich. »Im Ernst nie.« »Und wirst du deine Kinder betrisieren lassen?«
»Und du?« fragte ich langsam.
Er lächelte zum ersten Mal mit einem Zucken seiner blutleeren Lippen, sagte aber kein Wort.
»Hör zu, Thurber… erinnerst du dich noch an den Abend nach dem letzten Erkundungsflug über Beta… als ich dir sagte…« Gleichgültig nickte er. Und plötzlich war meine Ruhe wie weggeblasen.
»Damals habe ich dir nicht alles gesagt, weißt du. Wir waren dort zusammen, hatten aber nicht die gleichen Rechte. Ich gehorchte euch, dir und Gimma, weil ich es selber wollte. Alle wollten es, Venturi, Thomas, Ennesson und Arder, dem Gimma keine Reserve gab, weil er sie für eine besondere, bessere Gelegenheit behielt. In Ordnung. Nur - mit welchem Recht redest du jetzt zu mir so, als ob du die ganze Zeit über hier auf diesem Stuhl geses-sen hättest? Du warst es doch, der Arder im Namen der Wissenschaft da hinunter auf Kerenea geschickt hat, Thurber, und ich habe ihn da im Namen seiner unglückseligen Gedärme wieder herausgeholt, wonach wir zurückkehrten. Und nun stellt sich heraus, daß nur das Recht jener Gedärme geblieben ist. Nur dieses zählt jetzt noch: das andere nicht. Also sollte ich dich vielleicht nun fragen, wie es dir geht, und mich für dich verbürgen und nicht umgekehrt? Was meinst du? Ich weiß genau, was du meinst. Du hast einen ganzen Haufen von Material mitgebracht, kannst dich dahinter bis ans Ende deines Lebens verschanzen und weißt bestimmt, daß keiner von diesen Überhöflichen dich je fragen wird: >Und wieviel hat diese Spektralanalyse denn gekostet? Einen Mann? Zwei Männer? Meinen Sie nicht, Herr Professor Thurber, daß es etwas zu kostspielig war?< Keiner wird dir das sagen, weil die mit uns nichts zu verrechnen haben. Aber Venturi hat da was. Und Arder und Ennesson. Und Thomas. Womit wirst du nun zahlen, Thurber? Mit der Aufklärung Oswamms - über mich? Und Gimma - mit seiner Bürgschaft für Olaf und mich?
Als ich dich zum ersten Mal sah; machtest du genau dasselbe wie heute. Das war in Apprenous. Du hast bei deinen Papieren gesessen und so geglotzt wie jetzt eben: in der Pause zwischen wichtigeren Dingen - im Namen der Wissenschaft…«
Ich stand auf. »Danke Gimma, daß er sich so für uns einsetzte… «
Thurber stand ebenfalls auf. Wir maßen uns mit den Blicken, vielleicht eine Sekunde lang. Er war kleiner als ich, aber das war nicht spürbar. Seine körperliche Größe war gar nicht von Bedeutung. Sein Blick war die Ruhe selbst.
»Erteilst du mir nun das Wort, oder bin ich schon verurteilt?« fragte er.
Ich brummte irgend etwas Unverständliches.
»Dann setz dich«, sagte er, und ohne darauf zu warten, fiel er selbst schwer zurück in seinen Sessel. »Irgend etwas hast du also doch gemacht«, sagte er in einem Ton, als ob wir bisher nur über das Wetter gesprochen hätten. »Du hast Starck gelesen, ihm geglaubt, hältst dich nun für betrogen und suchst die Schuldigen. Sollte dir daran wirklich liegen, so bin ich bereit, die Schuld auf mich zu nehmen. Aber nicht darum geht es. Starck hat dich überzeugt- nach diesen ganzen zehn Jahren? Bregg - ich wußte wohl, daß du ein Hitzkopf bist, vermutete aber nie, daß du dumm wä-
rest.« Er schwieg eine Weile. Und ich - komischerweise - fühlte zugleich Erleichterung wie ein Vorgefühl der Erlösung. Ich hatte keine Zeit mehr, über mich selbst nachzudenken, denn nun sprach er schon wieder:
»Ein Kontakt der galaktischen Zivilisationen? Wer hat dir davon erzählt? Keiner von uns und keiner der Klassiker, weder Merquier, noch Simoniadi, noch Rag Ngamieli- niemand, keine Expedition rechnete mit einem Kontakt, und daher ist dieses ganze Gequassel über Archäologen, die da in der Leere herumreisen, über jene ewig verspätete Post der Galaxis, eine Bekämpfung von Thesen, die niemand je aufgestellt hat. Was kann man denn von den Sternen haben? Und was war der Nutzen der Expedition von Amundsen? Von Andree? Der einzige konkrete Nutzen beruhte darin, daß eine - Möglichkeit bewiesen worden ist. Daß man so etwas tun kann. Und genauer gesprochen- daß dies, für die gegebene Zeit, das Schwierigste ist, was man erreichen kann. Ich weiß nicht, ob wir sogar das gemacht hatten, Bregg. Weiß es wirklich nicht. Aber wir sind dort gewesen.«
Ich schwieg. Thurber sah mich nicht mehr an. Er stützte die Fäuste auf den Schreibtischrand.
