Er wird nicht mit Ihnen sprechen.«

»Weiß er, was passiert ist? Hat es ihm jemand erzählt?«

»Sie hören mir nicht zu, Detective. Er wird nicht mit Ihnen sprechen. Er spricht gar nicht. Nicht einmal mit seinen Eltern.«

»Und Sie antworten nicht auf meine Frage, Doktor. Weiß er es?«

Der Arzt schlug sich mit seinem Klemmbrett gegen das Bein. Er nahm die Brille ab. »Ja, ich glaube, er weiß es. Ich habe mit seinen Eltern darüber gesprochen. Wir kamen überein, dass es heilsam für ihn sein könnte, es ihm zu erzählen. Wir waren uns einig, dass es ihm nicht schaden würde.«

»Heilsam?« Lucia spähte durch die Glasscheibe in das Krankenzimmer. Sie sah nur ein leeres Bett. »Sie glaubten also, es könnte ihn dazu bringen, etwas zu sagen. Dass ihn der Schock wieder zum Reden bringt.«

»So ist es«, erwiderte der Arzt, ohne die Miene zu verziehen.

»Aber dem war nicht so.«

»Nein.«

Lucia nickte. Sie lehnte den Oberkörper leicht nach hinten und sah noch einmal durch die Scheibe. Sie konnte den Jungen immer noch nirgends entdecken. »Ich würde gern zu ihm reingehen.«

»Er wird nicht …«

»Mit mir sprechen, ich weiß. Aber ich würde trotzdem gern zu ihm reingehen.«

Der Arzt war groß, dunkelhaarig und sah eigenartig aus. Wenn er den Kiefer anspannte, traten direkt unter seinen Ohren zwei spitze Beulen auf den Wangen hervor, als versuchte er, einen quer liegenden Schraubenzieher zu schlucken.

»Bitte beeilen Sie sich.«

»Ja, Doktor.«

»Und denken Sie daran, was er hinter sich hat.«

»Ja, Doktor.«

»Er befindet sich in der Genesungsphase. Er braucht jetzt Ruhe.«

»Das verstehe ich.«

Der Arzt hielt die Tür auf und ließ Lucia hindurchschlüpfen. Sie betrat den Raum und horchte auf das Geräusch der sich schließenden Tür. Als es ausblieb, drehte sie sich um, dankte dem Arzt und wartete, bis er sich zurückgezogen hatte.

Zuerst dachte sie, sie wäre allein im Zimmer. Vier Betten standen darin, alle leer. Aber in dem vierten Bett ganz hinten in der Ecke hatte jemand gelegen. Der Sichtschutzvorhang war halb zurückgezogen, und auf dem Nachttisch standen ein Glas und ein Wasserkrug. Das Glas war leer, der Krug voll.

»Elliot?«

Lucia versuchte, leise aufzutreten, aber ihre Schuhsohlen klackerten auf dem Vinylbelag.

»Elliot, mein Name ist Lucia. Lucia May. Ich bin Polizistin.«

Sie ging zum Fußende des ungemachten Bettes und blieb stehen. Sie sah einen Kopf, auf gleicher Höhe mit der Matratze. Eigentlich sah sie eher Haare. Kurze, blonde Haare, fast rötlich. Sie waren so ähnlich wie ihre eigenen, bloß etwas heller und nicht ganz so offensichtlich rot, vielleicht aber auch nur, weil sie so kurz waren.

Als Lucia noch einen Schritt weiter ging, sah sie den Jungen ganz. Er saß auf dem Boden und lehnte an der Wand hinter dem Bett. Bevor Lucia irgendetwas anderes an ihm auffiel, bemerkte sie Elliots Muttermal. Es bedeckte die linke Gesichtshälfte, die Lucia zugewandte Seite, und reichte vom Ohr bis zum Mundwinkel. Es sah aus, als hätte man Elliot geohrfeigt – heftig und mehr als ein Mal – oder gegen etwas Heißes gedrückt.

