»Nein«, sagte ich. Meine Kehle war wie zugeschnürt.

»>… weil er als einziger hinuntergegangen ist. Ganz allein.< Keiner glaubte, daß man da hinabsteigen kann. Er selbst glaubte es auch nicht. Hast du denn geglaubt, daß du zurückkehrst?«

Ich schwieg.

»Siehst du, du Luder! >Er kehrt entweder mit mir zurück<, sagte er, >oder keiner von uns kommt wieder…< «

»Und dann kam ich allein…«, sagte ich.

»Du kamst dann allein. Ich kannte dich nicht wieder. Hab’ ich damals einen Schreck.gekriegt! Ich war unten bei den Pumpen.« »Du?«

»Ja. Und da sehe ich - einen Fremden. Einen wildfremden Mann. Ich dachte, ein Trugbild… dein Anzug war ja auch ganz rot.«

»Das war Rost. Meine Leitung war geborsten.«

»Weiß ich. Wem erzählst du das? Habe doch selber später diese Leitung geflickt. Wie du aussahst… Na, aber noch später…«

»Die Sache mit Gimma?«

»Ja. In den Protokollen steht sie nicht. Auch die Tonbänder wurden nach einer Woche - wohl von Gimma selbst - herausgeschnitten. Ich dachte, du würdest ihn erschlagen, damals.

Schwarzer Himmel.«

»Erzähl mir nicht davon«, sagte ich. Bald -spürte ich -würde mich ein Zittern überkommen. »Erzähl nicht weiter, Olaf, bitte!« »Stell dich nicht so an. Arder stand mir näher als dir.«

»Näher oder ferner - was heißt das hier schon! Was bedeutet das! Ein Dummkopf bist du. Hätte ihm Gimma nur eine Reserveeinlage mitgegeben, so könnte er jetzt hier mit uns sitzen! Gimma sparte aber dauernd an allem, hatte Angst, keine Transistoren mehr zu haben. Aber keine Leute mehr zu haben - davor hatte er keine Angst! Ich…« Ich brach ab. »Olaf! Das ist doch barer Irrsinn! Hören wir auf damit.«

»Hal, es scheint, daß wir damit nicht aufhören können. Minde-

stens, solange wir zusammen sind. Gimma hatte dann nie mehr… «

»Laß mich in Frieden mit Gimma, Olaf! Schluß, punktum. Ich will kein Wort mehr hören!«

»Und von mir selbst darf ich auch nicht sprechen?«

Ich zuckte die Achseln. Der weiße Roboter wollte den Tisch abräumen, sah aber nur von der Halle aus hinein und ging wieder. Vielleicht haben ihn unsere erhobenen Stimmen verscheucht.

»Hai, sag mal. Warum bist du eigentlich so aufgebracht?«

»Spiel nicht den Dummen.«

»Nein, wirklich.«

»Was heißt: Warum? Es war doch meine Schuld.«

»Was?«

»Na, das mit Arder.«

»Waaas?«

»Klar. Härt ich mich noch vor unserem Start geweigert, so würde Gimma doch… «

»Na, weißt du! Wie konntest du denn wissen, daß ihm ausgerechnet das Radio ausfallen wird? Und wenn es etwas anderes gewesen wäre?«

»Wenn. Wenn. Aber da gab es kein Wenn. Es war das Radio.«

»Warte mal. Und das hast du in dir sechs Jahre lang herumgetragen, ohne einen Ton zu piepsen?«

»Was sollte ich schon reden? Ich dachte mir, daß es vollkommen klar wäre - nicht?«

»Heiterer und schwarzer Himmel! Was redest du da, Mensch! Besinne dich doch. Hättest du es gesagt, hätte sich jeder an die Stirn getippt. Und war es vielleicht auch deine Schuld, als sich bei Enuesson das Bündel entfokalisierte? Wie?«

»Nein. Er… nun, Herdstörungen kommen schon vor.«

»Weiß ich. Ich weiß alles. So viel wie du. Keine AngSt, Hai, ich kriege aber keine Ruhe, bis du mir nicht sagst…«

»Was denn schon wieder?«

»Daß das alles bei dir nur Hirngespinste sind. Es ist doch barer Unsinn. Selbst Arder würde dir das sagen, wenn er könnte.« »Schönen Dank auch.«

»Hal, wenn ich dir jetzt eine knalle…«

»Paß nur auf. Ich bin schwerer.«

»Ich bin aber wütender, verstehst du? Dussel!«

»Olaf, schrei doch nicht so. Wir sind hier nicht allein.«

»Schon gut. Gut. War es aber Unsinn - ja oder nein?«

»Nein.«

Olaf sog die Luft ein, bis seine Nasenflügel weiß wurden.

»Und warum nicht?« fragte er fast freundlich.

»Weil… weil ich die knauserige Hand von Gimma schon früher bemerkt hatte. Meine Pflicht war es, das zu berücksichtigen und Gimma gleich unter Druck zu setzen. Und nicht erst, als ich mit Arders Todesanzeige wiederkam. Ich war zu weich. Deshalb.«

»Na schön. Gut. Du warst zu weich… So? Nein! Ich… Hal! Ich kann nicht mehr. Ich fahre hier weg.«

Er sprang vom Stuhl auf. Ich auch.

»Ja, bist du denn verrückt geworden?« schrie ich. »Weg willst du? Sieh einer an. Und nur deshalb, weil…«

»Jawohl, ja. Soll ich mir vielleicht deine Hirngespinste anhören? Ich denke nicht daran. Arder hat doch nicht geantwortet -stimmt’s?«

>Hör auf.«

»Hat er geantwortet?«

»Nein.«

»Könnte er einen Energieausfall gehabt haben?«

Ich schwieg.

»Könnte er tausend verschiedene andere Havarien gehabt haben? Und vielleicht geriet er in einen Echostreifen? Vielleicht ging sein Signal aus, als er die Kosmische in den Turbulenzen verlor? Vielleicht wurden seine Sender entmagnetisiert über dem Fleck da und dann…« »Genug.«

»Du willst mir nicht recht geben? Du solltest dich schämen.«

»Ich habe ja nichts gesagt.«

»Na eben. Also, konnte ihm irgend etwas von den Dingen passieren, die ich jetzt nannte?« »Schon… «

»Ja, warum versteifst du dich dann, daß es nur ausgerechnet das Radio, das Radio und nichts anderes als das Radio war?«

»Vielleicht hast du recht…«, sagte ich. Ich fühlte mich schrecklich müde, und alles schien mir auf einmal egal zu sein. »Vielleicht hast du recht«, wiederholte ich. »Das Radio… war einfach das wahrscheinlichste, weißt du… Nein. Sag nun nichts mehr. Wir haben sowieso zehntausendmal zuviel davon gesprochen. Am besten ist, nicht darüber zu sprechen.«

Olaf trat an mich heran. »Alter Gaul«, sagte er, »du unglückseliger alter Gaul… Hast einfach zuviel des Guten, weißt du das?«

»Was für Gutes soll das schon wieder sein?«

»Verantwortungsgefühl. Man muß in allem Maß halten. Und was willst du machen?« »Womit?«

»Das weißt du doch…«

»Nein.«

»Schlimm - was?«

»Schlimmer kann es gar nicht sein.«

»Willst du denn nicht mit mir mit? Oder irgendwohin - allein. Wenn du willst, helfe ich dir dabei. Ich kann deine Sachen mitnehmen, oder du läßt sie hier, oder…«

»Meinst du, daß ich türmen soll?«

»Ich meine gar nichts. Aber wenn ich dich so sehe, wenn du nur ein bißchen aus der eigenen Haut fährst, nur ein winziges biß -chen, so wie eben vor einer Weile, weißt du… dann…« »Ja - dann?« »Dann fange ich zu denken an.«

»Ich will hier nicht weg. Weißt du, was ich dir sage? Ich rühre mich hier nicht vom Fleck. Es sei denn, daß…« »Ja?«

»Nichts. Und der da, in der Werkstatt, was hat er gesagt? Wann soll der Wagen fertig sein? Morgen oder noch heute? Denn ich habe es vergessen.« »Morgen früh.«

»Schön. Sieh bloß: es dunkelt schon. Wir haben den ganzen Nachmittag vertratscht… «

»Möge dir der Himmel äußerst wenig von solchem Getratsche bescheren!«

»Gehen wir noch ins Wasser?«

»Nein. Ich möchte gerne etwas lesen. Gibst du mir was?«

»Nimm, was du willst. Verstehst du mit diesen Glaskörnchen umzugehen?«

»Ja. Und ich hoffe, du hast nicht so eine.., solche Lesemaschine mit so einer Zuckergußstimme.«

»Nein. Ich hab’ nur den Opton.«

»Fein. Dann nehme ich es. Und du wirst im Schwimmbecken sein? «

»Ja. Aber erst gehe ich mit dir nach oben, muß mich noch ziehen.«

Oben gab ich ihm ein paar Bücher, meist historische, und eine Arbeit über die Stabilisierung der Populationsdynamik, da sie ihn interessierte. Auch eine Biologie mit einer großen Abhandlung über die Betrisierung. Ich selbst zog mich dann um und suchte meine Badehose, die ich irgendwo verlegt hatte. Ich konnte sie aber nicht finden und nahm daher einen schwarzen Slip von Olaf, warf den Bademantel über die Schultern und ging aus dem Haus.

Die Sonne war schon untergegangen. Vom Westen her zog eine Wolkenbank auf und verdüsterte den helleren Teil des Himmels Ich warf den Mantel auf den Sand, der schon nach der Tageshitze abgekühlt war. Ich setzte mich, berührte das Wasser mit den Zehenspitzen. Dieses Gespräch hatte mich mehr aufgewühlt, als ich selbst zugeben wollte. Arders Tod steckte in mir wie ein Splitter. Vielleicht hatte Olaf auch recht. Vielleicht war es nur das Gedächtnis, das sich nie damit abfinden konnte…

Ich stand auf und sprang flach, einfach, mit dem Kopf nach unten. Das Wasser war warm, aber ich erwartete kaltes und war durch diese Überraschung etwas verdutzt. Ich schwamm hoch. Zu warm war das Wasser, so, als ob ich in einer Suppe herumschwimmen würde. Ich kletterte an der entgegengesetzten Seite heraus, ließ auf dem Beckenrand dunkle Spuren meiner Hände, als ich einen Stich im Herzen spürte. Die Arder-Geschichte hatte mich in eine völlig andere Welt versetzt; nun aber, vielleicht weil das Wasser so warm war, warm sein sollte, erinnerte ich mich an das Mädchen. Und das war, als würde ich mich an etwas Schreckliches, an ein Unglück erinnern, dem ich nicht vorbeugen konnte

- und es doch mußte.

Vielleicht war aber auch das ein Hirngespinst. Ich drehte diesen Gedanken in meinem Kopf herum, unsicher, in der aufkommenden Dunkelheit zusammengekauert. Ich sah kaum noch den eigenen Körper, meine Sonnenbräune verbarg mich in der Finsternis. Die Wolken füllten nun den ganzen Himmel, und plötzlich, viel zu schnell, wurde es Nacht. Vom Haus kam etwas Weißes auf mich zu. Es war ihre Badekappe. Panik überkam mich. Langsam stand ich auf, wollte ganz einfach weglaufen, aber sie sah mich schon gegen den Hintergrund des Himmels.

»Herr Bregg?« fragte sie leise.

>>Ja. Wollen Sie baden? Ich… ich will nicht stören. Ich gehe schon… «

»Warum? Sie stören mich doch nicht.., ist das Wasser warm?«

»Ja. Für meinen Geschmack sogar zu warm«, sagte ich. Sie ging an den Rand und sprang ganz leicht. Jetzt sah ich nur ihre Umrisse. Der Badeanzug war dunkel. Das Wasser planschte. Sie kam dicht an meinen Beinen wieder hoch.

»Pfui, schrecklich!« prustete sie. »Was hat er denn da angerichtet.., man muß kaltes hinzugießen. Wissen Sie, wie man das macht? «

»Nein. Aber gleich werde ich es wissen.«

Ich sprang über ihren Kopf hinweg. Schwamm tief nach unten, bis meine ausgestreckten Arme den Grund berührten, und dann schwamm ich dicht darüber, oft den Betonboden berührend. Unter Wasser war es, wie üblich, etwas heller als draußen, so daß ich die Leitungsöffnungen ausfindig machen konnte. Sie waren in der Wand gegenüber dem Haus angebracht. Ich kam hoch, schon etwas außer Atem, da ich solange getaucht war.

»Bregg!« hörte ich ihre Stimme.

»Hier bin ich. Was gibt’s?«

»Ich bekam Angst…«, bekannte sie schon leiser.

»Warum?«

»Sie kamen so lange nicht mehr hoch…«

»Nun weiß ich, wo die Leitungen sind, wir machen das gleich!« rief ich und lief auf das Haus zu. Die heldenhafte Taucherei konnte ich mir geschenkt haben, denn die Wasserhähne waren gut zu sehen, sie befanden sich in einer kleinen Säule neben der Veranda. Ich drehte den Kältwasserhahn auf und ging zum Schwimmbecken zurück.

»Fertig. Es wird bloß noch etwas dauern.«

»Ja.«

Sie stand unter dem Sprungbrett und ich an der kürzeren Seite des Schwimmbeckens, als hätte ich Angst, näherzutreten. Also ging ich auf sie zu, langsam, wie absichtslos. An die Dunkelheit hatte ich mich schon gewöhnt. Ich konnte ihre Gesichtszüge unterscheiden. Sie sah ins Wasser. Die weiße Badekappe stand ihr wirklich gut. Und sie sah größer aus als angekleidet.

So stand ich lange neben ihr, bis es fast taktlos schien. Vielleicht setzte ich mich deshalb so plötzlich. >Du Holzklotz!< schimpfte ich mit mir selbst. Aber irgendeinen guten Einfall hatte ich nicht. Die

Wolken wurden dichter, die Dunkelheit auch, aber nach Regen sah es nicht aus. Es war ziemlich kühl.

»Frieren Sie nicht?«

»Nein. Herr Bregg?«

»Ja?«

»Das Wasser scheint aber nicht zu steigen.«

»Weil ich den Abfluß geöffnet habe.., nun wird es aber wohl reichen. Ich schließe ihn wieder.«

Als ich vom Haus zurückkam, verfiel ich auf die Idee, daß ich Olaf rufen könnte. Es war so dumm, daß ich fast laut gelacht hätte. Angst hatte ich also vor ihr…

Ich tat einen flachen Sprung und kam gleich wieder hoch.

»Nun scheint es richtig zu sein. Vielleicht tat ich zuviel des Guten, dann sagen Sie es mir, bitte, ich kann noch warmes Wasser zufließen lassen.«

Der Wasserspiegel senkte sich nun ganz deutlich, da der Abfluß noch immer geöffnet war. Das Mädchen- ich sah ihren schlanken Schatten und die Wolken als Hintergrund - schien irgendwie unschlüssig. Vielleicht hatte sie keine Lust mehr zu baden. Vielleicht wollte sie wieder ins Haus zurück, fuhr es mir blitzartig durch den Kopf, und ich fühlte dabei eine Art von Erleichterung. Doch im gleichen Moment sprang sie flach auf die Beine und schrie dabei leise auf, weil das Wasser wirklich schon seicht war

- ich hatte keine Zeit gehabt, sie zu warnen. Sie mußte sich mit den Füßen ziemlich stark am Boden gestoßen haben, sie schwankte, fiel aber nicht hin. Ich sprang zu.

»Ist Ihnen etwas passiert?«

»Nein.«

»Es ist meine Schuld. Ich bin ein Dummkopf.«

Bis zur Taille standen wir nun beide im Wasser. Ich kroch ans Ufer, lief zum Haus, schloß den Abfluß und kam wieder zurück. Ich konnte sie nirgends sehen. Leise glitt ich ins Wasser, schwamm durch das ganze Becken, legte mich auf den Rücken und, ganz leicht die Arme bewegend, ging ich auf den Grund. Als ich die Augen öffnete, sah ich die glasig-dunkle, von kleinen Wellen gekrümmte Wasseroberfläche. Langsam trug mich dieses Wasser hoch, ich fing aufrecht zu schwimmen an, und dann sah ich sie. Sie stand direkt an der Wand des Schwimmbeckens. Ich schwamm auf sie zu. Das Sprungbrett blieb auf der anderen Seite, hier war das Wasser flach, so daß ich gleich festen Grund unter

den Füßen bekam. Das Wasser, das ich beim Gehen zerteilte, rauschte laut. Ich sah ihr Gesicht, sie schaute mich an; lag es an der Wucht meiner letzten Schritte - denn es fällt ja schwer, im Wasser zu gehen, ist aber auch nicht leicht, plötzlich stehenzubleiben-, jedenfalls stand ich plötzlich dicht neben ihr. Vielleicht wäre sie zurückgegangen, aber sie blieb, wo sie war, mit der Hand die erste aus dem Wasser kommende Leitersprosse umfassend, und ich war schon zu nahe, um noch irgend etwas sagen zu können

- mich hinter einem Gespräch zu verstecken…

Ich umarmte sie fest, sie war kalt, aalglatt, wie ein eigenartiges, fremdes Tier. Und plötzlich fand ich in diesem kühlen, fast unle -bendigen Kontakt einen heißen Flecken - ihren Mund -, sie rührte sich nicht, und ich küßte sie, küßte und küßte - es war der reinste Irrsinn. Sie wehrte sich nicht, leistete auch keinen Widerstand, sie schien wirklich wie tot. Ich hielt sie an den Schultern, hob ihr Gesicht empor, wollte sie sehen, ihr in die Augen blicken, aber es war schon so dunkel, daß ich ihre Figur kaum erraten konnte, hätte ich sie nicht gespürt. Sie zitterte nicht. Irgend etwas pulsierte nur - ob mein Herz oder ihres - ich wußte es nicht. So standen wir, bis sie sich langsam aus meinen Armen zu befreien begann. Ich ließ sie sofort los. Sie stieg die Leiter hinauf. Ich kam hinter ihr her, umarmte sie wieder, irgendwie linkisch von der Seite, nun zitterte sie. Jetzt zitterte sie, ja. Ich wollte etwas sagen, fand aber keine Stimme. Ich hielt sie fest an mich gedrückt, und so standen wir, bis sie sich wiederum befreite, ohne mich abzustoßen, nur so, als wäre ich überhaupt nicht da. Meine Arme fielen herab. Sie ging nun fort. Im Lichtschein, der aus meinem Fenster kam, sah ich, wie sie den Bademantel hob, ohne ihn um die Schulter zu hängen, und auf die Treppe zuging. An der Tür, in der Halle, brannte auch noch Licht. Ich sah Wassertropfen auf ihrem Rücken und ihren Hüften glänzen. Dann schloß sich die Tür. Sie verschwand.