»Was hat dir denn Starck bewiesen - die Nutzlosigkeit der Kos-modromie? Als ob wir es selbst nicht wußten! Und die Pole? Was gab es an den Polen? Diejenigen, die sie eroberten, wußten ge -nau, daß es dort nichts gibt. Und der Mond? Was suchte wohl die Ross-Gruppe in dem Erastrotenes-Krater? Brillanten? Und wozu sind Bant und Jegorin durch das Zentrum der Merkurscheibe gegangen? Um schön braun zu werden? Und Kellen und Offshag-das einzige, was sie wußten, als sie auf die kalte Zerberus-Wolke zuflogen, war, daß man dort umkommen kann. Bist du dir im klaren, was Starck wirklich sagt? Der Mensch muß essen, trinken und sich kleiden; alles andere ist Irrsinn. Jeder hat seinen eigenen Starck, Bregg. Jedes Zeitalter hatte ihn. Wozu hat denn Gimma euch beide mit Arder hinausgeschickt? Damit ihr Proben mit dem Koronasauggerät holt. Aber wer schickte Gimma? Die Wissenschaft. Wie sachlich das doch klingt - nicht? Die Erkundung der Sterne.
Bregg, glaubst du, daß wir geflogen wären, wenn es sie nicht gegeben hätte? Ich glaube, schon. Wir hätten dann die Leere kennenlernen wollen, um das Ganze irgendwie zu rechtfertigen. Geonides oder irgendein anderer würde uns sagen, was für wertvolle Messungen und Erkundungen man da unterwegs machen kann. Versteh mich richtig. Ich behaupte nicht, daß die Sterne nur ein Vorwand sind… Der Pol ist es ja auch nicht gewesen, Nansen und Andree brauchten ihn… Der Everest war für Mallory und Irving nötiger als die Luft selbst. Du sagst, ich hätte euch Befehle
- im Namen der Wissenschaft - erteilt? Aber du weißt doch, daß das nicht stimmt. Du wolltest mein Gedächtnis auf die Probe stellen. Vielleicht probiere ich nun das deine aus? Erinnerst du dich an den Thomas-Planetoiden?« Ich zuckte zusammen.
»Du hast uns damals belogen. Du bist ein zweites Mal hingeflogen, obwohl du wußtest, daß er nicht mehr lebte. Stimmt’s?«
Ich schwieg.
»Hab es mir schon damals gedacht. Ich sprach mit Gimma nicht darüber, nehme aber an, er wußte es auch. Wozu bist du denn noch mal geflogen, Bregg? Das war doch nicht mehr Arkturus oder Kerenea, und es gab dort niemanden mehr zu retten. Wozu wolltest du also hin - Mensch?«
Ich schwieg. Thurber lächelte unmerklich.
»Weißt du, was unser Pech war, Bregg? Die Tatsache, daß wir Erfolg hatten und jetzt hier sitzen. Der Mensch kehrt immer mit leeren Händen zurück…«
Er verstummte. Sein Lächeln wurde zu einer Grimasse, fast gedankenlos. Eine Weile atmete er lauter, ballte beide Fäuste am Schreibtischrand. Ich schaute ihn an, als hätte ich ihn zum ersten Mal gesehen - denn nun dachte ich: >Er ist schon alt.< Diese Entdeckung war ein Schock für mich. Nie kam mir vorher ein solcher Gedanke in Verbindung mit ihm - er war für mich stets alterslos gewesen…
»Thurber«, sagte ich leise, »hör mal.., aber das.., das ist ja eine Grabrede. Über dem Grab dieser.., dieser Unersättlichen. Die gibt es nicht mehr. Und wird sie auch nicht geben. Also - trotz allem - gewinnt Starck hier die Oberhand…«
Er zeigte wohl die Spitzen seiner flachen, gelben Zähne, aber es war kein Lächeln.
»Bregg, gib mir dein Ehrenwort, daß du das, was ich dir jetzt sagen werde, niemandem weitererzählen wirst.« Ich zögerte noch. »Niemandem«, wiederholte er mit Nachdruck.
»Gut.«
Er stand auf, ging in die Ecke, holte eine Papierrolle und kam damit zum Schreibtisch zurück.
Das Papier raschelte in seinen Händen, als er es entrollte. Ich sah einen roten wie mit Blut gezeichneten aufgeschnittenen Fisch.
»Thurber!«
»Ja«, meinte er ruhig, indem er mit beiden Händen die Papiere wieder zusammenrollte.
»Eine neue Expedition?«
»Ja«, wiederholte er. Ging zur Ecke, stellte dort die Rolle auf, lehnte sie gegen die Wand, wie eine Waffe. »Wann? Wohin?« »Nicht so bald. Zum Zentrum.«
»Schützen-Wolke…«, flüsterte ich.