Dann sah sie die Stiche – eine gezackte Linie, die zwischen den Augenbrauen begann, über die Nase und bis hinab zum Kiefer lief. Der Arzt hatte ihr gesagt, auch Elliots rechtes Ohr sei in Mitleidenschaft gezogen worden, aber von ihrem Standpunkt aus konnte sie die Wunde nicht sehen. Es sei zerrissen worden, hatte der Arzt gesagt. Zerbissen vielleicht.

Sie suchte Elliots Blick, doch der hing wie gefesselt an einem Buch, das auf den Knien seiner angewinkelten Beine lag. »Elliot?«, fragte sie noch einmal. Man hatte sie gewarnt, dass er nicht antworten würde, aber sie hoffte trotzdem, er würde es tun.

»Was liest du da?«, fragte sie, und als der Junge wieder nicht antwortete, ging sie ein Stück vor und beugte sich zu ihm hinab, um den Titel auf dem Umschlag lesen zu können. Aber der Junge verdeckte die Schrift mit Zeige- und Mittelfinger, und Lucia fiel auf, dass er sie gekreuzt hielt, als wünschte er sich beim Lesen, dass die Geschichte gut ausgeht.

Elliot blätterte um. Dabei musste er die Finger kurz wegnehmen, und Lucia erhaschte einen Namen und ein Bruchstück des Titels: Das Buch der irgendwas von Sowieso Alexander.

»Darf ich? Stört es dich, wenn ich mich setze?« Sie ließ sich auf der Bettkante nieder, das Gesicht zur Wand. »Dr. Stein sagt, es geht dir schon viel besser. Er meint, du kannst bald nach Hause.«

Der Junge blätterte wieder um. Lucia beobachtete seine Augen. Sein Blick wanderte von einer Seite zur nächsten und setzte sich irgendwo dazwischen fest. Einen Moment lang schwieg sie. Sie sah auf ihre Füße, dann hinter sich und wieder zu dem Jungen. Er blätterte erneut um.

»Ist es gut? Dein Buch, meine ich. Worum geht es?«

Stückchen für Stückchen, als hoffte er, sie würde die langsame Bewegung nicht bemerken, ließ er das Buch von den Knien rutschen, bis es, an seine Oberschenkel gelehnt, in seinem Schoß verborgen war. Sein Blick wich nicht von den Seiten.

»Du musst nicht mit mir reden«, sagte Lucia. »Ich wollte dich nur mal besuchen. Sehen, wie es dir geht.« In diesem Moment bemerkte sie erstaunt, dass es die Wahrheit war. Was dem Jungen zugestoßen war, hatte nichts mit ihren Ermittlungen zu tun, streng genommen hatte sie hier nichts zu suchen. Der Arzt hätte ihr den Zutritt verweigern können. Die Eltern des Jungen könnten kommen und sie fortschicken, und ihr bliebe nichts weiter übrig, als zu gehen.

Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Die Tür war immer noch geschlossen, der Rest des Zimmers leer. Sie wusste nicht, wie genau man es in diesem Krankenhaus mit den Besuchszeiten nahm, aber sie setzte darauf, dass Elliots Eltern erst zu Beginn der regulären Zeit kommen würden.

»Deine Wunden heilen schnell«, sagte Lucia. Wieder betrachtete sie seine Stiche. Sie versuchte, sie zu zählen. »Das hat sicher sehr weh getan, was sie mit dir gemacht haben.«

Der Junge blätterte um.

»Du bist sehr tapfer, Elliot.« Sie flüsterte diesen Satz fast, obwohl sie gar nicht leise sprechen wollte. Sie räusperte sich. »Du bist wirklich sehr tapfer.«

 

Im Buchladen konnte sie es nicht finden.

Ein Harry Potter aus Pappe verfolgte ihre Schritte, bedrohte sie mit dem Zauberstab und ließ sich auch durch einen bösen Blick nicht einschüchtern. Nachdem sie die Jugendbuchabteilung durchkämmt hatte, wechselte sie das Terrain. Sie schlängelte sich zu den Regalen mit allgemeiner Belletristik, aber auch dort hatte sie kein Glück.