Eine Sekunde lang hatte ich das Verlangen, ins Wasser zu springen und nie mehr hochzukommen. Nein, wirklich. Niemals kam mir vorher solch eine Idee in den Kopf. Es war ja alles so sinnlos, so unmöglich. Und das Schlimmste dabei war, daß ich nicht wußte, was es bedeuten sollte und was ich jetzt tun konnte. Und sie - warum war sie so… so… eigenartig gewesen? Vielleicht hatte die Angst sie gelähmt? Ach, nichts als Angst und immer wieder nur Angst. Nein, es war etwas anderes. Was aber? Wie

konnte ich es wissen? Vielleicht Olaf. Übrigens - bin ich ein fünfzehnjähriger Grünschnabel, der ein Mädchen küßt und dann gleich zu seinem Freund läuft, um Rat zu holen?

>Doch<, dachte ich, >gerade das werde ich tun.c Ich ging ins Haus, nahm meinen Bademantel, schüttelte den Sand von ihm ab. In der Halle war es hell. Ich trat an ihre Tür heran. >Vielleicht läßt sie mich herein<, dachte ich. Täte sie es, dann wäre mir nicht mehr an ihr gelegen. Vielleicht. Vielleicht ist es dann das Ende. Oder ich bekomme eine Ohrfeige. Aber nein. Sie sind ja gut, sind betri-siert, sie können es nicht. Sie wird mir nur einen Bonbon geben, was mir sicher sehr guttun wird.

So stand ich wohl fünf Minuten lang und dachte an die unterirdischen Höhlen von Kerenea, an dieses berühmte Loch, von dem Olaf so viel sprach. Ein gesegnetes Loch! Es war, wie es schien, ein alter Vulkan. Arder blieb dort zwischen Felsbrocken eingeklemmt stecken und konnte nicht heraus, und die Lava stieg schon. Eigentlich keine Lava, denn Venturi behauptete, es wäre eine Art Geysir- nein, das kam erst später. Arder… Wir hörten seine Stimme. Per Funk. Dann stieg ich da hinunter und zog ihn heraus. Großer Gott! Zehnmal lieber war mir das gewesen, als diese Tür hier. Gar kein Geräusch. Nichts.

Hätte diese Tür bloß eine Klinke gehabt. Nein, dies war eine kleine Platte. Bei mir, oben, gab es so etwas nicht. Ich wußte kaum, ob sie irgendwie eingestellt - wie ein Schloß - war oder ob man sie drücken sollte. Ich war noch immer derselbe wilde Mann von Kerenea.

Ich hob die Hand und hielt unschlüssig inne. Und wenn die Tür nicht aufgeht? Allein die Vorstellung eines solchen Rückzugs: das würde mir für eine längere Zeit viel Material zum Nachdenken geben. Und ich spürte, daß ich, je länger ich so stand, desto schwächer wurde, so, als verließen mich alle Kräfte. Ich berührte die Platte. Sie gab nicht nach. Ich drückte nun stärker.

»Sind Sie das?« hörte ich ihre Stimme. Sie mußte dicht bei der Tür stehen. »Ja.«

Stille. Eine halbe, eine ganze Minute lang.

Die Tür ging auf. Sie stand an der Schwelle. Hatte einen flauschigen Morgenmantel an. Das Haar fiel ihr bis auf den Kragen. Schwer zu glauben: aber jetzt erst sah ich, daß es kastanienbraun war.

Die Tür wurde nur einen Spalt geöffnet. Sie hielt sie fest. Als ich einen Schritt nach vorn machte, trat sie zurück. Von allein und völlig geräuschlos schnappte die Tür hinter mir zu.

Und plötzlich, als ob mir Schuppen von den Augen fielen, merkte ich, wie das alles aussah. Sie blickte mich an, reglos, blaß, beide Teile ihres Mantels mit den Händen festhaltend, und ich stand ihr gegenüber, nackt, wassertriefend, im schwarzen Slip von Olaf, mit einem sandverkrusteten Bademantel in der Hand - und starrte sie an…

Plötzlich mußte ich gerade wegen all dieser Dinge lächeln. Ich schüttelte meinen Bademantel, zog ihn an und setzte mich. An der Stelle, wo ich vorher stand, bemerkte ich zwei feuchte Flecke. Aber ich hatte absolut nichts zu sagen. Was konnte ich schon sagen? Auf einmal wußte ich es. Es war wie eine Inspiration. »Wissen Sie, wer ich bin?«

»Ja.«

»So? Na schön. Vom Reisebüro?«

»Nein.«

»Auch egal. Ich bin - ein Wilder - wissen Sie das?«

»So?«

»Ja. Schrecklich wild. Wie heißen Sie?«

»Wissen Sie es denn nicht?«

»Ihr Vorname.«

»Eri.«

»Ich nehme dich fort von hier.«

»Was?«

»Ja. Ich nehme dich von hier fort. Willst du?«

»Nein.«

»Das schadet nichts. Ich nehme dich mit. Weißt du, warum?« »Ungefähr.«

»Nein, du weißt es nicht. Ich weiß es selber nicht.«

Sie schwieg.

»Ich kann mir nicht helfen«, sprach ich weiter. »Es ist eigentlich geschehen, als ich dich sah. Vorgestern. Am Mittagstisch. Weißt du?«

»Ich weiß.«

»Warte. Du meinst vielleicht, daß ich scherze?«

»Nein.«

»Woher kannst du… ach, egal. Wirst du versuchen zu fliehen?«

Sie schwieg.

»Tu das nicht«, bat ich. »Es wird dir nichts nützen, weißt du. Ich lasse dich sowieso nicht in Ruhe. Obwohl ich es gerne möchte, glaubst du das?« Sie schwieg.

»Siehst du, es liegt nicht nur daran, daß ich nicht betrisiert bin. Mir liegt an gar nichts mehr, weißt du. An nichts. Außer dir. Ich muß dich sehen. Muß dich ansehen können. Muß deine Stimme hören. Ich muß es, etwas anderes interessiert mich nicht mehr. Nichts. Ich weiß noch nicht, was mit uns werden wird. Mir scheint, daß dies ein schlechtes Ende haben kann. Aber das ist mir egal. Denn nun lohnt es sich schon. Weil ich es laut sage und du es hörst. Verstehst du? Nein. Du kannst es nicht verstehen. Ihr seid eure Schicksalsdramatik losgeworden, um in aller Ruhe zu leben. Ich kann das nicht. Brauche es auch nicht.« Sie schwieg.

Ich holte Luft.

»Eri«, sagte ich, »hör doch.., setz dich erst einmal hin.«

Sie rührte sich nicht.

»Setz dich doch. Bitte.«

Nichts.

»Das kann dir doch nicht schaden. Setz dich.«

Plötzlich begriff ich. Meine Kiefermuskeln spannten sich.

»Wenn du nicht willst - warum hast du mich denn ‘reingelassen?«

Nichts.

Ich stand auf, nahm sie bei den Schultern. Sie wehrte sich nicht. Ich setzte sie in einen Sessel. Brachte dann den meinen so nahe, daß sich unsere Knie fast berührten.

»Du kannst machen, was du willst. Aber hör zu. Es ist nicht meine Schuld. Und deine schon ganz bestimmt nicht. Keiner ist schuld. Ich habe es nicht gewollt. Aber es ist nun einmal so. Es ist, siehst du, die Ausgangssituation. Ich weiß, daß ich mich wie ein armer Irrer benehme. Aber ich sage dir auch gleich, warum. Willst du mit mir denn überhaupt nicht mehr sprechen?« »Vielleicht«, sagte sie.

»Danke schön dafür. Ja. Ich weiß. Ich habe nicht das geringste Recht und so weiter. Also - was ich sagen wollte: - vor Millionen von Jahren gab es solche Eidechsen, Brontosaurier, Atlantosau-rier… Hast du vielleicht davon gehört?« »Ja.«

»Haushohe Riesen waren das. Sie hatten einen unheimlich langen Schwanz, der dreimal so lang wie ihr ganzer Körper war. Konnten sich wohl deshalb nicht so, wie sie vielleicht gewollt hätten, bewegen- leicht und geschickt. Ich bin ihnen irgendwie ähnlich, weißt du. Zehn Jahre lang, weiß der Kuckuck wozu, trieb ich mich zwischen den Sternen herum. Vielleicht war es gar nicht nötig. Aber nun läßt sich das nicht ändern. Nachholen geht nicht mehr. Und das belastet mich eben. Verstehst du? Ich kann mich nicht so benehmen, als ob es das nie gegeben hätte. Ich glaube kaum, daß du davon entzückt sein könntest. Darüber, was ich dir sage, sagte und noch sagen werde. Aber einen Rat kann ich da nicht finden. Ich muß dich haben, solange es nur geht, und das ist eigentlich alles. Sagst du mir jetzt etwas?«

Sie sah mich an. Sie schien mir noch etwas blasser geworden zu sein, aber es mochte am Licht liegen. Sie saß, in ihren flaumigen Mantel eingekuschelt, als ob sie fröre. Ich wollte fragen, ob ihr kalt war, konnte aber wieder kein Wort hervorbringen. Mir - o nein - mir war nicht kalt.

»Was… hätten Sie… an meiner Stelle getan?«

»Sehr gut!« lobte ich sie. »Ich glaube, daß ich kämpfen würde.« »Ich kann nicht.«

»Das weiß ich. Glaubst du, daß mir das die Sache leichter macht? Das Gegenteil ist der Fall, das schwöre ich dir. Willst du, daß ich jetzt gehe, oder darf ich noch etwas sagen? Warum siehst du mich so an? Nun weißt du doch wohl, daß ich für dich alles tun werde, nicht wahr? Bitte, sieh mich nicht so an. In meinem Mund bedeutet >alles< etwas völlig anderes als bei anderen Leuten. Und weißt du was?«

Ich fühlte mich außer Atem, als ob ich lange gelaufen wäre. Ich hielt ihre beiden Hände - wie lange, weiß ich nicht -, vielleicht von Anfang an? Ich weiß nicht. Sie waren so zierlich.

»Eri, weißt du, nie habe ich so etwas wie jetzt gespürt. Denk bloß. Diese schreckliche Leere - dort. Nicht zu beschreiben. Ich glaubte nicht an meine Rückkehr. Keiner glaubte es. Wir sprachen zwar darüber, aber nur so. Sie sind dort geblieben, Tore, Arne, Venturi, und sie sind jetzt wie die Steine, solche eingefrorenen Steine in der Finsternis - weißt du. Und ich hätte auch dort bleiben sollen, aber wenn ich schon hier bin und deine Hände halte und zu dir sprechen darf und du mich hörst, so ist es vielleicht nicht so schlimm. So gemein. Vielleicht nicht - Eri! Sieh mich nur nicht so an. Ich beschwöre dich. Gib mir eine Chance.

Denke ja nicht, daß es nur- Liebe ist. Denk nicht so. Es ist mehr. Mehr. Du glaubst mir nicht.., warum glaubst du mir nicht? Ich sage doch die Wahrheit. Wirklich.«

Sie schwieg. Ihre Hände waren eiskalt.

»Du kannst nicht, wie? Es ist nicht möglich. Ja, ich weiß, daß es nicht möglich ist. Wußte es vom ersten Augenblick an. Ich dürfte nicht hier sein. Eine leere Stelle sollte jetzt hier sein. Ich gehöre dorthin. Es ist aber nicht meine Schuld, daß ich zurückgekehrt bin. Ja. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle. Das gibt es nicht. Was gibt es nicht? Egal, wenn dich das nichts angeht. Du dachtest wohl, ich könnte mit dir alles machen, was ich will? Mir liegt aber nichts daran, verstehst du? Du bist ja kein Stern…«

Stille. Das ganze Haus schwieg. Ich neigte den Kopf zu ihren Händen, die wie gelähmt auf den meinen lagen, und fing an, zu ihnen zu sprechen.

»Eri, Eri. Jetzt weißt du, daß du keine Angst zu haben brauchst, nicht wahr? Du weißt, daü dir keine Gefahr droht. Aber das ist so - groß, Eri. Ich wußte nicht mal, daß es so etwas geben kann. Wußte es nicht. Ich schwöre es dir. Warum fliegen sie denn zu den Sternen? Ich kann es nicht verstehen. Dies ist doch hier. Oder muß man vielleicht erst dort gewesen sein, um es zu verstehen?

Ja, schon möglich. Nun will ich gehen, ich gehe schon. Und du wirst alles vergessen. Wirst du es vergessen?« Sie nickte.

»Wirst du es auch keinem sagen?«

Sie verneinte mit dem Kopf.

»Wirklich?«

»Wirklich.«

Es war nur ein Flüstern.

»Ich danke dir.«

Ich ging hinaus. Die Treppe. Eine cremefarbene, dann eine grüne Wand. Die Tür meines Zimmers. Ich machte weit das Fenster auf, atmete tief. Wie gut die Luft war. Seit ich aus ihrem Zimmer kam, war ich völlig ruhig. Ich lächelte sogar, aber weder mit dem Gesicht, noch mit den Lippen. Dieses Lächeln hatte ich in mir, nachsichtig meiner eigenen Dummheit gegenüber, auch der Tatsache, daß ich nichts wußte und es doch so einfach gewesen war. Gebückt wühlte ich im Innern meines Sportkoffers. Unter den Stricken? Nein. Irgendwelche Päckchen, was denn, nein, nicht das, Moment mal…

Nun hatte ich ihn. Ich streckte mich wieder und fühlte mich plötzlich beschämt. Die Lichter. Nein, so konnte ich es nicht. Ich ging eben, um sie zu löschen, als Olaf auf die Schwelle trat. Er war noch nicht ausgezogen. War er denn überhaupt nicht ins Bett gegangen?

»Was machst du denn da?«

»Nichts.«

»So? Und was hast du da? Versteck es nur nicht!«

»Nichts… «

»Zeig her!«

»Nein.«

»Wußte ich’s doch. Du Scheißkerl!«

Diesen Schlag hatte ich nicht erwartet. Ich öffnete die Finger, der Griff rutschte mir aus der Hand, und wir beide kämpften bereits, ich warf mich über ihn, er sprang über mich, der Schreibtisch fiel um, die mitgezogene Lampe krachte gegen die Wand, daß das ganze Haus aufdröhnte. Nun hatte ich ihn erwischt. Er konnte sich nicht mehr befreien, wand sich nur, ich hörte einen Schrei, ihren Schrei, ließ ihn los, sprang nach rückwärts.

Sie stand in der Tür.

Olaf kam auf die Knie.

»Töten wollte er sich. Deinetwegen!« röchelte er. Er faßte sich mit beiden Händen an den Hals. Ich wandte mein Gesicht ab. Stützte mich an der Wand, meine Beine zitterten. Ich schämte mich, schämte mich furchtbar. Sie sah uns an, erst den einen, dann den anderen. Olaf hielt immer noch seinen Hals.

»Geh hier fort«, sagte ich leise zu Olaf.

»Zuerst mußt du mich fertigmachen.«

»Hör auf damit.«

»Nein.«

»Bitte, mein Herr, gehen Sie doch«, sagte sie.

Ich verstummte mit offenem Mund. Olaf starrte sie ungläubig an. »Mädchen, er… «

Sie verneinte mit dem Kopf.

Er behielt uns im Auge, ging etwas seitlich, dann ein bißchen rückwärts und verschwand.

Sie sah mich an. »Ist das wahr?« fragte sie.

»Eri…«, stöhnte ich.

»Mußt du?« fragte sie.

Ich nickte: »Ja.« Aber sie widersprach mir.

»Wieso?« sagte ich. Und wiederholte noch einmal, etwas stotternd: »Wie-so?« - Sie schwieg. Ich kam auf sie zu und sah, daß sie den Kopf an die Schulter zog und ihre Hände, die einen Teil des flaumigen Mantels hielten, zitterten.

»Warum? Warum hast du eine solche Angst vor mir?«

Sie verneinte mit dem Kopf.

»Nicht?«

»Nein.«

»Aber du zitterst ja?«

»Nur so.«

»Und… wirst du mit mir gehen?«

Sie nickte zweimal, wie ein Kind. Ich umarmte sie, so leicht wie ich nur konnte. Als ob sie ganz aus Glas wäre.

»Habe keine Angst«, sagte ich. »Sieh…«

Meine Hände zitterten nun auch. Warum zitterten sie nicht, als ich langsam weiße Haare bekam, als ich auf Arder wartete? An welche Reserven, an welche verborgenen Winkel stieß ich nun, um endlich zu erfahren, was ich selbst wert bin?