»Ja. Die Vorbereitungen werden etwas dauern. Aber dank der Anabiose… «
Er sprach weiter, aber mich erreichten nur einzelne Worte:
»Flug in der Schlinge«, »gravitationsfreie Akzeleration« - und die Aufregung, die mich überkam, als ich die von den Konstrukteuren aufgezeichnete Gestalt des großen Geschosses sah, schlug in eine unerwartete Mattigkeit um, mit der ich - wie durch hereinbrechende Dunkelheit - meine eigenen Hände betrachtete, die auf meinen Knien lagen. Thurber hörte zu sprechen auf, schielte zu mir hin, ging an den Schreibtisch und fing an, seine Papiermappen zusammenzulegen, als ob er mir Zeit geben wollte, diese ungewöhnliche Nachricht zu verdauen. Ich hätte ihn mit Fragen überschütten sollen - wer von uns, von den Alten, wohl fliegen würde, wie viele Jahre diese Expedition verschlingen sollte, welches ihre Ziele waren. Aber ich stellte keine Fragen. Sogar weshalb das Ganze als Geheimnis betrachtet wurde, wollte ich nicht wissen.
Ich sah seine großen, vergröberten Hände an, auf denen sich sein vorgerücktes Alter deutlicher als auf seinem Gesicht abzeichnete, und meine Benommenheit vermischte sich mit einer Spur von Genugtuung, die ebenso unerwartet wie unschön war:
- daß er ganz bestimmt nicht mehr mitfliegen würde. >Ihre Rückkehr werde auch ich nicht mehr erleben, auch wenn ich das Alter von Methusalem erreichen sollte<, dachte ich. Ach, egal. Das hatte alles schon keine Bedeutung mehr. Ich stand auf.
Thurber raschelte mit seinen Papieren.
»Bregg«, sagte er - ohne den Blick zu heben, »ich habe hier noch etwas zu tun, aber wenn du willst, können wir zusammen zu Abend essen. Übernachten kannst du im Dormitorium, es steht jetzt leer.«
Ich murmelte »gut« und ging zur Tür. Er arbeitete schon, als ob ich nicht mehr da wäre. Ich stand eine Weile an der Schwelle und ging dann hinaus. Eine Zeitlang wußte ich nicht so recht, wo ich war, bis ich ein deutliches rhythmisches Klopfen hörte - das Echo meiner eigenen Schritte. Ich blieb stehen.
Ich befand mich in der Mitte eines langen Ganges, zwischen einer Doppelreihe ganz gleicher Türen. Das Echo der Schritte war immer noch zu hören. Eine Illusion? Ging denn jemand hinter mir her? Ich drehte mich um und sah in einer entfernten Tür eine hohe Silhouette verschwinden. Es war so kurz, daß ich eigentlich nicht diesen Menschen, sondern lediglich die Bewegung sah, einen Teil seines schwindenden Rückens und die sich schließende Tür.
Ich hatte hier nichts zu tun. Weiterzugehen war sinnlos - der Gang endete blind. Ich kehrte um, ging an einem hohen Fenster vorbei. Über dem schwarzen Parkmassiv stand der silberne Lichtschein der Stadt. Wieder hielt ich bei der Tür mit dem Zettel »Hier, Bregg« an, hinter der Thurber arbeitete. Ich wollte ihn nicht mehr sehen. Hatte ihm nichts zu sagen- er mir ja auch nicht. Wozu war ich überhaupt hergekommen? Plötzlich, mit Staunen, erinnerte ich mich daran. Man sollte hineingehen und nach Olaf fragen.
Aber nicht jetzt. Nicht in diesem Moment. Ich ging auf die Treppe zu. Ihr gegenüber befand sich die letzte Tür in dieser Reihe, eben die, in der vor kurzem der unbekannte Mann verschwunden war. Ich konnte mich erinnern, daß ich gleich am Anfang, als ich in dieses Gebäude kam und Thurber suchte, in dieses Zimmer hineinsah: ich erkannte den schrägen Lackkratzer wie -der. In diesem Zimmer war nichts. Was also suchte der Mensch, der da hineinging?
Ich war ganz sicher, daß er da nichts zu suchen hatte, sich aber vor mir verbergen wollte. Ich stand eine lange Zeit, unschlüssig, gegenüber der leeren, mit einem weißen, unbeweglichen Licht beleuchteten Treppe. Langsam, Zoll für Zoll, drehte ich mich um. Ich wurde vom einer eigenartigen Unruhe befallen, es war aber eigentlich keine Unruhe - ich fühlte mich ganz wie nach der In-
jektion eines Betäubungsmittels; gespannt, obwohl ruhig, machte ich noch zwei Schritte, schloß halb die Augen - und dann schien ich - von der anderen Türseite - jemanden atmen zu hören. Es war nicht möglich. >Nun gehe ich<, nahm ich mir vor, aber auch das war ebenfalls schon unmöglich: zuviel Aufmerksamkeit hatte ich dieser Tür gewidmet, um so ganz einfach fortzugehen. Ich schritt auf sie zu und sah hinein.
Unter einen kle inen Deckenlampe stand in der Mitte des leeren Zimmers Olaf. Er hatte seinen alten Anzug mit hochgekrempelten Ärmeln an, als hätte er erst vor kurzem die Werkzeuge hingeworfen.
