Die Tore waren offen, und der Schulhof hatte sich in einen Parkplatz verwandelt. Überall standen Transporter, hauptsächlich weiße – Transporter, die einmal weiß gewesen sein mussten, bevor sich ein grauer Schmutzfilm darauf gelegt hatte. Reinigungsfirmen, Entsorgungsdienste, Fußbodenleger, ein Klempner. Männer in fleckiger Arbeitskluft saßen in der schattigen Zuflucht der Führerhäuser und ließen die sonnenverbrannten Arme heraushängen, die Zigaretten zwischen ihren Fingern schienen die Hitze der Motoren, des Teers und der Sonne noch zu verstärken. Zerdrückte Coladosen und Boulevardzeitungen säumten die Reihe der Armaturenbretter, an denen Lucia vorüberging. Irgendwo fiel ihr eine Schlagzeile ins Auge, irgendwas über das Wetter und die Temperaturen und den nahenden Weltuntergang.

Sie ignorierte die Blicke. Der Schatten des viktorianischen Ziegelbaus tauchte vor ihr auf und verschluckte sie, und plötzlich wurde ihr kalt. Sie ging die Treppe zur Eingangstür hoch, vorbei an den Polizisten, und drängte sich durch die Tür.

Sie sah niemanden. Aus der Aula drangen das Geräusch von Möbeln, die über den Boden schrappten, und die Baritonstimmen von Arbeitern, beunruhigend fröhlich in Anbetracht der Ursache für das Chaos, das sie beseitigten.

Fast wäre sie wieder gegangen. Sie war aus Gewohnheit in die Schule gekommen. Sie war am ersten und am zweiten und am dritten Tag hierhergekommen, und danach hatte sie festgestellt, dass sie nicht nicht kommen konnte. Aber es war Freitag, und am Freitag sollte aus dem Tatort wieder eine Schule werden.

Fast wäre sie wieder gegangen, aber sie hatte so lange gezögert, dass der Direktor sie entdeckt hatte. Sie überlegte, ob sie sein Rufen einfach ignorieren sollte, so tun, als hätte sie es nicht gehört, aber er kam schnellen Schrittes aus der Aula auf sie zu; es war zu spät, um sich wegzudrehen.

»Detective.« Seine Stimme ließ sie erstarren. Sekunden später war er bei ihr.

»Mr. Travis.«

»Detective.« Sein Lächeln war nicht überzeugend. Ebenso schlecht saß sein Polohemd – der Versuch eleganter Lässigkeit eines Mannes, der sich in zwangloser Kleidung einfach nicht wohl fühlte. Kragen und Ärmel waren gebügelt, und es war bis obenhin zugeknöpft.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte Lucia.

»Und ich dachte, Sie wären erst gekommen«, erwiderte der Direktor. »Ich habe Sie vom Fenster aus gesehen, als Sie über den Hof kamen.«

»Ich hatte vergessen, welcher Tag heute ist. Ich hatte nicht daran gedacht, dass Freitag ist.«

»Das hätte ich um ein Haar selbst vergessen. Es ist, als hätten die Ferien bereits begonnen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was sich zwischenzeitlich getan hat.«

»Wirklich, ich …«, begann Lucia, aber Travis marschierte schon in Richtung Aula. Sie folgte ihm.

»Sie hatten viel zu tun, Detective.« Der Direktor drehte beim Sprechen das Kinn zur Schulter, sah Lucia aber nicht direkt an.

»Sie sicher auch.«

Travis nickte. Er wandte sich von ihr ab. »Ich frage mich, was Sie wohl entdeckt haben.«

Lucia musterte den Hinterkopf des Direktors und folgte der Linie seines langen Halses bis zur Abwärtskurve seiner schmalen Schultern. Sie bemerkte die überschüssige Haut an seinen Ellbogen, die gerade so unter den Ärmeln des Polohemds hervorschauten, und ihr fiel auf, dass diese schlaffen Hautlappen ebenso grau waren wie sein Haar.

