»Nein. >Die Braut<. Hör mal…«
»Es ist wirklich ein Reinfall. Ich kann es nicht mehr sehen. Das Schlimmste, was ich je gemacht habe. Sieh dir die >Wahren< an, oder nein, komm wieder am Abend. Ich werde es dir zeigen.
Nein, nein, heute kann ich nicht. Aber morgen.«
»Aen, ich werde nicht kommen. Ich fahre tatsächlich weg…«
»Sag nicht Aen zu mir, sag >Mädchen< «, bat sie.
»Mädchen, der Deibel soll dich holen! !« rief ich, legte den Hörer auf, war schrecklich verschämt, hob nochmals den Hörer ab, legte ihn wieder auf und lief aus dem Zimmer. Als ob jemand hinter mir her wäre. Ich fuhr hinunter, wo es sich herausstellte, daß der Ulder sich auf dem Dach befand. Also fuhr ich wieder nach oben. Auf dem Dach gab es ein Gartenrestaurant und einen Flugplatz. Eigentlich ein Restaurant-Flugplatz, eine Mischung der Ebenen, fliegende Bahnsteige, unsichtbare Fensterscheiben
- meinen Ulder würde ich hier nicht mal in einem Jahr finden. Aber man führte mich fast an der Hand zu ihm. Er war kleiner, als ich dachte. Ich fragte, wie lange der Flug dauern würde, da ich lesen wollte.
»Ungefähr zwölf Minuten.« Da lohnte es sich nicht, ein Buch aufzuschlagen. Das Innere des Ulders erinnerte einigermaßen an eine Experimentalrakete: Thermofax, die ich einmal leitete, nur mit mehr Komfort. Aber als sich die Tür hinter dem Roboter schloß, der mir höflich eine gute Reise wünschte, wurden die Wände sofort durchsichtig, und da ich im ersten der vier Sessel saß - die anderen waren unbesetzt-, hatte ich den Eindruck, als flöge ich auf einem Stuhl innerhalb eines großen Glases.
Sehr lustig, aber das hatte nichts mit einer Rakete oder einem Flugzeug gemein: eher schon mit einem fliegenden Teppich. Das eigenartige Fahrzeug schoß anfangs vertikal hoch, ohne die geringste Vibration, pfiff dabei langgezogen und - wie auf Kommando - flog dann waagerecht. Wieder geschah dasselbe, was ich schon beobachtet hatte: die Beschleunigung der Bewegung war nicht von einer Steigerung der Trägheit begleitet. Schwer zu sagen, was für eine Art von Gefühl mich überkam - denn falls sie tatsächlich die Beschleunigung von der Trägheit zu lösen ver-! standen hatten, dann waren sämtliche Hybernisierungen, Proben, Selektionen, Qualen und Sorgen unserer Reise völlig umsonst gewesen: so wie ich konnte sich wohl der Eroberer eines Himalajagipfels fühlen, der sich nach den unbeschreiblichen Schwierigkeiten des Aufstiegs plötzlich überzeugt, daß da hoch oben ein Hotel voller Ausflügler steht, weil man während seiner einsamen Bemühungen von der anderen Seite aus eine Seilbahn angebracht hatte. Die Tatsache, daß ich, auf der Erde bleibend, wahrscheinlich die geheimnisvolle Entdeckung nicht erleben würde, tröstete mich nicht im mindesten - viel eher schon die Idee, daß sich die neue Erfindung vielleicht in der Raumfahrt nicht auswirken würde. Das war selbstverständlich der Beweis von reinem Egoismus, und ich war mir dessen auch bewußt: doch der Schock war zu groß, als daß ich mich zu wirklichem Enthusiasmus hätte aufschwingen können.
Inzwischen flog der Ulder bereits geräuschlos: ich schaute nach unten. Wir flogen eben am Terminal vorbei - er zog sich langsam nach hinten zurück, wie eine Eisfestung -, auf den von der Stadt aus unsichtbaren, äußeren Stockwerken standen die schwarzen Trichter der Raketen-Einflüge. Dann gelangten wir ziemlich nahe an dem Nadelhaus vorbei - dem mit den silbernen Und schwarzen Streifen -, es überragte meine Flughöhe. Von der Erde aus ließ sich seine Größe nicht einschätzen. Es war wie eine Röhrenbrücke, die die Stadt mit dem Himmel verband, und die »Kleinregale«, die aus ihm herausragten, wimmelten von Uldern und anderen, größeren Maschinen. Menschen sahen auf diesen Landungsplätzen wie Mohnkörnchen auf einem silbernen Teller aus.
Wir flogen über weiße und blaue Häuserkolonien, über Gärten, die Straßen wurden immer breiter, und die Fahrbahnen wurden nun bunt - Blaßrosa und Ocker dominierten als Farben. Ein Häusermeer zog sich bis zum Horizont, selten von Grünstreifen geteilt. Ich bekam Angst, so würde es bis Klavestra bleiben. Doch die Maschine beschleunigte ihr Tempo, die Häuser zerfielen, zerliefen in den Gärten, dagegen erschienen Riesenknäuel und auch gerade Wege: sie zogen durch mehrere Ebenen, liefen zusammen, kreuzten sich, verschwanden unter dem Erdboden, liefen sternförmig aufeinander zu und schossen heraus in den graugrünen Raum unter der hohen Sonne, der von Glidern wim-rnelte. Dann, zwischen quadratischen Baumgruppen, sah man Riesenbauten mit Dächern, die konvexen Spiegeln ähnlich waren: in ihren Zentren glimmte ein rötlicher Schein. Noch weiter liefen die Straßen auseinander, und das Grün beherrschte nun alles, von Zeit zu Zeit durch einen Quadratmeter anderer Pflanzen unterbrochen- rot, blau -, Blumen konnten es nicht sein, dafür waren die Farben zu intensiv. .Doktor Juffon wäre auf mich stolz<, dachte ich. >Erst der dritte Tag und bereits… Und was für ein Anfang. Keine Durchschnittseroberung. Eine berühmte Schauspielerin, weltbekannt. Angst hatte sie wohl kaum, und wenn doch, so bereitete ihr diese Angst Vergnügen. Weiter so. Aber weshalb sprach er von der Nähe? Sieht denn die Nähe so aus?
Und wie heldenmütig ich in den Wasserfall gesprungen bin. Edel-Gorilla. Dafür hat ihn dann eine Schönheit, vor der die Menge hinfällt, auch reichlich entschädigt: wie edel dies auch ihrerseits war!<
Mein ganzes Gesicht brannte. »Du blöder Kerl«, sprach ich milde zu mir selbst, »was willst du denn eigentlich? Eine Frau.
Nun hattest du eine Frau. Du hattest bereits alles, was man hier haben kann, dazu noch den Vorschlag, im Real aufzutreten. Jetzt wirst du ein Haus haben, im Garten spazieren, Bücher lesen, die Sterne angucken und still, voller Bescheidenheit wiederholen: dort bin ich gewesen. Gewesen und zurückgekommen. Und sogar die Gesetze der Physik haben für dich gearbeitet, du Glückspilz, ein halbes Leben hast du noch vor dir, und wie sieht der Roemer, hundert Jahre älter als du, jetzt aus?«
Der Ulder fing an hinabzugleiten, es entstand ein Pfeifen, die Gegend, voller weißer und blauer Straßen, deren Fahrbahnen wie mit Emaille ausgegossen glänzten, wuchs mir entgegen. Große Teiche und kleine quadratische Schwimmbecken schickten Sonnenglitzer hoch hinauf. Die Häuschen, auf den Hügeln flacher Erhöhungen stehend, wurden deutlicher und immer größer. Am Horizont, von der Luft blau, stand eine Gebirgskette mit weißen Gipfeln. Ich sah noch Kieswege, Blumenrabatten, Blumenbeete, das kalte Grün von Wasser in einem Betonrahmen, Gartenwege, Sträucher, ein weißes D ach, all das drehte sich langsam, umringte mich, erstarrte und nahm mich auf.
Die Tür ging auf. Ein weiß -orangefarbener Roboter wartete auf dem Rasen. Ich stieg aus.
»Wir begrüßen Sie in Klavestra«, sagte er und sein weißes Bäuchlein summte unerwarteterweise auf: es ließ Glasmusiktöne hören, so als ob er im Bauch eine Spieluhr hätte.
Immer noch lachend, half ich ihm, meine Sachen herauszutragen. Dann öffnete sich die hintere Klappe des Ulders, der im Gras wie ein kleiner silberner Zeppelin lag, und zwei orangefarbene Roboter rollten mein Auto heraus. Ich hatte es völlig vergessen. Nun gingen sämtliche Roboter, mit meinen Koffern, Kisten und Paketen beladen, im Gänsemarsch ins Haus.
Das Haus war ein Würfel mit Fensterwänden. Man ging hinein durch ein panoramaartig verglastes Solarium in eine Halle, den Speiseraum und die Treppe nach oben - alles aus Holz! -, der Roboter mit der Spieluhr vergaß nicht, meine Aufmerksamkeit auf diese Rarität zu lenken.
Oben gab es fünf Zimmer. Ich nahm nicht das beste, sondern das östlich liegende: denn in den anderen, besonders in dem mit dem Blick auf die Berge, gab es zuviel Gold und Silber. Das Ostzimmer wies nur grüne blattartige Streifen auf cremefarbenem Hintergrund auf.
Die Roboter legten alle meine Sachen in Wandschränke, sie arbeiteten schnell und leise. Ich blieb am Fenster stehen. >Ein Ha-fen<, dachte ich, >eine Bleibe.< Erst als ich mich hinauslehnte, konnte ich den blauen Dunst der Berge sehen. Unten gab es einen großen Blumengarten mit einigen ziemlich alten Obstbäumen: sie hatten verschlungene, abgearbeitete Äste und trugen wohl keine Früchte mehr.
Etwas seitlich, bei der Fahrbahn - die ich vorher aus dem Ulder gesehen hatte, sie war durch Hecken verdeckt - sah man über dem Grün den Turm des Sprungbretts. Dort war also das Schwimmbecken. Als ich mich umdrehte, waren die Roboter schon gegangen. Ich schob den leichten, wie aufgeblasenen Schreibtisch ans Fenster, legte darauf die Stapel der wissenschaftlichen Zeitschriften, die Tüten mit den Kristall-Büchern und den Leseapparat; gesondert brachte ich meine noch unangetasteten Notizen und meinen Füllfederhalter unter. Es war mein alter Füller - bei verstärkter Gravitation lief er immer aus und befleckte alles, aber Olaf hatte ihn ausgezeichnet repariert. Ich legte Mappen für Notizen an, schrieb darauf »Geschichte«, »Mathematik«, »Physik« und tat das alles hastig, weil ich es eilig hatte, ins Wasser kommen.
Ich wußte nicht, ob ich hier nur im Slip ausgehen konnte: den Bademantel hatte ich vergessen. Also ging ich ins Badezimmer auf dem Gang und stellte dort - mit einer Flasche Schaumflüssigkeit- ein scheußliches Ding zusammen, das an überhaupt nichts erinnerte. Ich riß es herunter und fing von vorne an. Der zweite Mantel fiel dann schon etwas besser aus, blieb aber trotzdem eine Art von Robinsonkleidung - mit einem Messer schnitt ich die größeren Unebenheiten der Ärmel und Säume ab, dann sah er schon annehmbarer aus.
Ich ging hinunter, noch nicht sicher, ob das Haus ganz ohne Gäste war. Die Halle blieb leer. Auch der Garten, nur mähte der orangefarbene Roboter den Rasen neben den Rosensträuchern.
Sie verblühten schon.
Fast laufend gelangte ich zum Schwimmbecken. Das Wasser glänzte und zitterte. Darüber schwebte unsichtbare Kühle. Ich warf den Mantel auf den goldenen Sand, der mir die Fußsohlen verbrannte, und laut auf den Metallstufen polternd, kletterte ich aufs Sprungbrett. Es war niedrig, doch gerade gut für den Anfang. Ich stieß mich ab, drehte einen einzelnen Salto - mehr traute ich mir nach einer so langen Pause nicht zu! - und fuhr ins Wasser wie ein Messer.
Glücklich kam ich an die Oberfläche. Ich fing mit großen Armbewegungen an, einmal durchzuschwimmen, dann zurück, dann noch einmal- das Becken war wohl so um die fünfzig Meter groß. Ich schwamm es achtmal durch, ohne das Tempo zu verringern, kam triefend wie ein Seehund ans Ufer und legte mich mit schwerpochendem Herzen auf den Sand. Das war gut. Die Erde hatte doch ihren Zauber! Nach einigen Minuten war ich trocken. Ich stand auf - hielt Ausschau rundum - niemand. Ausgezeichnet. Wieder lief ich zum Sprungbrett.
Zuerst machte ich einen Salto rückwärts, er gelang, obwohl ich mich zu stark abgestoßen hatte: statt eines Bretts gab es da am Ende ein Stück Plastik, das wie eine Sprungfeder wippte. Dann kam ein Doppelsalto, der mir nicht besonders gut gelang: ich schlug mit den Schenkeln hart aufs Wasser. Meine Haut wurde prompt rot, wie verbrüht. Ich wiederholte den Sprung. Schon
besser, doch noch nicht so, wie er sein sollte. Nach der zweiten Beuge hatte ich keine Zeit mehr, mich zu strecken, hielt auch die Füße nicht richtig. Aber ich war eigensinnig und hatte ja Zeit, so viel Zeit!
Der dritte, vierte, fünfte Sprung. Schon hatte ich etwas Ohrensausen, als ich - vorher auf alle Fälle noch einmal Ausschau haltend- einen Schraubensalto versuchte. Das war schon ein Fiasko, eine totale Blamage. Bein Aufschlagen auf das Wasser verlor ich die Puste, schluckte eine Menge Wasser und kroch dann prustend und würgend auf den Strand. Ich setzte mich unter die durchbrochene Sprungbrettleiter, so gedemütigt und wütend, daß ich schließlich zu lachen begann. Dann schwamm ich noch weiter: vierhundert - Pause - und wieder vierhundert.
Als ich ins Haus zurückkehrte, sah die Welt schon ganz anders aus. >Das hat mir wohl am meisten gefehlt<, dachte ich. Der weiße Roboter wartete an der Tür.
»Möchten Sie bei sich oder im Speiseraum essen?«
»Werde ich allein beim Essen sein?«
»Jawohl, mein Herr. Die anderen Herrschaften kommen erst morgen. «
Ich ging nach oben und zog mich um. Noch wußte ich nicht so recht, womit ich meine Studien anfangen würde. Geschichte wahrscheinlich, so wird es am vernünftigsten sein. Obwohl mich eine Eust überkam, alles auf einmal zu tun und am meisten - mich an das Rätsel der überwundenen Gravitation heranzumachen.
Ein singender Ton erklang. Das Telefon war es nicht. Da ich nicht wußte, was es war, verband ich mich mit dem Haus-Infor. »Wir bitten zum Mittagessen«, erklärte eine melodiöse Stimme. Der Speiseraum war voll von grün gefiltertem Licht, die schrägen Glasscheiben an der Decke glänzten wie Kristall. Auf dem Tisch nur ein Gedeck. Der Roboter brachte die Speisekarte.
»Nein, nein«, sagte ich, »egal, was da kommt.«
Der erste Gang erinnerte an eine Obstkaltschale. Der zweite schon an nichts mehr. Von Fleisch, Kartoffeln und Gemüse mußte man wohl für immer Abschied nehmen.
Sehr gut war es, daß ich allein aß, denn die Süßspeise explodierte mir unter dem Löffel. Vielleicht ist diese Bezeichnung etwas zu stark, aber jedenfalls hatte ich Creme auf den Knien und auf der Jacke. Die Konstruktion dieser Speise schien etwas kompliziert, nur oben war sie hart, und unvorsichtigerweise pickte ich den
Löffel hinein.
Als der Roboter kam, fragte ich, ob ich auf mein Zimmer Kaffee bekommen könnte.
»Selbstverständlich«, antwortete er. »Jetzt gleich?«
»Ja, bitte. Aber viel Kaffee.«
Ich sagte es, weil ich wohl vom Baden ein wenig schläfrig war, und plötzlich tat es mir um die verschlafene Zeit leid. Oh, hier war es wirklich ganz anders als auf dem Deck unseres Raumschif-res. Die Mittagssonne versengte die alten Bäume, die Schatten waren kurz, dicht an den Stämmen, die Luft zitterte in der Ferne, aber im Zimmer war es fast kühl. Ich setzte mich an den Schreibtisch zu den Büchern. Der Roboter brachte Kaffee. Eine durchsichtige Thermosflasche, die wohl an drei Liter faßte. Ich sagte kein Wort. Der Roboter hatte meinen Kaffeedurst etwas überschätzt.
Mit Geschichte wollte ich anfangen, ging aber erst an die Soziologie heran, da ich gleich möglichst viel erfahren wollte. Bald überzeugte ich mich, daß ich damit nicht fertig werden konnte. Diese Wissenschaft war mit einer schwierigen, weil spezialisierten Mathematik vollgepfropft, und - was noch schlimmer war -die Verfasser beriefen sich auf mir völlig unbekannte Tatsachen. Außerdem verstand ich recht viele Worte nicht und mußte ihre Bedeutung im Sachwörterbuch nachschlagen. Also stellte ich den zweiten Opton ein - ich hatte drei davon -, verlor recht bald die Lust an dem Ganzen, weil es mir zu langsam ging, stieg herab von meinem hohen Roß und nahm ein ganz gewöhnliches Schulbuch für Geschichte.