Der Laden war leer bis auf Lucia, den Pappkameraden mit den magischen Kräften und die Verkäuferin, die aussah, als sollte sie eigentlich in der Schule sein. Sie telefonierte, offenbar mit einem Freund, ihrem Freund. Lucia blieb einen Moment vor der Kasse stehen und tat, als interessiere sie sich für die Moleskine-Notizbücher, die davor aufgestapelt waren. Schließlich stützte sie die Ellbogen auf den Ladentisch und lächelte das Mädchen an.

»Hallo«, sagte sie.

Die Kassiererin drehte sich weg und murmelte etwas ins Telefon. Dann wandte sie sich wieder zu Lucia, den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt. »Hallo«, erwiderte sie. Lucia wusste nicht genau, ob sie die Augenbrauen hochzog oder ob sie so gezupft und gefärbt waren.

»Ich suche ein Jugendbuch«, begann Lucia und nannte dem Mädchen das wenige, was sie zwischen Elliots Fingern erkannt hatte.

Stirnrunzelnd sah das Mädchen auf den Computerbildschirm. Während ihre Nägel auf den Tasten klapperten, sprach sie weiter ins Telefon. Lucia erfuhr, dass irgendwo eine Party steigen würde. Irgendwer, der eigentlich hingehen sollte, ging nicht hin, und irgendwer, der nicht hingehen sollte, ging doch hin.

»Lloyd Alexander«, sagte das Mädchen nach einer Weile. »Schauen Sie mal bei den Jugendbuchklassikern. Nein, nicht du«, sagte sie in den Hörer, sah Lucia an und deutete mit dem Kinn in den hinteren Teil des Ladens.

Es war Fantasy. Wirklichkeitsflucht. Nicht unbedingt ein Genre, in dem sich Lucia auskannte, aber sie konnte sich vorstellen, welche Anziehungskraft es auf einen Jungen ausüben musste, dem die Realität keinerlei Zuflucht bot. Die Erstausgabe von Das Buch der Drei war erschienen, als Lucia noch nicht einmal geboren war. Selbst die Ausgabe, die sie jetzt in Händen hielt, hatte einen gräulich gelben Schnitt, verfärbt wie Raucherfinger. Sie stellte das Buch zurück und ließ den Blick über die Regale schweifen. Dabei entdeckte sie die Namen von Autoren, die sie einst verehrt, aber schon vor langer Zeit vergessen hatte. Byars, Blume, Blyton. Milne, Montgomery, Murphy. Doch die Bücher, die sie gelesen hatte, würden ihn nicht interessieren. Sie kam zum Ende des Klassiker-Regals und wollte schon wieder gehen, aber bevor sie sich umdrehen konnte, sprang ihr ein Titel ins Auge. Mit dem Zeigefinger hebelte sie das Buch heraus. Obwohl der Umschlag neu gestaltet war, kannte sie das Bild darauf. Lächelnd blätterte Lucia das Buch von hinten her durch und hielt ab und zu inne, um einen Satz, einen Teil eines Dialogs oder eine Kapitelüberschrift zu lesen. Dann ging sie damit zur Kasse.

 

Lucia hatte sich eine Retourkutsche überlegt, aber Walter war nicht an seinem Platz. Das Department war so gut wie leer.

Lucia steckte den Kopf zur Tür des Chief Inspector hinein. »Wo sind die denn alle?«, fragte sie.

»Er ist vor Gericht«, antwortete Cole. Er bohrte einen Zeigefinger in seine Oberlippe und blickte finster in einen Spiegel, der nahezu flach auf seinem Schreibtisch lag.

»Wer? Was?«

»Nun, Ihr Verlobter. Er sagt vor Gericht aus.« Der Chief Inspector musterte Lucia kurz, bevor er sich wieder sich selbst widmete. »Was hat der Kleine gesagt?«

Er wollte, dass sie ihn fragt, woher er von ihrem Besuch bei Elliot wusste, und sie wollte ihn auch fragen, aber stattdessen sah sie zu, wie er sich den Finger in die Oberlippe drückte und zusammenzuckte. Sie ging zu ihm hinein. Die Neugier musste ihr im Gesicht geschrieben stehen.