»Nicht so viel, wie ich mir gewünscht hätte«, antwortete Lucia. Am Eingang zur Aula blieben sie stehen. »Mehr, als Sie vielleicht vermuten.«

»Nach Ihnen, Detective.«

Lucia versuchte, an dem Direktor vorbeizuschlüpfen, ohne ihn zu berühren, aber sie streifte seinen ausgestreckten Arm.

»Ihnen ist doch nicht etwa kalt?«, fragte Travis. »Man kann sich kaum noch erinnern, wie es ist, wenn man friert, finden Sie nicht auch?«

Die Aula war bereits geräumt, gereinigt. Die Möbel, die sie über den frisch gebohnerten Boden hatte schrappen hören, waren andere als die Stühle, die sie aus diesem Raum kannte. Die Pulte, die die Arbeiter in Reihen aufstellten, waren so konstruiert, dass sie gleichzeitig als Sitz dienten. Obwohl sie auf den ersten Blick nicht aussahen, als wären sie stapelbar, standen sie in Türmen von je zehn im hinteren Teil der Aula, aber ihre Zahl verringerte sich ständig, denn um sie herum standen Arbeiter, nahmen je drei Pulte auf einmal herunter und trugen sie auf die andere Seite des Raums.

»Die Prüfungen«, sagte Travis. »Wir sind schon zwei Wochen in Verzug.«

Lucia sah sich in der Aula nach dem Seil um. Es war nicht mehr da. Alle Seile und Sprossenwände waren verschwunden. »Wird es den Schülern nicht schwerfallen, sich zu konzentrieren?«, fragte Lucia. »Hier in diesem Raum?«

Der Direktor tat, als hätte er ihre Frage nicht gehört. Er rief einem Arbeiter zu, er solle die Pulte nicht so dicht aneinanderstellen. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder zu Lucia. »Sie wollten mir gerade erzählen, was Sie entdeckt haben, Detective. Sie wollten mir erzählen, was Ihre Befragungen ergeben haben.«

»Sie hatten sich danach erkundigt«, entgegnete Lucia. »Weiter waren wir noch nicht.«

»Die Ergebnisse werden also unter Verschluss gehalten. Sie haben das Gefühl, mir nicht trauen zu können.«

»Nein. Keineswegs. Aber die Ermittlungen laufen noch.«

Der Direktor zog eine Augenbraue hoch. Die zweite folgte. »Das erstaunt mich, Detective. Ich hatte den Eindruck, der Fall sei jetzt abgeschlossen.«

»Dann waren Sie falsch informiert, Mr. Travis. Das ist er noch nicht.«

»Nun, wenn das so ist, dann spreche ich beim nächsten Mal direkt mit Ihnen«, erwiderte Travis. »Ich werde von nun an nicht mehr auf das Unterstellungsverhältnis vertrauen.«

»Das Unterstellungsverhältnis?«

»Ich habe mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen, Detective Chief Inspector Cole. Genau genommen hat er mich angerufen. Er informierte mich, dass Ihre Ermittlungen dem Ende zugehen.«

»Er hat Sie angerufen? Wie aufmerksam von ihm.«

»In der Tat«, erwiderte der Direktor. »Er scheint ein sehr aufmerksamer Mensch zu sein.«

Lucia blickte sich um. Sie sah, wie ein Stapel Pulte ins Wanken geriet, als einer der Arbeiter den benachbarten wegzog. Er würde umfallen, und obwohl Lucia auf das Geräusch vorbereitet war, zuckte sie zusammen. Sie sah den Direktor an und erwartete ein Donnerwetter, aber Travis’ ganze Aufmerksamkeit galt ihr.