»Setz dich«, bat ich, »du zitterst ja noch immer. Oder nein, warte!«

Ich legte sie auf mein Bett. Deckte sie bis an den Hals zu.

»Besser so?«

Sie nickte: »Ja, besser.«

Ich wußte nicht, ob sie nur in meiner Anwesenheit so stumm war oder überhaupt von Natur aus. Ich kniete am Bett nieder.

»Sag mir doch etwas«, flüsterte ich.

»Was?«

»Von dir. Wer du bist. Was du machst. Was du willst. Nein -was du wolltest, ehe ich über dich herfiel.«

Sie zuckte leise die Achseln, so als ob sie damit sagen wollte: >Nichts habe ich zu sagen.<

»Willst du nichts erzählen? Warum? Vielleicht…«

»Das ist nicht wichtig«, sagte sie. Als ob sie mich mit diesen Worten geschlagen hätte. Ich rückte von ihr ab.

»Wieso, Eri… wieso…?« stammelte ich. Aber ich verstand es bereits. Nur zu gut.

Ich sprang auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»So will ich es nicht. So kann ich nicht. Ich kann es nicht. So darf es nicht sein. Ich…«

Ich erstarrte. Schon wieder. Denn sie lächelte. Ihr Lächeln war so schwach, daß man es kaum wahrnahm. »Eri, was…?«

»Er hat recht«, sagte sie.

»Wer?«

»Dieser… dieser Freund von Ihnen.«

»Weshalb?«

Es fiel ihr schwer, es zu sagen. Sie wandte den Blick ab. »Weil Sie … unklug sind.«

»Woher weißt du, daß er so etwas sagte?«

»Ich habe es gehört.«

»Unser Gespräch? Nach dem Mittagessen?«

Sie nickte. Und errötete. Sogar ihre Ohren wurden rosig.

»Es ging nicht anders. Sie haben beide sehr laut gesprochen. Ich wäre weggegangen, aber… «

Ich verstand. Die Tür ihres Zimmers ging in die Halle. >Idiot!< dachte ich, selbstverständlich von mir. Ich war wie betäubt.

»Hast du… alles gehört?«

Sie nickte.

»Und wußtest, daß ich von dir…?«

»Mhm.«

»Wieso? Ich nannte doch keinen… «

»Ich wußte es schon vorher.«

»Wie?«

Sie bewegte den Kopf. »Das weiß ich nicht, aber ich wußte es. Das heißt, am Anfang dachte ich, es scheint mir nur so.«

»Und später? Wann war das?«

»Ich weiß nicht. So im Laufe des Tages. Ich spürte es.«

»Hattest du schrecklich Angst?« fragte ich mürrisch.

»Nein.«

»Nein? Warum denn nicht?«

Sie lächelte schwach. »Sie sind ganz, ganz wie…«

»Wie was!!?«

»Wie aus einem Märchen. Ich wußte gar nicht, daß.., man… so sein kann, und wenn Sie nicht… Sie wissen, was.., würde ich denken, daß ich träume…« »Ganz bestimmt nicht.«

»Oh, ich weiß doch. Sagte es nur so. Wissen Sie schon, was ich meine?«

»Nicht so recht. Ich bin wohl stumpfsinnig, Eri. Ja, Olaf hatte

schon recht. Ich bin ein Dummkopf. Ein ausgesprochener Dummkopf. Also sag es mir, bitte, deutlich ja?«

»Gut. Sie denken, daß Sie so schrecklich sind, aber das ist nicht wahr. Sie sind nur… «

Sie verstummte, fand keine Worte. Ich hörte sie sprechen, und mein Mund stand halb offen.

»Kind, Eri, ich.., ich dachte nicht daran, daß ich so schrecklich wäre. Unsinn. Ehrenwort. Erst als ich zurückkam und so verschiedene Dinge hörte und erfuhr.., genug. Hab’ schon genug geredet. Viel zuviel. Nie im Leben war ich so geschwätzig. Sprich du, Eri. Sprich.«

Ich setzte mich aufs Bett.

»Hab’ schon nichts mehr.., wirklich. Nur… weiß ich nicht…«

»Was weißt du nicht?«

»Was nun werden wird…«

Ich neigte mich zu ihr. Sie sah mir direkt in die Augen. Ihre Lider bewegten sich nicht. Unser Atem vermischte sich.

»Warum hast du dich küssen lassen?«

»Ich weiß nicht.«

Mit den Lippen berührte ich ihre Wange. Dann ihren Hals. Ich lag so, den Kopf an ihrer Schulter, biß mit aller Kraft die Zähne zusammen. So habe ich es noch nie erlebt. Ich wußte nicht einmal, daß es so sein kann. Ich wollte weinen.

»Eri«, flüsterte ich stimmlos, nur mit den Lippen. »Eri. Rette mich! «

Sie lag reglos da. Ich hörte, wie aus einer großen Entfernung, ihre schnellen Herzschläge. Ich setzte mich wieder.

»Wenn…«, hub ich an, fand aber nicht den Mut, diesen Satz zu beenden. Ich stand auf, hob die Lampe hoch, stellte den Schreibtisch an seine Stelle, stolperte über etwas - es war ein Fahrtenmesser. Es lag auf dem Boden. Ich warf es in den Koffer. Drehte mich um.

»Ich mach das Licht aus«, sagte ich, »ja?«

Keine Antwort. Ich berührte den Schalter. Die Finsternis war vollkommen, nicht einmal im offenen Fenster waren irgendwelche, auch nicht die entferntesten Lichter zu sehen. Nichts.

Schwarz. Alles. So schwarz, wie es manchmal im All gewesen war. Ich schloß die Augen. Die Stille rauschte.

»Eri…«, flüsterte ich. Sie antwortete nicht. Ich spürte ihre Angst. Ging im Dunkel auf das Bett zu. Versuchte ihren Atem

zu hören, aber nur die Stille klang mit einem allumfassenden Ton, als ob sie sich in dieser Finsternis materialisierte. Sie wurde zu ihr, zu Eri. >Ich sollte hier fort<, dachte ich. >Ja. Werde gleich gehen.< Aber ich bückte mich und fand mit einem Male, hellseherisch, ihr Gesicht. Sie hörte zu atmen auf.

»Nein«, hauchte ich. »Nichts. Wirklich nichts.«

Ich berührte ihr Haar. Streichelte es mit meinen Fingerspitzen, erkannte es, noch so fremd, so unerwartet. So sehr wollte ich das alles verstehen. Aber vielleicht gab es da nichts zu verstehen?

Was für eine Stille. Schlief Olaf wohl schon? Kaum. Saß wahrscheinlich da, lauschte. Wartete. Also hin zu ihm. Aber ich konnte es nicht. Nein. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter. Ein Ruck, und schon war ich beiihr. Ich spürte, wie ihr ganzer Körper steif wurde. Sie schob mich zurück.

Ich flüsterte: »Keine Angst.«

»Nein.«

»Du zitterst.«

»Nur so.«

Ich umarmte sie. Die Last ihres Kopfes auf meiner Schulter verschob sich bis in die Ellenbogenbiegung. Wir lagen beieinander, und es gab die schweigende Finsternis.

»Spät schon«, murmelte ich. »Sehr spät. - Du mußt schlafen.

Bitte. Schlaf.«

Ich wiegte sie allein durch eine langsame Anspannung meiner Schulter. Sie lag still, doch spürte ich die Wärme ihres Körpers und Atems. Der ging schnell. Und ihr Herz schlug Alarm. Langsam, nur langsam wurde es ruhiger. Sie mußte sehr müde sein. Ich horchte erst mit offenen, dann mit geschlossenen Augen, denn so schien ich besser zu hören. Ob sie schon schlief? Wer war sie? Warum bedeutete sie mir soviel? Ich lag in dieser Finsternis, vom Wind hinter dem Fenster angeweht, der manchmal in den Vorhängen raschelte. Ich war von reglosem Staunen erfüllt. Ennes-son. Thomas. Venturi. Arder. Also deshalb gab es das alles? Deshalb? Eine Handvoll Staub. Dort, wo niemals ein Wind weht. Wo es weder Wolken noch Sonne, noch Regen, überhaupt nichts gibt, und zwar so wörtlich, als ob es nicht möglich wäre, als ob es sich nicht einmal denken ließe. Und ich bin dort gewesen? Wirklich?

Ja - wozu?

Nichts wußte ich nun mehr, alles floß zu einer gestaltlosen Finsternis zusammen- ich erstarrte. Sie zuckte zusammen. Langsam

drehte sie sich auf die Seite. Ihr Kopf blieb aber auf meiner Schulter. Sie murmelte ganz leise etwas und schlief weiter.

Ich versuchte mir die Chromosphäre von Arkturus vorzustellen. Einen riesenhaften gähnenden Raum, über den ich geflogen Und geflogen bin, mich wie auf einem schrecklichen, unsichtbaren Feuerkarussell drehend, mit tränenden, verschwollenen Augen und teilnahmslos immerfort wiederholend: >Sonde, Null, Sieben. Sonde, Null, Sieben. Sonde, Null, Sieben<, Tausende und aber Tausende Male, so daß später allein schon der Gedanke an diese Worte mich zum Zusammenzucken brachte. Sie waren mir eingebrannt worden, als ob sie Wunden wären; und als Antwort knisterte nur etwas in den Kopfhörern, und ein kicherndes Geräusch kam, in das die Protuberanzflammen von meiner Apparatur verwandelt wurden, und das war Arder, sein Gesicht, sein Körper und seine Rakete in ein strahlendes Gas verwandelt - und Thomas? Der verschollene Thomas, von dem keiner wußte, daß…

Und Ennesson? Wir vertrugen uns schlecht - ich konnte ihn eigentlich nicht leiden. Aber in der Druckkammer kämpfte ich mit Olaf, der mich nicht hineinlassen wollte, weil es schon zu spät war: was war ich da bloß edelmütig, ihr großen, schwarzen und blauen Himmel… Es war aber gar kein Edelmut, sondern nur eine Frage des Preises. Jawohl. Denn jeder von uns war unbezahlbar, das menschliche Leben erlangte seinen höchsten Wert dort, wo es schon gar keinen mehr haben konnte, wo es nur von einer dünnen, fast nicht mehr existierenden Schicht vom Ende abgegrenzt war. Dieses Drähtchen oder dieser Kontakt in Arders Radio. Diese Verspleißung in Venturis Reaktor, die Voss nicht ausreichend überprüfte - vielleicht hat sie sich plötzlich gelöst, denn das gibt es ja doch auch, die Metallermüdung - und Venturi hörte dann innerhalb- weiß ich- von fünf Sekunden zu existieren auf. Und Thurbers Rückkehr? Und die wundersame Rettung Olafs, der sich verirrt hatte, als seine Richtungsantenne durchbohrt worden war - wann? Auf welche Art? Keiner wußte es.

Olaf kam wieder- durch ein Wunder. Ja, einer pro eine Million.

Und was für ein Glück hatte ich selber doch! Was für ein außergewöhnliches, unmögliches Glück… Mein Arm war eingeschlafen, es gab mir aber ein unbeschreibliches, gutes Gefühl. >Eri<, sagte ich in Gedanken, >Eri.< Wie die Stimme eines Vogels. So ein Name! Vogelstimme… Wie haben wir Ennesson angebettelt, Vogelstimmen zu imitieren. Er konnte das. Und wie er das

konnte! Und als er umgekommen war - und mit ihm alle diese Vögel…

Doch schon wurde das alles verworren, ich sank, ich schwamm durch die Finsternis. Im letzten Augenblick vor dem Einschlafen schien mir, ich wäre dort, auf meinem Platz, in der Koje, tief, ganz dem eisernen Boden nah, und neben mir lag der kleine Arne -da wurde ich für einen Augenblick wieder wach. Nein, Arne lebte nicht mehr, und ich war auf der Erde. Das Mädchen atmete leise.

»Sei gesegnet, Eri«, hauchte ich, sog den Geruch ihrer Haare ein und schlief auch schon.

Ich öffnete die Augen, ohne zu wissen, wo und gar neben wem ich war. Dunkles Haar, das auf meiner Schulter lag - ich spürte es nicht, als ob es etwas Fremdes wäre -, machte mich stutzig. Es war nur ein Sekundenbruchteil. Im nächsten wußte ich alles. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, milchweißer Morgen, ohne einen Tropfen von Morgenröte, klar und durchdringend kalt, stand in den Fenstern. Ich sah in diesem allerfrühesten Licht Eris Gesicht so, als sähe ich es zum ersten Mal. Sie schlief fest, atmete mit festgeschlossenen Lippen, es war ihr wohl nicht sehr bequem auf meiner Schulter: denn sie schob eine Hand unter den Kopf und bewegte ab und zu ganz leicht die Augenbrauen, als wunderte sie sich immer wieder. Diese Bewegung war ganz gering, ich sah ihr aber aufmerksam zu, als ob auf diesem Gesicht mein eigenes Los geschrieben stünde.

Ich dachte an Olaf. Fing an, äußerst vorsichtig, meinen Arm zu befreien. Diese Vorsicht erwies sich als gänzlich unnötig. Sie schlief einen festen Schlaf, träumte auch - ich hielt inne, versuchte nicht so sehr den Traum zu erraten, sondern nur, ob es kein böser war. Ihr Gesicht war fast kindlich. Nein, böse war der Traum sicher nicht. Ich rückte von ihr ab, stand auf. Ich war im Bademantel, so wie ich mich hingelegt hatte. Barfuß trat ich in den Gang, schloß leise die Tür, sehr langsam und mit der gleichen Vorsicht sah ich in Olafs Zimmer hinein. Das Bett war unberührt. Er saß am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt, und schlief. Er hatte sich nicht ausgezogen, so wie ich es mir gedacht hatte. Was ihn aufwachen ließ, weiß ich nicht - mein Blick etwa? Plötzlich sah er mich durchdringend mit seinen hellen Augen an, streckte und reckte sich ausgiebig.

»Olaf«, sagte ich, »sollte ich auch hundert Jahre lang… «

»Halt’s Maul«, schlug er mir äußerst freundlich vor. »Hal, du hattest ja immer schon schlimme Neigungen…«

»Fängst du wieder an? Ich wollte dir nur sagen…«

»Ich weiß, was du sagen wolltest. Weiß immer, was du sagen willst, eine Woche im voraus. Hätten wir auf dem >Prometheus< einen Bordkaplan gebraucht, würdest du dich dazu wie kein anderer eignen. Zum Kuckuck, daß mir das nicht früher in den Sinn kam! Da hätte ich dich aber schön ins Gebet genommen. Hai!

Keine Predigt! Keine großen Worte, Verwünschungen, Schwüre und sonstiges. Wie geht’s? Gut. Ja?«

»Ich weiß nicht. Scheint so. Wenn es dir um… na, um… geht

- na, ist zwischen uns nichts passiert.«

»Zuerst solltest du wohl niederknien«, meinte er. »Und dann kniend weitersprechen. Alter Dummkopf, frage ich dich denn nach so was? Ich rede von Perspektiven und so weiter.«

»Keine Ahnung. Weißt du, ich will dir was sagen: sie selbst weiß es auch nicht. Ich flog ihr an den Kopf, richtig wie ein Stein.«

»Tja. Das ist unangenehm«, meinte Olaf. Er zog sich aus. Suchte seinen Slip. »Wieviel wiegst du? Hundertzehn?«

»So ungefähr. Brauchst nicht zu suchen: deinen Slip habe ich an.«

»Bei aller Heiligkeit hast du immer und alles geklaut«, brummte er, und als ich den Slip ausziehen wollte: »Idiot, laß das doch sein. Ich habe einen anderen im Koffer.«

»Wie wird eine Scheidung durchgeführt? Weißt du es zufällig?« erkundigte ich mich.

Olaf schaute mich an, über seinen offenen Koffer gebückt. Er grinste. »Nein, weiß ich nicht. Möchte wissen, woher ich es wissen sollte. Ich hörte aber, daß es wie ein Niesen ist. Und dabei braucht man nicht mal Gesundheit zu wünschen. Gibt es hier nirgends ein anständiges Badezimmer mit Wasser?«

»Keine Ahnung. Wohl kaum. Nur so eins - na, du weißt schon.« »Ja. Ein erfrischender Sturmwind, der nach Mundwasser riecht. Schauderhaft. Gehen wir zum Schwimmbecken. Ohne Wasser fühle ich mich ungewaschen. Schläft sie?« »Ja.«

»Na, dann man los.«

Das Wasser war kalt und herrlich. Ich machte eine Schraube rückwärts: es ging großartig. Bisher war mir das nie gelungen. Ich schwamm hoch, prustend und würgend, da ich mit der Nase etwas Wasser eingezogen hatte.

»Paß auf«, warnte mich Olaf vom Ufer, »nun mußt du acht auf dich geben. Erinnerst du dich noch an Markel?« »Ja. Wieso?«

»Er ist auf vier ammoniakhaltigen Jupitermonden gewesen, und als er zurückkam und sich auf dem Übungsplatz setzte und aus seiner Rakete herauskroch, mit Trophäen wie ein Weihnachtsbaum behangen, da stolperte er und brach sich das Bein. Paß also jetzt auf. Sage ich dir.«

»Werde ich schon. Scheußlich kalt ist das Wasser. Ich komm lieber ‘raus.«

»Richtig. Könntest dir einen Schnupfen holen. Den hatte ich zehn Jahre lang nicht mehr. Sobald ich aber Luna anflog, bekam ich einen Husten.«

»Weil es dort so trocken gewesen ist, weißt du«, sagte ich mit todernstem Gesicht. Olaf lachte und bespritzte mein Gesicht mit Wasser, als er einen Meter neben mir hineinsprang.