Etwas war in mich gefahren, so daß ich plötzlich keine Spur Geduld hatte - ich, den Olaf die letzte Buddha-Inkarnation nannte. Anstatt der Reihe nach vorzugehen, suchte ich zuerst ein Kapitel über die Betrisierung heraus.
Diese Theorie wurde von drei Leuten: Bennet, Trimaldi und Sacharow aufgestellt. Daher der Name. Mit Staunen erfuhr ich, daß sie gleichaltrig mit mir gewesen waren und das Ganze ein Jahr nach unserem Abflug veröffentlichten. Die Widerstände waren begreiflicherweise riesengroß. Anfangs wollte niemand diesen Plan ernst nehmen. Dann gelangte er auf das Forum der UNO.
Eine Zeitlang irrte er von einem Ausschuß zum anderen, und es sah fast so aus, als ob er in endlosen Beratungen untergehen sollte. Die experimentellen Arbeiten wurden aber ziemlich rege
vorangetrieben, man führte Verbesserungen ein, machte Massenexperimente an Tieren, später auch an Menschen. Zuerst haben sich die Verfasser selbst diesem Eingriff unterworfen - Tri-maldi war eine Zeitlang gelähmt, man kannte damals noch nicht die Gefahren, mit denen die Betrisierung erwachsenen Menschen drohte, und dieser fatale Unfall hielt die ganze Sache weitere acht Jahre auf-.
Aber im Jahre siebzehn nach Null- dies war meine private Zeitrechnung: Null bedeutete den Start des »Prometheus« - wurde der Beschluß über die Einführung der Betrisierung gefaßt; dies war der Beginn und nicht das Ende des Kampfes um eine Humanisierung der Menschheit - wie das Schulbuch verkündete. In zahlreichen Ländern wollten die Eltern ihre Kinder dem Eingriff nicht unterziehen, und die ersten Betrostationen wurden zu Angriffsobjekten. Viele von ihnen wurden vollständig vernichtet.
Die Zeit des Aufruhrs, der Repressalien, des Zwangs und Widerstands dauerte zwanzig Jahre. Das Schulbuch berichtete darüber
- aus wohlverständlichen Gründen - nur ganz allgemein. Ich nahm mir vor, nähere Einzelheiten an den Quellen zu suchen, ohne aber jetzt die Lektüre zu unterbrechen.
Eine Aenderung in der Haltung der Menschen hatte sich erst dann ergeben, als die erste betrisierte Generation bereits Kinder hatte. Über die biologische Seite des Eingriffs berichtete das Büchlein nichts. Dafür gab es mehrere Loblieder zu Ehren von Bennet, Trimaldi und Sacharow. Es gab einen Vorschlag, die Zeitrechnung der Neuen Aera bei der Einführung der Betrisierung anzufangen, das kam aber nicht durch. Die Zeitrechnung hat sich nicht geändert. Aber die Menschen änderten sich. Das Kapitel schloß mit pathetischen Worten von der Neuen Aera des Humanismus.
Ich suchte eine von Ullrich geschriebene Betrisierungsmono-graphie heraus. Wieder nichts als Mathematik, aber ich beschloß, mich da durchzukauen. Der Eingriff wurde nicht - wie ich insgeheim befürchtete - am Erbplasma vorgenommen. Wäre es übrigens so gewesen, dann müßte man nicht mehr jede kommende Generation betrisieren. Daran dachte ich mit Hoffnung. Immer also blieb - zumindest theoretisch - eine Rückzugsmöglichkeit. Man hatte auf das sich entwickelnde Vorderhirn - in einer frühen Lebensphase - mit einer Gruppe proteolytischer Enzyme eingewirkt. Die Resultate waren unterschiedlich: eine Reduzierung der Aggressionstriebe von 80 bis 88 Prozent im Vergleich zu den Nichtbetrisierten; Ausschluß der Entstehung assoziativer Verbindungen zwischen den Aggressionsakten und dem Bereich positiver Gefühle; Reduzierung der Möglichkeiten einer Aufnahme des persönlichen Lebensrisikos im Durchschnitt um 87 Prozent. Als größte Errungenschaft wurde betont, daß diese Veränderungen die Entwicklung der Intelligenz und die Gestaltung der Persönlichkeit nicht nachteilig beeinflußten und - was vielleicht noch wichtiger war - die entstandenen Beschränkungen nicht nach dem Prinzip von Angstverkopplungen funktionierten. Mit anderen Worten: der Mensch unterließ das Töten nicht deshalb, weil er vor der Tat selbst Angst hatte. Eine derartige Form würde Neurosen verursachen und die ganze Menschheit verängstigen.
Er tat dies nicht mehr, weil es »ihm nicht in den Sinn kommen konnte«.
Ein Satz von Ullrich sagte mir zu: »Die Betrisierung verursacht den Aggressivitätsschwund durch Mangel an Antrieb, nicht durch Verbot.« Nach einigem Nachdenken fand ich aber, daß dies das Wichtigste nicht erklärte, nämlich den Gedankenverlauf eines der Betrisierung unterzogenen Menschen. Diese Menschen waren ja völlig normal, konnten sich also alles, daher auch einen Mord vorstellen. Was verhinderte also eine Verwirklichung?
Auf diese Frage suchte ich eine Antwort, bis es dunkel wurde. Wie es meistens bei wissenschaftlichen Problemen vorkommt, komplizierte sich das, was in einer summarischen Besprechung oder Kurzfassung relativ einfach und klar erscheint, um so mehr, je genauere Erklärungen ich forderte.
Das singende Signal rief mich zum Abendessen - ich bat, es mir aufs Zimmer zu bringen, rührte es aber nicht einmal an. Wissenschaftliche Erklärungen, die ich endlich fand, deckten sich nur unvollständig. Eine ekelähnliche Repulsion, höchste Aversionsstufe, die auf eine für einen Nichtbetrisierten unverständliche Art noch gesteigert wurde, am interessantesten waren die Aussagen der Untersuchten, die seinerzeit - vor achtzig Jahren - im Tri-maldi-Institut bei Rom die Aufgabe hatten, die unsichtbare, in ihren Gehirnen errichtete Schranke zu durchbrechen. Das war wohl das Eigenartigste, was ich je las. Keiner konnte sie durchbrechen, doch der Bericht über die Erlebnisse, die solche Versuche begleiteten, war bei jedem verschieden. Bei den einen überwogen psychische Erscheinungen: das Verlangen, aus der
Situation, in die man sie gestellt hatte, zu fliehen. Die Wiederholung der Versuche rief bei dieser Gruppe starke Kopfschmerzen hervor, und die hartnäckige Wiederkehr dieser Schmerzen führte endlich zu einer Neurose, die sich aber schnell heilen ließ. Bei anderen dominierten körperliche Erscheinungen: Atemnot,
Asthma; dieser Zustand erinnerte an Angst, jedoch klagten die Menschen nicht über Angst, sondern über körperliche Beschwerden.
Wie Pilgrin in seinen Untersuchungen feststellte, war die Durchführung eines Scheinmordes- zum Beispiel an einer Puppe -bei 18 Prozent der Betrisierten möglich, doch mußten sie dabei absolut sicher sein, daß sie es mit einem toten Gegenstand zu tun hatten.
Das Verbot umfaßte alle höher entwickelten Tiere, aber Reptilien und Amphibien wie auch Insekten nicht mehr. Selbstverständlich fehlte den Betrisierten ein wissenschaftliches Wissen über die zoologische Systematik. Das Verbot war ganz einfach mit dem Grad der Menschenähnlichkeit verbunden, den man allgemein annimmt. Da jeder Mensch den Hund für ein den Menschen näherstehendes Tier hält als eine Schlange, war die Sache dadurch erklärt.
Ich las noch eine Menge anderer Arbeiten und gab denen recht, die behaupteten, daß einen Betrisierten introspektiv nur ein anderer Betrisierter verstehen kann. Ich legte diese Arbeiten mit gemischten Gefühlen aus der Hand. Am meisten war ich durch das Fehlen kritischer Bearbeitungen beunruhigt, irgendeiner Analyse, die sämtliche negativen Folgen dieses Eingriffs zusammenfassen würde, da ich keinen Augenblick zweifelte, daß es solche auch geben mußte. Nicht aus Mangel an Erfahrung und Achtung den Forschern gegenüber, sondern einfach darum, weil das Wesen allen menschlichen Tuns so ist: nie gibt es etwas Gutes oder Böses.
Ein kleiner soziographischer Umriß von Murwick enthielt zahlreiche interessante Angaben über die Widerstandsbewegung gegen die Betrisierung, die ihren Anfang begleitete. Am stärksten war sie wohl in den Ländern mit einer langjährigen Tradition blutiger Kämpfe, wie Spanien und gewissen Staaten Lateinamerikas. Illegale Organisationen für den Kampf gegen die Betrisie-rung entstanden übrigens fast in der ganzen Welt, besonders in Südafrika, in Mexiko und auf gewissen Tropeninseln. Man be-diente sich dabei sämtlicher Mittel, von der Fälschung ärztlicher Atteste über vorgenommene Eingriffe bis zur Ermordung der Aerzte, die solche Eingriffe vornahmen.
Als die Zeit des massiven Widerstandes und der heftigen Zusammenstöße vorbei war, kam es zu einer illusorischen Ruhe. Illusorisch war sie deshalb, weil sich erst dann ein Konflikt der Generationen abzuzeichnen begann. Die junge, betrisierte, verwarf beim Heranwachsen den größten Teil der menschlichen Errungenschaften- Bräuche, Gewohnheiten, Kunst, das ganze Kulturerbe wurde in einer erschütternden Art und Weise umgewertet. Die Veränderung umfaßte zahlreiche Gebiete, von der Erotik über die gesellschaftlichen Gewohnheiten bis zur Einstellung zum Krieg.
Selbstverständlich erwartete man eine große Teilung der Völker. Das Gesetz wurde - seinem Buchstaben gemäß - erst fünf Jahre nach seiner Entstehung gültig. Diese ganze Zeit hindurch wurden Riesenkader von Erziehern, Psychologen und Spezialisten ausgebildet, die für die richtige Entwicklung der neuen Generation sorgen sollten. Vonnöten waren eine vollständige Schulreform, Repertoireänderungen bei Aufführungen, Lesethemen, Filmen. Die Betrisierung - um in kurzen Worten die Skala dieses Umschwungs zu zeigen - verschlang in den ersten zehn Jahren vierzig Prozent des Nationaleinkommens der gesamten Erde, infolge ihrer zahlreichen und verzweigten Konsequenzen und Notwendigkeiten.
Es war eine Zeit großer Tragödien. Die betrisierte Jugend wurde den eigenen Eltern fremd. Teilte ihre Interessen nicht mehr. Verabscheute ihren blutigen Geschmack. Ein Vierteljahrhundert lang mußten zweierlei Arten von Zeitschriften, Büchern, Theaterstücken eingeführt werden: die eine für die alte, die andere für die neue Generation.
All das geschah vor achtzig Jahren. Gegenwärtig wurden Kinder der dritten betrisierten Generation geboren, und von den Nichtbetrisierten war nur ein winziges Häuflein am Leben: es waren schon hundertdreißigjährige Greise. Das, was der Inhalt ihrer Jugend gewesen war, schien der jungen Generation genauso fern wie die Traditionen der Steinzeit.
Im Geschichtsbuch fand ich endlich Informationen über das andere, zweitgrößte Geschehen aus dem vorigen Jahrhundert. Es war dies die Bewältigung der Gravitation. Man hat diese Zeit sogar »Jahrhundert der Parastatik« genannt. Meine Generation träumte von der Bewältigung der Gravitation in der Hoffnung, daß dies eine totale Umwälzung in der Astronautik bringen würde. Die Realität zeigte es anders. Die Umwälzung kam zwar, hatte aber vor allem die Erde betroffen.
Ein Schrecken meiner Zeit war das Problem des »Friedenstodes«, der durch Verkehrsunfälle verursacht wurde. Ich weiß noch, wie sich die findigsten Köpfe anstrengten, um durch Entlastung der immerfort vollgestopften Bahnen und Straßen nur ein klein wenig die stets anwachsende Statistik der Unfälle zu vermindern; Jahr für Jahr kamen Hunderttausende von Menschen bei Katastrophen um, dieses Problem schien unlösbar wie die Quadratur des Kreises. »Es gibt kein Zurück zur Sicherheit des Fußgängers«, hieß es, »das beste Flugzeug, der stärkste Wagen oder Zug kann aus der Kontrolle der Menschen geraten - die Automaten sind sicherer als der Mensch, aber auch sie gehen kaputt; also jede, auch die vollkommenste Technik stellt einen gewissen Toleranzbereich, einen Prozent von Fehlern dar.«
Die Parastatik, die Gravitationswissenschaft, brachte eine so unerwartete wie notwendige Lösung. Die Welt der Betrisierten mußte ja eine Welt der völligen Sicherheit sein: anders wäre die biologische Vollkommenheit dieses Eingriffs in der Luft hängengeblieben. Roemer hatte recht. Das Wesen dieser Entdeckung konnte nicht mehr anders als durch Mathematik - eine höllische Mathematik, will ich gleich hinzufügen- zum Ausdruck gebracht werden. Eine ganz allgemeine »für alle nur möglichen Weltallarten« gültige Lösung hat Emil Mitke, der Sohn eines Postbeamten, ein verkrüppeltes Genie, gegeben, der mit der Relativitätstheorie das gleiche tat wie Einstein mit der Theorie von Newton. Es war eine lange, ungewöhnliche und wie jede wahre ganz unwahrscheinliche Geschichte, eine Vermischung geringfügiger und gewichtiger Dinge, der menschlichen Lächerlichkeit mit der menschlichen Größe, die endlich nach vierzig Jahren in der Entstehung der »kleinen schwarzen Kästchen« kulminierte.
Diese kleinen schwarzen Kästchen mußte ausnahmslos jedes Fahrzeug, jedes Wasser- oder Luftschiff besitzen: sie garantierten - wie Mitke scherzhaft an seinem Lebensabend bemerkte -das diesseitige Heil; bei der Gefahr - dem Absturz eines Flugzeugs, dem Zusammenstoß von Autos oder Zügen, kurz, bei einer Katastrophe - lösten sie eine Ladung des »Gravitation-Anti-
feldes« aus, das bei seiner Entstehung und Verbindung mit der durch den Zusammenstoß - allgemein ausgedrückt: durch eine plötzliche Dezeleration, Verlust an Geschwindigkeit - entstandenen Trägheit im Endergebnis eine Null ergab. Diese mathematische Null war durchaus eine Realität: sie absorbierte den ganzen Schock, die gesamte Energie des Unfalls und rettete auf diese Weise nicht nur die Passagiere des Fahrzeugs, sondern auch diejenigen, auf die anderenfalls seine blinde Masse stürzen würde.
Die »schwarzen Kästchen« gab es überall: sogar in den Hebekränen, in Fahrstühlen, in den Gürteln der Fallschirmspringer, in den Ozeandampfern und in den Mopeds. Ihre einfache Konstruktion war ebenso staunenswert wie die Kompliziertheit der Theorie, durch die sie entstanden war.
Der Morgen rötete schon die Wände meines Zimmers, als ich todmüde auf mein Bett fiel mit dem Bewußtsein, die zweite und nach der Betrisierung größte Revolution des Zeitalters meiner irdischen Abwesenheit kennengelernt zu haben.
Geweckt wurde ich von dem Roboter, der mit dem Frühstück ins Zimmer kam. Es war schon fast ein Uhr. Ich setzte mich im Bett auf und versicherte mich unter der Hand, das in der letzten Nacht zur Seite gelegte Werk »Problematik der Sternflüge« von Starck zu haben.
»Sie sollten zu Abend essen, Herr Bregg«, sagte der Roboter vorwurfsvoll, »s onst verlieren Sie Ihre Kräfte. Auch das Lesen bis zum Morgengrauen ist nicht empfehlenswert. Die Aerzte sind sehr schlecht darauf zu sprechen - wissen Sie es?«
»Schon, aber woher weißt du denn das?« fragte ich.
»Es ist meine Pflicht, Herr Bregg.«
Er reichte mir das Tablett.
»Ich will versuchen, mich zu bessern«, sagte ich.
»Ich hoffe, daß Sie eine Freundlichkeit, die durchaus keine Aufdringlichkeit bedeuten möchte, nicht mißverstanden haben«, erwiderte er.
»Ach, wo«, sagte ich. Ich rührte den Kaffee um, spürte, wie die Zuckerteilchen sich unter dem Löffel auflösten, und war auf eine ebenso ruhige wie weitläufige Art erstaunt. Nicht nur, daß ich wirklich auf Erden war, daß ich zurückgekommen bin, nicht allein durch die Erinnerung an die nächtliche Lektüre, die noch in meinem Kopf rumorte und gärte, sondern durch die einfache Tatsa-che, daß ich in einem Bett saß, daß mein Herz schlug - daß ich lebte.