Wir sahen uns an. Als er merkte, daß ich nicht die Absicht hatte, als erster zu sprechen, tat er es endlich selbst.
»Wie geht es dir, Hal…?« Seine Stimme klang nicht ganz sicher. Ich wollte ihm nichts vormachen, war ganz einfach von den Umständen dieses unerwarteten Zusammentreffens überrascht. Vielleicht war auch die betäubende Einwirkung von Thurbers Worten noch nicht vergangen. Jedenfalls gab ich keine Antwort. Ich ging zum Fenster, von dem aus die gleiche Sicht auf den schwarzen Park und den Lichtschein der Stadt möglich war, drehte mich dann um und setzte mich halb auf die Fensterbank.
Olaf rührte sich nicht. Er stand noch immer in der Mitte des Zimmers, aus dem Buch, das er in der Hand hielt, schob sich ein Stück Papier heraus und segelte auf den Boden herab. Wir bückten uns beide gleichzeitig danach, und ich sah die Entwurfszeichnung des gleichen Geschosses, das mir vor kurzem Thurber zeigte. Darunter standen Anmerkungen in Olafs Handschrift. >Wahrscheinlich ging es darum<, dachte ich. Er sprach nicht, weil er selber fliegen würde und mir diese Nachricht ersparen wollte. Ich muß ihm sagen, daß er sich irrt, weil mir an dieser Expedition überhaupt nichts liegt. Von den Sternen habe ich genug, und außerdem habe ich schon alles von Thurber erfahren, also kann er mit reinem Gewissen mit mir reden.
Mit der Zeichnung in der Hand sah ich aufmerksam ihre Linien an, als ob ich die Geschwindigkeit der Rakete erkennen wollte, sagte aber kein Wort, gab ihm nur das Papier zurück, das er mit einem gewissen Zögern entgegennahm, faltete und ins Buch steckte. All das geschah schweigend. Ich bin sicher, daß es nicht beabsichtigt war, aber diese Szene - vielleicht gerade weil sie sich schweigend abspielte - gewann eine symbolische Bedeutung. Ich
mußte seine geplante Anteilnahme an der Expedition ohne Enthusiasmus, aber auch ohne Leid akzeptieren.
Als ich seine Augen suchte, sah er weg- um mich gleich darauf scheel anzuschauen - war es Unsicherheit oder Verwirrung? Sogar jetzt, als ich schon alles wußte? Die Stille in dem kleinen Raum wurde unerträglich. Ich hörte sein etwas beschleunigtes Atmen. Er hatte ein müdes Gesicht» und seine Augen waren nicht so lebhaft wie damals, als ich ihn zum letzten Mal sah. Als hätte er viel gearbeitet und nur wenig geschlafen, aber es stand darin auch ein anderer Ausdruck, den ich nicht kannte.
»Mir geht’s gut«, sagte ich, »und dir?«
Sobald diese Worte fielen, merkte ich, daß es für sie schon zu spät war; richtig hätten sie gleich nach meinem Hereinkommen geklungen, jetzt aber klangen sie wie ein Vorwurf oder gar wie Spott.
»Warst du bei Thurber?« fragte er.
»Ja.«
»Die Studenten sind weggefahren.., jetzt ist keiner mehr da, man hat uns das ganze Gebäude gegeben…«, fing er wie unter einem Zwang zu sprechen an.
»Damit ihr den Expeditionsplan ausarbeiten könnt?« fragte ich, worauf er prompt antwortete:
»Ja, Hal, ja. Na, du wirst doch wissen, was das für eine Arbeit ist. Vorerst sind wir nur wenige, aber wir haben großartige Maschinen, diese Automaten, weißt du…« »Das ist schön.«
Nach diesen Worten entstand wieder Stille. Und - seltsam - je länger sie dauerte, desto deutlicher wurde Olafs Unruhe, seine übertriebene Unbeweglichkeit, denn er stand immer noch ganz starr in der Mitte des Zimmers, direkt unter der Lampe, wie auf das Schlimmste gefaßt. Ich wollte dem ein Ende setzen.
»Hör mal«, sagte ich ganz leise, »wie hast du dir das eigentlich vorgestellt?… Eine Vogel-Strauß-Politik zahlt sich doch nicht aus… Du hast wohl kaum angenommen, daß ich es ohne dich nie erfahren würde?«
Ich stockte, und er schwieg, den Kopf seitlich gesenkt. Ich hatte ganz entschieden übertrieben; denn er war keineswegs schuldig, und ich selbst hätte wahrscheinlich an seiner Stelle kaum anders gehandelt. Ich nahm ihm auch nicht im mindesten sein über einen Monat andauerndes Schweigen krumm. Es ging mir nur um sei-nen Fluchtversuch, darum, wie er sich vor mir in diesem leeren Zimmer versteckte, als er mich von Thurber kommen sah. Aber das traute ich mich nicht, ihm direkt zu sagen. Ich hob die Stimme, schimpfte ihn einen Dummkopf, aber sogar dann hat er sich nicht zu verteidigen versucht.
»Also meinst du, da wäre überhaupt nichts darüber zu sagen?!« warf ich gereizt ein.