»Tatsächlich trocken«, meinte er, indem er hochschwamm.

»Gute Bezeichnung, wirklich. Trocken, jedoch recht ungemütlich.«

»O1, nun laufe ich.«

»Schön. Dann treffen wir uns beim Frühstück. Oder magst du nicht?«

»Aber ja.«

Ich lief nach oben, trocknete mich unterwegs ab. Vor der Tür hielt ich den Atem an. Schaute vorsichtig herein. Sie schlief immer noch. Ich nutzte die Gelegenheit und zog mich schnell um. Sogar rasieren konnte ich mich noch im Badezimmer.

Dann schob ich den Kopf wieder ins Zimmer hinein - mir schien, daß sie sich bewegt hatte. Als ich auf Zehenspitzen ans Bett herantrat, öffnete sie die Augen.

»Hab’ ich.., hier.., geschlafen?«

»Ja. Ja, Erl… «

»Mir war, als ob jemand… «

»Ja. Eri - ich.., ich war das.«

Sie sah mich lange an, als ob alle Erinnerungen erst langsam in ihr wach wurden. Ihre Augen weiteten sich anfangs ein wenig -vor Staunen? -, dann schloß sie sie, machte sie wieder auf -schaute verstohlen, sehr schnell, so aber, daß ich es merkte, unter die Bettdecke - und zeigte ihr gerötetes Gesicht.

Ich räusperte mich. »Du willst wohl in dein Zimmer- wie? Dann

gehe ich lieber, oder…?«

»Nein«, sagte sie, »ich hab’ doch den Mantel.« Sie zog ihn zusammen, setzte sich im Bett auf. »Ist es.., schon.., wirklich so?« fragte sie leise in einem Ton, als nähme sie von etwas Abschied. Ich schwieg.

Sie stand auf, ging durch das Zimmer, kam wieder zurück.

Sie hob die Augen, sah mir ins Gesicht - in ihrem Blick war eine Frage, eine Unsicherheit und noch etwas, was ich nicht erraten konnte.

»Herr Bregg… «

»Ich heiße Hal. So ein - Vorname…«

»Ha… Hai, ich…«

»Ja?«

»Ich… weiß wirklich nicht.., ich möchte… Seon…«

»Was?«

»Nun… er…«

Konnte oder wollte sie nicht »mein Mann« sagen?

»…kommt übermorgen wieder.«

»So?«

»Was soll dann werden?«

Ich schluckte.

»Soll ich mit ihm sprechen?« fragte ich.

»Wieso?«

Jetzt sah ich sie wiederum an, verdutzt, verständnislos.

»Sie… sagten doch gestern…«

Ich wartete.

»…daß… Sie mich mitnehmen werden.«

»Ja.«

»Und er?«

»Soll ich nicht mit ihm sprechen?« wiederholte ich dämlich. »Wieso sprechen? Sie - allein?«

»Wer denn sonst?«

»Muß es also.., das Ende sein?«

Irgend etwas würgte mich; ich räusperte mich wieder. »Aber… es gibt doch keinen anderen Ausweg.«

»Ich… ich dachte.., es wäre ein Mesk.«

»Ein… was?«

»Wissen Sie es denn nicht?«

»Nein. Ich weiß es nicht. Verstehe kein Wort. Was ist das denn?« fragte ich und fühlte ein ungutes Frösteln. Wieder stieß

ich an eine dieser plötzlichen Grenzen, an ein sumpfiges Mißverständnis.

»Es ist so. Ein… eine solche.., wenn jemand einen findet… und für einige Zeit dann möchte… - ja, wissen Sie wirklich nichts davon?«

»Warte, Eri. Ich weiß nichts, aber nun scheine ich doch etwas… ist es so etwas Provisorisches, so ein Interimszustand, so ein Augenblicksabenteuer?«

»Nein«, sagte sie, und ihre Augen wurden ganz rund. »Sie wissen also nicht.., wie das… Selbst weiß ich es auch nicht so genau, wie das ist«, gab sie plötzlich zu. »Hörte nur davon. Und dachte, daß Sie deshalb…«

»Eri- ich weiß nichts. Und der Teufel soll mich holen, wenn ich etwas kapiere. Hat das.., nun, jedenfalls hängt es wohl irgendwie mit der Ehe zusammen, ja?«

»Na ja. Man geht dann in so ein Amt und dort - ich weiß nicht genau - jedenfalls später ist.., ist es dann schon…« »Aber was?«

»Endgültig. So, daß man nichts sagen darf. Keiner. Das heißt, auch er…«

»Also ist es doch.., eine Art Legalisierung - na, zum Teufel-, Legalisierung des Ehebruchs? Ja?«

»Nein. Ja. Das heißt, es ist dann kein Ehebruch, übrigens - so sagt man nicht mehr. Es gibt keinen Ehebruch, denn, na, weil ich mit Seon nur für ein Jahr…«

»Waas?« sagte ich und meinte mich verhört zu haben. »Und was heißt das? Wieso auf ein Jahr? Jahresehe? Probeehe? Nur auf ein Jahr? Warum?«

»Es ist ein Versuch…«

»Ihr großen, schwarzen und blauen Himmel! Eine Probe also.

Und was ist - Mesk? Vielleicht ein Aviso fürs nächste Jahr?«

»Ich weiß nicht, was ein Aviso ist. Ehebruch - ja, ich habe davon gehört. Aber hier- das bedeutet, wenn eine Ehe nach einem Jahr auseinandergeht, dann wird das andere dann gültig. Wie eine Trauung.«

»Dieser Mesk?«

»Ja.«

»Und wenn nicht - was dann?«

»Nichts. Das hat keine Bedeutung.«

»Aha. Na, dann weiß ich’s schon. Nein. Gar kein Mesk. In alle

Ewigkeit. Weißt du, was das heißt?«

»Ja. Herr Bregg?«

»Nun?«

»Ich mache in diesem Jahr meine Prüfung in Archäologie…«

»Ich begreife schon. Du gibst mir zu verstehen, daß ich - indem ich dich für idiotisch halte, im Grunde selbst ein Vollidiot bin -stimmt’s?«

»Sie haben es sehr kraftvoll ausgedrückt.« Sie lächelte.

»Ja. Entschuldigung. Also, Eri, darf ich mit ihm sprechen?« »Worüber?«

Mein Kiefer klappte herunter. >Schon wieder!< dachte ich.

»Na, was, zum Kuck…«, ich biß mich in die Unterlippe. »Über uns.«

»Aber das tut man doch nicht.«

»Nein? Aha. Ja, so. Und was tut man denn?«

»Man führt eine Trennung durch. Aber, Herr Bregg, wirklich… ich.., ich kann doch nicht so…« »Sondern?«

Ratlos zuckte sie die Achseln.

»Soll das heißen, daß wir zu dem Punkt wiederkehren, von dem wir gestern abend ausgegangen sind?« fragte ich. »Eri, sei mir nicht böse, daß ich so spreche, ich bin, weißt du, doppelt gehandicapt. Ich kenne doch nicht all die Formen und Gebräuche, weiß nicht einmal, was sich im Alltag gehört oder nicht gehört, geschweige denn in solchen… «

»Ja. Ich weiß. Ich weiß. Aber ich und er… ich… Seon…«

»Ich verstehe schon«, sagte ich. »Weißt du was? Vielleicht setzen wir uns?«

»Ich kann besser im Stehen denken.«

»Meinetwegen. Hör zu, Eri. Ich weiß, was ich tun sollte. Dich mitnehmen, so wie ich’s sagte, und irgendwohin fahren - keine Ahnung, woher ich diese Sicherheit habe. Vielleicht entstammt sie nur meiner bodenlosen Dummheit. Aber mir scheint, am Ende würdest du dich mit mir wohl fühlen. Na ja. Nun aber, siehst du, bin ich wieder so, daß - na, kurz gesagt: Ich will es nicht tun. Um dich, sozusagen, nicht zu zwingen. Schließlich fällt ja die ganze Verantwortung für diese meine - nennen wir sie mal so -Entscheidung - auf dich… Also bin ich ein Schwein nicht von der rechten, sondern von der linken Seite. Ja. Ich sehe es recht gut. Recht gut sehe ich das. Also sag mir jetzt, bitte, nur noch eins -

was ziehst du vor?«

»Die rechte… «

»Was?«

»Die rechte Seite von diesem Schwein.«

Ich mußte lachen. Vielleicht etwas hysterisch. »Großer Gott.

So. Na, schön. Also darf ich mit ihm sprechen? Später. Das heißt, ich würde dann allein herkommen…«

»Nein.«

»Tut man so etwas nicht? Schon möglich. Aber ich habe das Gefühl, daß ich es tun sollte, Eri…«

»Nein. Ich bitte Sie… sehr darum. Wirklich. Nein. Nein!«

Plötzlich flossen Tränen aus ihren Augen. Ich schlang beide Arme um sie.

»Eri! Nein! Also nein. Ich werde machen, was du willst, aber weine nur nicht. Bitte. Denn … so weine doch nicht. Hör auf, hörst du? Oder… meinetwegen.., weine.., ich weiß schon selber nicht…«

»Ich… ich wußte nicht, daß es… so…«, murmelte sie, schluchzend.

Ich trug sie im Zimmer herum.

»Weine nicht, Eri… oder, weißt du was? Wir fahren.., auf einen Monat. Willst du es so? Und wenn du dann zurück Willst, fährst du eben zurück…«

»Bitte…«, sagte sie. »Bitte…«

Ich stellte sie auf den Boden.

»Darf man es nicht so? Ich weiß doch nichts. Dachte nur…«

»Ach, Sie sind schon einer! Dürfen, nicht dürfen. Ich will es nicht so haben. Will nicht!«

»Meine rechte Seite Vergrößert sich zusehends«, sagte ich unerwartet trocken. »Na, schon gut, Eri. Ich will mir jetzt nicht weiter den Kopf zerbrechen. Zieh dich nun an. Wir wollen frühstücken und fahren dann gleich los.«

Sie sah mich an mit Tränenspuren im Gesicht. Sie nahm sich ungewöhnlich zusammen. Runzelte die Brauen. Mir schien, daß sie noch etwas sagen wollte, was für mich wohl kaum schmeichelhaft gewesen wäre. Aber sie seufzte nur und ging wortlos hinaus. Ich setzte mich an den Tisch. Meine plötzliche Entscheidung - wie in einer Räubergeschichte - war die Sache eines Augenblicks. In Wirklichkeit war ich genauso entschlossen wie eine Windrose. Fühlte mich wie ein Holzklotz. >Wie kann ich, wie kann ich nur?<

-    fragte ich mich. Ach, was für eine Verwirrung!

-    In der halb offenen Tür stand Olaf.

»Mein Sohn«, sagte er, »tut mir leid. Es ist der Gipfel der Indiskretion, den ich da erklimme, aber ich habe alles gehört. Konnte nicht anders. Man sollte die Türen schließen, und außerdem hast du ja eine recht gesunde Stimme. Hal- du überbietest dich selbst. Was verlangst du von einem Mädchen? Dir gleich um den Hals zu fallen, nur weil du einmal auf Keren…« »Olaf!« knurrte ich.

»Nur Ruhe kann uns noch retten. Na, eine Archäologin machte einen schönen Fund. Einhundertsechzig Jahre - gehört wohl schon zur Antike - oder?«

»Deine Art von Humor…«

»Sagt dir nicht zu. Weiß ich. Mir auch nicht. Aber was hätte ich denn davon, mein Lieber, wenn ich dein Inneres nicht so gut kennen würde? Das Begräbnis eines Freundes und Schluß. Hai,

Hal…«

»Ich weiß genau, wie ich heiße.«

»Was willst du denn? Los - Kaplan! Wir essen und machen uns dann aus dem Staub.«

»Hab’ nicht mal ‘ne Ahnung, wohin.«

»Zufällig weiß ich es aber. An der See kann man noch kleine Häuschen mieten. Ihr nehmt den Wagen…« »Wieso - >ihr<?«

»Und wieso anders? Meinst du wohl die Heilige Dreifaltigkeit? Kaplan…«

»Olaf, wenn du jetzt nicht Schluß machst… «

»Schön. Ich weiß. Du möchtest alle glücklich machen: mich, sie, diesen Seol oder Seon… nein, das geht nicht. Hal, wir werden zusammen fahren. Kannst mich aber höchstens bis Houl bringen, dort nehme ich einen Ulder.«

»Na, ha«, sagte ich, »schöne Ferien habe ich dir da eingebrockt.«

»Wenn ich nicht klage, solltest du es auch nicht tun. Vielleicht wird noch was daraus. Und jetzt Schluß. Komm.«

Das Frühstück verlief in einer sonderbaren Atmosphäre. Olaf sprach mehr als gewöhnlich, aber eher in die Luft. Eri und ich sagten fast kein Wort. Dann holte der weiße Roboter einen Glider, mit dem Olaf nach Klavestra fuhr, um den Wagen zu holen.

Im letzten Augenblick kam es ihm in den Sinn. Nach einer Stunde

war das Auto schon im Garten, ich lud meine ganze Habe ein, Eri nahm auch ihre Sachen- nicht alle, wie mir schien, aber ich stellte keine Fragen; eigentlich sprachen wir überhaupt nicht miteinander. Und bei dem sonnigen Tag fuhren wir in der schon aufkommenden Hitze zuerst nach Houl - es lag etwas abseits von der Straße-, wo Olaf ausstieg; daß er dort für uns bereits ein Häuschen gemietet hatte, erzählte er erst im Wagen.

Einen Abschied gab es eigentlich nicht.

»Hör mal«, sagte ich, »wenn ich dir eine Nachricht gebe.., wirst du kommen?«

»Klar. Ich schicke dir noch meine Adresse.«

»Schreibe poste restante, Houl«, sagte ich. Er reichte mir seine harte Hand. Wie viele solche Hände gab es wohl noch auf der ganzen Erde?

Ich drückte sie, bis meine Knochen knackten. Ohne mich umzusehen, setzte ich mich dann in den Wagen. Wir fuhren kaum eine Stunde. Olaf hatte mir gesagt, wo das Häuschen zu finden ist. Es war klein-vier Zimmer, ohne Schwimmbecken, aber am Strand, direkt an der See. Als wir auf einer weiteren Anhöhe an den Reihen bunter Häuschen vorbeifuhren, die verstreut auf den Hügeln standen, sahen wir von der Straße den Ozean. Noch ehe er zum Vorschein kam, hörte man sein dumpfes, fernes Grollen.

Von Zeit zu Zeit sah ich Eri an. Sie schwieg, saß kerzengerade, schaute nur selten seitwärts auf die vorbeifliegende Landschaft. Das Häuschen - unser Häuschen - sollte blau mit einem orangefarbenen Dach sein. Als ich mir mit der Zunge über die Lippen fuhr, spürte ich Salzgeschmack. Die Straße wand sich, lief parallel zur sandigen Uferlinie. Der Ozean mit seinen von weitem scheinbar reglosen Wellen mischte seine Stimme mit dem Dröhnen des stark laufenden Motors.

Das Häuschen war eines der letzten. Ein kleiner Garten mit Sträuchern, die vom Salzbelag grau waren, trug die Spuren eines kürzlichen Sturms. Die Wellen mußten bis an den niedrigen Zaun gereicht haben: hier und da fand man noch leere Muscheln. Das schräge Dach schob sich nach vorne, bildete etwas wie eine phantasievoll geschwungene Hutkrempe und gab recht viel Schatten. Das Nachbarhäuschen sah man hinter einer großen, spärlich bewachsenen Düne. Bis zu ihm waren es sechshundert Schritte. Unten, auf dem halbmondförmigen Strand sah man winzige menschliche Silhouetten.

Ich öffnete die Wagentür.

»Eri… «

Wortlos stieg sie aus. Könnte ich bloß ahnen, was da unter dieser leicht gekrausten Stirn vorging. Sie ging neben mir - schritt auf diese Tür zu.

»Nein - nicht so«, sagte ich. »Selbst darfst du nicht über die Schwelle treten, weißt du?« »Warum?«

Ich hob sie hoch.

»Mach auf«, bat ich. Sie berührte die Türplatte mit den Fingern, und die Tür öffnete sich. Ich trug sie über die Schwelle und ließ sie dann auf den Boden gleiten.

»Es ist so ein Brauch. Bringt… Glück.«

Als erstes ging sie die Zimmer ansehen. Die Küche war hinten, automatisch, und ein Roboter, eigentlich kein richtiger, sondern nur so ein elektrisches Dummerchen zum Saubermachen. Es konnte auch servieren. Führte Befehle aus, sprach aber selbst nur ein paar Worte.

»Eri«, sagte ich, »willst du an den Strand?«

Sie verneinte mit dem Kopf. Wir standen inmitten des größten Zimmers: weiß und gold.

»Und was willst du? Vielleicht…«

Ehe ich noch zu Ende sprach, wieder dieselbe Kopfbewegung.

Ich sah schon, was sich da anbahnte. Aber ich hatte ja die Würfel geworfen, und das Spiel mußte weitergehen.

»Ich bringe die Sachen«, sagte ich. Wartete noch, ob sie etwas sagen würde, aber sie setzte sich in einen der grasgrünen Sessel, und ich verstand, daß sie nichts sagen wollte. Dieser erste Tag war schrecklich. Eri tat nichts Demonstratives, mied mich auch nicht absichtlich, versuchte sogar nach dem Mittagessen etwas zu lernen- da bat ich sie, im Zimmer bleiben zu dürfen, um ihr zuzuschauen. Ich versprach, kein Wort zu reden und nicht zu stören. Aber schon nach einer Viertelstunde - was war ich doch für ein heller Kopf! - begriff ich, daß meine Anwesenheit auf ihr wie ein schwerer Felsbrocken lastete. Die Linie ihres Rückens, ihre klein nen, vorsichtigen Gesten und ihre verborgene Anstrengung hatten es mir verraten. Also lief ich schweißbedeckt fort und fing an, in meinem Zimmer auf und ab zu gehen.