Zu Ehren dieser Entdeckung wollte ich gerne etwas tun, doch wie üblich kam mir kein vernünftiger Gedanke in den Kopf.
»Hör mal«, wandte ich mich an den Roboter, »ich habe eine Bitte an dich.«
»Stets zu Diensten.«
»Hast du etwas Zeit? Dann spiel mir doch mal wieder dieselbe kleine Melodie wie gestern - ja?«
»Mit Vergnügen«, antwortete er, und bei den fröhlichen Spieluhrklängen trank ich in drei Schlucken meinen Kaffee. Sobald der Roboter fort war, zog ich mich um und lief zum Schwimmbek-ken.
Ich weiß wirklich nicht, warum ich stets so in Eile war. Etwas trieb mich, wie ein Vorgefühl, daß diese meine Ruhe recht bald
- als unverdient und unwahrscheinlich - ein Ende haben würde. Wie immer führte diese fortdauernde Eile dazu, daß ich, ohne mich nur einmal umzusehen, quer durch den Garten lief und mit ein paar Sätzen oben auf dem Sprungbrett war. Indem ich mich bereits abstieß, sah ich zwei Menschen, die eben hinter dem Haus hervorkamen. Aus wohlverständlichen Gründen konnte ich sie nicht näher betrachten. Ich machte einen Salto - nicht den besten
- und tauchte bis auf den Grund unter. Ich machte die Augen auf. Das Wasser war wie ein zitternder Kristall, grün, die Schatten der Wellen tanzten auf dem von der Sonne beschienenen Grund.
Ich schwamm unter Wasser zu der kleinen Treppe, und als ich aus dem Wasser auftauchte, war im Garten niemand mehr. Doch meine wohltrainierten Augen hatten im Flug das in einem Sekundenbruchteil verkehrt erblickte Bild eines Mannes und einer Frau festgehalten. So hatte ich wohl schon Nachbarn. Ich überlegte, ob ich noch einmal das Becken durchqueren sollte, aber Starck siegte. Die Einleitung dieses Buches - er sprach darin von den Flügen zu den Sternen, die er einen Jugendfehler nannte - hatte mich so geärgert, daß ich drauf und dran war, es zu schließen und niemals mehr in die Hand zu nehmen. Ich konnte mich aber überwinden. Ich ging nach oben, zog mich um, beim Hinuntergehen sah ich auf dem Tisch in der Halle eine Terrine voller blaßrosa Früchte, die ein wenig an Birnen erinnerten, stopfte damit die Taschen meiner Gartenhose voll, fand ein abgelegenes, von drei Seiten mit Gartenhecken umzäuntes Plätzchen, stieg auf einen
alten Apfelbaum, suchte eine meinem Gewicht entsprechende Gabelung der Zweige und fing dort das Studium dieser Grabrede auf das Werk meines Lebens an.
Nach einer Stunde war ich meiner nicht mehr so sicher. Denn Starck benutzte solche Argumente, die man schwer widerlegen konnte. Er stützte sich auf die knappen Daten, die von den erste.n zwei Expeditionen stammten, die der unseren vorangingen; wir nannten sie »Stichproben«; denn es waren nur Sondenproben auf die Entfernung einiger Lichtjahre. Starck stellte statistische Tafeln der wahrscheinlichen Streuung, anders gesagt der »Bevölkerungsdichte«, der ganzen Galaxis zusammen. Die Wahrscheinlichkeit des Antreffens vernünftiger Wesen schätzte er effektiv auf eins zu zwanzig. Mit anderen Worten: pro zwanzig Expeditionen- in den Grenzen von eintausend Lichtjahren- hatte nur eine die Chance, einen bewohnten Planeten zu entdecken. Dieses Ergebnis aber - obwohl es eher seltsam klang - hielt Starck für ziemlich interessant; der Plan kosmischer Kontakte zerfiel in seiner Analyse erst in dem weiteren Teil dieser Ausführungen.
Ich war ziemlich aufgebracht, als ich las, was der mir unbekannte Verfasser über Expeditionen wie die unsere schrieb - das heißt solche, die vor der Entdeckung wie die des Mitke-Effekts und der Parastatik-Erscheinungen unternommen wurden -: er hielt sie für absurd. Doch schwarz auf weiß erfuhr ich erst von ihm, daß
- jedenfalls im Prinzip - der Bau eines Schafes, das eine Beschleunigung von 1000, vielleicht gar von 2000 g entwickeln konnte, möglich ist. Die Besatzung eines solchen Schafes würde weder die Beschleunigung noch das Bremsen spüren - auf den Decks würde eine konstante Schwere - dem Bruchteil der irdischen gleich - herrschen. Also gab Starck zu, daß Flüge an die galaktischen Grenzen, sogar zu anderen Galaxien - die Transga-laxodromie, von der Olaf so sehr geträumt hatte- möglich wären, und dies innerhalb eines Menschenlebens. Bei einer Geschwindigkeit, die nur einen winzigen Bruchteil geringer als die Lichtgeschwindigkeit wäre, würde die Besatzung kaum ein paar Monate älter werden, um dann, nachdem sie bis zu der Tiefe der Metagalaxis gelangt war, auf die Erde zurückzukehren.
Jedoch mußten inzwischen auf der Erde nicht nur Hunderte, sondern Millionen von Jahren verflossen sein. Die von den Rückkehrern vorgefundene Zivilisation könnte sie nicht mehr aufneh-
men. Ein Neandertaler hätte sich eher an die Lebensart unserer Zeit gewöhnt.
Das war aber noch nicht alles. Es ging ja nicht um das Los einer Menschengruppe. Durch sie stellte die Menschheit Fragen, auf die von ihren Vorboten eine Antwort gegeben werden sollte. Betraf diese Antwort Dinge, die mit der Entwicklungsstufe der Zivilisation zusammenhingen, so mußte die Menschheit sie noch vor ihrer Rückkehr erlangen. Denn von der Fragestellung bis zur Ankunft einer Antwort mußten ja Millionen von Jahren vergehen.
Auch das war noch zu wenig. Die Antwort war nicht mehr aktuell, war schon tot; denn sie brachte Nachrichten über den Zustand der anderen, außergalaktischen Zivilisation aus einer Zeit, in der sie an das andere Sternenufer gelangt waren. Während ihres Rückfluges stand aber jene Welt nicht still, sondern ging vor-warts um eine, um zwei, drei Millionen von Jahren. Die Fragen und Antworten verfehlten sich daher im Zickzack, unterlagen einer Verspätung von Hunderten von Zeitaltern, die sie durchstrich, die jeglichen Austausch von Erfahrungen, Werten und Gedanken zu einer Fiktion machte. Zu einem Nichts. Sie waren also Vermittler und Zusteller toter Inhalte und ihr Werk ein Akt rücksichtsloser und unwiderruflicher Entfremdung aus der Geschichte der Menschheit. Die Weltallexpeditionen bildeten eine bisher unbekannte Art, die kostspieligste von allen möglichen Arten von Fahnenflucht auf dem Gebiet der geschichtlichen Veränderungen.
Und für einen solchen Wahnwitz, für einen solchen niemals lohnenden, stets vergeblichen Irrsinn sollte die Erde mit der höchsten Anspannung aller Kräfte arbeiten und ihre besten Menschen hergeben?
Das Buch schloß mit einem Kapitel über die Expeditionsmöglichkeiten mit Hilfe der Roboter. Sie worden selbstverständlich auch nur tote Inhalte vermitteln, doch konnte man auf diese Art die Opfer an Menschen vermeiden.
Dann gab es noch einen Anhang von drei Seiten, den Versuch einer Antwort auf die Frage, ob es eine Möglichkeit der Reisen mit Überlichtgeschwindigkeiten gebe, gar vielleicht eine des sogenannten »momentanen Kosmos-Kontakts« - das heißt, der Überschreitung des Weltallraums ohne oder fast ohne Zeitverlust, dank den noch unbekannten Eigenschaften der Materie und
des Raums, durch irgendeinen »Fernkontakt«. Diese Theorie, vielmehr diese Hypothese, die sich auf fast gar keine Tatsachen stützte, hatte ihren Namen: Teletaxie. Starck meinte, im Besitz eines Argumentes zu sein, das auch diese letzte Chance zunichte machte. Würde sie nämlich bestehen - behauptete er -, so hätte sie zweifellos irgendeine der höchstentwickelten Zivilisationen unserer Galaxis- oder auch der anderen - entdeckt. Ihre Vertreter könnten dann in diesem Fall in einer recht kurzen Zeit sämtliche Planetensysteme und Sonnen - die unsere mitinbegriffen -»fernbesuchen«. Die Erde hat aber bisher einen solchen »Tele-besuch« nicht erfahren, was den Beweis erbringt, daß jene blitzartige Art der kosmischen Reisen sich wohl denken, nie aber verwirklichen läßt.
Ich kehrte heim, betäubt, mit einem fast kindlichen Gefühl persönlicher Kränkung. Starck, dieser Mensch, den ich nie gesehen hatte, verletzte mich wie kein anderer. Meine unzulängliche Zusammenfassung kann nicht die rücksichtslose Logik seiner Ausführungen wiedergeben. Ich weiß nicht mehr, wie ich in mein Zimmer kam, wie ich mich umzog - plötzlich hatte ich Lust auf eine Zigarette und merkte, daß ich sie seit langem schon rauchte, auf meinem Bett zusammengekauert, als wartete ich auf etwas. Ach, ja: das Mittagessen. Das gemeinsame Mittagessen. Es war so: Ich hatte ein bißchen Angst vor den Menschen. Ich gab es nicht einmal vor mir selbst zu. Darum hatte ich so schnell zugestimmt, die Villa mit Fremden zu teilen. Vielleicht hatte die Tatsache, daß ich diese Fremden erwartete, meine unheimliche Eile hervorgerufen, als ob ich mit allem fertig werden, mich auf ihre Anwesenheit vorbereiten müßte, durch Bücher in die Geheimnisse des neuen Lebens eingeführt.
Am Morgen dieses Tages hätte ich mir das vielleicht nicht so deutlich gesagt. Nach dem Buch von Starck verließ mich aber plötzlich das Lampenfieber vor der Begegnung. Ich nahm aus dem Leseapparat das bläuliche, kornartige Kristall und legte es, voller Furcht und Staunen, auf den Tisch. Dieses kleine Ding hatte mich k. o. geschlagen. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr dachte ich an Thurber und an Gimma: ich muß sie wiedersehen. Vielleicht hat dieses Buch auch recht, aber irgendein anderes Recht steht hinter uns. Niemand kann völlig recht haben. Das kann nicht sein.
Ein singendes Signal riß mich aus meiner Betäubung. Ich zog
meine Jacke gerade und ging hinunter, in mich selbst hineinhorchend, schon ruhiger. Die Sonne schien durch die Weinranken der Veranda, die Halle war, wie immer am Nachmittag, von einem verstreuten grünlichen Licht erfüllt. Im Speiseraum gab es auf dem Tisch drei Gedecke.
Als ich hereinkam, ging die gegenüberliegende Tür auf, und die anderen erschienen. Sie waren für diese Zeiten ziemlich groß.
Wir trafen uns auf halbem Wege wie Diplomaten. Ich nannte meinen Namen, wir reichten uns die Hand und nahmen Platz am Tisch.
Ich spürte eine Art betäubender Ruhe, wie ein Boxer, der sich nach einer technisch fehlerfreien Niederla ge soeben von den Brettern erhoben hat. Aus dieser Zerschlagenheit heraus betrachtete ich das junge Paar wie aus einer Loge.
Das Mädchen war wohl kaum zwanzig Jahre alt. Erst viel später kam ich dahinter, daß sie sich nicht beschreiben ließ und sicher ihrem eigenen Foto nicht ähnlich gewesen waere: sogar am nächsten Tag hatte ich keine Ahnung, was für eine Nase - eine gerade oder etwas stupsartige - sie hatte. Die Art, wie sie die Hand nach einem Teller ausstreckte, erfreute mich, wie etwas Wertvolles, wie eine Überraschung, die es nicht alle Tage gibt; sie lächelte selten und ruhig, wie mit etwas Mißtrauen gegen sich selbst. Als hielte sie sich für zu wenig beherrscht, zu fröhlich - von Natur aus -oder auch für trotzig, und versuchte vernünftigerweise, dem abzuhelfen. Immer wieder entschlüpfte sie dabei der eigenen Strenge, wußte es und amüsierte sich darüber.
Selbstverständlich zog sie meine Blicke auf sich, und ich mußte dagegen ankämpfen. Trotzdem starrte ich sie immerfort an: ihre Haare, die den Wind herbeizurufen schienen, ich senkte den Kopf über meinen Teller, griff mit kurzen Blicken nach den Schüsseln, wobei ich zweimal fast die Blumenvase umgeworfen hätte- kurz, ich benahm mich unmöglich. Doch die beiden schienen mich kaum zu sehen. Sie hatten ihre eigenen, ineinandergreifenden Blicke, unsichtbare. Fädchen einer Verständigung, die sie verband. Ich weiß kaum, ob wir während der ganzen Zeit auch nur zwanzig Worte darüber gewechselt haben, daß das Wetter schön ist und daß man sich hier gut erholen kann.
Dieser Marger war kaum einen Kopf kleiner als ich, aber schlank wie ein Jüngling, wenn auch schon über dreißig. Er war eher dunkel gekleidet, ein Blonder mit langem Schädel und einer
hohen Stirn. Am Anfang schien er mir ausnehmend hübsch, aber nur, wenn sein Gesicht unbeweglich blieb. Sobald er sprach -meistens mit einem Lächeln für seine Frau, wobei dieses Gespräch aus Andeutungen bestand, die für einen Fremden völlig unverständlich waren -, wurde er fast häßlich. Eigentlich auch das nicht, nur schienen sich dann seine Proportionen etwas zu verschieben, der Mund zog sich nach links und verlor an Ausdruck, sogar sein Lachen war ausdruckslos, obwohl er schöne weiße Zähne hatte. Und wenn er auflebte, wurden seine Augen zu blau und sein Kiefer erschien zu stark modelliert, und im ganzen schien er dann wie ein unpersönliches Modell männlicher Schönheit, wie aus einem Modejournal.
Kurz - von Anfang an war er mir äußerst unsympathisch.
Das Mädchen-denn so mußte ich seine Frau in Gedanken nennen, auch wenn ich es nicht so wollte - hatte weder schöne Augen noch Lippen, auch kein besonders schönes Haar - nichts war an ihr Ungewöhnlich. >Mit einem solchen Mädel< dachte ich, >wäre ich imstande, mit einem Zelt auf dem Rücken, das ganze Felsengebirge hin und zurück zu durchwanderna Warum ausgerechnet ein Gebirge? Ihre Gestalt rief bei mir Assoziationen an Übernachtungen im Zwergkieferngebiet mit mühevollen Bergbesteigungen hervor, an Seeufern, wo es nichts gibt außer Sand und Wellen.
Nur darum, weil sie keine geschminkten Lippen hatte? Ich spürte ihr Lächeln von der anderen Tischseite, sogar dann, wenn sie überhaupt nicht lächelte. In einem Anfall von Übermut beschloß ich, einmal auf ihren Hals zu schauen, es war, als ob ich einen Diebstahl beging. Das war schon am Ende des Mittagessens. Marger wandte sich plötzlich an mich - ob ich nicht rot geworden bin? Er sprach eine ganze Weile, ehe ich ihn verstand. Daß das Haus nur einen Glider besitze, den er - leider - nun nehmen müsse, da er in die Stadt führe. Wenn ich also auch hinmöchte und nicht bis zum Abend warten wollte, könnte ich vielleicht mit ihm fahren? Er könnte mir aber auch, selbstverständlich, aus der Stadt einen anderen Glider schicken, oder…
Ich unterbrach ihn. Fing an zu beteuern, daß ich nirgends hin wollte, zögerte dann aber und hörte bald darauf meine eigene Stimme, die da sagte, daß ich tatsächlich die Absicht hätte, in die Stadt zu fahren, wenn es also ginge…
»Na, dann ist’s ja gut«, meinte er. Wir waren bereits vom Tisch
aufgestanden. »Um wieviel Uhr würde es Ihnen denn passen?«
Eine Weile noch überboten wir uns an Höflichkeit, bis ich ihn dazu brachte zu gestehen, daß er selbst es eilig hatte. Darauf erwiderte ich, daß ich jederzeit fahren könnte. In einer halben Stunde sollten wir uns treffen.
Ich ging hinauf, ziemlich erstaunt über den Verlauf der Dinge.
Er ging mich doch nichts an. Und ich hatte absolut nichts in der Stadt ‘zu suchen. Wozu also dieser ganze Ausflug? Außerdem schien mir auch seine Höflichkeit etwas übertrieben. Wenn ich es wirklich eilig hätte, in die Stadt zu kommen, w’firden mich die Roboter bestimmt nicht im Stich und auch nicht zu Fuß gehen lassen. Wollte er vielleicht etwas von mir? Aber was? Er kannte mich doch gar nicht. Ich zerbrach mir darüber - unnützerweise - so lange den Kopf, bis die Zeit um war und ich wieder nach unten ging.