»Das hängt von dir ab…«
»Wieso von mir?«
»Von dir«, wiederholte er hartnäckig. »Das Wichtigste war, von wem du es erfahren würdest…«
»Meinst du wirklich?«
»So schien es mir…«
»Ist doch egal…«, murmelte ich.
»Was… willst du tun?« fragte er leise.
»Nichts.«
Olaf sah mich mißtrauisch an. »Hal, ich will doch…«
Er beendete den Satz nicht. Ich fühlte, daß ich ihm durch meine Anwesenheit allein Folterqualen aufbürdete, konnte ihm aber immer noch nicht diese plötzliche Flucht verzeihen. Und weggehen, jetzt, wortlos, wäre noch schlimmer als die Unsicherheit, die mich hierherbrachte. Ich wußte ja nicht, was ich sagen sollte - alles, was uns miteinander verband, war verboten. Ich sah ihn an, gerade in einem Moment, wo auch er mich ansah - jeder von uns rechnete sogar jetzt noch auf die Hilfe des anderen…
Ich glitt von der Fensterbank herunter.
»Olaf… es ist schon spät. Ich gehe.., denke bloß nicht, daß… ich dir irgendwas übelnehme, nichts dergleichen. Übrigens werden wir uns noch treffen, vielleicht besuchst du uns mal«, sagte ich mühevoll, denn jedes dieser Worte war unnatürlich, und er spürte es.
»Wie… willst du nicht mal über Nacht hierbleiben?«
»Ich kann nicht, weißt du, ich habe es versprochen…«
Ihren Namen sprach ich nicht aus.
Olaf brummte: »Wie du willst. Ich bringe dich noch zur Tür.«
Wir gingen zusammen aus dem Zimmer, dann die Treppe hinunter, draußen herrschte schon völlige Dunkelheit. Olaf ging schweigend neben mir. Plötzlich blieb er stehen. Auch ich hielt inne.
»Bleib hier«, flüsterte er verschämt. Ich sah nur den undeutli-chen Flecken seines Gesichts.
»Gut«, stimmte ich unerwarteterweise zu und machte kehrt. Er war darauf nicht vorbereitet. Stand noch eine Weile da, faßte mich dann an der Schulter und führte mich zu einem anderen, niedrigen Gebäude: In einem leeren, nur mit ein paar noch brennenden Lampen beleuchteten Saal aßen wir am Büfett zu Abend, ohne uns zu setzen. Während dieser ganzen Zeit wechselten wir kaum zehn Worte. Dann gingen wir wieder in den ersten Stock. Das Zimmer, in das er mich brachte, war fast genau quadratisch, mattweiß, mit einem breiten Fenster zum Park hinaus, aber von einer anderen Seite, das Leuchten der Stadtlichter über den Bäumen sah ich nicht mehr; es gab darin ein frischgemachtes Bett, zwei kleine Sessel, einen dritten, größeren, mit der Lehne dicht an der Fensterbank. Durch eine schmale, halboffene Tür glitzerten die Kacheln des Badezimmers. Olaf stand mit herabhängenden Armen an der Schwelle, als wartete er auf irgendein Wort von mir. Da ich schwieg, im Zimmer auf und ab ging und rein mechanisch die Möbel berührte, um sie dadurch zeitweilig in Besitz zu nehmen, fragte er leise:
»Kann… kann ich etwas für dich tun?«
»Ja«, sagte ich, »laß mich allein.«
Er stand weiter da, rührte sich nicht vom Fleck. Sein Gesicht überzog sich plötzlich mit flammendem Rot, nach dem gleich eine Blässe kam, dann ein Lächeln- mit dem er diese Schmach zu verdecken versuchte. Denn meine Worte klangen ja beleidigend. Dieses ratlose, klägliche Lächeln brach etwas in mir: bei dem Versuch, krampfhaft die Maske der Gleichgültigkeit, die ich annahm, weil ich nichts anderes mehr tun konnte, loszuwerden, sprang ich auf ihn zu, als er sich schon umgedreht hatte, um zu gehen. Ich faßte seine Hand und zerquetschte sie beinahe. Dieser heftige Druck war meine Entschuldigung. Olaf, ohne sich umzuwenden, antwortete mit dem gleichen Druck und ging. Ich spürte noch seinen harten Griff in meiner Hand, als er schon die Tür hinter sich so leise schloß, als verließe er ein Krankenzimmer. Ich blieb allein, wie ich es gewollt hatte.
Das Haus lag in völliger Stille. Ich hörte nicht einmal Olafs sich entfernende Schritte; in der Fensterscheibe zeichnete sich schwach meine eigene, schwere Gestalt ab, aus einer unbekannten Quelle floß warme Luft herbei, und über die Konturen meines Abbilds sah ich die dunkle Grenze der Bäume, die in der Finsternis verschwand- noch einmal umfaßte ich das ganze Zimmer mit dem Blick und setzte mich dann in den großen Sessel am Fenster. Die Herbstnacht war eben erst gekommen. An Schlafen konnte ich nicht einmal denken. Ich stand wieder auf. Die hinter dem Fenster herrschende Dunkelheit mußte voller Kühle und dem Rauschen der blätterlosen, sich reibenden Zweige sein - urplötzlich wollte ich dorthin, in der Dunkelheit herumirren, in ihrem durch niemand vorgeplanten Chaos. Schnell verließ ich das Zimmer.