»Einer der Polizisten hat Sie gesehen«, sagte Cole. »Im Krankenhaus. Also, was hat er gesagt?«

»Nichts. Er redet nicht.«

Cole murrte. »Sie wissen, dass es keine Rolle spielt, oder? Sie wissen, dass es nichts mit diesem Fall zu tun hat.«

»Es gibt eine Verbindung.«

»Nein, es gibt keine Verbindung.«

»Natürlich gibt es eine. Zwischen allem besteht eine Verbindung.«

»Zwischen allem besteht eine Verbindung? Sie haben noch bis Montag Zeit, Lucia. Denken Sie daran, nur noch bis Montag.«

Lucia sah auf die Uhr. »Haben Sie Price gesehen?«

»Price? Was wollen Sie denn von Price?«

»Nichts. Ich meine, es ist nichts. Nichts Wichtiges.«

»Ich hab ihn jedenfalls nicht gesehen.«

»Schon gut.« Lucia war bereits im Gehen.

»Es gibt keine Verbindung, Lucia.«

Sie ging hinaus.

 

Price rauchte. Lucia stand dichter neben ihm als nötig.

»Feines Wetterchen, was?« Sie waren im Dachgeschoss, auf der Terrasse hinter der Kantine. Es hieß Terrasse, dabei war es eigentlich nur ein Balkon mit einer Bank und einem überquellenden Aschenbecher darauf. Price deutete zum Himmel, in das gnadenlose Blau. »Achtunddreißig Grad sollen es am Wochenende werden.« Er hustete geräuschvoll und zog an seiner Zigarette. »Du hast Glück, dass du keine Uniform mehr tragen musst. Diese Hosen lassen kein bisschen Luft durch. Fühlen sich an wie aus Gummi.«

Lucia besah sich ihre eigene Kleidung: dunkle Hose, weiße Bluse. Der einzige Unterschied zwischen Price’ Sachen und ihren war der, dass sie ihre selbst bezahlen musste.

»Was weißt du über den kleinen Samson?«, fragte Lucia. »Elliot Samson.«

Price zog die Stirn in Falten und blies einen Schwall Rauch aus den Nasenlöchern. »Mein Gott, Lucia. Es ist so ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Warum musst du jetzt damit anfangen?«

Lucia sah zu, wie Price seine Zigarette an der Mauer ausdrückte, den Aschenbecher neben sich ignorierte und den Stummel Richtung Skyline schnippte.

»Hat er mit dir gesprochen?«, fragte sie. »Hat er irgendwas gesagt?«

Price schüttelte den Kopf. »Konnte er nicht. So zerfleischt, wie sein Gesicht war.«

»Er war bei Bewusstsein?«

»Jep. Bis zu dem Moment, als der Krankenwagen gekommen ist und ihn eingeladen hat. Vielleicht sogar noch ein bisschen länger. Er hat jeden Hieb, jeden Schnitt und jeden Biss mitbekommen.«

»Und wer war es? Weißt du das?«

»Klar weiß ich’s. Und so wie’s aussieht, wissen es eine ganze Menge Leute.«

»Und?«

»Und was? Der Kleine macht den Mund nicht auf. Keiner will was gesehen haben. Und die Schule kümmert es anscheinend nicht.« Price nahm noch eine Zigarette aus der Schachtel in seiner Hemdtasche. »Dieselbe Schule, stimmt’s?«

Lucia sah hinab auf den Verkehr. Ein Lieferwagen hatte neben einem Taxi gehalten, das in die entgegengesetzte Richtung gefahren war. Die Fahrer lehnten sich aus den Fenstern, fuchtelten mit den Armen, gestikulierten hektisch und ignorierten die hupenden Autos, die hinter ihnen feststeckten. »Entschuldige bitte, was hast du gesagt?«

»Dieselbe Schule. Der Amoklauf. Die Lehrer. Es ist dieselbe Schule, stimmt’s?«

»Ja, dieselbe Schule«, erwiderte Lucia.