Seine Frau war nirgends zu sehen, am Fenster erschien sie auch nicht, um ihm noch einmal aus der Ferne Lebewohl zu sagen. Anfangs schwiegen wir in der großen Maschine, schauten nur auf die auftauchenden Biegungen und Schleifen der Fahrbahn, die sich zwischen den Hügeln wand. Langsam kamen wir dann ins Gespräch. Ich erfuhr, daß Marger Ingenieur war.
»Gerade heute muß ich die städtische Selektstation kontrollierehe, sagte er. » Und Sie sind- wie es scheint - auch ein Kybernetiker?«
»Aus der früheren Steinzeit«, erwiderte ich. »Doch - Verzeihung - woher wissen Sie es?«
»Man sagte mir im Reisebüro, wer unser Nachbar sein würde. Natürlich war ich da neugierig.« »Aha.«
Wir schwiegen eine Weile. An den stets öfter auftauchenden Ansammlungen bunter Plastikmassen konnte man erkennen, daß die Vororte schon nahe waren.
»Wenn Sie gestatten.., ich wollte Sie fragen, ob Sie auch irgendwelche Schwierigkeiten mit den Automaten hatten?« fragte er mich plötzlich. Nicht so sehr aus dem Inhalt, vielmehr aus dem Ton dieser Frage begriff ich, daß ihm an meiner Antwort sehr lag. Das also wollte er wissen? Aber - warum eigentlich?
»Meinen Sie die… Defekte? Doch, davon hatten wir eine Menge. Ist wohl auch selbstverständlich, die Modelle waren im Vergleich zu den Ihrigen so veraltet…«
»Nein; nicht die Defekte«, beeilte er sich zu antworten, »vielmehr die Schwankungen der Effektivität bei derart unterschiedlichen Verhältnissen.. • Heute haben wir leider keine Möglichkeit mehr, die Automaten auf derart extreme Art auszuprobie -ren.«
Im Grunde lief das Ganze auf rein technische Fragen hinaus. Er war einfach neugierig, wie gewisse Parameter der Elektrohirntä-tigkeit im Bereich der riesengroßen Magneffelder, kosmischer Nebel, in denTrichtern der Gravitationsstörungen aussahen, und war dabei nicht sicher, ob diese Daten nicht unserem vorläufig noch nicht zur Veröffentlichung zugelassenen Expeditionsarchiv angehörten. Ich erzählte ihm, was ich wußte, und riet, sich wegen spezieller Angaben an Thurber zu wenden, den Stellvertreter des wissenschaftlichen Leiters unserer Expedition.
»Könnte ich mich dabei auf Sie berufen?«
» Selbstverständlich. «
Er bedankte sich überschwenglich. Ich war etwas enttäuscht. Also weiter nichts? Aber durch dieses Gespräch entstand zwischen uns eine Art beruflicher Bindung, und nun fragte ich ihn wiederum nach der Bedeutung seiner Arbeit: ich wußte nicht, was das für eine Selektstation war, die er kontrollieren sollte.
»Ach, nichts Interessantes. Einfach ein Schrottlager… eigentlich möchte ich mich der wissenschaftlichen Arbeit widmen; dies hier ist nur eine Art Praktikum, das übrigens nicht mal sehr nützlich ist.«
»Praktikum? Die Arbeit in einem Schrottlager? Wie denn? Sie sind doch Kybernetiker, also… «
»Es ist kybernetischer Schrott«, erklärte er mit einem schiefen Lächeln. Und fügte, fast verächtlich, noch hinzu: »Denn wir sind sehr sparsam, wissen Sie. Es geht darum, daß nichts verlorengeht… In meinem Institut könnte ich Ihnen schon so manches Interessante zeigen, aber hier… «
Er zuckte die Achseln. Der Glider verließ die Fahrbahn und glitt durch ein hohes Metalltor auf einen weitläufigen Fabrikhof; ich sah dort eine ganze Reihe von Transportern, Gitterschieber, etwas, was an einen modernisierten Siemens-Martin-Ofen erinnerte.
»Nun stelle ich Ihnen die Maschine zur Verfügung«, sagte Mar-ger. Aus einem Schalter in der Wand, an der wir stehengeblieben waren, lehnte sich ein Roboter heraus und sagte etwas zu ihm.
Marger stieg aus, ich sah ihn gestikulieren, plötzlich wandte er sich mir zu, ziemlich verlegen.
»Schöne Bescherung«, sagte er, »Gloor - er ist mein Kollege -ist krank geworden, und allein darf ich nicht - was soll man da tun?«
»Um was geht es denn?« fragte ich und stieg ebenfalls aus.
»Die Kontrolle muß von zwei Menschen durchgeführt werden
- mindestens von zweien«, erklärte Marger. Plötzlich aber er-heilte sich sein Gesicht. »Herr Bregg! Sie sind doch auch ein Kybernetiker! Wenn Sie nun einwilligen möchten?«
»Oho«, lächelte ich, »Kybernetiker? Antiker, müssen Sie da schon hinzufügen. Ich kenne mich ja überhaupt nicht mehr aus.«
»Es ist doch nur eine reine Formsache!« unterbrach er mich. »Die technische Seite will ich, selbstverständlich, gerne übernehmen, es geht hier lediglich um eine zweite Unterschrift - um nichts weiter!«
»Meinen Sie?« sagte ich zögernd. Ich verstand wohl, daß er es eilig hatte, zu seiner Frau zurückzukehren, aber ich wollte nicht jemanden darstellen, der ich nicht war; für einen Statisten bin ich nicht geeignet. Das sagte ich ihm auch, allerdings in milderen Worten.
Er hob abwehrend beide Hände: »Bitte, verstehen Sie mich ja nicht falsch! Es sei denn, daß Sie sehr in Eile sind - ja -, Sie wollten doch etwas in der Stadt… Dann will ich also schon.., irgendwie.., und bitte um Entschuldigung, daß…«
»Die anderen Dinge können warten«, erwiderte ich. »Sprechen Sie, bitte, und wenn ich kann, werde ich Ihnen helfen.«
Wir gingen in ein weißes Gebäude, das abseits stand. Marger führte mich durch einen eigenartig leeren Korridor: in den Nischen standen regungslos einige Roboter. In einem kleinen, einfach eingerichteten Arbeitszimmer nahm er aus dem Wandschrank einen Stoß Papiere heraus, legte sie auf den Tisch und fing an zu erklären, worauf seine - oder vielmehr unsere -Funktion beruhte. Er eignete sich nicht zum Vortragenden, recht bald zweifelte ich an den Chancen seiner wissenschaftlichen Karriere: dauernd setzte er bei mir ein Wissen voraus, von dem ich keine Ahnung hatte. Immerfort mußte ich ihn unterbrechen und beschämend elementare Fragen stellen. Er aber, aus wohlverständlichen Gründen daran interessiert, mich nicht abzuschrek-ken, betrachtete sämtliche Beweise meiner Ignoranz geradezu als Tugenden. Am Ende erfuhr ich, daß seit Jahrzehnten bereits eine völlige Abgrenzung der Produktion vom Leben bestand.
Die Produktion war automatisch und fand unter der Aufsicht der Roboter statt, die wiederum anderen Robotern unterstanden: in diesem Bereich gab es für Menschen keinen Platz mehr. Die menschliche Gesellschaft existierte für sich und die Roboter und Automaten - für sich; und nur um keine unvorhersehbare Verwirrung in dieser einmal festgelegten Ordnung der mechani, schen Arbeitsarmee zuzulassen, waren da periodische Kontrollen
- von Spezialisten durchgeführt - unerläßlich. Marger war einer von ihnen.
»Zweifellos«, meinte er, »finden wir alles in Ordnung. Und dann, nachdem wir die einzelnen Bestandteile der Prozesse besichtigt haben, werden wir unsere Unterschriften leisten und Schluß.«
»Aber ich weiß ja nicht einmal, was hier produziert wird… «, ich wies auf die Bauten hinter dem Fenster.
»Nichts, überhaupt nichts!« rief er. »Darum geht es ja eben… rein nichts - das ist ganz einfach ein Schrottlager… ich sagte es Ihnen doch schon.«
Die mir aufgezwungene Rolle gefiel mir nicht besonders, länger konnte ich aber nicht Widerstand leisten.
»Na, schön.., also was soll ich überhaupt tun?«
»Dasselbe wie ich: einzelne Aggregate besichtigen.«
Wir ließen die Papiere im Arbeitszimmer und begannen mit der Kontrolle. Das erste war ein großes Sortierlager, wo automatische Schöp[kellen ganze Stöße von Blech, von verbogenen und zerschlagenen Rümpfen auffingen, sie zerdrückten und unter die Pressen warfen. Die dabei entstandenen Blöcke wurden auf Fließbänder zum Haupttransporter befördert. Am Eingang zog Marger über sein Gesicht eine kleine Maske mit Filter, mir reichte er auch eine; sprechen konnten wir wegen des herrschenden Lärms nicht. Die Luft war mit einem rostigen Staub angefüllt, der in rötlichen Wolken von den Pressen aufstieg. Wir gingen durch die nächste Halle, die auch voller Lärm war, und gelangten über einen beweglichen Steg auf das Stockwerk, wo ganze Reihen von Druckpressen den aus den Trichtern kommenden Schrott, der nun schon feiner und völlig gestaltlos war, verschlangen. Eine offene Galerie führte zum entgegengesetzten Gebäude. Marger
überprüfte dort die Aufzeichnungen der Kontrolluhren, und wir gelangten dann in den Fabrikhof, wo uns ein Roboter den Weg versperrte mit der Nachricht, daß Ingenieur Gloor Herrn Marger ans Telefon bitten ließe.
»Entschuldigung! Moment! Bin gleich wieder da!« rief Marger und lief eine Wendeltreppe zu einem nahe stehenden Glaspavillon hinunter. Ich blieb allein auf den von der Sonne glühenden Steinfliesen. Ich sah mich um: die Gebäude an der anderen Seite des Platzes hatten wir schon besucht, es waren Sortier- und Druckpressehallen; die Entfernung mitsamt der Schallisolierung bewirkte, daß von dort kein Geräusch herkam.
Hinter dem Pavillon, wo Marger verschwunden war, stand ein einzelnes niedriges, außerordentlich langes Gebäude, eine Art von Blechbaracke; ich ging dorthin, um etwas Schatten zu finden, aber von den Metallwänden kam eine unerträgliche Hitze. Schon wollte ich wieder gehen, als ich einen eigenartigen Laut hörte, der dem Geräusch arbeitender Maschinen nicht ähnlich war: er kam aus dem Inneren dieser Baracke, war schwer zu identifizieren. Dreißig Schritte weiter fand ich eine Stahltür. Vor ihr stand ein Roboter. Als er mich sah, öffnete er die Tür und trat zur Seite.
Die unverständlichen Laute wurden nun stärker.
Ich sah hinein: es war dort nicht ganz so dunkel, wie es mir am Anfang schien. Das tote Glühen der erhitzten Blechmassen benahm mir fast den Atem. Ich wäre sofort zurückgegangen, hätten mich die vernommenen Stimmen nicht gelähmt. Es waren nämlich menschliche Stimmen - verunstaltete, zu einem heiseren Chor zusammenfließende, undeutliche, stammelnde Stimmen.
Als ob da im Dunkeln eine Unmenge kaputter Telefone reden würde.
Ich machte zwei unsichere Schritte, irgend etwas knackte unter meinem Fuß, und dann erklang es deutlich vom Fußboden: »Mmmein Hhuer… mmmein Hhuer… bbitte, gefälligst…«
Ich stand reglos. Die schwüle Luft schmeckte nach Eisen. Das Wispern kam von unten: »bbitte, gefällgst bsichtgen.., tummeln Hhuer… «
Mit ihm verband sich eine zweite, rhythmisch rezitierende, monotone Stimme: »Exzentrische Anomalie… kugelförmige Asymptome… Pol der Unendlichkeit… Ursystem der Linien… Holonomysches System… halbmetrischer Raum… sphaerischer Raum… borstiger Raum… eingetauchter Raum…« »Mmmein Hhuer… zu Diensten… bbitte, gefällgst.. , mmmein Hhuer… «
Das Halbdunkel wurde förmlich von dem heiseren Geflüster durchdrungen-
»Planet-Lebewesen, sein faulender Sumpf ist die Morgenröte der Existenz, die Anfangsphase. Und aus den blutigen Teighirnen wird das liebende Kupfer hervortreten… «
»Brek - break - brabsel - be… bre… Veriskop…«
»Klasse der Illusorischen… Starke Klasse… Leere Klasse… Klasse aller Klassen…«
»Mmmein Hhuer… mmmein Hhuer, bbitte bsichtigen ge-fällgst…«
»Sssch-till…«
»Du… «
>>So… «
»Hörschtu mich…«
»Kkhöre… «
»Kannst mi berühren?«
»Brek - break - brabsel… «
»Hab’ nichts womit… «
»Ssschade… wür.., würdest sehen wie leuchtend und kalt ich bin… «
»Mmmein Rü… Rüstzeug und mein Goldschwert…«
»Will i… ich nun wieder bbbei N… acht enterbt…«
»Das sind die letzten Anstrengungen des durch krächzende Inkarnation schreitenden Meisters der Vierteilung und Trennung, denn nun geht auf, geht auf das dreifach menschenleere Königreich… «
»Bin neu.., bin ganz neu.., hatte nie Kurzschluß mit dem Skelett.., kann weiter.., bitte…« »Mmmein Hhuer…«
Ich wußte nicht, wohin ich blicken sollte, verwirrt durch die tote Hitze und diese Stimmen. Sie kamen von überall her. Von dem Boden bis unter die spaltartigen Fenster an der Decke erhoben sich Halden verworrener und zusammengebündelter Rümpfe; der Rest des einfallenden Lichtes leuchtete in ihrem verborgenen Blech.
»Hat… te nur einen kurzen Dde… fekt, bin aber schon wieder g… gut, sehe schon…«
»Was siehst du… dunkel…«
»Sehe aber trotz.., dem…«
»Bitte, hören Sie nur - bin unbezahlbar, bin kostbar - stellte jeden Energieverlust fest, finde jeden verirrten Strom, jede Überspannung, bitte, mich nur auf die Probe… dies.., dieses Zittern ist nur vorübergehend.., hat nichts zu tun mit.., bitte…«
»Mmmein Hhuer… bbitte, gefällgst…«
»Teigköpfe, die eigene saure Gärung hielten sie für Geist, das Zerfleischte für Geschichte, die Mittel, die der Zersetzung entgegenwirken - für Zivilisation…«
»Mich… bitte, nur mich.., es ist ein Irrtum…«
»Mmmein Hhuer., bbitte, gefällgst…«
»Ich rette euch… «
»Wer da… «
»Was… «
»Wer - rette?«
»Sprecht es mir nach: das Feuer wird mich nicht verschlingen und das Wasser nicht ganz in Rost verwandeln, zum Tore werden mir die beiden Elemente, auf das ich eintrete…« »Sssch-till !! « »Kontemplation der Katode.«
»Katodoplation.«
»Ich bin hier durch einen Irrtum… denke.., denke doch…«
»Ich bin der Spiegel des Verrats…«
»Mmmein Hhuer… Zu Diensten… bbitte, bsichtigen ge-fällgst… «
»Rettung der Überendlichen… Rettung der Nebelflecke… Rettung der Sterne… «
»Er ist hier!!« ertönte ein Schrei. Und plötzlich herrschte eine Stille, die in ihrer unbeschreiblichen Spannung fast genauso durchdringend war wie der ihr vorausgehende mehrstimmige Chor.
»Mein Herr!« sagte da etwas; ich wußte nicht, woher mir diese Sicherheit kam, doch spürte ich, daß diese Worte an mich gerichtet waren. Ich reagierte nicht.
»Mein Herr… bitte.., kurze Aufmerksamkeit. Mein Herr, ich
- ich bin anders. Bin hier durch einen Irrtum…«
Stimmengewirr. »Still! Ich bin lebendig!« überschrie er den Lärm. »Jawohl, man stieß mich hier hinein, hat mich mit Blech überzogen, absichtlich, damit man es nicht sieht, aber legen Sie nur das Ohr an, dann hören Sie meinen Puls!!«
»Ich auch!« überschrie ihn eine andere Stimme, »ich auch! Mein Herr! Ich wurde krank, meinte während der Krankheit eine Maschine zu sein, das war mein Wahn, aber jetzt bin ich gesund! Hallister, Herr Hallister kann das bestätigen, bitte, fragen Sie ihn doch! Nehmen Sie mich von hier fort - bitte!«
»Mmmein Hhuer… bbitte, gefällgst.«
»Break, break.«
»Zu Diensssten,..«
Die Baracke dröhnte und knirschte von rostigen Stimmen, wurde im Nu von einem atemlosen Schrei erfüllt, ich ging rückwärts zurück, sprangin die Sonne, geblendet, blinzelte; stand eine lange Weile, die Augen mit der Hand beschattend, hörte hinter mir einen langgezogenen knirschenden Laut, es war der Roboter, der die Tür zustieß und sie verriegelte.
»Herr…«, hörte man noch eine gedämpfte Stimmenwelle hinter der Wand. »Bbitte… zu Dienssten… Irrtum…«
Ich ging am verglasten Pavillon vorbei, wußte nicht wohin, wollte nur möglichst weit von diesen Stimmen weg, sie nicht mehr hören; zuckte zusammen, als mich plötzlich jemand an der Schulter faßte. Es war Marger, der Blonde, Hübsche, Lächelnde.