Der Gang war leer. Zur Treppe ging ich auf den Zehenspitzen, was wohl eine übertriebene Vorsicht war. Olaf war sicher schon zur Ruhe gegangen, und Thurber, falls er noch arbeitete, saß in einem anderen Stockwerk, in einem entfernten Flügel dieses Gebäudes. Ich lief hinunter, schon ohne auf meine lauten Schritte zu achten, dann hinaus und ging schnell vorwärts.
Ich wählte keine Richtung, ging nur so, daß die Stadtlichter nach Möglichkeit abseits blieben. Die Parkalleen brachten mich bald an seine Grenzen, die von einer Hecke eingefaßt waren. Ich fand mich auf der Straße, die ich noch eine Zeitlang weiterging, bis ich plötzlich stehenblieb. Ich wollte diese Straße verlassen, denn sie führte zu irgendeiner Siedlung, zu Menschen, und ich wollte allein sein.
Ich erinnerte mich an das, was mir Olaf noch in Klavestra über Malleolan, jene neue Stadt, nach unserem Abflug in den Bergen errichtet, erzählt hatte; einige Kilometer der Straße, die ich gegangen war, bestanden tatsächlich fast nur aus Serpentinen und Kurven, die wahrscheinlich die Hügelhänge mieden, aber bei der herrschenden Dunkelheit konnte ich mich auf die eigenen Augen nicht verlassen. Die Straße war - wie alle - nicht beleuchtet, da ihre Fahrbahn selbst zu matt phosphoreszierte, um die einige Schritte von ihr wachsenden Sträucher erkennen zu lassen. Ich wich also von ihr ab, blindlings gelangte ich in das Dickicht eines kleinen Wäldchens, das mich steil auf eine größere, baumlose Anhöhe führte - ich merkte es, weil der Wind hier ohne Hindernisse tobte. Einige Male sah ich aus der Ferne die blasse Schlange der verlassenen Straße tief unten, und dann schwand auch dieses letzte Licht; ich blieb zum zweiten Male stehen, versuchte - nicht so sehr mit meinen machtlosen Augen, wie mit dem ganzen Körper und dem Gesicht, das ich dem Wind zukehrte -, mich in dieser unbekannten Umgebung zurechtzufinden. Wie auf einem frem-den Planeten. Ich wollte über den kürzesten Weg auf einen der Gipfel gelangen, die das Tal umstanden, wo die Stadt lag - in welcher Richtung aber? Plötzlich, als mir das Ganze hoffnungslos schien, hörte ich von rechts oben ein langanhaltendes, fernes Rauschen. Es erinnerte vage an die Stimme der Wellen… nein, es war das Rauschen des Waldes, des Windes, der hoch über dem Platz wehte, an dem ich nun stand. Das war meine Richtung.
Der Hang, mit altem, trockenem Gras bewachsen, führte mich zu den ersten Bäumen. Mit ausgestreckten Armen umging ich sie, mein Gesicht vor den dornigen Zweigen schützend. Bald war die Anhöhe nicht mehr so steil, die Bäume schwanden, wieder mußte ich meine Marschrichtung wählen. Ich horchte in die Dunkelheit, wartete geduldig auf einen weiteren, stärkeren Windstoß.
Da ließ sich eine Stimme aus dem Raum hören: von den fernen Höhen kam ein langes, pfeifendes Heulen. Ja, der Wind war mein Verbündeter in dieser Nacht; ich ging querfeldein, ohne zunächst darauf zu achten, daß ich an Höhe verlor, ziemlich steil wieder in die Tiefe einer schwarzen Schlucht gelangte. Rhythmisch fing ich dann wieder an, aufzusteigen, wobei mir ein plätscherndes Bächlein den Weg wies. Ich sah es nicht ein einziges Mal, es lief vielleicht unter einer Felsenschicht, und diese Stimme des fließenden Wassers wurde auch leiser, je höher ich stieg, endlich verstummte sie ganz, und nochmals umzingelte mich der Wald mit hohen Stämmen. Der Waldboden war fast ohne Moos und Gras, nur mit einer kissenweichen Schicht alter Nadeln bedeckt.
Diese Wanderung in der vollständigen Dunkelheit dauerte wohl drei Stunden: die Wurzeln, über die ich stolperte, wuchsen immer öfter um große, aus der seichten Bodenschicht ragende Felsbrok-ken. Ich begann zu fürchten, daß der Gipfel mit Wald bewachsen sein würde und in seinem Labyrinth die kaum angefangene Bergwanderung ein Ende finden müßte. Aber ich hatte Glück - durch einen kahlen kleinen Paß kam ich auf ein mit Steinen übersätes Feld. Immer spitzer wurden diese Steine, endlich konnte ich kaum noch stehen, da sie unter meinen Füßen geräuschvoll zu rollen anfingen. Von einem Bein aufs andere springend, oft auch hinfallend, gelangte ich auf die Nebenschwelle einer immer enger werdenden Felsrinne und dann schon schneller nach oben.
Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen und versuchte herumzuschauen - aber die herrschende Dunkelheit ließ das überhaupt nicht zu. Ich sah weder die Stadt noch ihre Lichter, auch von der
leuchtenden Straße, die ich gekommen war, keine Spur mehr -die Felsrinne führte mich auf eine kahle Stelle, die nur mit dürrem Gras bewachsen war; der sich stets vergrößernde Sternenhimmel verriet mir, daß ich jetzt ziemlich hoch war. Andere, ihn verdek-kende Berggipfel fingen wohl an, sich dem anzugleichen, den ich erklommen hatte. Einige hundert Schritte weiter kam ich zwischen die ersten Gruppen der Zwergkiefern.
Hätte mich irgend jemand in dieser Dunkelheit angehalten und gefragt, wohin ich gehe, so wäre ich keiner Antwort fähig gewesen. Zum Glück war keiner da. Dunkelheit und Einsamkeit dieses Nachtmarsches wirkten erleichternd, wenn mir das auch nur halb bewußt wurde.
Der Hang schien immer steiler, zu klettern wurde es immer schwerer, aber ich achtete nur darauf, nicht vom Weg abzukommen, als hätte ich wirklich ein gestecktes Ziel vor mir. Mein Herz schlug stark, meine Lungen keuchten, und ich gelangte hoch und höher, wie benommen. Instinktiv spürte ich, daß eben eine solche Anstrengung für mich notwendig war. Ich riß die verworrenen Zweige der Zwergkiefern auseinander, blieb manchmal in ihrem Dickicht stecken, befreite mich mit Gewalt und ging weiter. Die Nadeln zerkratzten mein Gesicht, meine Brust, hakten sich in meine Kleider ein, meine Finger waren schon ganz verklebt von Harz. Auf einer freien Stelle traf mich unerwartet der Wind, griff mich in der Dunkelheit an, tobte ungehindert und pfiff irgendwo, hoch oben, wo ich mir einen Bergpaß vorstellen konnte. Inzwischen wurde ich von weiteren, dicken Zwergtannengruppen verschlungen. Wie Inseln ruhten darin unsichtbare Schichten einer gewärmten, reglosen Luft, stark mit ihrem Duft gesättigt. Auf meinem Weg wuchsen unsichtbare Hindernisse auf - Felsbrok-ken, Felder kleiner, unter den Füßen wegrollender Steine.
Ich mußte so wohl schon ein paar gute Stunden gegangen sein, spürte in mir aber immer noch genug Kräfte. Dabei war ich am Verzweifeln: die Felsrinne, die zu dem unbekannten Bergpaß oder vielleicht auch zum Gipfel führte, wurde jetzt so schmal, daß ich auf dem Hintergrund des Himmels zugleich ihre beiden Seiten sah - hochgereckt, löschte sie mit ihren dunklen Rändern die Sterne.
Längst hatte ich die Sphäre der Nebel unter mir gelassen, aber diese kühle Nacht war mondlos, die Sterne gaben nur wenig Licht. Um so mehr erstaunte ich, als über mir und um mich lange, weißliche Gestalten erschienen. Sie ruhten in der Dunkelheit, ohne sie zu erhellen, als ob sie nur das Tageslicht eingesogen hatten- erst das erste rauhe Knirschen unter den Sohlen machte mir klar, daß ich auf Schnee trat.
Er bedeckte mit einer dünnen Schicht fast den ganzen Rest des steilen Hangs. Ich war nur leicht bekleidet und wäre wohl bis auf die Knochen erfroren, aber unerwarteterweise legte sich der Wind. Um so deutlicher erklang in der Luft das Echo meiner Schritte - bei jedem durchbrach ich die Schale des alten Schnees und sank bis zur halben Wade ein.
Auf dem Bergpaß selbst war schon fast kein Schnee mehr. Ganz leergefegt standen über dem Steinfeld schwarze riesige Felsbrok-ken. Ich hielt mit klopfendem Herzen inne und schaute in Richtung Stadt. Sie war durch den Hang verdeckt, nur die rötlich durchlichtete Dunkelheit verriet ihre Lage im Tal. Ich ging noch ein paar Schritte und setzte mich dann auf einen sattelförmigen Brocken. Auf ihm lag etwas Schnee, der angeweht worden war. Jetzt sah ich nicht einmal die letzten Lichtspuren der Stadt. Vor mir stiegen in der Dunkelheit die Berge auf, gespenstisch, mit schneegekrönten Gipfeln.
Als ich aufmerksam den rechten Horizont betrachtete, sah ich einen Streifen ersten Tageslichts, der die Sterne verwischte - den Anfang eines neuen Morgens. Darin zeichnete sich der steile, in der Mitte geborstene Felsgrat ab. Und dann geschah plötzlich etwas mit meiner Reglosigkeit, die gestaltlose äußere Dunkelheit
- oder die, die in mir war? - fing an, ihren Platz zu wechseln, hinabzugleiten, ihre Proportionen zu verändern. Ich war davon so benommen, daß ich einen Augenblick lang fast das Augenlicht verlor, und als ich es wiedererlangte, sah ich alles ganz anders.