Ich kannte sie noch nicht, obwohl ich schon wußte, daß sie kein dummes Mädchen war, sondern vielleicht eher das Gegenteil da-

von. Bei der nun entstandenen Situation war das sowohl gut wie schlecht. Gut: denn wenn sie es nicht verstand, so konnte sie sich zumindest denken, wer ich war, und sah in mir kein barbarisches Ungeheuer und auch keinen Wilden.

Schlecht: denn wenn dem so war, blieb der Rat, den mir Olaf im letzten Augenblick gegeben hatte, wertlos. Er zitierte mir e-nen Aphorismus aus dem Buche Hon, den ich auch kannte: »Soll die Frau wie eine Flamme werden, muß der Mann wie Eis sein.« Also sah ich meine einzige Chance in der Nacht, nicht im Tage. Ich wollte dies nicht und quälte mich darum so schrecklich. Aber ich verstand, daß ich in dieser kurzen Zeit, die ich vor mir hatte, mit ihr durch Worte keinen Kontakt bekommen würde. Ganz gleich was ich sage, alles wird außerhalb bleiben - weil es nicht an ihre Gründe heranreicht, an ihren kurzen, durchaus gerechtfertigten Zornausbruch, als sie »…will nicht, ich will nicht!« zu rufen anfing. Und auch die Tatsache, daß sie sich damals wieder so schnell beherrschen konnte, hielt ich für ein schlechtes Zeichen.

Am Abend bekam sie Angst. Ich versuchte, leiser als das Wasser und kleiner als die Grashalme zu sein, wie Woow - dieser kleine Pilot, der allergrößte Schweiger, den ich je kannte: er vermochte

- ohne ein Wort zu sprechen - alles, was er nur wollte, klarzumachen und auch zu tun.

Nach dem Abendessen- sie aß nichts, was in mir ein Entsetzen hervorrief- spürte ich eine Wut aufsteigen, so daß ich sie manchmal wegen meiner eigenen Qual fast haßte. Und die uferlose Ungerechtigkeit dieses Gefühls vertiefte es nur noch.

Unsere erste, wirkliche Nacht: als sie in meinen Armen, noch ganz erhitzt, einschlief und ihr keuchender Atem mit einzelnen, immer schwächeren Seufzern ins Vergessen überging, war ich eigentlich sicher, ein Sieger zu sein. Die ganze Zeit über hatte sie gekämpft, nicht mit mir, sondern mit ihrem eigenen Körper, den ich nun kennenlernte. Von den dünnen Fingernägeln, winzigen Fingern, Handflächen, Füßen an, deren einzelne Bestandteilchen und jede Biegung ich öffnete und mit meinen Küssen zum Leben rief, mit meinem Atem in sie eindringend - gegen sie selbst, mit einer unendlichen Geduld und Langsamkeit, so daß die Obergänge fast unmerklich waren.

Und als ich einen ansteigenden Protest, wie den Tod, spürte, zog ich mich zurück, fing an, ihr verrückte, sinnlose, kindische Worte

zuzuflüstern, schwieg dann wieder und liebkoste sie nur, umkreiste sie, stundenlang, mit meinem Tastsinn, spürte, wie sie sich öffnete, wie ihre Steifheit in das Zittern des letzten Widerstandes überging… dann erzitterte sie schon anders, bereits besiegt, ich aber wartete noch immer, ohne zu sprechen, denn dies war jenseits aller Worte. Aus dem Dunkel holte ich ihre auf dem Lager ruhenden, schlanken Schultern und ihre Brust, die linke, weil dort das Herz schlug, schneller, immer schneller… Sie atmete immer heftiger, immer verzweifelter, und dann ist es geschehen; es war nicht einmal Lust, sondern die Gnade des Absterbens und Zu-sammenfließens, ein Sturm an der Grenze unserer Körper, damit sie in dieser Heftigkeit zu einem zusammenschmolzen. Unsere kämpfenden Atemzüge, unsere Glut gingen in eine Ohnmacht über, sie schrie einmal schwach, mit einer hohen Kinderstimme auf und umarmte mich dann.

Später glitten ihre Hände von mir ab, verstohlen wie mit einer großen Scham und Traurigkeit, so als ob sie plötzlich verstanden hätte, wie schrecklich ich sie hintergangen und betrogen hatte. Und ich fing noch einmal alles an: das Küssen ihrer Fingerkrümmungen, die stummen Beschwörungen, diesen zärtlichen und doch so grausamen Feldzug. Alles wiederholte sich wie in einem schwarzen, heißen Traum. Und mit einemmal spürte ich ihre Hand, die in meinem Haar steckte, die mein Gesicht an ihren nackten Arm drückte mit einer Kraft, die ich bei ihr nie vermutet hätte. Und dann, todmüde, schnell atmend, als wollte sie die steigende Hitze und die plötzliche Angst loswerden, schlief sie ein.

Ich lag reglos, wie ein Toter, bis zum äußersten gespannt, und versuchte zu verstehen, ob das, was geschehen war, alles oder überhaupt nichts bedeutete. Kurz vor dem Einschlafen schien mir, daß wir gerettet seien. Und erst dann kam die Ruhe, die große Ruhe, so groß wie auf Kerenea, als ich auf den heißen Platten der geborstenen Lava mit dem bewußtlosen Arder lag, aber hinter dem Glas seines Raumanzuges sah ich seinen Mund atmen und wußte, daß alles nicht umsonst gewesen war. Ich hatte aber keine Kraft mehr, um für ihn auch nur den Hahn der Reserveflasche zu öffnen; ich lag da wie gelähmt mit dem Gefühl, daß mein größtes Lebenserlebnis doch schon hinter mir wäre, und wenn ich nun stürbe, würde sich nichts mehr ändern. Und diese meine Ratlosigkeit war wie ein unausgesprochenes Schweigen des Triumphes.

Am Morgen aber fing alles wieder von vorne an. In den ersten Stunden schämte sie sich noch, oder war es vielleicht Verachtung, mir gegenüber? Ich weiß nicht; vielleicht verachtete sie sich selbst wegen der Dinge, die da geschehen waren. Gegen Mittag gelang es mir, sie zu einer kleinen Fahrt zu überreden. Wir fuhren die Straße hinunter an den Riesenstränden entlang. Der Stille Ozean lag in der Sonne, ein rauschender Riese, von weißen und goldenen Schaumsicheln zerfurcht und bis zum Horizont mit bunten Segelläppchen besät. Ich hielt den Wagen dort an, wo die Strände ein Ende nahmen und plötzlich ein kleiner Felsvorsprung zum Vorschein kam. Die Straße wendete dort scharf: einen Meter hinter ihr konnte man direkt in die heftig steigenden Wellen schauen. Dann fuhren wir zum Mittagessen zurück.

Es war wieder wie gestern, in mir aber erstarb alles, als ich an die Nacht dachte. Weil ich das nicht wollte. So wollte ich es nicht. Als ich sie nicht ansah, spürte ich ihre Blicke. Ich versuchte zu erraten, was die auf ihrer Stirn wiederkehrenden Runzeln und ihre plötzlich verlorenen Blicke zu bedeuten hatten - und urplötzlich - ich weiß nicht wieso und warum, als ob mir jemand den Schädel mit einem Hieb geöffnet hätte - verstand ich alles.

Ich hatte Lust, mich mit den eigenen Fäusten an den Kopf zu schlagen. Was für ein egoistischer Dummkopf war ich doch wieder, was für ein sich selbst betrügender Schweinehund! Ich saß, reglos, verstört, nur dieser Sturm wütete in mir, Schweiß trat mir auf die Stirn, ich fühlte mich plötzlich ganz schwach.

»Was hast du?« fragte sie.

»Eri«, sagte ich heiser, »ich… erst jetzt. Ich schwör es dir! Erst jetzt begreif ich, erst jetzt, daß du mit mir gegangen bist, weil du Angst hattest, daß ich.., ja?«

Ihre Augen weiteten sich vor Staunen, sie sah mich aufmerksam an, witterte wohl einen Betrug, eine Komödie. Sie nickte.

Ich sprang auf. »Wir fahren.«

»Wohin?«

»Nach Klavestra. Pack deine Sachen. Wir werden - ich sah auf meine Uhr - in drei Stunden dort sein.«

Unbeweglich stand sie da. »Wirklich?« fragte sie.

»Wirklich, Eri! Ich hab’s nicht verstanden. Ja, ich weiß. Es klingt unwahrscheinlich. Es gibt aber Grenzen. Ja, Grenzen. Eri, ich begreife es noch nicht ganz - wie ich das eigentlich konnte - habe mich wohl selbst belogen. Na, ich weiß nicht, egal auch, jetzt

spielt es keine Rolle mehr.«

Sie packte - so schnell… Alles in mir war zerschlagen und zerrüttet. Aeußerlich jedoch war ich ganz - ja, fast ganz ruhig. Als sie neben mir im Auto saß, sagte sie: »Hai- ich bitte dich um Entschuldigung.«

»Weshalb? - Ah!« verstand ich. »Du dachtest, ich hätte es gewußt?« »Ja.«

»Schön. Reden wir nicht mehr darüber.«

Und wieder fuhr ich los; vorbei flogen lila, weiße, blaue Häuschen, die Straße wand sich, ich erhöhte die Geschwindigkeit noch, der Verkehr war recht stark, hörte dann auf, die Häuschen verloren ihre Farben, der Himmel wurde dunkelblau, die Sterne kamen auf, und wir flogen im langgczogenen Pfeifen des Windes.

Die ganze Gegend wurde grau, die Höhen schienen nicht mehr bauchig, wurden zu Konturen, zu einer Reihe grauer Höcker, die Straße schien im Halbdunkel wie ein breiter, phosphoreszierender Gurt. Ich erkannte die ersten Häuser von Klavestra, die typische Straßenwendung, die Hecken. Dicht am Eingang hielt ich den Wagen an, brachte ihre Sachen in den Garten, unter die Veranda.

»Ich möchte nicht ins Haus… verstehst du.«

»Ja.«

Ich wollte mich nicht von ihr verabschieden, drehte mich einfach um. Sie berührte meine Hand, ich zuckte zusammen, als ob ich mich verbrannt hätte. »Hal, danke dir…«

»Sag nichts. Um Gottes willen, sprich bloß nicht.«

Ich lief weg. Sprang in den Wagen, fuhr los, das Dröhnen des Motors schien mich für eine Weile zu erlösen. Auf zwei Rädern kam ich auf die pfeilgerade Straße. Es war zum Lachen. Natürlich hatte sie Angst, ich würde ihn töten. Sie sah doch, daß ich Olaf zu töten versuchte, der ja völlig unschuldig war, und nur deshalb, weil er mir nicht erlaubte.., ach, überhaupt!… überhaupt nichts mehr. Ich schrie allein im Wagen, konnte mir alles leisten, der Motor verdeckte mein irrsinniges Toben - und wieder weiß ich nicht, in welchem Augenblick ich erkannte, was ich zu tun hatte. Noch einmal - wie vorher - kam die Ruhe. Nicht dieselbe zwar. Denn die Tatsache, daß ich die Situation so gemein ausgenutzt und sie auf diese Weise gezwungen hatte, mit mir zu gehen, und daß alles allein nur deshalb geschah - das war schlimmer als alles, was ich mir vorstellen konnte, weil es mir sogar die Erinnerungen, den Gedanken an unsere Nacht, raubte - einfach alles. Ich selbst hatte es mit meinen eigenen Händen durch einen uferlosen Egoismus, eine Verblendung vernichtet, die mich das, was ganz oben lag und am selbstverständlichsten war, nicht sehen ließ - sie log ja nicht, als sie sagte, sie hätte keine Angst vor mir. Nicht ihretwegen hatte sie Angst, klar. Nur seinetwegen.

Hinter den Fenstern flogen kleine Lichter vorbei, zerliefen, rannten weich nach rückwärts, die Gegend war unbeschreiblich schön. Und ich, zerrissen, zermalmt, raste mit quietschenden Reifen von einer Kurve in die andere, zum Stillen Ozean, zu den Felsen dort; in einem Moment, als der Wagen stärker als erwartet ins Schleudern geriet und mit den rechten Rädern über den Stra-Benrand kam, fühlte ich Angst, es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann lachte ich wie ein Irrer - daß ich Angst hatte, gerade hier umzukommen, weil ich mir vorgenommen hatte, es woanders zu tun. Und dieses Lachen ging dann plötzlich in ein Schluchzen über. >Ich sollte es schnell machen<, dachte ich, >denn nun bin ich nicht mehr derselbe. Das, was mit mir geschieht, ist mehr als schrecklich, es ist ekelhaft.< Und noch etwas sagte ich mir: - daß ich mich schämen sollte. Aber diese Worte hatten jetzt weder Sinn noch Gewicht.

Es War schon ganz dunkel, die Straße fast leer, da in der Nacht kaum einer fuhr - bis ich unweit hinter mir einen schwarzen Glider bemerkte. Er glitt leicht und mühelos dort entlang, wo ich ganz heftig mit den Bremsen und dem Gas umging. Denn die Glider halten sich an der Straße durch die magnetische oder Gravitationsanziehungskraft - weiß der Teufel. Kurz, er konnte mich mühelos überholen, hielt sich aber hinter mir, so etwa achtzig Meter, einmal kam er näher, blieb dann wieder zurück. In den scharfen Kurven, wo ich mit dem ganzen Wagenheck über die Fahrbahn fegte und links schleuderte, blieb er hinten, obwohl ich nicht glaubte, daß er mit mir nicht das Tempo halten konnte. Vielleicht hatte der Fahrer Angst. Aber ja, richtig, dort gab es ja keine Fahrer. Was ging mich übrigens dieser Glider an?

Er ging mich doch etwas an, denn ich spürte, daß er sich nicht so umsonst an mich gehängt hatte. Plötzlich kam mir in den Sinn, es wäre Olaf. Olaf, der mir - und mit Recht - nicht einen Deut traute, irgendwo in der Gegend auf Lauer lag und den Verlauf

durchdringende Pfeifen der zerschnittenen Luft hindurch ließ sich schon das unsichtbare, vor mir ausgebreitete, riesengroße und wie aus bodenlosen Tiefen aufsteigende Rauschen des Stillen Ozeans vernehmen-

>Fahr du man<, dachte ich, >fahre getrost. Du weißt doch nicht, was ich weiß. Du verfolgst mich, spürst mir nach, läßt mir keine Ruhe - wunderbar! Ich aber werde dir wegrennen, spring dir schon vor der Nase ab, ehe du auch nur mit den Augen zwinkern kannst; kannst dich kopfstellen, und nichts wird dir helfen, denn der Glider geht von der Straße nicht ab. So daß ich sogar in der allerletzten Sekunde ein reines Gewissen haben werde. Fabel-haft.< Gerade fuhr ich an dem Häuschen vorbei, in dem wir gewohnt hatten - seine drei hellerleuchteten Fenster gaben mir im Vorbeifahren einen Stich, wie um mir zu beweisen, daß es kein Leiden gibt, das nicht noch größer werden könnte. Und dann kam ich auf den letzten Straßenabschnitt, der parallel zum Ozean verlief. Zu meinem Schrecken vergrößerte der Glider plötzlich seine Geschwindigkeit und wollte überholen. Ich schnitt ihm brutal die Bahn ab, indem ich nach links steuerte. Er hielt sich zurück, und so manövrierten wir weiter - jedesmal, wenn er nach vorne wollte, sperrte ich mit meinem Wagen die linke Straßenseite ab, wohl an die fünfmal.

Plötzlich aber, obwohl ich den Weg versperrte, fing er an, mich zu überholen, mein Wagen rieb sich fast an der schwarzen und blanken Oberfläche des fensterlosen, wie menschenlosen Geschosses; in diesem Augenblick wurde ich völlig sicher, daß es nur Olaf sein konnte, denn kein anderer Mensch würde so etwas wagen. Aber Olaf konnte ich doch nicht töten. Das konnte ich wirklich nicht. Also ließ ich ihn durch, und ich dachte, daß er mir nun wiederum den Weg versperren werde. Er aber hielt sich nur fünf-zehn Meter vor meinem Kühler. >Na<, dachte ich, >schadet nichts.< Und ich fuhr nun langsamer, in der schwachen Hoffnung, daß er sich vielleicht würde entfernen wollen. Er aber wollte sich nicht entfernen; er verlangsamte ebenfalls sein Tempo.

Es war fast noch eine Meile bis zu dieser letzten Kurve bei den Felsen, als der Glider noch langsamer zu fahren anfing: er fuhr jetzt in der Mitte, so daß ich ihn nicht überholen konnte. Ich dachte: >Vielleicht gelingt es mir jetzt schon, jetzt!< Aber da gab es keine Felsen, nur den sandigen Strand, und der Wagen wäre mit sämtlichen Rädern nach hundert Metern im Sand steckengeblieben, ohne den Ozean auch nur zu erreichen - so etwas Blödes kam ja nicht in Frage. Ich hatte keine andere Wahl und mußte weiterfahren.