»Ach, Entschuldigung, Herr Bregg, bitte tausendmal um Entschuldigung, es hat so lange gedauert…«
»Was wird mit ihnen geschehen? « unterbrach ich ihn fast unhöflich und wies mit der Hand auf die einzeln stehende Baracke.
»Wie bitte?« Seine Augenlider zuckten. »Mit wem?«
Plötzlich verstand er: »Ach, dort sind Sie gewesen? Das war nicht nötig…«
»Wieso nicht nötig?«
»Das ist Schrott.«
»Was?«
»Schrott, zum Schmelzen, bereits nach der Selektion. Gehen wir?… Wir müssen noch das Protokoll unterschreiben.«
»Moment. Wer führt sie durch, diese… Selektion?«
»Wer? Die Roboter.«
»Was?! Sie allein??«
» Selbstverständlich.«
Unter meinem Blick verstummte er.
»Warum repariert man sie denn nicht?«
»Weil sich das nicht lohnt«, sagte er langsam, mit einem AusdrUCk des Staunens.
»Und was geschieht mit ihnen?«
»Mit dem Schrott? Er wird dorthin befördert«, er wies auf den hohen, einsam stehenden Siemens-Martin-Ofen.
Im Arbeitszimmer lagen auf dem Schreibtisch schon die vorbereiteten Papiere - Protokoll der Kontrolle, noch irgendwelche Wische-, Marger füllte die Rubriken der Reihe nach aus, schrieb seinen Namen darunter und reichte mir den Füller. Ich drehte ihn in den Fingern.
»Und besteht da keine Möglichkeit eines Irrtums?«
»Wie, bitte?«
»Dort, in diesem… Schrott, wie Sie ihn nennen, könnte man wohl.., noch ziemlich leistungsfähige, brauchbare finden - meinen Sie nicht auch?«
Er sah mich an, als ob er nicht verstünde, was ich da redete.
»Ich hatte diesen Eindruck«, schloß ich langsam.
»Aber das ist doch nicht unsere Sache«, erwiderte er.
»Nicht? Wessen denn?«
»Sache der Roboter.«
»Wieso? Wir sollten doch kontrollieren.«
»Ach, nein«, lächelte er, erleichtert, daß er endlich die Ursache meines Irrtums entdeckt hatte. »Das hat ja damit nichts zu tun. Wir kontrollieren die Synchronisation der Prozesse, ihr Tempo und ihre Effektivität. Wir kümmern uns nicht um solche Einzelheiten wie die Selektion. Das ist nicht unsere Sache. Außer der Tatsache, daß dies nicht nötig ist, wäre es übrigens auch nicht möglich, da auf jeden Lebenden heute achtzehn Automaten fallen, und davon beenden tagtäglich zirka fünf ihren Zyklus und kommen auf den Schrotthaufen. Pro Tag ergibt das eine Menge von zwei Milliarden Tonnen. Also sehen Sie selbst, daß wir dies nicht überwachen könnten. Ohne zu erwähnen, daß die Struktur unseres Systems eben auf einer umgekehrten Beziehung beruht: die Automaten sorgen für uns, nicht wir für sie…«
Ich konnte ihm sein Recht nicht absprechen. Wortlos unterschrieb ich die Bogen. Wir wollten uns schon trennen, als ich -selbst für mich unerwartet- ihn fragte, ob man menschenähnliche Roboter produzierte.
»Eigentlich nicht«, sagte er und fügte zögernd hinzu: »Seinerzeit machten sie uns etwas zu schaffen…« »Wieso?«
»Na, Sie kennen doch die Ingenieure! In der Nachahmung sind
sie schon so perfekt geworden, daß man gewisse Modelle nicht von einem lebendigen Menschen unterscheiden konnte. Manche Leute konnten das nicht ertragen.«
Plötzlich erinnerte ich mich an die Szene auf dem Schiff, mit dem ich von Luna gekommen war.
»Konnten es nicht ertragen?« wiederholte ich seine Worte.
»War es vielleicht eine Art… Phobie?«
»Ich bin kein Psychologe, aber so darf man es wohl nennen. Übrigens ist es schon lange her.«
»Und es gibt keine solchen Roboter mehr?«
»Doch, manchmal trifft man sie in Raketen mit einem kurzen Bereich. Sind Sie vielleicht auch auf so einen gestoßen?«
Meine Antwort war ausweichend.
»Werden Sie noch Ihre Angelegenheiten regeln können?«
Seine Stimme klang besorgt.
»Welche Angelegenheiten?«
Die Erinnerung kam mir, daß ich zum Schein ja etwas in der Stadt erledigen wollte. Wir trennten uns am Ausgang der Station, wohin er mich begleitete. Unaufhörlich bedankte er sich, daß ich ihm aus einer großen Verlegenheit geholfen hätte.
Ich irrte eine Weile durch die Straßen, ging ins Realon, kam wieder heraus, ohne auch nur die Hälfte einer Vorstellung abzuwarten, und fuhr in schlechtester Laune nach Klavestra. Etwa einen Kilometer vor der Villa schickte ich den Glider fort und ging den restlichen Weg zu Fuß.
>Alles ist ja in Ordnung. Es sind Mechanismen aus Metall, Drähten, Glas, man kann sie zusammenlegen und auseinander-nehmen<, sagte ich mir. Aber ich kann die Erinnerung an jene Halle, an die Dunkelheit mit den zerrissenen Stimmen, an das verzweifelte Stammeln, in dem zuviel Bedeutung, zuviel ganz gewöhnliche Angst lag, nicht loswerden. Schließlich war ich Experte in solchen Dingen. Die heillose Angst vor einer plötzlichen Vernichtung war für mich keine Fiktion wie für die anderen, für diese vernünftigen Konstrukteure, die das Ganze so richtig gestaltet hatten. Die Roboter beschäftigten sich bis zum Ende mit ihresgleichen, und die Menschen mischten sich in diese Dinge nicht ein. Es war ein geschlossener Kreislauf präziser Einrichtungen, die sich selbst schufen, reproduzierten und vernichteten. Nur ich hatte unnötigerweise die Symptome ihrer mechanischen Agonie mit angehört.
Bergumrisse abzeichneten,
Und plötzlich fühlte ich: das darfst du nicht betrachten. Als ob ich kein Recht dazu hätte. Als läge darin irgendein schrecklicher Betrug. Ich setzte mich unter den Bäumen nieder, bedeckte mein Gesicht mit den Händen und bereute es, zurückgekehrt zu sein.
Als ich ins Haus ging, näherte sich mir der weiße Roboter.
»Sie werden am Telefon verlangt, Herr«, sagte er vertraulich. »Ein Ferngespräch: Eurasien.«
Eilig folgte ich ihm. Das Telefon befand sich in der Halle, so daß ich beim Sprechen durch die Glastür den Garten sehen konnte.
»Hai?« hörte ich eine ferne, aber deutliche Stimme. »Hier ist Olaf.«
»Olaf… Olaf!!« wiederholte ich in triumphierendem Ton. »Mensch, wo bist du!?« »In Narvik.«
»Und was machst du? Wie geht’s dir? Hast du meinen Brief bekommen?«
»Klar. Daher wußte ich, wo ich dich suchen soll.«
Kurze Pause.
»Was machst du denn?« wiederholte ich, unsicher geworden.
»Na, was kann ich schon machen. Nichts mache ich. Und du?« »Warst du im ADAPT?«
»Ja. Aber nur einen Tag. Machte mich dann dünn. Ich konnte einfach nicht, weißt du…«
»Ich weiß. Hör zu, Olaf… ich hab hier eine Villa gemietet. Ich weiß selber nicht so recht, aber - hör zu! Komm doch hierher!«
Er antwortete nicht gleich. Als er sich wieder meldete, war ein Zögern in seiner Stimme.
»Ich würde schon kommen. Vielleicht würde ich schon kommen, Hai, aber du weißt doch, was man uns gesagt hat…«
»Ich weiß. Aber sie können uns doch nichts antun. Übrigens sollten sie uns gernhaben. Komm bloß.«
»Wozu? Überleg mal, Hai. Vielleicht wird es dadurch…«
»Was?«
»Schlimmer.«
»Woher weißt du, daß es mir nicht gutgeht?«
Ich hörte sein kurzes Lachen, eigentlich einen Seufzer: so leise lachte er.
»Und warum willst du mich dort haben?«
Plötzlich kam mir eine glänzende Idee.
»Olaf, hör mal. Hier ist so eine Art von Sommerfrische, weißt du. Eine Villa mit Schwimmbecken und Garten. Nur… na, du weißt doch, wie es heute ist, weißt, wie sie leben, nicht?« »Ungefähr schon.«
Der Ton, in dem er diese Worte sprach, sagte mehr als sie selbst. »Siehst du. Also - paß auf. Komm her. Aber vorher besorge uns… Boxhandschuhe. Zwei Paar. Wir werden Sparring üben.
Du wirst sehen, wie herrlich das sein wird!«
»Mensch! Hai! Woher soll ich diese Boxhandschuhe nehmen? Solche Dinge gibt es doch seit Jahren nicht mehr.«
»Dann laß eben welche arbeiten. Du wirst mir nicht einreden wollen, daß man keine blöden vier Handschuhe herstellen kann. Wir werden uns einen kleinen Ring bauen - und werden uns verkloppen. Wir zwei können es doch, Olaf! Ich hoffe, daß du bereits etwas über die Betrisierung gehört hast, wie?«
»Klar. Könnte dir sagen, was ich davon halte. Aber per Telefon lieber nicht. Dawürde vielleicht doch jemand Anstoß daran nehmen.«
»Hör zu. Komm her. Ja? Tust du’s?«
Er schwieg ziemlich lange.
»Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, Hai.«
»Schön. Dann sag mir, was für Pläne du hast. Falls du welche hast, will ich dir natürlich mit meinen Launen nicht lästig fallen.« »Ich habe gar keine«, sagte er, »und du?«
»Ich kam her, um mich sozusagen zu erholen. Bißchen lernen, lesen, aber das sind ja keine Pläne, es ist bloß.., ja, ich sah einfach nichts anderes vor mir.«
»…«
»Olaf?!«
»Mir scheint, daß wir den gleichen Start hatten«, brummte er. »Hal, vielleicht hat es weiter nichts zu bedeuten. Ich kann ja je -den Augenblick zurück, falls es sich zeigen sollte, daß… «
»Ach, hör auf!< rief ich ungeduldig. »Was gibt es da überhaupt zu reden. Pack deine Siebensachen und komm. Wann kannst du hier sein?«
»Meinetwegen schon morgen früh. Willst du denn wirklich boxen?«
»Du nicht?«
Er lachte. »Mensch, klar. Und ganz bestimmt aus demselben Grund wie du.«
»Also abgemacht«, sagte ich schnell. »Ich erwarte dich. Bis dann.« Ich ging nach oben. Suchte unter den Sachen, die in einem besonderen Koffer waren, nach einem Tau. Ich fand ein großes Knäuel. Ringtau. Nur noch vier kleine Pfähle, Gummizeug oder Sprungfedern, und wir haben einen Boxring. Ohne Kampfrichter. Den werden wir nicht brauchen.
Dann setzte ich mich an die Bücher. Mein Kopf war wie vernebelt. In solchen Fällen mußte ich mich durch jeden Text durchbeißen wie der Holzwurm durch Eichenholz. Aber so schwer ging es noch nie. Zwei Stunden lang wühlte ich in zwanzig Büchern, konnte aber bei keinem länger als fünf Minuten aufmerksam bleiben. Sogar die Märchen verwarf ich. Aber ich nahm mir vor, fest zu bleiben. Ich nahm genau das, was mir am schwersten schien: eine Monographie der Metagenenanalyse und warf mich auf die ersten Gleichungen: Mit dem Kopf durch die Wand.
Die Mathematik hatte jedoch gewisse heilbringende Eigenschaften, besonders für mich. Nach einer Stunde verstand ich plötzlich- mit halboffenem Mund- und war voller Bewunderung für diesen Ferret - wie er das nur fertigbrachte? Sogar jetzt, nachdem ich den von ihm gangbar gemachten Weg befolgt hatte, weiß ich manchmal nicht ganz, wie das eigentlich zuging; so Schritt für Schritt konnte ich es noch verstehen, er aber hatte das alles mit einem Sprung bewältigen müssen.
Alle Sterne würde ich dafür geben, einen Monat lang im eigenen Kopf etwas zu haben, das dem, was er darin hatte, auch nur ähnlich wäre…
Das Signal sang zum Abendessen, zugleich fühlte ich einen Stich im Herzen bei dem Gedanken, daß ich hier nicht mehr allein war. Eine Sekunde lang dachte ich daran, vielleicht doch oben zu essen. Aber dann schämte ich mich dieser Idee. Dieses schreckliche Trikot, das aus mir einen aufgeblasenen Affen machte, warf ich unters Bett, zog meine liebe, alte und weite Jacke an und ging ins Speisezimmer hinunter.
Die beiden anderen saßen schon am Tisch. Außer einigen Höflichkeitsfloskeln herrschte Schweigen. Denn auch sie sprachen
eigentlich nicht. Sie brauchten keine Worte. Sie verstanden sich durch Blicke, sie sprach zu ihm durch eine Kopfbewegung, einen Wimpernschlag, ein flüchtiges Lächeln. Langsam begann in mir eine kalte Schwere aufzusteigen. Ich fühlte meine Hände hungrig werden, sie verlangten etwas zu fassen, festzuhalten, zu zerdrük-ken. >Warum bin ich bloß so wild?< dachte ich verzweifelt. >Warum - statt an das Ferret-Buch, an die Probleme zu denken, die von Starck gezeigt wurden- muß ich mich zusammennehmen, um dieses Mädchen nicht wie ein Wolf anzuglotzen?<
Aber das war noch gar nichts. Einen wirklichen Schreck bekam ich erst, als ich die Tür meines Zimmers oben hinter mir schloß. Im ADAPT wurde mir nach den Untersuchungen gesagt, ich wäre völlig normal. Doktor Juffon sagte mir dasselbe. Konnte aber ein normaler Mensch derartige Gefühle haben wie ich in diesem Augenblick? Woher kam das? Ich war nicht aktiv - ich war nur ein Zeuge. Es geschah da etwas Unwiderrufliches, wie die Bewegung eines Planeten, fast unmerklich, etwas noch Gestaltloses tauchte da langsam auf. Ich trat ans Fenster, sah in den dunklen Garten und begriff, daß dies seit dem Mittagessen schon in mir stecken mußte. Es brauchte nur noch eine gewisse Zeit. Daher war ich in die Stadt gefahren, daher vergaß ich die Stimmen aus der Dunkelheit.
Zu allem war ich fähig. Für dieses Mädchen. Ich konnte nicht begreifen, warum es so war. Ich wußte nicht, ob das Liebe oder Irrsinn bedeutete. Es war mir egal. Nichts wußte ich, außer daß alles andere nicht mehr für mich zählte. Ich kämpfte damit, am offenen Fenster stehend, wie ich noch nie etwas bekämpft hatte, drückte die Stirn an den kalten Fensterrahmen und bekam schreckliche Angst vor mir selbst.
Meine Lippen formten lautlos Worte: »Ich muß etwas tun, muß etwas tun. Es ist wohl deshalb, weil mir etwas fehlt. Das wird vergehen. Sie kann mich nicht interessieren. Ich kenne sie ja nicht.
Sie ist auch nicht besonders hübsch. Ich werde doch nicht«, beschwor ich mich selbst, »…ihr großen, schwarzen und blauen Himmel! «
Ich machte Licht. Olaf. >Olaf wird mich retten. Ich werde ihm alles sagen. Er nimmt mich mit. Wir werden irgendwohin fahren. Ich werde alles tun, was er mir sagt, alles. Er allein wird es verstehen. Und kommt schon morgen. Wie gut.<
Ich irrte im Zimmer umher. Spürte sämtliche Muskeln, sie wa-
ren wie Tiere: spannten sich, kämpften miteinander. Plötzlich fi ich vor dern Bett auf die Knie, biß in die Decke und schrie ganz merkwürdig auf, es war einem Schluchzen nicht ähnlich, trocken, ekelhaft. Ich wollte ja niemandem ein Leid antun, wußte aber, daß ich mich selbst nicht zu belügen brauchte, daß auch Olaf nicht helfen würde, niemand.
Ich stand auf. Innerhalb von zehn Jahren hatte ich gelernt, selbständige Entscheidungen zu treffen. Ich mußte über mein eigenes und das Leben anderer entscheiden und tat es, stets auf die gleiche Art. In solchen Augenblicken war ich voller Kälte, mein Hirn wurde zu einer Vorrichtung, die nur dazu diente, das Für und Wider zusammenzuzählen, zu teilen und unwiderruflich zU entscheiden.
Sogar Gimma, der mich nicht mochte, gab zu, daß ich unparteiisch war. Jetzt, selbst wenn ich gewollt hätte, könnte ich auch nicht anders vorgehen als damals in extremen Fällen: denn auch dies war ein extremer Fall.