Der Himmel graute im Osten schwach über dem völlig dunklen Tal, vertiefte auch das Schwarz des Felsenarms, ich konnte aber blindlings auf jede seiner Unebenheiten, jede Lücke weisen, wußte schon, was für ein Bild der Tag mir enthüllen würde, denn dieses Bild war für immer und nicht umsonst in mir selbst eingezeichnet. Das war der unveränderte Besitz, den ich so herbeigesehnt hatte, der unangetastet geblieben war, während meine ganze Welt in der anderthalb Jahrhunderte alten Zeitschlucht zerfallen und verschwunden war:
Hier, in diesem Tal, hatte ich meine Jugendjahre verbracht - in der alten, hölzernen Herberge auf dem gegenüberliegenden,
grasbewachsenen Hang des Wolkenfängers. Von dem alten Bau war sicher nicht ein einziger Stein des Unterbaues mehr geblie -ben, die letzten Balken waren schon längst Staub geworden - und der Felsrücken stand trotzdem da, unverändert, als hätte er auf diese Begegnung gewartet. Hatte mich eine unklare, unbewußte Erinnerung in der Nacht gerade hierhergeführt?
Der Schock des Wiedererkennens setzte sofort meine ganze Schwäche frei, die ich so verzweifelt erst mit der vorgetäuschten Ruhe und dann mit der beabsichtigten zähen Klettertour maskiert hatte. Blindlings tastete ich zum Boden, schämte mich meiner zitternden Finger nicht und legte mir Schnee in den Mund, der auf der Zunge kalt auftaute, den Durst nicht löschte, nur meine Nüchternheit vergrößerte. So saß ich da, aß Schnee und traute der Sache immer noch nicht ganz, wartete noch auf die Bestätigung meiner Gedanken durch die ersten Sonnenstrahlen. Lange vor dem Sonnenaufgang flog von der Höhe, von den langsam schwindenden Sternen ein Vogel herunter, legte seine Flügel zusammen, wurde kleiner, setzte sich auf einen vorhängenden Felsbrocken und fing dann an, mir näherzurücken. Er hüpfte um mich herum und entfernte sich wieder, und als ich schon dachte, daß er mich nicht bemerkt hätte, kam er von der anderen Seite wieder um den Felsen, auf dem ich saß, herumgehüpft. Und so sahen wir uns eine Zeitlang an, bis ich halblaut sagte: »Ja, wo kommst du denn her?«
Ich merkte, daß er vor mir keine Angst hatte, und fing wieder an, Schnee zu essen. Er senkte das Köpfchen, schaute mich mit den schwarzen Perlen seiner Augen an, plötzlich aber, als’ hätte er mich lange genug angesehen, breitete er seine Flügel aus und flog davon. Ich aber, an die rauhe Felswand gelehnt, geduckt, mit vom Schnee ganz kalten Händen, wartete auf das Morgengrauen, und diese ganze Nacht kehrte in heftigen, unvollendeten Kurzbildern wieder: Thurber, seine Worte, dieses Schweigen zwischen mir und Olaf, die Stadtansicht, der rote Nebel und Offnungen in diesem Nebel, von Lichtkegeln gebildet, heiße Luftströmungen, das Ein- und Ausatmen eines Zersetzungsvorgangs von Millionen, die hängenden Alleen und Plätze, die Kelchbauten mit flammenden Flügeln, die Farben, die auf verschiedenen Ebenen dominierten.., meine Frage an den Vogel auf dem Bergpaß, auch die Tatsache, wie gierig ich den Schnee verschlang- und alle diese Bilder waren sie selber und waren es zugleich auch wieder nicht,
so wie es manchmal im Traum geschieht. Sie waren eine Erinnerung und eine Verfehlung der Dinge, die anzurühren ich mich nicht traute, weil ich die ganze Zeit hindurch versuchte, in mir selbst eine Zustimmung für das zu finden, dem ich nicht zustimmen konnte.
Alles das hatte es vorher gegeben wie einen langen Traum. Jetzt war ich wach und nüchtern, auf den Tag wartend, in einer Luft, die ganz silbern vor Grau wurde, vor den langsam hervortretenden strengen Felswänden, Felsgräten und Steinhalden, die als eine schweigende Bestätigung der Realität meiner Rückkehr aus der Nacht auftauchten. Zum ersten Mal allein, aber nicht fremd auf der Erde und schon ihren Gesetzen unterworfen, konnte ich -ohne Widerspruch und Reue -an die denken, die sich aufmachten, um das goldene Vlies der Sterne zu holen…
Der Gipfelschnee entbrannte in Gold und Weiß, stand über dem von violetten Schatten erfüllten Tal, mächtig und alterslos. Und ich, ohne die tränengefüllten Augen zu schließen, in denen sich dieses Licht brach, stand langsam auf und fing an, die Steinhalden hinabzusteigen, Richtung Süden, wo mein Haus war.