Der Glider verlangsamte seine Fahrt noch mehr, und ich merkte, daß er gleich stehenbleiben würde; seine schwarze Karosserie leuchtete mit dem Schlußlicht auf, wie mit Blut begossen

- nein, das waren die Bremslichter. Ich versuchte mit einer plötzlichen Wendung ihn zu überholen, aber er versperrte mir den Weg. Er war schneller und wendiger als ich - schließlich auch nur von einer Maschine geleitet. Die Maschine hat ja immer einen schnelleren Reflex. Ich drückte mit dem Fuß auf die Bremse, zu spät. Ein schreckliches Krachen, direkt vor der Windschutzscheibe wuchs nun eine schwarze Masse empor, ich wurde nach vorn geschleudert und verlor das Bewußtsein.

Ich schlug die Augen wie nach einem Traum auf, nach einem bewußtlosen Traum - ich träumte, daß ich schwämme. Etwas Kaltes, Nasses floß über mein Gesicht, ich spürte Hände, die mich schüttelten, und hörte eine Stimme-»Olaf«, stammelte ich, »Olaf, warum? Warum…?«

»Hal!!«

Ich zuckte zusammen; stützte mich auf den Ellbogen und sah ihr Gesicht dicht über mir. Als ich mich setzte, so benommen, daß mir gar kein Gedanke kam, glitt sie langsam auf meine Knie, ihre Schultern zitterten krampfhaft, und ich glaubte es immer noch nicht. Mein Kopf schien riesengroß und wie aus Watte zu sein.

»Eri«, sagte ich mit betäubten Lippen, die eigenartig groß, schwer und auch irgendwie sehr weit von mir entfernt waren.

»Eri - bist du das.., oder…?«

Plötzlich kehrten meine Kräfte wieder, ich faßte sie an den

Schultern, riß sie hoch, sprang auf, taumelte mit ihr zusammen

- wir fielen beide in den noch warmen, weichen Sand. Ich küßte ihr salziges, nasses Gesicht und weinte zum ersten Mal in meinem Leben, und sie weinte auch. Wir sprachen lange kein Wort, langsam bekamen wir fast Angst- ich weiß nicht wovor-, sie sah mich mit geweiteten Augen an.

»Eri«, wiederholte ich, »Eri… Eri…«

Mehr wußte ich nicht. Ich legte mich in den Sand, ganz plötzlich schwach, und sie bekam einen Schreck, versuchte mich hochzuheben, hatte aber zu wenig Kraft dazu.

»Nein, Eri«, flüsterte ich, »nein, mir ist nichts passiert, es ist nur SO…<<

»Hai! So rede doch! Rede!«

»Was soll ich schon reden… Eri…«

Meine Stimme beruhigte sie ein wenig. Sie lief fort und kam bald mit einer flachen Schüssel zurück, sie begoß mein Gesicht mit Wasser - es war salzig -, es war ja Meerwasser. >Ich habe mehr davon trinken wollen<, flog es mir sinnlos durch den Kopf; ich zwinkerte. Mein Bewußtsein kam langsam wieder. Ich setzte mich und berührte meinen Kopf.

Nicht mal eine Verletzung: das Haar hat alles abgefangen, ich hatte nur eine orangegroße Beule, etwas abgeschürfte Haut, in den Ohren sauste es noch gehörig, aber ich war fast schon wieder in Ordnung. Jedenfalls, solange ich saß. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine wollten nicht so recht gehorchen.

Sie kniete vor mir nieder, blickte mich an, mit herabfallenden Armen.

»Bist du das? Wirklich?« fragte ich. Erst jetzt verstand ich; drehte mich um und sah durch einen brechreizerregenden Schwindel, den diese Bewegung im Kopf verursachte, im Licht des Neumonds, einige Meter weiter entfernt, am Straßenrand zwei ineinander verhakte schwarze Umrisse. Mir fehlte die Stimme, als ich mit dem Blick zu ihr zurückkehrte.

»Hai… «

»Ja.«

»Versuch doch aufzustehen.., ich helfe dir…«

»Aufstehen?«

Mein Hirn schien noch nicht so recht zu funktionieren. Ich be -griff, was geschehen war, und verstand es doch nicht. War Eri in dem Glider gewesen? Unmöglich.

»Wo ist Olaf?« fragte ich.

»Olaf? Ich weiß nicht.«

»Wieso… War er nicht hier?«

»Nein.«

»Du allein?«

Sie nickte.

Und plötzlich überkam mich eine schreckliche, eine unheimliche Angst. »Wie konntest du! Wie konntest du nur!«

Ihr Gesicht zitterte, auch ihr Mund, sie war nicht imstande, ein Wort auszusprechen. »I… ich.., mu… mußte…«

Sie weinte schon wieder. Nur langsam wurde sie stiller, ruhiger. Sie berührte mein Gesicht, die Stirn, und ich wiederholte in einem Atem: »Eri… bist du das?«

Fieberwahn. Dann, ganz langsam, stand ich auf, sie stützte mich, wie sie nur konnte; wir kamen zur Straße. Erst dort sah ich, wie der Wagen zugerichtet war: der Kühler, das ganze Vorderteil glich einer Ziehharmonika. Der Glider war aber - im Gegensatz dazu - kaum beschädigt - jetzt begriff ich seine Überlegenheit-, mit Ausnahme einer kleinen Vertiefung an der Seite, dort, wo der Zusammenprall erfolgte, sonst nichts.

Eri half mir einzusteigen, zog den Glider zurück, bis das Autowrack mit einem langanhaltendem Gedröhn von Blech auf die Seite fiel, und fuhr los. Wir fuhren zurück. Ich schwieg, die Lichter flossen vorbei. Mein Kopf wackelte auf der Schulter, immer noch groß und schwer. Vor dem Häuschen stiegen wir aus. Die Fenster waren immer noch erleuchtet, als wären wir selber da drin. Sie half mir hineinzugehen. Ich legte mich aufs Bett. Sie ging an den Tisch, um ihn herum, auf die Tür zu. Ich sprang auf:

»Gehst du fort?«

Sie lief zu mir, glitt am Bett auf die Knie und sagte mit ihrem Kopf: »Nein.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Und wirst du nie fortgehen?«

»Nie.«

Ich umarmte sie. Sie legte die Wange an mein Gesicht, und mich verließ nun alles: die schon verglimmende Glut meiner Starrköpfigkeit, Wut und Irrsinn der letzten Stunden, die Angst, die Verzweiflung. Leer lag ich da, wie tot - drückte sie nur an mich, immer fester, als wären meine Kräfte wiedergekommen. Es

herrschte Stille, das Licht glitzerte auf den goldenen Wandbehängen des Zimmers. Irgendwo in der Ferne, fast wie in einer anderen Welt, hinter dem offenen Fenster, rauschte der Stille Ozean.

Es mag ungewöhnlich erscheinen, aber wir sprachen weder an diesem Abend noch in dieser Nacht ein Wort. Nichts. Erst am nächsten Tag, spät, erfuhr ich, wie es gewesen war: als ich wegfuhr, kam sie recht bald dahinter, weshalb, und erschrak, wußte nicht, was sie tun sollte-wollte zuerst den weißen Roboter rufen, begriff aber, daß dies nichts nützen würde. Auch »er« - sie nannte ihn nie anders -, er würde da auch nicht helfen. Vielleicht Olaf.

Olaf ganz bestimmt. Aber sie wußte nicht, wo sie ihn suchen sollte, außerdem war ja keine Zeit zu verlieren. So nahm sie den Hausglider und fuhr mir nach. Bald hatte sie mich eingeholt und blieb hinter mir, solange es noch eine Chance gab, daß ich nur in das Häuschen zurück wollte.

»Wärest du ausgestiegen?« fragte ich.

Sie zögerte. »Ich weiß nicht. Glaube wohl schon. Jetzt denke ich so, aber ich weiß es selbst nicht genau.«

Dann, als sie merkte, daß ich weiterfuhr, erschrak sie noch mehr. Den Rest kannte ich schon.

»Nein. Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte ich. »Jetzt kann ich noch immer nichts begreifen. Wie konntest du das nur tun?«

»Ich… ich hab’ mir gesagt, daß da nichts passieren darf.«

»Und wußtest, was und wo ich es tun wollte?«

»Ja.«

»Woher?«

Nach einer langen Weile: »Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich dich schon ein kleines bißchen kannte…«

Ich schwieg. Viele Fragen wollte ich noch stellen, traute mich aber nicht. Wir standen am Fenster. Mit geschlossenen Augen, die sich hinter dem Ozean öffnende Weite spürend, sagte ich:

»Na schön, Eri… aber nun? Was wird nun.., werden?« »Das sagte ich dir schon.« »Aber so will ich es nicht«, flüsterte ich.

»Anders kann es nicht sein«, antwortete sie nach einer langen Pause. »Und übrigens…«

»Übrigens?«

»Will ich nicht.«

An diesem Abend wurde es irgendwie fast wieder schlimmer.

Denn dies kam und drängte sich vor, fiel zurück - warum wohl? Keine Ahnung. Sie wußte es wohl auch nicht. Nur in den entscheidenden Augenblicken schienen wir uns näherzukommen, erst dann kannten wir einander und vermochten uns zu verstehen. Und die Nacht. Und noch ein Tag.

Und am vierten Tag hörte ich sie telefonieren und bekam eine furchtbare Angst. Später weinte sie dann. Aber beim Mittagessen lächelte sie bereits.

Und so waren dann der Anfang und das Ende. Denn in der nächsten Woche fuhren wir nach Mae, Bezirksmitte, und dort, vor einem weißgekleideten Mann, sprachen wir die Formeln aus, die uns zu einem Ehepaar machten. An demselben Tag telegrafierte ich an Olaf. Am nächsten Tag ging ich zur Post, aber es gab keine Nachricht von ihm. Ich dachte, daß er verzogen wäre und daß daher diese Verzögerung käme. Aber, um die Wahrheit zu sagen, spürte ich schon auf der Post ein Gefühl der Unruhe. Dieses Schweigen war Olaf durchaus nicht ähnlich. JedoCh wegen all der Dinge, die da passiert waren, dachte ich daran nur ganz kurz und habe rein gar nichts geahnt.

Als hätte ich es vergessen.

Für ein Paar, das nur infolge der Heftigkeit meines Begehrens zusammenkam, waren wir erstaunlich harmonisch. Unser Leben wurde auf eine ziemlich eigenartige Weise eingeteilt. Hatten wir Meinungsverschiedenheiten, so verstand Eri ihren Standpunkt zu verteidigen, aber meist ging es dabei um allgemeine Fragen. Sie war zum Beispiel eine überzeugte Anhängerin der Betrisierung und verteidigte sie mit Argumenten, die sie nicht den Büchern entnahm. Die Tatsache, daß sie ihre Meinung so offen der meinen entgegensetzte, hielt ich für ein gutes Zeichen, aber unsere Diskussionen fanden am Tage statt. In seinem Licht auch über mich in einer ruhigen, objektiven Art zu sprechen, traute sie sich nicht

- oder vielmehr wollte sie nicht, weil sie wahrscheinlich nicht wußte, welches von ihren Worten zu einer Kritik irgendeines meiner Fehler oder Lächerlichkeiten werden würde und welches zu einem Angriff gegen die Wertbegriffe meiner Zeit. In der Nacht aber - als ob die Dunkelheit meine Anwesenheit reduzierte und verdünnte - sprach sie zu mir über mich, das heißt -über uns. Und ich erfreute mich an diesen Gesprächen in der Dunkelheit, weil sie so barmherzig mein vielfaches Staunen verdeckte.

Sie erzählte mir von sich, von ihrer Kindheit. Auf diese Weise erfuhr ich zum zweiten, oder eher zum ersten Mal - jetzt erst mit einem reellen, menschlichen Inhalt erfüllt -, wie kunstvoll diese Gesellschaft einer andauernden, zärtlich stabilisierten Harmonie konstruiert war. Als natürlich wurde da betrachtet, daß Kinder haben und sie in den ersten Lebensjahren erziehen ein Problem ist, das hohe Qualitäten und eine vielseitige Vorbereitung erfordert, ganz spezielle Studien also; allein für die Erlaubnis, einen Nachkommen zu zeugen, mußte ein Ehepaar eine Reihe von Tests bestehen; am Anfang schien mir das unerhört, aber nach einigem Nachdenken mußte ich zugeben, daß paradoxe Sitten vielmehr uns, die Alten, nicht sie, belasteten. Denn in der alten Gesellschaft konnte man kein Haus, keine Brücke bauen, keine Krankheit heilen, keine einfache Verwaltungsmaßnahme durchführen, ohne eine entsprechende Ausbildung zu besitzen, und allein das Problem der größten Verantwortung, das Zeugen von Kindern und die Gestaltung ihrer Psyche, wurde dem blinden Zufall und der momentanen Begierde überlassen.

Die Gesellschaft griff erst dann ein, wenn Fehler begangen worden waren, für deren Korrektur es bereits zu spät war.

Das Recht auf ein Kind war also eine besondere Auszeichnung, die nicht jedem zugesprochen werden konnte; ferner durften die Eltern die Kinder von Gleichaltrigen nicht isolieren- man bildete besonders zusammengesetzte Gruppen beider Geschlechter, in denen die verschiedensten Temperamente vertreten waren; die sogenannten Problemkinder wurden zusätzlichen hypnogogi-schen Eingriffen unterzogen, und alle fingen recht früh mit dem Lernen an. Es war aber kein Lese- und Schreibunterricht, der kam erst viel später; die eigenartige Ausbildung der Allerjüngsten beruhte darauf, sie durch besondere Spiele in das Funktionieren der Welt, der Erde, ihrer Reichtümer und die verschie -densten Formen des gesellschaftlichen Lebens einzuführen; den Vier- bis Fünfjährigen brachte man auf diese sozusagen natürliche Art die Grundlagen der Toleranz, des Zusammenlebens, der Achtung anderer Überzeugungen und Haltungen bei, der Unwesentlichkeit der unterschiedlichen äußeren körperlichen Merkmale der Kinder - also der Menschen - verschiedener Rassen.

All das schien mir sehr schön, nur mit einem grundsätzlichen Einwand: weil nämlich das feste Fundament dieser Welt, seine allumfassende Regel, die Betrisierung war. Die Erziehung zielte eben darauf hin, sie als eine Selbstverständlichkeit - wie Geburt und Tod - hinzunehmen. Als ich aber aus Eris Munde vernahm, wie man in den Schulen alte Geschichte lehrte, überkam mich ein Zorn, den ich nur mit Mühe bezwingen konnte. Aus dieser Sicht waren es nämlich Zeiten einer tierischen Welt und einer barbarischen, ungehemmten Geburtenfreudigkeit, gewaltiger wirtschaftlicher und Kriegskatastrophen. Die nicht verschwiegenen Errungenschaften der Zivilisation wurden als Ausdruck jener Kräfte und Tendenzen dargestellt, die den Menschen die Finsternis und Grausamkeit jenes Zeitalters überwinden halfen. So kam es zu diesen Errungenschaften eigentlich entgegen der damals allgemein herrschenden Tendenz, auf Kosten anderer zu leben. Das - sagte man -, was einst nur mit der allergrößten Mühe zu erzielen war und Erfüllung nur für wenige Menschen bot, zu dem ein Weg voller Gefahren, Verzicht, Kompromisse, moralischer Niederlagen, die die materiellen Erfolge kompensierten, geführt hatte, ist nunmehr allgemein, leicht und sicher zu erreichen.

Halb so schlimm war es noch, solange man allgemeine Weishei-

ten verbreitete, um zahlreiche Merkmale der Vergangenheit zu verurteilen, wie zum Beispiel die Kriege - das konnte ich noch hinnehmen; auch das - völlige! - Fehlen von Politik, Reibereien, Spannungen, internationalen Konflikten - obwohl es anfangs erstaunlich schien und die Vermutung nahelegte, daß sie doch existierten, jedoch verschwiegen würden, mußte ich als einen Erfolg, nicht als Verlust ansehen. Schlimmer wurde es aber, als diese Umkehrung aller Werte ganz nahe meine intimsten Angelegenheiten berührte. Denn nicht allein Starck hatte mit seinem Buch, das - wie ich hier hinzufügen will - ein halbes Jahrhundert vor meiner Rückkehr geschrieben wurde, auf die Raumexpedition verzichtet. Hier konnte Eri, die ihre archäologischen Studien absolvierte, mir so manches beibringen. Die ersten betrisierten Generationen hatten ihre Einstellung zur Astronautik radikal geändert, jedoch blieb sie - nach der Änderung der Plus- in Minus-Zeichen- auch weiterhin intensiv. Man war also der Meinung, daß ein tragischer Fehler begangen worden sei, dessen Höhepunkt gerade in die Jahre unserer Expedition fiel - damals wurden ja viele derartige Expeditionen unternommen. Der Fehler beruhte aber nicht allein darauf, daß die Ergebnisse solcher Expeditionen ziemlich dürftig ausfielen, daß die Erforschung der Sonnengegend- mit Ausnahme der Entdeckung auf nur wenigen Planeten primitiver und im allgemeinen uns auch fremder Vegetationsformen - im Radius mehrerer Lichtjahre zu keinem Kontakt mit irgendeiner hochentwickelten Zivilisation führte. Nicht einmal das wurde für das Schlimmste gehalten, daß die furchtbare Dauer dieser Reisen - indem ihre Ziele stets weitergesteckt wurden - die Mannschaften der Raumschiffe, dieser Vertreter der Erde, in einen Haufen unglücklicher, tödlich gequälter Wesen verwandeln mußte, die nach ihrer Landung- hier oder dort- eine sorgfältige Betreuung und Rekonvaleszenz erfordern würden; daß die Entscheidung, derartige Hitzköpfe hinauszuschicken, gedankenlos und grausam war. Für das Wesentlichste hielt man die Tatsache, daß die Erde den Kosmos erobern wollte, obwohl sie für sich selbst noch nicht alles getan hatte. Als ob es nicht selbstverständlich wäre, daß heroische Flüge die unendlichen Leiden, Ungerechtigkeiten, Ängste und Hungersnöte der Menschen nicht besänftigen konnten.