»Wir werden einen Gedenkgottesdienst abhalten«, sagte er. »Am Montag um zehn Uhr. Nicht hier. Draußen. Auf dem Sportplatz gibt es einen Bereich, der mir geeignet erscheint. Vielleicht wären Sie so nett und würden auch daran teilnehmen.«

»Danke«, erwiderte Lucia. »Ich werde nicht kommen.«

»Sie müssen die Ermittlungen zu Ende bringen.«

Sie nickte. »Genau.«

Der Direktor lächelte. Er schien nachzudenken. »Sagen Sie, Detective«, begann er schließlich. »Warum sind Sie hier?«

»Verzeihung?«

»Ich will damit sagen«, fuhr der Direktor fort, »dass es scheint, als würden Sie ein bestimmtes Ziel verfolgen.«

Lucia sah ihm in die Augen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, redete sie auch schon. »Elliot Samson«, sagte sie. Sie wartete auf eine Reaktion, vergebens. »Er war ein Schüler dieser Schule, stimmt das?«

»Er ist ein Schüler dieser Schule, Detective. Er war und ist einer unserer Schüler.«

»Natürlich. Und ich nehme an, Sie wissen, was ihm zugestoßen ist?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Vielleicht könnten Sie es mir erzählen. Vielleicht könnten Sie mir Ihre Sicht der Dinge schildern.«

Noch einmal gab es einen lauten Knall, als ein weiterer Stapel umfiel. Weder der Direktor noch Lucia nahmen davon Notiz.

»Er wurde angegriffen. Angegriffen und verletzt. Jetzt liegt er im Krankenhaus. Soweit ich weiß, wird er vollständig genesen.«

»Er redet nicht. Wussten Sie das? Seine Verletzungen sind geheilt, aber er redet einfach nicht.«

»Verzeihen Sie, Detective. Ich wusste nicht, dass Sie auch mit den Ermittlungen im Fall Samson betraut sind. Sie haben ja wirklich alle Hände voll zu tun. Das erklärt natürlich die Verzögerung.«

»Nein«, antwortete Lucia. »Ich bin nicht damit betraut.«

»Dann hat es also etwas mit dem Amoklauf zu tun? Was Elliot Samson zugestoßen ist, steht in Verbindung mit dem Amoklauf?«

»Nein. Nicht offiziell.«

»Aber inoffiziell.«

»Ich bin neugierig, Mr. Travis, das ist alles.«

»Ich verstehe.« Der Direktor nickte. Sein Gesichtsausdruck war ernst, und er wirkte verwirrt. Lucia stellte sich vor, sie wäre als Schülerin zu ihm zitiert worden, um irgendeine Unbedachtheit zu erklären, die nicht zu erklären war. »Und was genau ist der Gegenstand Ihrer Neugier?«

»Nun«, begann Lucia, »zum einen bin ich neugierig auf Ihre Reaktion. Auf die Reaktion der Schule.«

»Die Versammlung, Detective. Jene verhängnisvolle Schulversammlung. Ich hatte Sie doch darüber informiert, nicht wahr?«

»Ja, Mr. Travis. Ich habe mich trotzdem gefragt, was Sie sonst noch getan haben. Was die Schule sonst noch getan hat.«

»Was hätte ich denn Ihrer Meinung nach tun sollen? Elliot Samson ist einer unserer Schüler, aber darüber hinaus haben wir mit dem Vorfall nichts zu tun. Hätte er sich irgendwo auf dem Schulgelände ereignet, wäre es vielleicht …«

»Es ist auf der Straße passiert. Auf der Straße unmittelbar vor Ihrer Schule. Und es waren Ihre Schüler.«

»Wer sagt das, Detective? Niemand kann das wissen. Der Junge spricht nicht, wie Sie ja selbst sagten. Und bedauerlicherweise gibt es keine Zeugen. Es hat sich niemand gemeldet.«

»Es hat sich niemand gemeldet«, wiederholte Lucia. »Sind Sie da sicher?«

»Sie wissen es besser als ich, Detective«, gab der Direktor zurück. »Aber nein, soweit ich weiß, gab es keine Zeugen. Natürlich nur, sofern Sie bei Ihren Ermittlungen nicht doch noch einen ausfindig gemacht haben.«