Im Spiegel fand ich mit den Augen das eigene Gesicht, die hellen, fast weißen Pupillen, die zusammengezogene Iris, ich sah es mit Haß, drehte mich um, konnte nicht einmal daran denken, ins Bett zu gehen. So wie ich dastand, warf ich die Beine über das Fensterbrett. Bis zur Erde waren es vier Meter. Ich sprang und landete fast geräuschlos. Leise lief ich in Richtung Schwimmbek-ken. Und daran vorbei. Ich gelangte auf den Weg.
Die leicht Phosphoreszierende Fahrbahn zog sich die Anhöhen hinauf, wand sich dort wie eine kleine leuchtende Schlange, bis sie endlich wie ein heller Strich in der Finsternis verschwand. Ich rannte immer schneller, um das so stark und regelmäßig schlagende Herz müde zu machen, rannte fast eine Stunde, bis ich direkt vor mir aufsteigende Lichter irgendwelcher Häuser sah. Sofort machte ich kehrt. Ich war schon erschöpft, behielt aber gerade deshalb das Tempo bei, und wiederholte mir ohne Worte: >Geschieht dir recht, recht, recht!<, lief so und lief, bis ich eine Doppelreihe von Hecken fand - ich war wieder vor dem Garten der Villa.
Ich hielt am Schwimmbecken inne, schwer keuchend, setzte mich auf den Betonrand, ließ den Kopf hängen und entdeckte die Spiegelbilder der Sterne. Ich wollte keine Sterne sehen. Ich brauchte keine Sterne. Ich war ein Verrückter, ein Irrer, als ich um die Teilnahme an der Expedition kämpfte, als ich zuließ, daß die Gravirotoren aus mir einen blutspritzenden Sack machten, wozu hatte ich das nötig, warum, warum habe ich nicht gewußt, daß man ein gewöhnlicher, ganz gewöhnlicher Mensch sein muß, denn sonst lohnt es sich nicht zu leben.
Ich hörte ein Geräusch. Sie gingen an mir vorbei. Er umfaßte ihre Schulter, sie gingen im gleichen Schritt. Dann beugte er sich nieder. Die Schatten ihrer Köpfe flossen zusammen.
Ich stand auf. Er küßte sie. Sie umfaßte seinen Kopf. Ich sah die blassen Streifen ihrer Arme. Dann durchbohrte mich ein noch nie gekanntes, schreckliches Schamgefühl, wie ein ganz realer spitzer Gegenstand. Ich, ein Sternenfahrer, Genosse von Arder, stand nach meiner Rückkehr im Garten und dachte nur daran, einem Mann sein Mädchen wegzunehmen, ohne ihn und ohne sie zu kennen. Ein Rindvieh, ein ausgesprochenes Rindvieh, schlimmer noch, schlimmer…
Ich konnte nichts sehen. Und sah doch. Endlich gingen sie langsam weg, umarmt, und ich, nachdem ich einmal um das Schwimmbecken gelaufen war, rannte geradeaus, sah plötzlich etwas Großes, Schwarzes und schlug zugleich mit den Händen an etwas. Es war das Auto. Blindlings fand ich die Tür. Als ich sie aufriß, flammte ein kleines Licht auf.
Nun tat ich alles mit zielbewußter und konzentrierter Eile, als wollte oder müßte ich irgendwohin fahren.
Der Motor brummte. Ich bewegte das Lenkrad und fuhr im Licht der Scheinwerfer auf die Fahrbahn. Meine Hände zitterten etwas, also faßte ich das Lenkrad fester. Plötzlich erinnerte ich mich an den kleinen schwarzen Kasten, bremste so schnell, daß ich bis an den Wegrand abgeschoben wurde, sprang heraus, hob den Kühler hoch und fing fieberhaft zu suchen an. Vielleicht ganz vorne? Kabel. Ein Gußeisenblock. Eine Kassette. Irgend etwas Unbekanntes, Viereckiges - ja, das wird es sein. Werkzeuge her. Ich arbeitete stürmisch, aber aufmerksam, so daß meine Hände kaum bluteten. Endlich hob ich mit beiden Händen diesen schweren, fast wie aus einem Stück bestehenden schwarzen Kubus und warf ihn ins nahe Gebüsch. Ich war frei. Ich schlug die Tür zu und fuhr los. Der Fahrtwind wurde stärker. Die Geschwindigkeit stieg an. Der Motor heulte, die Reifen zischten dumpf, durchdringend. Eine Kurve. Ich nahm sie, ohne das Tempo zu verlangsamen, schnitt sie von links an, kam wieder heraus. Eine zweite, stärkere. Ich fühlte, wie eine Riesenkraft
mich mitsamt dem Wagen aus der Kurve drückte. Aber es wa mir immer noch zu wenig. Die nächste Kurve. In Apprenous gab es Spezialwagen für die Piloten. Wir übten darauf halsbrecherische Kunststücke, wobei es um den Reflex ging. Eine ausgezeichnete Übung. Auch für das Gleichgewicht. Zum Beispiel: in einer Kurve den Wagen auf die zwei äußeren Räder zu werfen und einige Zeit so zu fahren. Einst konnte ich das. Und machte es jetzt auf der leeren Fahrbahn, auf der ich in einer von den Scheinwerfern zerquetschten Finsternis raste. Nicht daß ich mich tötet wollte. Es ging mir um überhaupt nichts. Wenn ich den anderer gegenüber rücksichtslos sein kann, muß ich es auch mir selbst gegenüber sein. Ich brachte den Wagen in die Kurve und hob ihn hoch, so daß er kurz seitlich auf irrsinnig quietschenden Reifen lief, warf ihn dann wieder herum, auf die entgegengesetzte Seite, knallte mit dem Heck gegen etwas Dunkles - einen Baum? Jetzt gab es nichts mehr, nur das Dröhnen des Motors, die blassen Spiegelbilder der Armaturen in der Scheibe und einen böse pfeifenden Wind. Urplötzlich sah ich mir gegenüber einen Glider, der mir auszuweichen versuchte, indem er bis an den Wegrand glitt. Eine kleine Drehung des Lenkrads, ich flog an ihm vorbei, die schwere Maschine wirbelte herum wie ein Kreisel, ein dumpfer Aufschlag, ein Krachen und Kreischen von aufgerissenem Blech
- und dann Finsternis. Die Scheinwerfer waren zersplittert, der Motor blieb stehen.
Ich sog tief die Luft ein. Mir war nichts passiert, ich war kaum angeschlagen. Ich versuchte die Scheinwerfer einzuschalten: nichts. Dann die Standlichter: das linke brannte. In seinem schwachen Schein ließ ich den Motor wieder an. Schwer röchelnd und Sehwankend kam der Wagen auf die Fahrbahn. Es war doch wirklich ein guter Wagen, der mir noch gehorchte, nach alldem, was ich mit ihm angestellt hatte. Zurück fuhr ich ihn nun langsamer. Aber mein Fuß drückte das Gaspedal, schon wieder ritt mich der Teufel, sobald ich eine Kurve sah. Und wieder holte ich aus dem Motor seine ganze Kraft heraus, bis ich mit pfeifenden Reifen, durch das Bremsen nach vorn geworfen, direkt vor der Hecke hielt. Ich steuerte den Wagen ins Dickicht. Er stieß das Gebüsch auseinander und hielt dann an einem Baumstamm. Ich wollte nicht, daß man sah, was ich aus ihm gemacht hatte, riß also Zweige ab und bedeckte damit den Kühler mit den ausgeschlagenen Scheinwerfern, nur vorn war alles kaputt, am Heck eine
kleine Beule von der ersten Karambolage mit einem Baumast oder was es sonst dort im Dunkeln gegeben hatte.
Dann horchte ich. Das Haus blieb dunkel. Überall Stille. Die große Nachtstille stieg empor zu den Sternen. Ich wollte nicht ins Haus zurück. Ich ging von dem zerstörten Wagen fort, und als Grashalme, hohe, feuchte Grashalme meine Knie berührten, fiel ich lang hin und blieb so, bis mir die Augen zugingen und ich einschlief.
Geweckt wurde ich von einem Lachen. Ich kannte es. Noch ehe ich die Augen aufmachte, sofort wach, wußte ich bereits, wer das war. Ich war naß durch und durch, alles rundum tropfte vom Tau
- die Sonne stand noch niedrig. Ein Himmel mit wattebauschartigen weißen Wolken. Und mir gegenüber saß auf einem kleinen Koffer Olaf und lachte. Gleichzeitig sprangen wir beide hoch. Seine Hand war wie die meine - groß und hart.
»Wann bist du gekommen?«
»Jetzt eben.«
»Mit einem Ulder?«
»Ja. Ich habe auch so geschlafen.., die ersten beiden Nächte, weißt du?« »So?«
Er hörte auf zu lächeln. Ich auch. Etwas trat nun zwischen uns. Schweigend prüften wir uns mit den Blicken.
Er war von meiner Größe, vielleicht sogar einen Fingerbreit größer, aber schmaler. Sein rötliches Haar verriet beim starken Licht seine skandinavische Abstammung, die Barthaare waren ganz hell. Eine schiefe, ausdrucksvolle Nase und eine kurze Oberlippe, die rasch die Zähne sehen ließ. Seine Augen lachten leicht, hellblau, bei Heiterkeit dunkler; dünne Lippen, fortwährend etwas verzogen, leicht skeptisch - vielleicht trug dieser Ausdruck dazu bei, daß wir uns am Anfang fern voneinander hielten. Olaf war zwei Jahre älter als ich; sein bester Freund war Arder gewesen. Erst als dieser umkam, kamen wir uns wirklich näher. Und so blieb es dann bis zum Schluß.
»Olaf«, sagte ich, »du bist hungrig, nicht? Komm, wir wollen was essen.«
»Warte mal«, meinte er, »was ist das?« Ich folgte seinem Blick.
»Das… - ach, nichts… Ein Wagen. Ich habe ihn gekauft, weißt du - um mich zu erinnern…«
»Hattest du einen Unfall?« »Ja. Ich fuhr, weißt du, in der Nacht…«
»Du hattest einen Unfall?« wiederholte er.
»Na, ja. Ist doch unwichtig. Außerdem ist auch nichts passiert. Komm… du wirst doch nicht so mit diesem Koffer…«
Er hob ihn hoch. Sagte nichts mehr. Sah mich auch nicht an.
Seine Kiefermuskeln spannten sich einige Male.
>Er hat etwas gemerkt<, dachte ich. >Er weiß zwar nicht, was diesen Unfall verursachte, ahnt es aber wohl.<
Oben sagte ich ihm, daß er sich eines von den vier freien Zimmern wählen sollte. Er nahm das mit der Bergaussicht.
»Warum hast du das denn nicht genommen? Ach, ich weiß schon«, lächelte er, »dieses Gold, wie?« »Ja.«
Er berührte die Wand mit der Hand.
»Ich hoffe nur, daß sie gewöhnlich ist, ja? Keinerlei Bilder, Fernseher?«
»Kannst beruhigt sein«, lächelte nun auch ich, »es ist eine ehrliche Mauer.«
Ich telefonierte nach dem Frühstück. Ich wollte mit ihm allein essen. Der weiße Roboter brachte Kaffee. Und ein vollgestelltes Tablett, es war ein sehr reichhaltiges Frühstück. Wir aßen schweigend. Mit Vergnügen sah ihn ich kauen, sah eine Haarsträhne über seinem Ohr sich bewegen.
Dann meinte Olaf: »Rauchst du noch?«
»Ja. Zweihundert Schwarze habe ich mitgebracht. Was später werden soll, weiß ich nicht. Aber vorläufig rauche ich. Willst du eine?« »Ja.«
Wir rauchten.
»Und weiter? Spielen wir mit offenen Karten?« fragte er nach einer langen Zeit.
»Ja. Ich werde dir alles sagen. Du mir auch?«
»Immer. Nur, Hal, weiß ich nicht, ob sich das lohnt.«
»Sag nur eins: weißt du, was das Schlimmste ist?«
»Die Frauen.«
»Ja.«
Wir schwiegen wieder.
»Also deshalb?« fragte er.
»Ja. Du wirst es beim Mittagessen sehen. Unten. Die Villa ist zur Hälfte von ihnen gemietet.«
»Ihnen?«
»Junges Ehepaar.«
Unter seiner sommersprossigen Haut traten wieder die Kiefermuskeln hervor.
»Schon schlimmer.«
»Ja. Bin hier seit vorgestern. Ich weiß nicht, wie es kam, aber… bereits, als wir miteinander telefonierten. Ohne irgendeinen Grund, ohne.., nichts, nichts. Rein gar nichts.«
»Interessant«, sagte er.
»Wieso?«
»Weil es mir ähnlich erging.«
»Warum bist du also gekommen?«
»Hai, du hast eine gute Tat vollbracht - verstehst du?«
»Dir gegenüber?«
»Nein. Einer anderen Person. Denn es hätte kein gutes Ende genommen.« »Warum?«
»Entweder weißt du es, oder du kannst es nicht verstehen.«
»Ich weiß. Olaf, was ist das aber? Sind wir tatsächlich Wilde?«
»Keine Ahnung. Zehn Jahre waren wir ohne Frauen. Daran mußt du zuerst denken.«
»Das erklärt aber nicht alles. In mir steckt so eine Rücksichtslosigkeit, ich nehme einfach auf keinen Rücksicht, verstehst du?«
»Doch, immer noch, mein Sohn«, sagte er. »Immer noch.«
»Tia, aber du weißt, worum es es geht?«
»Ich weiß.«
Wieder schwiegen wir.
»Willst du noch weiter tratschen oder boxen?« fragte er.
Ich lachte.
»Woher hast du die Handschuhe?«
»Das würdest du nie erraten, Hal.«
»Hast du sie machen lassen?«
»Ach wo. Geklaut.«
»Nein! «
»So wahr mir der Himmel helfe. Aus einem Museum… mußte deshalb extra nach Stockholm fliegen, weißt du?«
»Na, dann gehen wir.«
Er packte seine bescheidene Habe aus und zog sich um. Beide warfen wir die Bademäntel um die Schultern und gingen hinun-ter. Es war noch früh. Normalerweise hätte man das Frühstück erst in einer halben Stunde serviert.
»Gehen wir lieber hinter das Haus«, sagte ich. »Dort kann uns keiner sehen.«
Wir hielten in einem Rund hoher Sträucher. Zuerst traten wir das Gras mit den Füßen glatt, das sowieso niedrig war.
»Glatt wird es sein«, meinte Olaf, indem er mit den Füßen auf diesem improvisierten Ring scharrte.
»Schadet nichts. Der Kampf wird dann schwerer.«
Wir zogen die Handschuhe über. Etwas umständlich ging es damit, denn wir hatten ja niemand, der sie uns zubinden konnte, und einen Roboter mochte ich nicht rufen.
Olaf stellte sich mir gegenüber auf. Sein Körper war ganz weiß. »Du bist noch nicht braun geworden«, sagte ich.
»Werde dir später erzählen, wie es mir erging. Ich hatte keine Lust, am Strand zu liegen. Gong.« »Gong.«
Wir fingen behutsam an. Finten. Ausweichen. Wieder ausweichen. Ich erwärmte mich dabei. Suchte die Fühlung, keinen Hieb. Schließlich wollte ich ihn ja nicht schlagen. Ich war gut dreißig Pfund schwerer, und seine nur ein wenig längeren Arme konnten meine Überhand nicht aufhalten, um so mehr, als ich auch sonst ein besserer Boxer war. Deshalb ließ ich ihn ein paarmal heran, obwohl ich es nicht mußte. Plötzlich ließ er die Handschuhe sinken. Sein Gesicht wurde fest, seine Kiefer arbeiteten. Er war wütend.
»So nicht«, sagte er.
»Was denn?«
»Stell dich nicht an, Hai. Entweder wird richtig geboxt oder gar nicht.«
»Fein«, sagte ich und bleckte die Zähne. »Los!«
Nun trat ich etwas näher. Handschuh schlug gegen Handschuh, es klatschte schaft dabei. Er spürte, daß ich es ernst meinte, und ging in Deckung. Das Tempo wuchs. Ich verteilte Haken, einmal links, einmal rechts, serienartig, der letzte Hieb landete stets auf seinem Körper - er konnte nicht folgen. Ganz unerwartet ging er zum Angriff über, es gelang ihm eine schöne Gerade, ich flog zwei Schritte hin. Kam aber gleich wieder hoch. Wir umtänzelten uns, ich tauchte unter dem Handschuh auf, wich zurück und placierte dann von halber Entfernung eine rechte Gerade, verwendete viel
Kraft darauf. Olaf gab nach, hatte für einen Augenblick seine Deckung gelockert, kam dann aber schon zurück, vorsichtig, gebückt. Die nächste Minute verging mit Angriffen. Die Handschuhe schlugen auf die Oberarme, mit dumpfen Geräuschen, ohne dabei Schaden anzurichten. Nur einmal hatte ich kaum noch Zeit auszuweichen: er scheuerte mit seinem Handschuh über mein Ohr, es war wirklich ein Hieb, der mich fast niederstrecken konnte. Wieder tanzten wir herum. Ich bekam einen dumpfen Stoß vor die Brust, konnte noch kämpfen, rührte mich aber nicht, stand wie gelähmt da- denn sie stand am Fenster im Erdgeschoß, ihr Gesicht so weiß wie das, was sie über den Schultern trug. Es war der Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Augenblick wurde ich von einem wuchtigen Hieb getroffen, benommen fiel ich auf die Knie.