So aber dachte nur die erste betrisierte Generation. Später, im natürlichen Lauf der Dinge, kam das Vergessen. Die Gleichgültigkeit. Und die Kinder, als sie von der romantischen Zeit der Raumflüge erfuhren, waren darüber erstaunt, hatten vielleicht gar ein wenig Angst ihren unfaßbaren Ahnen gegenüber, die ihnen ebenso fremd, ebenso unverständlich wie ihre Ur-Urahnen erschienen, die da in Raubkriege und Goldsucherexpeditionen verwickelt waren. Eben diese Gleichgültigkeit erschreckte mich am meisten, sie war schlimmer als eine rücksichtslose Verurteilung - das Werk unseres Lebens wurde mit Schweigen bedeckt, begraben und vergessen.

Eri versuchte nicht, bei mir Enthusiasmus für die neue Welt zu wecken, sie wollte mich auch nicht ganz schnell zu ihr bekehren

- sie erzählte nur ganz einfach davon. Und ich - eben weil sie von sich selbst sprach und so dieser Welt ein Zeugnis ausstellte -konnte vor ihrem Glanz nicht die Augen verschließen.

Es war eine Zivilisation, die der Angst entbehrte. Alles, was es gab, diente den Menschen. Nichts war wichtig, außer ihrer Bequemlichkeit, der Erfüllung ihrer selbstverständlichen wie auch äußerst übertriebenen Wünsche. Überall, auf sämtlichen Gebieten, wo die Anwesenheit des Menschen, die Schwäche seiner Leidenschaften, die Langsamkeit seiner Reaktionen auch nur das geringste Risiko befürchten ließ - wurde er ausgeschaltet zugunsten toter Vorrichtungen - Automaten.

Diese Welt war der Gefahr unzugänglich. Dem Grauen, dem Kampf und jeglicher Gewalt- dafür gab es dort keinen Platz; es war eine Welt der Milde, der weichen Formen und Sitten, der unscharfen Übergänge und undramatischen Situationen, genauso staunenswert wohl, wie meine oder unsere - hierbei denke ich an Olaf - Reaktion darauf.

Denn gerade wir hatten zehn Jahre hindurch so viele Schrecken geschluckt, so vieles, was dem Menschen zuwider ist, was ihn verletzt und zerbricht, und er kam so satt zurück, so schrecklich satt davon; jeder von uns, wenn er gehört hätte, daß sich die Rückkehr verspäten könnte, daß man neuen Monaten der Leere die Stirn würde bieten müssen, wäre wohl dem, der das verkündete, an die Gurgel gesprungen. Und eben wir, die dieses ständige Risiko nicht mehr ertragen konnten, diese blinde Chance eines Me-teoriten-Treffers, diese ewige Spannung des Erwartens, die Qualen, die wir erlebten, wenn da irgendein Arder oder Ennesson von einem Erkundungsflug nicht wiederkam - ausgerechnet wir fingen plötzlich an, uns auf jene Schreckenszeit als auf etwas einzig

Richtiges, Angemessenes zu berufen, das uns Würde und Sinn gegeben hat. Obwohl ich jetzt noch zusammenzuckte, wenn mir die Erinnerung kam, wie wir sitzend oder liegend, in den eigenartigsten Stellungen über der runden Radiokabine hängend, gewartet und gewartet hatten in einer Stille, die nur durch das gleichmäßige Brummen eines Signals unterbrochen wurde, das von der automatischen Raumschiffanlage kam, und die Schweiß -tropfen in dem toten blauen Licht von der Stirn des Funkers fließen sahen, der in der gleichen Erwartung erstarrte - während die betätigte Alarmglocke lautlos weiterging, bis der Augenblick kam, in dem ihr Zeiger den roten Punkt auf dem Blatt berührte und Erleichterung brachte. Erleichterung, denn nun konnte man auf die Suche gehen und selbst umkommen, und das schien wirklich leichter als diese Wartezeit. Wir Piloten, keine Wissenschaftler, waren alte Jungen, unsere Zeit blieb schon drei Jahre vor dem eigentlichen Start stehen. Innerhalb dieser drei Jahre erlebten wir verschiedene Arten einer ansteigenden psychischen Belastung.

Es gab davon drei Hauptstadien, drei Stationen, die kurz Mangel, Geisterschloß und Krönung genannt wurden.

Das Geisterschloß war ein Einschließen in einem kleinen Behälter, der so vollkommen, wie man es sich nur vorstellen kann, von der Welt abgeschnitten war. In sein Inneres gelangte kein Ton, kein Lichtstrahl, kein Lufthauch, nicht die allergeringste Bewegung von außen. Dieser Behälter - einer kleinen Rakete gleich - war mit Phantom-Apparatur, mit Wasser-, EB- und Sauerstoffvorräten ausgestattet. Und dort mußte man untätig leben, hatte absolut nichts zu tun- einen Monat lang, der wie eine Ewigkeit schien. Keiner kam dort so heraus, wie er hineingegangen war. Ich, einer der Härtesten von Doktor Janssen, fing erst in der dritten Woche an, diese wunderlichen Dinge zu sehen, die die anderen bereits am vierten oder fünften Tag bemerkten: gesichtslose Ungeheuer, gestaltlose Menschenmengen, die aus den tot leuchtenden Zifferblättern der Armaturen hervorkamen, um mit mir irrsinnige Gespräche zu führen, über meinem schweiß -nassen Körper - der seine Grenzen verlor - zu baumeln. Der Körper veränderte sich, wurde riesengroß, endlich - und das war das ekelhafteste - fing er an, sich irgendwie zu verselbständigen: zuerst zuckten die einzelnen Muskelfasern, dann - über Krabbelgefühle und Erstarrungen - kam es zu Krämpfen, endlich zu Bewegungen, die ich starr vor Staunen beobachtete, ohne etwas zu begreifen- und ohne einleitendes Training, ohne theoretische Hinweise wäre ich schon bereit gewesen zu glauben, daß meine Hände, mein Kopf, mein Nacken von Dämonen besessen waren. Der gepolsterte Innenraum dieses Behälters hatte - so wurde ge-munkelt- schon unbeschreibliche, unnennbare Szenen gesehen. Janssen und der Stab seiner Leute waren dank entsprechender Apparate die Zeugen dessen, was sich da drinnen abspielte, jedoch keiner von uns wußte - damals! - etwas davon. Das Isola -tionsgefühl mußte wirklich und vollständig sein. Deshalb war für uns das Verschwinden einiger Assistenten des Doktors unverständlich. Erst während der Fahrt sagte mir Gimma, daß sie ganz einfach zusammengebrochen waren. Einer von ihnen, ein gewisser Gobek, hatte wohl versucht, den Behälter mit Gewalt zu öffnen, da er die Qualen des darin eingeschlossenen Menschen nicht mitansehen konnte.

Dies aber war erst das Geisterschloß. Hinterher kam noch die Mangel, mit ihren Fallen und Zentrifugen, mit der teuflischen Beschleunigungsmaschine, die imstande war, 400 g zu geben -eine Beschleunigung, die selbstverständlich nie verwirklicht wurde, da sie den Menschen in eine Pfütze verwandelt hätte, aber schon einhundert g reichten voll aus, damit der ganze Rücken des so Untersuchten in einem Sekundenbruchteil klebrig von dem durch die Haut geschwitzten Blut wurde.

Die letzte Probe, die Krönung, hielt ich ganz gut aus. Es war das letzte Sieb, die letzte Auswahlstation. A1 Martin, ein Kerl, der damals auf Erden so wie ich heute aussah, ein wahrer Riese, ein einziges Knäuel eisenstarker Muskeln, die Ruhe selbst, wie es schien, kam von der Krönung zur Erde zurück in einem Zustand, daß man ihn sofort in die Klapsmühle brachte.

Diese Krönung war eine ganz einfache Sache. Der Mensch wurde in einen Raumanzug gesteckt, auf die Erdnebenkreisbahn gebracht und in der Höhe von etwa hunderttausend Kilometern, wo die Erde wie ein fünffach vergrößerter Mond leuchtete, einfach aus der Rakete in die Leere geworfen, und dann flogen die anderen weg. Und so mußte man, derart hängend, Hände und Füße bewegend, ihre Rückkehr, die Rettung, abwarten; der Raumanzug war sicher, bequem, hatte Sauerstoff- und Klimatisierungsapparaturen, wärmte, fütterte den Menschen sogar mit einer nahrhaften Paste, die alle zwei Stunden aus einem speziellen Mundstück herausgedrückt wurde. Also konnte da rein nichts

passieren; es sein denn, der kleine Radioapparat, der von außen an den Anzug geheftet war und mit einem automatischen Signal kundgab, wo sich sein Inhaber gerade befand, würde versagen.

In diesem Raumanzug fehlte nur ein einziges Ding, das dazugehörte: das Verbindungsradio, absichtlich natürlich, und daher konnte man darin keine andere außer der eigenen Stimme hören.

So mußte man in diesem immateriellen Schwarz und den Sternen um sich herum, in der Schwerelosigkeit hängen und warten. Etwas lange, stimmt schon, aber nicht allzu sehr. Und weiter nichts. Ja, aber die Menschen wurden wahnsinnig davon; auf die Rakete der Basis zog man sie, die sich in epileptischen Zuckungen wanden. Das war nämlich allem, was in dem Menschen steckt, am meisten zuwider - diese vollkommene Vernichtung, die Verlorenheit, der Tod bei vollerhaltenem Bewußtsein, es war die Erfahrung der Ewigkeit, sie ging in den Menschen ein und ließ ihn ihren greulichen Geschmack kosten. Das stets für unmöglich, unsichtbar gehaltene Wissen über die in alle Richtungen verlaufende Bodenlosigkeit der außerirdischen Existenz wurde uns zuteil; ein endloses Fallen, Sterne zwischen den - ach, so hilflos zappelnden Beinen, die Nutzlosigkeit, fehlende Notwendigkeit der Hände, des Mundes, der Gesten, aller Bewegung und Unbeweglichkeit. In den Raumanzügen schwoll der Schrei an, die Unglücklichen heulten - genug.

Genug dieser Erinnerungen an das, was ja doch nur eine Probe, eine Einleitung war, absichtlich und vorsorglich vorbereitet und das noch mit Sicherheitsvorkehrüngen: keinem der »Gekrönten« ist, im körperlichen Sinne, etwas passiert - nichts; samt und sonders wurden sie alle von der Basis-Rakete wiedergefunden. Zwar sagte man uns auch das nicht, damit die Authentizität der Situation nach Möglichkeit die größte bliebe.

Die Krönung verlief bei mir gut, weil ich ein eigenes System hatte. Es war ganz einfach und vollkommen unehrlich; man durfte es eben nicht tun. Als man mich aus der Luke warf, schloß ich die Augen. Dann dachte ich an die verschiedensten Dinge.

Das einzige, was man dabei in rauhen Mengen braucht, ist der Wille. Man mußte sich fest vornehmen, diese unglückseligen Augen eben nie zu öffnen, komme, was da wolle. Janssen, glaube ich, wußte von meinem Kniff. Aber er hatte für mich keine Konsequenzen gehabt. Vielleicht hielt der Doktor es sogar für gut?

Das alles geschah auf Erden oder in ihrer Nähe. Dann aber kam

keine erdachte und im Labor geschaffene Leere. Die nun wirklich, nicht nur scheinbar, tötete. Manche schonte auch sie: Olaf, Gimma, Thurber, mich, die anderen sieben vom »Ulysses« - und ließ uns sogar zurückkehren. Und dann haben wir, die nichts anderes so stark wie Ruhe ersehnten, als wir unseren Traum so vollkommen verwirklicht sahen, ihn sofort verschmäht. Mir scheint, Plato hat einst gesagt: »Unglückseliger - du wirst bekommen, was du haben wolltest.«

Eines Nachts, schon sehr spät, ruhten wir, von der Liebe ermüdet, und Eris seitlich gekehrtes Gesicht lag in der Biegung meines EIl-bogens. Wenn ich hochblickte, konnte ich direkt gegenüber, durch das offene Fenster, die Sterne zwischen den Wolken sehen. Es gab keinen Wind, der Vorhang über der Fensterbank erstarrte zu einem weißen Phantom, aber vom offenen Ozean kam eine tote Welle, und ich hörte ein anhaltendes Dröhnen, das sie ankündigte, dann ein ungleichmäßiges Rauschen, mit dem sie am Strand zerbrach, dann herrschte wieder einige Herzschläge lang Stille, und wieder stürmten die unsichtbaren Gewässer das flache Ufer. Aber ich hörte diese sich regelmäßig wiederholende Erinnerung an die irdische Existenz kaum, schaute mit weitgeöffneten Augen das Kreuz des Südens an, dessen Beta unsere Führerin gewesen war; ich hatte jeden Tag mit ihren Messungen begonnen, so daß ich sie am Ende ganz automatisch und mit anderen Gedanken beschäftigt vornahm; sie führte uns uhbeirrbar, jene nie ausgehende Laterne der Leere. Ich spürte fast in meinen Händen den Druck der Metallgriffe, die ich verschob, um den Leuchtpunkt, die Spitze der Finsternis, ins Zentrum des Blickfeldes einzuführen, wobei die weichen Gummiringe der Brille meine Brauen und Wangen umfaßten. Dieser Stern, einer der entferntesten, hatte sich am Ziel fast gar nicht verändert, während das ganze Kreuz des Südens schon längst zerfiel und für uns zu existieren aufhörte, da wir ins Innere seiner Arme gelangten; und dann hörte jener weiße Punkt, jener Sternriese auf, das zu sein, was er am Anfang schien: eine Herausforderung; seine Unveränderlichkeit verriet uns ihre wirkliche Bedeutung, war das Zeugnis der Nichtigkeit unseres Tuns, der Gleichgültigkeit der Leere, des Weltalls, mit der sich niemals jemand abfinden wird.

Jetzt aber, zwischen dem Rauschen des Pazifiks, versuchte ich den Atem von Eri zu hören, und glaubte kaum noch an diese Dinge. Ich konnte schweigend wiederholen: »Ich bin wirklich, ja, wirklich dort gewesen« - aber diese Bestätigung schwächte mein uferloses Staunen durchaus nicht ab. Eri zuckte zusammen. Ich wollte weiterrücken, ihr mehr Platz verschaffen, aber plötzlich spürte ich ihren Blick.

»Schläfst du nicht?« flüsterte ich. Ich beugte mich über sie, wollte mit meinem Mund den ihrigen berühren, aber sie legte die

Fingerspitzen auf meine Lippen. So hielt sie sie eine Weile, glitt dann damit über mein Schlüsselbein bis zur Brust, fuhr um eine harte Vertiefung zwischen den Rippen herum und drückte ihre Handfläche daran.

»Was ist das?« flüsterte sie.

»Eine Narbe.«

»Was war denn das?«

»Ich hatte einen Unfall.«

Sie verstummte. Ich spürte, daß sie mich ansah. Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren nur Dunkelheit, ohne Licht, ich sah kaum den Umriß ihres Armes, atmend und weiß.

»Warum sagst du nichts?« flüsterte sie.

»Eri… «

»Warum willst du nicht sprechen?«

»Von den Sternen?« verstand ich plötzlich. Sie schwieg. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

»Meinst du, ich würde es nicht verstehen?«

Ich sah sie so nahe an, durch die Dunkelheit, durch das Rauschen des Ozeans, das das Zimmer füllte und wieder verließ, und wußte nicht, wie ich es ihr erklären sollte. »Eri…«

Ich wollte sie in die Arme nehmen. Sie löste sich aber und setzte sich im Bett auf.

»Du brauchst nicht zu sprechen, wenn du nicht willst. Aber sag, warum. «

»Weißt du es nicht? Wirklich?«

»Jetzt weiß ich es bereits. Du wolltest mich.., schonen?«

»Nein. Ich habe ganz einfach Angst.«

»Wovor?«

»Das weiß ich selber nicht so recht. Ich will das alles nicht aufwühlen. Ich lasse da nichts aus. Es wäre auch ganz unmöglich. Aber sprechen - würde - so scheint mir - bedeuten - sich in all dem einzuschließen. Vor allem vor dem, was es gibt.., jetzt…«

»Ich verstehe«, sagte sie leise. Der weiße Flecken ihres Gesichts verschwand, sie ließ den Kopf hängen. »Du meinst, ich halte es für nichts Beson…«

»Nein, nein«, versuchte ich sie zu unterbrechen.

»Warte, jetzt rede ich. Was ich über die Astronautik denke, und auch die Tatsache, daß ich selbst die Erde nie verlassen würde, das ist eine Sache. Dies hat aber mit dir und mir nichts zu tun.

Oder eigentlich schon: denn wir sind ja zusammen. Anders - wären wir es nicht, niemals. Sie ist für mich - du. Daher möchte ich so sehr.., aber du mußt nicht. Wenn es so ist, wie du sagst. Wenn du es so empfindest.«

»Ich werde sprechen.«

»Aber nicht heute.«

»Heute.«

»Lege dich bitte hin.«

Ich fiel auf die Kissen. Sie ging auf den Zehenspitzen, weiß in der Dunkelheit. Sie zog die Gardine zu. Die Sterne verschwanden, nur das langgezogene, mit einer toten Hartnäckigkeit wie -derkehrende Rauschen des Pazifiks blieb. Ich sah schon fast nichts mehr. Ein Lufthauch verriet ihre Schritte, das Bett gab nach.