»Nein«, sagte Lucia. »Nicht direkt.«

 

Lucia war die Einzige in ganz London, die immer noch am Schreibtisch saß, obwohl sie nicht musste. Sie dachte einen Moment über diese Tatsache nach. Dann darüber, in den Pub zu gehen, weniger, ob sie es tun sollte, sondern vielmehr über die Idee dahinter: in den Pub gehen. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal in einen Pub gegangen war, und zwar in dem Sinne, den der Ausdruck nahelegte, nicht als Ereignis, das sie nervös machte, für das sie sich herausputzte und auf das sie sich freute. Und das sie enttäuschte.

Sie überlegte, ihren Vater anzurufen, bezweifelte aber, dass sie die richtige Nummer hatte. Sie hatte schon schlechtere Ausreden gehabt. Sie würde ihre Mutter anrufen. Das sollte sie tatsächlich. Aber schon beim Gedanken daran wurde sie müde, und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich noch einsamer als ohnehin.

Es war nicht fair. Vielleicht war sie nicht fair. Sie war müde und abgespannt, dafür konnte sie kaum jemanden verantwortlich machen, mit dem sie seit einem Monat kein Wort mehr gesprochen hatte. Reden half vielleicht, sagte sie sich. Bestimmt half es.

Sie nahm den Hörer und wählte.

»Mum. Hallo.«

»Lucia, du bist es. Ich dachte schon, es wäre dein Vater. Das ist genau die Zeit, um die er meist anruft.«

»Es ist schon spät. Tut mir leid. Ich dachte, du bist sicher noch wach.«

»Ich bin noch wach. Aber darum geht es nicht. Die Sache ist, es wäre ihm egal gewesen, ob ich noch wach bin oder nicht. Er hätte einfach angerufen und erwartet, dass ich rangehe.«

»Ich rufe morgen noch mal an, morgen früh.«

»Nein, nein, nein. Du bist es ja. Du bist nicht er. Du kannst jederzeit anrufen, das weißt du. Du meine Güte, es ist aber auch wirklich spät. Was ist denn los? Ist irgendwas passiert?«

»Nein, es ist nichts passiert. Mir geht’s gut. Ich ruf bloß an, weil, na ja. Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört, das ist alles.«

»Tatsächlich? Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber das Telefon klingelt im Moment in einer Tour, und jedes Mal ist es, als würde jemand hinter dem Sofa hervorkommen und mich anspringen. Wenn er verzweifelt ist, ruft er nämlich ständig hier an. Er lässt mir keine ruhige Minute.«

»Du weißt, warum er das tut, Mum. Du solltest ihn nicht dazu ermutigen.«

»Aber ich muss ihm was geben, sonst lässt er mich nicht in Frieden. Wenn nicht, dauert es nicht lange, und ich hab ihn hier auf dem Sofa liegen. Oder ich liege auf dem Sofa, und er macht es sich in meinem Bett gemütlich, so würde es wahrscheinlich aussehen. Und dann geht er nie wieder. Dann werde ich ihn nie wieder los.«

»Aber du kannst es dir nicht leisten, Mum. Und du solltest ihn wirklich nicht dazu ermutigen.«

»Aber er hat einen Plan. Er sagt, er hätte einen. Und die Schulden – angeblich hat er keine. Er fange bei null an, sagt er, aber es gehe jetzt bergauf, und er brauche eine Grundlage. Eine Art Starthilfe.«

»Starthilfe?«

»Ich bin seine Trittleiter. So nennt er mich. Nach dreizehn Jahren Ehe ist das alles, was ich für ihn bin. Etwas aus dem Baumarkt.«

»Er hat keinen Plan, Mum. Er hatte noch nie einen.«

»Apropos Männer, Schätzchen, wie geht es David? Ist er da? Gib ihn mir doch mal.«