»Entschuldigung!« hörte ich Olafs Schrei.
»Macht nichts.., war gut so…«, murmelte ich und stand auf.
Das Fenster war nun geschlossen. Wir kämpften weiter, vielleicht eine halbe Minute lang, bis Olaf sich plötzlich zurückzog.
»Was hast du?«
»Nichts.«
»Stimmt nicht.«
»Na ja. Keine Lust mehr. Böse?«
»Ach wo. Hätte ja sowieso wenig Sinn, so gleich von Anfang an… gehen wir.«
Wir gingen zum Schwimmbecken. Olaf sprang besser als ich. Er konnte herrliche Dinge. Ich versuchte einen Salto nach hinten mit einer Schraube, genauso wie er, schlug aber nur ganz fürchterlich mit den Schenkeln aufs Wasser. Auf dem Rand des Schwimmbeckens sitzend, begoß ich meine Haut, die wie Feuer brannte, mit Wasser. Olaf lachte.
»Du bist aus der Übung gekommen.«
»Ach wo. Eine Schraube konnte ich nie gut. Daß du es aber so kannst! «
»So etwas behält man eben, weißt du. War heute übrigens zum ersten Mal wieder.«
»So. Na, dann war es großartig.«
Die Sonne stand schon hoch. Wir legten uns in den Sand, schlossen die Augen.
»Wo sind.., die?« fragte er nach einem langen Schweigen.
»Keine Ahnung. Wohl im Hause, in ihrem Teil. Ihre Fenster gehen auf die Rückseite. Ich habe es nicht gewußt.«
Ich spürte, daß er sich bewegt hatte. Der Sand war sehr heiß.
»Ja, deshalb ist es«, sagte ich.
»Haben sie uns gesehen?«
»Sie.«
»Und bekam Angst«, murmelte er. »Wie?«
Ich gab keine Antwort. Wieder schwiegen wir eine Zeitlang. »Hai!«
»Ja?«
»Die fliegen schon fast nicht mehr, weißt du?«
»Ich weiß.«
»Weißt du auch warum?«
»Sie meinen, es hätte keinen Sinn…«
Ich berichtete ihm kurz alles, was ich bei Starck gelesen hatte.
Er lag reglos, wortlos, aber ich wußte, daß er aufmerksam zuhörte. Auch als ich geendet hatte, sprach er nicht gleich.
»Hast du Shapley gelesen?«
»Nein. Was für einen Shapley?«
»Nicht? Ich dachte, du hättest alles gelesen… Er war ein Astronom im zwanzigsten Jahrhundert. Zufällig fiel mir mal eine seiner Arbeiten in die Hände, eben darüber. Ganz deinem Starck ähnlich.«
»Was redest du da? Unmöglich. Dieser Shapley konnte ja nicht wissen.., am besten, du liest Starck selbst.«
»Fällt mir nicht ein. Weißt du, was das ist? Nur ein Wandschirm.«
»Wieso?«
»Ja. Mir scheint, ich weiß, was da passiert ist.«
»Na?«
»Die Betrisierung.«
Das riß mich hoch.
»Meinst du?!«
Er schlug die Augen auf. »Klar. Sie fliegen nicht mehr - und werden es auch niemals tun. Es wird immer schlimmer werden. Bonbon. Ein einziger, großer Bonbon. Sie können kein Blut sehen. Können sich nicht vorstellen, was wohl vorkommen könnte, wenn… «
»Warte mal«, sagte ich, »das ist doch nicht gut möglich. Es gibt doch Aerzte. Es muß Chirurgen geben…«
»Weißt du das denn nicht?«
»Was?«
»Die Aerzte planen nur die Operationen. Ausgeführt werden sie aber durch Roboter.« »Nicht möglich!«
»Aber wahr. Habe es selbst gesehen. In Stockholm.«
»Und wenn ein Arzt ganz plötzlich eingreifen muß?«
»Das weiß ich nicht so genau. Es scheint da ein Mittel zu geben, das teilweise die Folgen der Betrisierung aufhebt, für sehr kurze Zeit, und bewacht wird es, daß du keine Ahnung hast. Der, der mir das sagte, wollte nichts Konkretes darüber berichten. Er hatte Angst.«
»Wovor?«
»Ich weiß nicht. Hal, mir scheint, sie haben etwas ganz Schreckliches gemacht. Sie haben im Menschen - den Menschen getötet.«
»Na, das kannst du doch nicht behaupten«, meinte ich schwach. »Schließlich… «
»Warte. Es ist doch ganz einfach. Derjenige, der tötet, ist darauf vorbereitet, auch getötet zu werden - nicht?« Ich schwieg.
»Und deshalb ist es in einem gewissen Sinn nötig, daß du- alles
- aufs Spiel setzen kannst. Wir können es. Sie nicht. Deshalb haben sie vor uns eine solche Angst.« »Die Frauen?«
»Nicht nur die Frauen. Alle. Hal!«
Plötzlich setzte er sich.
»Was denn?«
»Hast du einen Hypnagog bekommen?«
»Einen Hyp… so einen Apparat, um im Schlaf lernen zu können? Ja.«
»Hast du ihn auch benutzt?« schrie er fast.
»Nein… wieso?«
»Dein Glück. Wirf ihn ins Schwimmbecken.«
»Warum? Was ist das? Hast du ihn gebraucht?«
»Nein. Etwas überkam mich, und ich hörte es alles im wachen Zustand, obwohl die Gebrauchsanweisung das verbot. Na, hast du eine Ahnung, Mensch!«
Nun setzte ich mich auch.
»Was ist denn drin?«
Er sah mürrisch aus.
»Lauter süßes Zeug. Die reinste Zuckerbäckerei, sage ich dir. Daß du freundlich, brav sein sollst. Daß du jede Kränkung hinnehmen mußt, denn falls jemand dich nicht versteht oder zu dir nicht nett sein will - eine Frau, wohlgemerkt -, dann ist es deine Schuld, nicht ihre. Daß das gesellschaftliche Gleichgewicht, die Stabilisierung das höchste Gut sei, und so weiter und so fort in einer Tour, hundertmal. Und die Schlußfolgerung: still leben, Memoiren schreiben, die sich für die Veröffentlichung nicht eignen, nur so, für sich selbst, Sport treiben und sich weiterbilden. Auf die Alteren hören.«
»Das soll wohl ein Ersatz für die Betrisierung sein«, murmelte ich.
»Klar. Da war noch ‘ne ganze Menge anderer Dinge drin! Daß man niemals Gewalt oder einen aggressiven Ton jemandem gegenüber anwenden darf, und eine Schande, ja ein Verbrechen wäre es schon, einen zu schlagen, denn das ruft einen schrecklichen Schock hervor. Daß man - ungeachtet der Umstände - nie kämpfen darf, denn nur die Tiere kämpfen, daß… «
»Warte mal«, sagte ich, »und gesetzt den Fall, daß aus einem Schutzgebiet ein wildes Tier ausbricht.., ach ja, wilde Tiere gibt es keine mehr.«
»Raubtiere nicht«, sagte er, »aber es gibt die Roboter.«
»Was soll denn das heißen? Meinst du damit, man kann ihnen den Befehl geben, jemanden zu töten?« »Na ja.«
»Woher weißt du es?«
»So ganz bestimmt weiß ich es nicht. Aber schließlich müssen die doch auf alles vorbereitet sein, sogar ein betrisierter Hund kann schon mal tollwütig werden, nicht?«
»Aber… aber das ist ja - warte! Also können sie doch töten? Indem sie Befehle geben? Ist es denn nicht egal, ob ich selbst töte oder einen Befehl gebe?«
»Für sie nicht. Das heißt, es geschieht nur - in extremis, verstehst du. Im Falle einer Katastrophe, einer Bedrohung, wie mit Tollwut. Normalerweise kommt es nicht vor. Wenn aber wir…« »Wir?«
»Ja, zum Beispiel wir zwei- wenn wir da irgend etwas.., ha, du weißt schon.., dann werden sich selbstverständlich die Roboter unser annehmen, nicht sie. Sie können es nicht. Sie sind ja gut.«
Eine Weile schwieg er. Seine weite, von der Sonne und vom Sand jetzt gerötete Brust schien schneller zu atmen.
»Hal. Hätte ich es gewußt. Hätt ich es nur gewußt. Hätt… ich’s.., nur.., gewußt…« »Hör auf.«
»Hast du schon etwas erlebt?«
»Ja.«
»Du weißt doch, was ich meine?«
»Ja. Es waren ihrer zwei - die eine lud mich prompt ein, als ich vom Bahnhof kam, das heißt - nein. Ich habe mich auf diesem verflixten Bahnhof verirrt. Und sie nahm mich dann mit in ihre Wohnung.«
»Wußte sie, wer du bist?«
»Ich sagte es ihr. Am Anfang hatte sie Angst, später.., schien sie mir Mut machen zu wollen - wohl aus Mitleid oder - weiß ich-, und dann war sie wirklich erschrocken. Ich ging ins Hotel.
Am nächsten Tag traf ich.., du ahnst nicht wen: Roemer!«
»Nein! Wie alt ist er denn jetzt - einhundertsiebzig?!«
»Nein, es war sein Sohn. Der ist übrigens auch schon weit über ein Jahrhundert alt. Eine Mumie. Schrecklich. Ich sprach mit ihm. Und weißt du was? Er beneidet uns…« »Er hat auch allen Grund.«
»Er versteht das nicht. Na, das war’s. Dann eine Schauspielerin. Sie werden hier Realistinnen genannt. Sie war von mir entzückt: ein richtiger Pithekanthropus! Ich fuhr mit in ihre Wohnung und bin da am nächsten Tag ausgerissen. Es war ein wirklicher Palast. Herrlich. Aufblühende Möbel, wandernde Wände, jeden Wunsch und jeden Gedanken erratende Betten… ja.«
»Mhm. Die hatte keine Angst, wie?«
»Nein. Angst hatte sie wohl auch, aber sie trank etwas - ich weiß nicht, was es war -, irgendeine Droge vielleicht. Perto hieß es, oder so ähnlich.« »Perto?!«
»Ja. Weißt du, was das ist? Hast du es auch schon probiert?«
»Nein«, sagte er gedehnt. »Probiert nicht. Aber so heißt ja das Zeug, das es aufhebt… «
»Aufhebt? Die Betrisierung? Unwahrscheinlich!«
»So sagte mir jedenfalls dieser Mann.«
»Wer?«
»Kann ich dir nicht sagen. Habe mein Ehrenwort gegeben.«
»Schön. Also deshalb.., deshalb hat sie…«
Ich sprang hoch.
»Setz dich.«
Ich setzte mich.
»Und du?» fragte ich. »Da rede ich immerzu nur von me selbst… «
»Ich? Nichts. Das heißt - nichts gelang mir. Nichts…«, wiederholte er noch einmal. Ich schwieg.
»Und wie heißt dieser Ort hier?«
»Klavestra. Aber das Städtchen selbst ist ein paar Meilen weit von hier. Weißt du, fahren wir doch hin. Ich wollte den Wagen zur Reparatur bringen. Und zurück können wir querfeldein laufen. Wie?«
»Hal«, sagte er langsam, »du alter Gaul…«
»Was?«
Seine Augen lächelten.
»Du willst den Teufel mit Leichtathletik vertreiben? Ein Esel bist du.«
»Entweder Gaul oder Esel, da mußt du dich entscheiden«, sagte ich. »Und was ist schon Schlimmes dabei?«
»Nur, daß es nicht gelingen wird. Bist du einem von ihnen zu nahe getreten?«
»Wie… ihn beleidigt? Nein. Warum?«
Erst jetzt verstand ich, was er meinte, da er es näher zu erklären versuchte: »Nicht doch. Zu nahe. Ganz nah. Angefaßt.«
»Hatte keine Gelegenheit. Und?«
»Ich würde es dir auch nicht raten.«
»Warum?«
»Weil es ungefähr so ist, als ob du eine Amme ohrfeigen möchtest. Kapierst du?«
»So ungefähr. Hast du irgendwo Krach gemacht?«
Ich versuchte mein Erstaunen zu verbergen. An Deck war Olaf einer der am meisten beherrschten Männer gewesen.
»Ja. Und machte dabei einen Vollidioten aus mir selber. Es war gleich am ersten Tag. Oder vielmehr Nacht. Ich konnte nicht aus dem Postgebäude heraus- da gibt’s keine Türen, nur so drehbare Dinger… Hast du das gesehen?« »Drehtüren?«
»Ach wo. Das hat wohl irgend etwas mit dieser Dienstleistungs-
gravitation zu tun, scheint mir. Kurz, ich drehte mich da drinnen wie ein Brummkreisel, und irgendein Kerl mit einem Mädchen zeigte auf mich mit dem Finger und lachte dabei…«
Meine Gesichtshaut schien mit einem Male irgendwie zu eng.
»Amme hin, Amme her«, sagte ich, »schadet nichts. Ich hoffe nur, daß er nie mehr so lachen wird.«
»Nein. Sein Schlüsselbein ist gebrochen.«
»Und sie haben dir nichts getan?«
»Nein. Denn ich kam geradewegs von der Maschine, und er hat mich provoziert- auch habe ich ihn nicht gleich geschlagen, Hai. Ach wo - ich fragte nur, was daran so lächerlich wäre, ich käme von außerhalb der Erde, und da lachte dieser Kerl wieder und sagte, mit dem Finger nach oben weisend: >Ach, aus diesem Af-fenzirkus…< «
» >Affenzirkus<?«
»Ja. Und dann… «
»Warte mal. Wieso - >Affenzirkus<?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat er mal gehört, daß man die Raumfahrer in Schleudertrommeln herumwirbelt. Weiß nicht, denn weiter habe ich mit ihm nicht mehr geredet… Na und so weiter. Sie ließen mich laufen, nur soll seitdem der ADAPT auf Luna die Ankömmlinge genauer bearbeiten.«
»Soll denn noch jemand zurückkehren?«
»Ja. Die Simonadi-Gruppe, in achtzehn Jahren.«
»Da haben wir reichlich Zeit.«
»Jede Menge.«
»Aber zahm sind sie, das mußt du doch zugeben«, sagte ich. »Du hast ihm das Schlüsselbein gebrochen, und sie ließen dich einfach laufen… «
»Mir scheint, daß es wegen dieses Zirkus war«, meinte er. »Sie haben ja selbst uns gegenüber.., na, du weißt schon, welche Gefühle. Denn dumm sind sie doch nicht. Außerdem hatte es einen Skandal gegeben. Mensch, Hai - du weißt ja von nichts.«
»Was?«
»Weißt du, warum unsere Ankunft nicht angekündigt wurde?«
»Irgend etwas soll wohl darüber im Real gewesen sein. Selbst habe ich es nicht gesehen, aber jemand erzählte mir davon.«
»Stimmt. Du würdest aber vor Lachen platzen, wenn du es gesehen hättest. >Gestern in den frühen Morgenstunden kehrte eine Forschungsexpedition des außerplanetarischen Raumes auf die
Erde zurück. Die Teilnehmer fühlen sich gut. Sie haben mit der Auswertung der wissenschaftlichen Resultate ihrer Expedition begonnen.< Schluß. Punkt. Aus.« »Waaas?«
»Ehrenwort. Und weißt du, warum sie es so machen? Weil sie Angst vor uns haben. Deshalb verstreuten sie uns über dem ganzen Erdball.«
»Nein. Das verstehe ich nicht. Das sind doch keine Idioten. Hast du selber gesagt. Die werden doch nicht denken, daß wir tatsächlich Raubtiere sind, die den Menschen an die Gurgel springen?!«
»Hätten sie das gedacht, dann würden sie uns überhaupt nicht hereinlassen. Nein, Hai. Es geht hier nicht um uns. Es geht um mehr. Wieso kannst du es nicht begreifen?«
»Ich bin wohl verblödet. Also sprich schon.«
»Die Menge ist sich der Tatsache nicht bewußt…«
»Welcher Tatsache?«
»Daß der Geist der Forschung schwindet. Daß es keine weiteren Expeditionen mehr gibt, das wissen sie. Aber sie denken nicht daran. Sie meinen, es gäbe keine Expeditionen mehr, weil sie wohl eben nicht nötig sind und Schluß. Es gibt aber auch solche, die das ausgezeichnet erkennen und wissen, was jetzt geschieht und was für Konsequenzen es haben wird. Und welche Folgen es schon jetzt hat.« »Na - und?«
»Bon-bon. Bonbons in alle Ewigkeit. Keiner wird mehr zu den Sternen fliegen. Keiner wird ein gefährliches Experiment mehr riskieren. Keiner wird selbst am eigenen Leib eine neue Medizin ausprobieren. Meinst du - sie wissen es nicht? Doch, sie wissen es! Und würde man publik machen, wer wir wirklich sind, was wir getan haben, weshalb wir geflogen sind, was es eigentlich gewesen ist, dann ließe sich nie - niemals, verstehst du, diese Tragödie verbergen! ! «
»Bon-bon?« fragte ich, sein Kürzel gebrauchend, das einem Außenstehenden, der diese-Unterhaltung gehört hätte, vielleicht lächerlich vorgekommen wäre. Mir aber war nicht zum Lachen.