»Hast du schon einmal ein Raumschiff von der Klasse des >Pro-metheus< gesehen?« »Nein.«

»Es ist sehr groß. Auf Erden würde es ein Gewicht von über dreihunderttausend Tonnen haben.« »Und ihr wart nur so wenige?«

»Zwölf. Tom Arder, Olaf, Arne, Thomas - die Piloten. Na, und dann ich. Und sieben Wissenschaftler. Aber wenn du meinst, es wäre dort leer gewesen, dann irrst du. Neun Zehntel der Masse

- war der Antrieb. Die Photoaggregate. Die Lager, die Vorräte, die Reservevorrichtungen - der Wohnteil ist dort nicht groß. Jeder von uns hatte seine Kabine, ohne noch die gemeinsamen mitzuzählen. In der Rumpfmitte - die Zentrale und kleine Landungsraketen und Sonden, noch kleiner, zur Entnahme von Koronaproben… «

»Warst du über Arkturus - in einer solchen Sonde?«

»Ja. Mit Arder.«

»Warum seid ihr nicht zusammen geflogen?«

»In einer Rakete? Weil das die Chance verringert.«

»Wieso?«

»Die Sonde ist die Kühlung, weißt du. Sie ist wie - wie ein fliegender Kühlschrank. Soviel Platz nur, daß man sitzen kann. Man steckt in einem Eispanzer. Dieses Eis taut von außen her und erstarrt wieder auf den Röhren. Die Kompressoren können kaputtgehen. Es reicht ein Augenblick, ein Verschlucken, denn außerhalb gibt es acht-, zehn-, oder gar zwölftausend Grad. Wenn diese

Vorrichtungen also in einer Doppelrakete aussetzen, dann müssen zwei umkommen. Und so - nur einer. Verstehst du?«

»Ja, ich verstehe.« Sie hielt ihre Hand an die gefühllose Stelle auf meiner Brust. »Ist das.., dort geschehen?«

»Nein. Eri… vielleicht erzähle ich dir etwas anderes?«

»Gut.«

»Denk bloß nicht… Dies weiß ja niemand.«

»Dies?«

Die Narbe veränderte sich unter der Wärme ihrer Finger - als ob sie wieder zu leben anfing. »Ja.«

»Wie ist denn das möglich? Und Olaf?«

»Auch Olaf nicht. Niemand. Ich habe sie belogen. Eri. Jetzt muß ich es dir schon erzählen, habe ich mich zu weit vorgewagt. Eri… dies war im sechsten Jahr. Wir kamen schon zurück, aber innerhalb einer Wolke kommt man nicht schnell voran. Es ist ein herrliches Bild: je schneller das Schiff, desto heftiger wird die Lumineszenz der Wolke - hinter uns zog sich ein Schweif, nicht wie ein Kometenschweif, eher wie das Polarlicht, zerweht auf beiden Seiten und in die Tiefe des Himmels, zu Eridan-Alpha über tausend und aber tausend Meilen… Arder und Ennesson gab es schon nicht mehr. Venturi lebte auch nicht. Ich wachte immer um sechs Uhr früh auf, das Licht veränderte sich dann und wurde weiß statt blau. Ich hörte die Stimme von Olaf, er sprach von der Steuerkabine. Er hatte etwas Interessantes bemerkt. Ich ging hinunter. Der Radar zeigte einen kleinen Fleck, etwas abseits vom Kurs. Für einen Meteor war er zu groß, außerdem sind Meteore nie allein. Thomas kam auch hinzu, und wir überlegten, was es wohl sein könnte. Auf alle Fälle verminderten wir die Geschwindigkeit noch mehr. Das weckte die anderen. Als auch sie kamen, scherzte Thomas, das weiß ich noch, daß es wohl ein Schiff sein. Man sprach da oft so. Im Weltall mußte es Schiffe anderer Systeme geben, aber eher würden schon zwei Mücken zusammentreffen, die von den entgegengesetzten Seiten der Erdkugel angeflogen kamen. Wir waren schon beim Ende dieser kalten Nebelwolke, der Staub wurde so dünn, daß man mit dem bloßen Auge die Sterne sechster Größe sah. Dieser kleine Fleck erwies sich als ein Planetoid. So etwas wie Vesta. Ungefähr eine Viertelbillion von Tonnen, vielleicht mehr. Außergewöhnlich regelmäßig, fast kugelförmig. Das ist selten. Wir hatten ihn am Bug

m zwei Milliparsek. Er ging die Kosmische - wir hinterher. Thur-ber fragte, ob wir näher kommen könnten. Ich sagte ja, auf ein Viertel Nanoparsek.

Wir kamen auch näher. Im Teleskop sah das Ding wie ein Igel aus - eine Kugel mit Nadeln gespickt. Eine Sehenswürdigkeit.

Fast museumsreif. Thurber stritt mit Biel, ob sie wohl tektonischer Herkunft sei. Thomas fügte hinzu, daß man es feststellen könnte. Kein Energieverlust dabei, weil wir noch keinen richtigen Anlauf hatten. Er fliegt hin, nimmt ein paar Krümel davon und kommt zurück. Gimma war unentschlossen. Mit der Reserve an Zeit reichte es - wir hatten sie immer noch. Endlich stimmte er zu. Wohl deshalb, weil ich dabei war. Obwohl ich kein Wort sprach. Aber vielleicht gerade deswegen. Denn unsere Beziehungen waren so geworden.., aber darüber ein anderes Mal. Wir stoppten; ein solches Manöver dauert schon etwas; das winzige Planetchen entfernte sich in dieser Zeit, aber wir hatten es ja auf den Radarschirmen. Ich war unruhig, denn seit Beginn unserer Rückkehr hatten wir lauter Pech. Ganz dumme, aber schwer zu beseitigende Havarien - und das auch noch ohne einen vernünftigen Grund. Ich halte mich nicht für abergläubisch, obwohl ich an das Gesetz der Serie schon glaube. Am Ende fehlten mir da aber Argumente. Es sah wie ein Kinderspiel aus - trotzdem überprüfte ich selbst den Motor von Thomas und sagte ihm, daß er achtgeben sollte. Auf den Staub.« »Auf was?«

»Auf den Staub. Innerhalb einer kalten Wolke wirken nämlich die Planetoiden wie Staubfänger, weißt du? Sie holen den Staub aus dem Raum, in dem sie kreisen, und Zeit haben sie dazu genug. Der Staub setzt sich auf ihnen schichtweise ab, derart, daß er sie in der Größe verdoppeln kann. Aber es genügt, mit dem Auspuff zu pusten oder gar etwas fester aufzutreten, und schon erhebt sich eine Staubwolke und bleibt einfach hängen. Eine Kleinigkeit, scheinbar, aber dann sieht man ja nichts. Also sagte ich es ihm.

Er wußte es übrigens auch selbst, genauso wie ich. Dann schoß ihn Olaf von der Bordrampe ab, und ich ging nach oben, in den Meßraum, und fing an, ihn zu führen. Ich sah ihn herankommen, manövrieren, das Geschoß auf den Planetoiden herabgleiten. Dann, natürlich, verlor ich ihn aus den Augen. Es waren doch immerhin, nach der irdischen Skala, an die drei Meilen…«

»Hast du ihn auf dem Radar gesehen?«

»Nein, auf der Optischen, das heißt durch das Fernrohr. Infrarotes. Aber ich sprach mit ihm die ganze Zeit. Per Funk. Und in dem Moment, als ich dachte, schon lange beim Thomas eine derart sorgfältige Landung nicht gesehen zu haben - wir alle fingen an, irgendwie aufmerksamer zu werden, als die Rückkehr begann… -, sah ich ein kleines Aufleuchten und einen dunklen Fleck, der auf der Scheibe des Planetoiden zu zerfließen begann. Gimma, der neben mir stand, stieß einen Schrei aus. Er dachte, Thomas hätte im letzten Augenblick, um seinen Fall zu bremsen, mit der Flamme zugeschlagen. So nennt man es nämlich, weißt du. Man gibt einen einzigen Düsenschlag, selbstverständlich aber nicht unter diesen Umständen. Und ich wußte auch, daß Thomas es nie getan hätte. Es mußte ein Blitz gewesen sein.«

»Ein Blitz? Dort?«

»Ja. Denn - siehst du, jeder Körper, der sich mit einer großen Geschwindigkeit in einer Wolke bewegt, wird durch die Reibung mit statischer Elektrizität aufgeladen. Zwischen dem >Prome-theus< und dem Kleinplaneten herrschte ein Unterschied der Potentiale. Es konnten Milliarden von Volt sein. Sogar noch mehr. Als Thomas landete, da sprang ein Funke über. Das war dieses Aufleuchten: Von der plötzlichen Hitze kam der Staub hoch, und nach einer Minute war die ganze Scheibe durch die Wolke verdeckt. Wir hörten ihn nicht mehr - sein Radio knatterte nur. Ich war stockwütend, am meisten gegen mich selbst, daß ich das zu wenig beachtet habe. Die Rakete hatte besondere, spitzenförmige Blitzableiter, und die elektrische Ladung hätte ganz leise wie Elmsfeuer abfließen müssen. Tat es aber nicht. Übrigens kommen da schon Entladungen vor, aber nicht solche. Diese war von einer ungewöhnlichen Stärke. Gimma fragte mich nach meiner Meinung, wenn sich wohl die Wolke legen würde. Thurber stellte keine Fragen, es war ja klar, daß Tage vergehen mußten. Und Nächte.«

»Tage und Nächte?«

»Ja. Denn die Gravitation ist äußerst gering. Ein aus der Hand losgelassener Stein fällt manchmal einige Stunden lang. Und erst der Staub, der Hunderte von Metern hochgewirbelt wurde! Ich sagte Grimma, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern, wir müßten warten.«

»Und konnte man da nichts tun?«

»Nein. Das heißt, hätte ich mit Sicherheit annehmen können,

daß Thomas in der Rakete steckte, dann konnte ich etwas riskie -ren. Ich konnte den >Prometheus< dann wenden und aus nächster Nähe mit vollem Schub so blasen, daß sich dieser ganze Dreck auf die gesamte Galaxis verteilt hätte. Aber diese Gewißheit hatte ich eben nicht. Und ihn suchen?… Die Oberfläche dieses Miniplaneten glich ihrer Größe nach der von - weiß ich - vielleicht von Korsika. Außerdem konnte ich in der Staubwolke ganz nah an ihm vorbeigehen, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben. Es gab nur eine Lösung. Sie lag in seiner Hand. Er konnte starten und zurückkehren.«

»Und tat er es nicht?«

»Nein.«

»Weißt du, warum?«

»Ich denke, schon. Er hätte dann einen Blindstart machen müssen. Ich sah wohl, daß die Wolke bis - na, sagen wir - eine halbe Meile über die Oberfläche reichte - er aber wußte das nicht. Er hatte bestimmt Angst, mit irgendeinem Überhang, einem Felsen zusammenzustoßen. Er konnte auch ebensogut auf dem Boden eines tiefen Felsspalts landen. Also hingen wir da so herum, einen Tag und noch einen zweiten - Sauerstoff und Vorräte hatte er für sechs Tage mit. Die eiserne Ration. Selbstverständlich war niemand imstande, etwas zu tun. Man ging nur so herum und dachte sich die verschiedensten Möglichkeiten aus, um Thomas aus diesem blöden Schlamassel herauszuholen. Die Emmitoren. Die unterschiedlichen Wellenlängen. Sogar Leuchtkörper haben wir dort hineingeworfen. Aber sie blitzten nicht einmal auf, die Wolke war finster wie ein Grab.

Der dritte Tag-die dritte Nacht. Die Messungen bewiesen, daß die Wolke sank, aber ich war nicht sicher, ob sie innerhalb der siebzig Stunden, die Thomas noch geblieben waren, ganz sinken würde. Ohne Essen konnte er schließlich noch länger sitzen, aber nicht ohne Luft. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich überlegte folgendermaßen: Thomas’ Rakete ist vorwiegend aus Stahl. Wenn es auf diesem verfluchten Planetoiden keine Eisenerze gibt, wird es vielleicht gelingen, ihn mit dem Ferroweiser zu finden. Mit so einem Apparat zur Entdeckung eiserner Gegenstände, weißt du. Wir hatten da einen, der sehr empfindlich war. Reagierte auf einen Nagel aus einer Entfernung von dreiviertel Kilometern. Eine Rakete würde er auf viele Meilen entfernt finden. Wir mußten dann mit Olaf noch dies und jenes in diesem Apparat nachsehen.

Dann sagte ich Gimma Bescheid - und flog los.«

»Allein?«

»Ja.«

»Warum allein?«

»Weil wir ohne Thomas nur noch zwei waren und der >Prome-theus< einen Piloten haben mußte.«

»Und die anderen waren einverstanden?«

Ich lächelte in der Dunkelheit.

»Ich war erster Pilot. Gimma konnte mir nichts befehlen, nur vorschlagen, dann berechnete ich die Chance und sagte ja oder nein. Aber in kritischen Situationen lag die Entscheidung bei mir.«

»Und Olaf?«

»Na, Olaf kennst du schon etwas. Kannst dir also denken, daß ich nicht gleich geflogen bin. Aber am Ende war ich es, der Thomas weggeschickt hatte. Diese Tatsache konnte er nicht leugnen. Kurz, ich bin also geflogen. Selbstverständlich ohne Rakete.« »Ohne Rakete?«

»Ja. Im Raumanzug und mit einer Rückstoßpistole. Es hat etwas gedauert, aber nicht so lange, wie es schien. Ich hatte nur Schwierigkeiten mit dem Ferroweiser, denn das war fast eine Kiste, äußerst unhandlich. Dort, natürlich, wog er gar nichts, aber als ich in die Wolke kam, mußte ich scharf aufpassen, um nicht gegen irgend etwas zu stoßen.

Als ich näher kam, hörte ich auf, die Wolke zu sehen, nur die Sterne fingen an zu verschwinden. Erst nur einige, die aus dem Umkreis, dann wurde schon der halbe Himmel finster - ich sah mich um, der >Prometheus< leuchtete voll und ganz in der Ferne, er hatte so eine Illuminationsvorrichtung für seinen Panzer. Er sah aus wie ein langer weißer Bleistift- mit einem Pilz am Ende-, das war der Photonenscheinwerfer.

Plötzlich verschwand alles. Dieser Übergang war ganz scharf. Vielleicht eine Sekunde schwarzer Nebel - dann schon nichts mehr. Mein Radio hatte ich ausgeschaltet, statt dessen sang mir der Ferroweiser in den Kopfhörern. Bis zum Wolkenrand flog ich kaum ein paar Minuten, aber auf die Oberfläche glitt ich länger als zwei Stunden - ich mußte da sehr aufpassen. Meine elektrische Taschenlampe erwies sich als untauglich, was ich übrigens auch erwartet hatte. Ich fing die Suche an. Weißt du, wie die großen Stalaktiten in den Felsenhöhlen aussehen…?«

»Ja.«

»Also etwas in der Art, nur unheimlicher. Ich spreche darüber, was ich später sah, als die Wolke bereits gesunken war. Denn während dieser Sucherei - nichts, als ob jemand die Sichtscheibe meines Raumanzuges mit Teer begossen hätte. Die Kiste trug ich an Trägern. Ich mußte die kleine Antenne bewegen, horchen, mit ausgestreckten Armen gehen - nie in meinem ganzen Leben bin ich so oft hingefallen wie dort. Unschädlich war es nur infolge der geringen Gravitation, und könnte man da nur ein klein wenig sehen, könnte der Mensch natürlich auch zehnmal sein Gleichgewicht wiedergewinnen. Aber so- einem, der das nicht kennt, läßt es sich nur schwer erzählen… Dieser Miniplanet bestand aus angehäuften Nadelfelsen und balancierenden Felsbrocken - ich stellte einen Fuß hin und fing plötzlich an, irgendwohin zu fliegen, konnte mich selbstverständlich nirgendwo abstoßen - flog mit dieser trunkenen Langsamkeit- sonst aber wäre ich eine Viertelstunde lang wieder nach oben gestiegen. Ich mußte ganz einfach warten, versuchte nur immer weiterzugehen, dann aber bewegten sich die Steinmassen unter mir. Diese Trümmer, Säulen, Steinstücke, all das war kaum miteinander verbunden, denn nur eine äußerst geringe Kraft hielt sie zusammen - was ja nicht bedeutet, daß ein Riesenbrocken, auf den Menschen fallend, ihn nicht erschlagen konnte.., denn dann wirkt doch die Masse, nicht das Gewicht, nur hat man da immer Zeit, zur Seite zu springen, natürlich wenn man diesen Steinfall, diesen Absturz sieht.., oder zumindest hört. Aber dort gab es ja keine Luft, also konnte ich mich nur nach den Felsbewegungen unter meinen Sohlen richten und begreifen, daß ich wohl schon wieder irgendein Felsengemach aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Nur warten, ob aus diesem Teer da nicht ein Brocken kommt, der nun anfängt, mich zu zermalmen… Kurz, so wanderte ich eben herum, stundenlang, und hatte schon längst aufgehört, meine Idee mit dem Ferrowei-ser für genial zu halten… Auf jeden Schritt mußte ich auch deshalb achten, weil ich unvorsichtigerweise schon einige Male in der Luft, also in der Schwebe hängengeblieben war.., wie in einem närrischen Traum. Endlich fing ich das Signal auf. Ich verlor es dann wieder so an die achtmal, weiß es nicht mehr genau, jedenfalls, als ich die Rakete fand, war auf dem >Prometheus< schon Nacht.