»Mum. Ich hab dir doch gesagt, was mit David ist.«

»Was? Was hast du mir gesagt?«

»Zwischen David und mir ist es aus. Das hab ich dir doch erzählt.«

»Nein! Seit wann denn? Das hast du mir nicht erzählt. Solche Sachen erzählst du mir nie.«

»Aber natürlich hab ich dir das erzählt. Ganz sicher.«

»Nein, hast du nicht. Was ist passiert? Du arbeitest zu viel, Lucia. Wirklich. Weißt du, man muss Männern immer das Gefühl geben, sie wirklich zu wollen. Sie brauchen viel Aufmerksamkeit. Sie sind wie Weihnachtssterne.«

»Das war es nicht, Mum. Es lag überhaupt nicht an so was.«

»Vielleicht ist das auch einfach dein Los, Lucia. Wir sind Hamster, genau das sind wir. Sie paaren sich ab und zu, binden sich jedoch nie. Aber sie beißen sich durch, genau wie wir. Wir sind Kämpferinnen, Lucia. Du heißt zwar May, aber in Wahrheit bist du eine Christie. Und Christies kämpfen. Wir müssen kämpfen.«

 

Eine halbe Stunde später saß Lucia immer noch am Schreibtisch. Sie musste einen Bericht schreiben, aber ihre Hände lagen verschränkt vor der Tastatur, und sie betrachtete die Falten auf ihren Fingerknöcheln.

Stimmen im Treppenhaus ließen sie hochschrecken. Instinktiv wollte sie die Lampe ausschalten, sich verstecken, aber stattdessen zwang sie sich, die Finger auf die Tasten zu legen, und blickte stirnrunzelnd auf den Monitor, als gäbe es dort etwas Spannenderes zu sehen als eine leere Seite und einen blinkenden Cursor. Sie schrieb ihren Namen, vertippte sich. Dann schloss sie Word und öffnete ein Browserfenster. Ihre Finger tanzten einen Augenblick in der Luft, schließlich gab sie »Samuel Szajkowski« bei Google ein und drückte Return. Während die Stimmen lauter wurden, sah sie die Ergebnisse durch, klickte auf einen Link, ging wieder zurück und klickte auf den nächsten.

»Gib mir fünf Minuten«, sagte jemand. »Dann halt zwei, verdammte Scheiße. Ich brauche nur zwei Minuten.«

Sie hatte gewusst, dass er es war. Es war praktisch unmöglich gewesen, dass er es nicht war.

»Macht’s euch gemütlich, Leute. Sieht so aus, als wäre jemand da.«

Lucia griff zum Telefonhörer, aber dann fiel ihr ein, dass man sie sprechen gehört hätte, wäre sie wirklich am Telefon gewesen, und sie legte wieder auf. Hinter ihr befand sich ein Notausgang. Sie wollte fliehen. Sie zog es tatsächlich in Erwägung.

»Lulu!« Seine Krawatte war lose, und sein Hemd war aus dem straff gespannten Hosenbund gerutscht. Seine Wangen leuchteten in demselben fettgesprenkelten, fleckigen Rot wie rohe Frikadellen, und selbst aus zehn Metern Entfernung wusste sie, dass sein Atem wie ein mit Bier übergossener voller Aschenbecher roch. Hinter ihm standen Charlie, Rob und Harry.

»Walter.«

»Lulu!«, sagte er noch einmal. »Du bist extra aufgeblieben und hast auf mich gewartet!«

»Wie war es bei Gericht?«, fragte Lucia. Die Frage galt Harry, der mit seinen Kneipenkumpels im Schlepptau durch das Büro kam. Harry zögerte, bis es zu spät war für eine Antwort.