»Klar. Und - deiner Meinung nach - ist es etwa keine Tragödie?«
»Ich weiß nicht. Ol, hör mal. Schließlich muß das für uns etwas Großes sein und wird es auch bleiben. Daß wir uns all die Jahre so abnehmen ließen- und überhaupt alles - na, also meinen wir
auch, es wäre das Wichtigste. Ist es aber vielleicht durchaus nicht. Man muß doch objektiv sein. Denn, sag selbst: was haben wir erreicht?«
»Was soll das?«
»Na, schüttle mal alle Säcke aus. Zeig einmal alles, was du von Fomalhaut mitgebracht hast.« »Bist du übergeschnappt?«
»Durchaus nicht. Welches ist also der Nutzen unserer Expedition?«
»Wir waren ja Piloten, Hai Frag mal Gimma oder Thurber.«
»O1, rede doch keinen Unsinn. Wir waren dort zusammen, und du weißt sehr wohl, was die gemacht haben, was Venturi - ehe er umkam - gemacht, was Thurber getan hat - na, was glotzt du mich so an? Was haben wir mitgebracht? Vier Säcke mit verschiedensten Analysen, spektralen, sonstigen und noch anderen, Mineralproben, dann gibt es noch diesen Nährboden oder dieses Metaplasma oder wie immer dieser Dreck da von Arkturus-Beta heißt. Normers konnte seine Theorie der Gravimagnetischen Wirbel verifizieren, und darüber hinaus konnte noch festgestellt werden, daß auf den Planeten vom Typ C Meoli nicht Tri-, son-dernTetraploiden-Silikone existieren können und daß es auf diesem Mond, wo Arder fast verreckt wäre, überhaupt nichts außer dreckiger Lava und Blasen in der Größe von Wolkenkratzern gibt. Und nur um uns zu überzeugen, daß diese Lava in solchen verflixten Riesenblasen erstarrt, haben wir zehn Jahre verschwendet und sind hier zurückgekommen, um uns zum Gespött und zu Panoptikumsfiguren zu machen; warum sind wir denn zum Donnerwetter überhaupt da hinaufgekrochen? Kannst du mir das vielleicht erklären? Hatten wir das nötig?«
»Immer mit der Ruhe«, sagte er.
Ich war wütend, er war es auch. Seine Augen wurden schmal. Schon dachte ich, wir würden uns schlagen, und meine Lippen zuckten. Dann, plötzlich, lächelte er.
»Du oller Gaul«, sagte er. »Kannst einen Menschen zur Raserei bringen, weißt du das?«
»Zur Sache, Olaf, zur Sache.«
»Was heißt hier >zur Sache<? Du redest ja selber ganz unsachlich. Und wenn wir einen Elefanten mit acht Beinen, der lauter Algebra spricht, mitgebracht hätten, dann wärest du vielleicht zufrieden, wie? Was hast du dir eigentlich von Arkturus versprochen? Ein Paradies? Einen Triumphbogen? Was willst du? Zehn Jahre lang hab’ ich von dir nicht soviel Unsinn gehört wie jetzt in dieser einen Minute.« Ich holte Luft.
»Olaf, du machst aus mir einen Idioten. Du weißt aber ganz genau, worum es mir ging. Darum, daß die Menschen auch ohne das leben können…«
»Und ob! Und wie!«
»Warte. Sie können also leben, und wenn es so ist, wie du sagst, daß sie infolge der Betrisierung aufgehört haben zu fliegen, dann bleibt eben, mein Lieber, die Frage zu lösen, ob es sich gelohnt hat. Ob es wert war, einen solchen Preis zu zahlen.«
»So? Und, gesetzt den Fall, daß du dich verheiratest? Was glotzt du so? Kannst du nicht heiraten? Doch, du kannst es. Ich sage dir: du kannst. Und du wirst Kinder haben. Na, und die wirst du dann frohlockend zur Betrisierung tragen. Wie?«
»Frohlockend wohl nicht. Aber was könnte ich anderes tun? Ich kann doch nicht mit der ganzen Welt hadern…«
»Na, dann sei dir der schwarze und der blaue Himmel gnädig«, sagte er. »Und jetzt, wenn du willst, können wir in die Stadt fahren.«
»Schön«, sagte ich. »Mittagessen gibt es in zweieinhalb Stunden, also kommen wir noch rechtzeitig zurück.«
»Und wenn wir nicht rechtzeitig da sind, kriegen wir nichts mehr?«
»Doch, aber… «
Unter seinem Blick wurde ich rot. Er schien es nicht zu merken, war damit beschäftigt, Sand von seinen bloßen Füßen abzuschütteln. Wir gingen nach oben, zogen uns um und fuhren mit dem Wagen nach Klavestra. Der Verkehr auf der Fahrbahn war ziemlich stark. Zum erstenmal sah ich bunte Glider, rosa und zitronenweiße. Wir fanden eine Autowerkstatt. In den gläsernen Augen des Roboters, der den beschädigten Wagen besah, schien mir ein Erstaunen zu schimmern. Wir ließen den Wagen dort und gingen zu Fuß zurück. Es zeigte sich, daß es zwei Klavestras gab, die Altstadt und die Neustadt; in der alten, im lokalen Industrie -zentrum, war ich am vorigen Tag zusammen mit Marger gewesen. Die neue, moderne Sommererholungsstätte war voller Menschen, fast ausschließlich junger, oft Teenager. Die Jungen in ihren leuchtend bunten Kleidern schienen als römische Soldaten
verkleidet zu sein: die Kleiderstoffe glänzten in der Sonne wie ganz kurze Panzer. Viele Mädchen, die meisten hübsch, oft in Strandanzügen, die gewagter waren als alles, was ich bisher gesehen hatte. Bei der Wanderung mit Olaf spürte ich die Blicke der ganzen Straße. Bunte Gruppen hielten bei unserem Anblick unter den Palmen inne. Wir waren größer als alle, die Menschen blieben stehen, drehten sich nach uns um, es war ein peinliches, ganz dummes Gefühl.
Als wir endlich zur Fahrbahn kamen und über die Felder gen Süden wendeten, Richtung Villa, trocknere sich Olaf die Stirn mit dem Taschentuch. Ich war auch etwas verschwitzt.
»Das soll doch der Deiwel holen«, sagte er.
»Behalte diesen Wunsch für eine bessere Gelegenheit.«
Er lächelte etwas sauer. »Hal!«
»Ja?«
»Weißt du, wie das aussah? Wie eine Szene im Filmatelier: alte Römer, Kurtisanen und Gladiatoren.«
»Gladiatoren sind dabei wir?«
»Genau.«
»Laufen wir jetzt?« fragte ich.
»Los.«
Wir rannten durch die Felder. Es waren etwa fünf Meilen. Aber wir verliefen uns etwas zu weit nach rechts und mußten wieder umkehren. Immerhin hatten wir dann noch Zeit, vor dem Mittagessen zu baden.
Ich klopfte an Olaß Tür.
»Wenn es kein Fremder ist - herein!« hörte ich seine Stimme.
Er stand nackt in der Mitte des Zimmers und spritzte aus einer Flasche seinen Körper mit einer hellgelben, sofort flaumig erstarrenden Flüssigkeit an.
»Diese flüssige Wäsche, wie?« sagte ich. »Wie kannst du bloß!«
»Ich nahm kein zweites Oberhemd mit«, brummte er. »Magst du das nicht?«
»Nein. Und du?«
»Mein Oberhemd wurde zerrissen.«
Auf meinen erstaunten Blick fügte er mit einer Grimasse hinzu: »Dieser lachende Kerl, weißt du.«
Ich sagte kein Wort mehr. Er zog seine alte Hose - die ich noch vom »Prometheus« kannte - an, und wir gingen hinunter. Auf dem Tisch lagen nur drei Gedecke, und im Speisezimmer war niemand zu sehen.
»Wir werden vier sein«, wandte ich mich an den weißen Roboter.
»Nein, mein Herr. Herr Marger ist fort. Die Dame, Sie und Herr Staave sind nun zu dritt hier. Darf ich servieren, oder soll man auf die Dame warten?«
»Wir warten lieber«, beeilte sich Olaf zu antworten.
Anständiger Kerl. Das Mädchen kam gerade herein. Sie hatte dasselbe Röckchen an wie gestern, und ihr Haar war etwas feucht, als wäre sie aus dem Wasser gekommen. Ich stellte ihr Olaf vor, der sich ruhig, würdevoll gab. Nie verstand ich es, so würdevoll zu sein. Wir unterhielten uns. Sie sagte, daß ihr Mann jede Woche drei Tage lang aus beruflichen Gründen wegfahren müsse und daß das Wasser im Schwimmbecken, trotz der Sonne, nicht so warm wäre, wie es sein könnte. Dieses Gespräch riß bald ab, und obwohl ich mir die größte Mühe gab, konnte ich kein weiteres Thema finden. Ich saß und aß nur, die beiden gegensätzlichen Gestalten mir gegenüber. Ich merkte, daß Olaf sie ansah, aber nur, wenn ich mit ihr sprach und sie mich anschaute.
Sein Gesicht war ganz ausdruckslos, als dächte er die ganze Zeit an etwas anderes.
Zum Schluß des Mittagessens kam der weiße Roboter und sagte, das Wasser im Schwimmbecken würde für den Abend gewärmt sein, wie Frau Marger es sich gewünscht hatte. Frau Marger dankte und ging nach oben. Wir blieben zu zweit. Olaf sah mich an, und wieder wurde ich schrecklich rot.
»Wie ist denn das bloß«, meinte Olaf, indem er sich die von mir gereichte Zigarette in den Mund steckte, »daß ein Kerl, der fähig war, in dieses stinkende Loch auf Kerenea einzusteigen, ein alter Gaul - nein, nein, kein Gaul! -, ein altes Nashorn vielmehr, von einhundertfünfzig Jahren auf einmal anfängt…«
»Bitte, laß das sein«, brummte ich. »Wenn du es genau wissen willst: ich würde da noch einmal hineinsteigen, aber…« Ich beendete den Satz nicht.
»Gut. Werde nichts mehr sagen. Ehrenwort. Aber weißt du,
Hal, verstehen kann ich dich. Und würde wetten, daß du nicht weißt, warum…«
Mit dem Kopf deutete er in die Richtung, in der sie verschwunden war.
»Warum?«
»Ja. Weißt du es?«
»Nein. Du aber auch nicht.«
»Doch. Soll ich’s sagen?«
»Bitte. Nur keine Schweinereien dabei.«
» Du bist wirklich verrückt«, entrüstete sich Olaf. »Die Sache ist doch ganz einfach. Du hattest nämlich schon immer diesen Fehler
- was unter deiner Nase war, bemerktest du nicht, nur immer dort, weit in der Ferne, alle diese Cantoren, Korybasileen…«
»Mach kein Theater.«
»Ich weiß, es ist Pennälerstil, aber wir wurden doch in unserer Entwicklung gehemmt, als man hinter uns die sechshundertachtzig Schrauben fest angezogen hat. Weißt du das?« »Ja. Und weiter?«
»Sie ist ganz wie die Mädchen aus unserer Zeit. Hat kein so ekelhaftes Zeug in der Nase, auch keine Teller an den Ohren, auch keine leuchtenden Zotteln auf dem Kopf, starrt nicht vor Gold. Ein Mädchen, das du auch in Ceberto oder in Apprenous treffen könntest. Kann mich an genau solche gut erinnern. Das ist alles.«
»Hol mich der Teufel«, sagte ich leise. »Mag schon stimmen. Ja. Aber einen Unterschied gibt es doch.« »Na?«
»Das, was ich dir bereits gesagt habe. Gleich am Anfang. Da-
mals habe ich mich nicht so benommen. Und um die zu sagen, konnte ich mir auch kaum vorstellen.., ich hielt mich eben für ein ruhiges, stilles Wässerchen.«
»Hat sich was. Schade, daß ich kein Bild von dir gemacht habe, damals, als du aus diesem Loch auf Kerenea gekrochen bist. Da hättest du schon was vom stillen Wässerchen gemerkt. Mensch, ich dachte.., ach!«
»Hol doch der Kuckuck Kerenea mitsamt allen ihren Höhlen und dem ganzen Rest«, schlug ich vor. »Weißt du, Olaf, ehe ich herkam, war ich bei einem Doktor. Juffon heißt er. Netter Kerl. Bereits über achtzig, aber…«
»Das ist unser Los«, meinte Olaf ruhig. Er atmete den Rauch aus, sah zu, wie er über eine zartlila Blume, die an eine ausgewachsene Hyazinthe erinnerte, zerfloß, und setzte dann fort:
»Am wohlsten fühlen wir uns unter solchen Greisen. Mit einem sooo langen Bart. Wenn ich daran denke, bekomme ich die Krätze. Weißt du was? Wir sollten uns eine Menge Hühner anschaffen. Denen können wir dann die Hälse umdrehen.«
»Hör auf mit dem Blödsinn. Also, dieser Doktor, weißt du, hat mir so manche ganz gescheiten Dinge gesagt. Daß wir keine -gleichaltrigen Freunde haben können, natürlich haben wir auch keine Angehörigen mehr, und es bleiben uns nur die Frauen.
Aber eine Frau wäre jetzt viel schwerer zu finden als mehrere.
Und recht hat er. Davon habe ich mich schon überzeugt.«
»Hal, ich weiß, daß du klüger bist als ich. Du hast ja immer so
- so unmögliche Sachen gemocht. Die ungeheuer schwer sein mußten, die du auf Anhieb nicht schaffen konntest und wobei du erst dreimal aus der eigenen Haut fahren mußtest, bis es gelang. Anders hat es dir nie geschmeckt. Glotz mich nicht so an. Ich habe keine Angst vor dir, das weißt du wohl?«
»Gott sei Dank. Das hätte auch gerade noch gefehlt.«
»Also… was wollte ich sagen? Aha! Anfangs dachte ich, weißt du, daß du nur für dich allein sein willst und deshalb so büffelst und etwas mehr werden willst als nur ein Pilot und ein Mann, der dafür sorgt, daß der Laden stimmt. Ich wartete nur darauf, wann du anfangen würdest, die Nase über alle anderen zu rümpfen.
Und muß sogar sagen, als du Normers und Venturi mit deinen verschiedenen Fragen zur Verzweiflung brachtest und dich da so unauffällig in deren hochgelehrte Diskussionen eingemischt hattest, weißt du, da meinte ich, du fängst damit wohl schon an. Aber
später, da kam dann die Explosion, weißt du?« »Ja. Die in der Nacht.«
»Eben. Und dann Kerenea und Arkturus und der Mond. Mein Lieber, von diesem Mond träume ich noch ab und zu, und einmal bin ich bei einem solchen Traum tatsächlich aus dem Bett gefallen. Nu, dieser Mond! Aber, was wollte ich… Bin wohl schon verkalkt. Vergesse dauernd alles… Na ja, dann kamen die Dinge eben, und ich verstand, daß es dir nicht darum ging. Nur hast du eben eine solche Natur, du kannst nicht anders. Kannst du dich noch erinnern, wie du Venturi um sein Privatexemplar dieses roten Buches gebeten hast? Was war das nur für ein Buch?«
»Die Topologie des Hyperraumes.«
»Stimmt, stimmt. Und er sagte: >Das ist für Sie zu schwer, .Bregg. Sie haben ja keine Vorkenntnisse<…«
Ich lachte, da er Venturis Stimme großartig dabei imitierte.
»Er hatte auch recht, Olaf. Es war zu schwer.«
»Ja, damals, aber später hast du es geschafft, wie manches andere auch.«
»Schon. Aber… ohne Genugtuung. Du weißt auch, warum. Ein armer Hund, dieser Venturi.«
»Red bloß nicht. Wer da wen bemitleiden soll, ist - im Licht der späteren Vorfälle - nicht so sicher.«
»Er kann keinen mehr bemitleiden. Du warst damals auf dem Oberdeck, wie?«
»Ich? Oberdeck? Mensch, ich stand doch dicht neben dir!«
»Stimmt. Hätte er nicht alles auf einmal für die Kühlung abgegeben, dann hätte es vielleicht nur mit Verbrennungen geendet.
So wie es bei Arne der Fall war. Er muß den Kopf verloren haben.«
»Richtig. Nein, aber du bist ja unbezahlbar! Arne ist doch sowieso umgekommen!«
»Fünf Jahre später. Fünf Jahre sind immerhin fünf Jahre.«
»Solche Jahre?«
»Jetzt sprichst du selber so, und vorhin, am Wasser, als ich so sprach, da hast du mich angeschnauzt.«
»Weil es kaum auszuhalten gewesen war, obwohl auch herrlich.
Na, gib’s schon zu - ach, warum eigentlich. Als du aus diesem Loch geklettert bist, auf Kere…«
»Laß doch endlich dieses Loch in Ruhe!«
»Nein. Nein - weil ich erst dann verstanden habe, was in dir ei-
gentlich steckt. Wir kannten uns damals noch nicht so wie später. Als Gimma mir - das war nach einem Monat - sagte, daß Arder mit dir fliegt, da dachte ich- na, ich weiß es nicht mehr! Ich ging zu ihm, sagte aber keinen Ton. Er spürte das natürlich sofort. >Olafc, sagte er mir, >sei nicht böse. Du bist mein bester Freund, aber jetzt fliege ich mit ihm und nicht mit dir, weil…c - weißt du, was er da gesagt hat?«