»Reine Zeitverschwendung«, sagte Walter. »Verdammte Richter.«

»Wieso? Was ist passiert?«

»Zwei Lesben und eine Tucke, das ist passiert. Aber was will man machen?« Walter rückte näher und ließ sich mit einer Pobacke auf Lucias Schreibtischkante nieder. Seine Geldbörse drückte sich aus dem speckigen Stoff der Gesäßtasche. »Apropos Lesben«, sagte Walter und grinste seinem mitgebrachten Publikum zu. »Was machst du eigentlich hier, Lulu? Du weißt schon, dass das Wochenende angefangen hat, oder? Cole kannst du nicht beeindrucken, der ist nicht da.«

»Dein Hosenstall steht offen, Walter. Weißt du das?«

Walter grinste. Er sah nicht einmal runter. »Warum guckst du auf meinen Hosenstall, Lulu?«

»Hey, Walter.« Das war Harry. »Ich hab Durst. Jetzt hol einfach deinen blöden Papierkram und lass uns hier abhauen, ja?«

»Der Pub läuft uns nicht weg, Harry. Keinen Stress. Ich habe gerade einen netten Plausch mit unserer entzückenden kleinen Lulu.« Walter wandte sich wieder zu Lucia. Er rutschte über den Schreibtisch, um die Ecke herum. Sein Oberschenkel war jetzt nur noch ein paar Zentimeter von ihrer Maushand entfernt. Lucia versuchte, sie nicht wegzuziehen, aber sie konnte nicht anders. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Seht euch das an«, sagte Walter. »Mein Hosenstall ist offen. Lulu hat mich mit Blicken ausgezogen!«

Charlie lachte. Rob lachte.

»Tust du mir einen Gefallen, Schätzchen? Sei so lieb und mach meinen Reißverschluss wieder zu, damit der kleine Schlingel nicht rausfällt.«

»Da wäre ich ganz unbesorgt, Walter. Ich glaube kaum, dass ihn jemand bemerken würde.«

Charlie lachte. Rob lachte. Harry schmunzelte.

Walter rückte noch näher. Sein Bein berührte ihres, und er drückte es dagegen. Lucia spürte seine Schuhsohle an ihrem Schienbein, seine fleischige Wade an ihrem Knie. Jetzt roch sie das Bier, und der Geruch von altem Schweiß stieg ihr in die Nase.

»Du brauchst dringend eine Dusche, Walter. Und nimm dein Bein da weg.«

»Zwei Minuten, hast du gesagt. Los, Walter, lass uns gehen.«

»Habt ihr das gehört? Jetzt soll ich mich ganz ausziehen. Sie will mich nackt sehen.« Er grinste Lucia an. »Klar nehme ich eine Dusche. Wenn du mir die Seife reichst.«

»Dein Bein, Walter.«

»Was ist damit? Willst du es lieber da?« Er bewegte sein Bein nach oben. »Oder da?« Sein Bein glitt nach unten.

»Nimm dein Bein weg. Nimm dein verdammtes Bein da weg.«

»Komm schon, Walter. Gehen wir.«

»Harry hat recht, Walter. Feierabend. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.«

Walter drückte sein Bein ein wenig fester gegen das von Lucia. Er beugte sich zu ihr. »Wie wäre es mit einem kleinen Gutenachtkuss?«, fragte er und spitzte die Lippen. Er schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder. »Aber lass die Zunge aus dem Spiel, ja?«, sagte er. »Dieses eine Mal wenigstens.« Lucia sah Harry an. Harry beobachtete die Szene über die Schultern seiner Kumpels hinweg, die Hand auf einer Stuhllehne und den Blick starr auf Walter gerichtet.

Lucia stand auf. »Ich brauche einen Kaffee«, sagte sie. Sie streifte sich das Haar hinter die Ohren und ging den langen Weg um ihren Schreibtisch herum, an Charlie, Rob und Harry vorbei. Sie sah keinen von ihnen an. Sie hörte Walter gackern und Rob und Charlie kichern, und sie hoffte, dass keiner von ihnen ihr Zittern sah.