Können Sie sich vorstellen, Detective Inspector May, in welcher Krise sich der Mathematikunterricht in diesem Land befindet?
Natürlich nicht. Woher auch?
Werden Sie eine Pension beziehen, Detective? Haben Sie eine Hypothek? Aber Sie zahlen doch sicher Miete. Geld kommt rein, Geld wird ausgegeben. Es wird mehr ausgegeben, als reinkommt, da bin ich sicher. Es ist nicht meine Absicht, ein Urteil zu fällen, Detective, aber das ist bei den meisten Menschen der Fall. Und wollen Sie auch wissen, warum? Ich sage es Ihnen: Weil der Großteil der Erwachsenen in diesem Land kaum in der Lage ist, die eigenen Zehen zu zählen, wenn ihnen beim Hinabsehen nicht ohnehin der Bauch im Weg ist. Das ist seit den sechziger Jahren so, und es wird so bleiben bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn sich in diesem Land nicht schleunigst etwas ändert.
Taschenrechner, Handys, PCs, Elektrochips im Gehirn oder welche sogenannten technischen Errungenschaften auch immer man uns als Nächstes aufdrängen wird: Sie alle zerstören die Denkfähigkeit des Menschen. Und die Mathematik – die Addition, Subtraktion, Multiplikation und die schriftliche Division –, die hat als Erstes darunter gelitten. Die Kinder wollen sie nicht mehr erlernen. Die Regierung will keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stellen. Die Lehrer wollen sie nicht unterrichten. Wozu?, fragen sie. Der Mathematik fehlt der Glamour, Detective. Ist unsexy. Die Kinder scheren sich nicht um Pensionsansprüche. Sie bleiben ewig jung, wussten Sie das etwa nicht? Unsere Minister interessieren sich nicht für rechnerische Fähigkeiten. Sie interessieren sich für Bäume, Recycling und strukturelle Beschäftigungsmaßnahmen für die Armen. Und die Lehrer. Nun ja. Ich fürchte, die Lehrer interessieren sich ausschließlich für sich selbst.
Die jungen Leute, die Hochschulabsolventen, die hätten die Chance, etwas zu verändern. Sie hätten die Gelegenheit, ein Fach zu unterrichten, aus dem die Schüler wirklich etwas mitnehmen. Aber wenn sie es selbst nicht verstehen, wie sollen sie es dann vermitteln? Und wenn niemand sonst Lust dazu hat, warum sollte es bei ihnen anders sein? Es ist zu anspruchsvoll. Zu schwierig. Der Mathematiklehrer ist infolgedessen eine aussterbende Art, eine gefährdete Spezies, die niemandem einen Rettungsversuch wert ist. Mr. Boardman unterrichtet an dieser Schule schon seit siebenundzwanzig Jahren Mathematik. Seit siebenundzwanzig Jahren, Detective. Können Sie sich irgendjemanden unter vierzig vorstellen, der bereit ist, eine Sache länger als siebenundzwanzig Minuten zu verfolgen? Anwesende ausgenommen, hoffe ich doch. Und wenn Mr. Boardman in den Ruhestand geht, was er eines Tages zweifellos tun wird, mit wem werde ich seine Stelle dann besetzen? Vielleicht finde ich einen Chinesen. Einen Ukrainer, wenn ich Glück habe.
Stattdessen bekomme ich Geschichtslehrer. Geschichte. Die Lehre von Schwertern, Stupidität und Schande. Genau das Richtige, um einen Heranwachsenden auf seine künftige Verantwortung als Steuerzahler und Staatsbürger vorzubereiten. Wenn ich es zu entscheiden hätte, würden wir dieses Fach nicht anbieten. Wir würden Mathematik, Grammatik, Physik, Chemie und Wirtschaftslehre unterrichten. Aber die Eltern wünschen es. Die Regierung verlangt es. Sie schreiben uns ihre Lehrpläne vor und beauftragen uns, Geschichte, Geographie, Biologie und Gesellschaftslehre zu unterrichten. Wir müssen klassische Literatur lehren.
Ich frage Sie.
Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keine Universität besucht haben?
Gut. Ich nehme das zurück. Und nun sagen Sie mir doch bitte, was haben Sie studiert? Nein, sagen Sie nichts. Ihr Blick verrät alles. Und in gewisser Weise, meine Liebe, sind Sie ein typisches Beispiel. Was hat Ihnen Ihr Geschichtsstudium gebracht, außer, dass es Sie noch weiter zurückgeworfen hat, als Sie zu Beginn waren? Sie sind jetzt wie alt? Dreißig.
Dann also zweiunddreißig. Wären Sie mit sechzehn zur Polizei gegangen, könnten Sie jetzt schon Oberinspektorin sein. Kommissarin.
Aber ich schweife ab. Was ich sagen will: Als Amelia Evans ging – und sie schied nicht vorzeitig aus dem Dienst, das möchte ich betonen –, hatten wir keine Wahl. Wir brauchten einen Lehrer, der die Ehefrauen von Heinrich VIII. in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen weiß, der auf der Karte das Schlachtfeld bei Bosworth zeigen kann und der das Datum der Krönung von Queen Elizabeth im Kopf hat. Der ersten Queen Elizabeth, wohlgemerkt. Gott bewahre, dass die Schüler irgendetwas Relevantes über das Land lernen, in dem sie leben.
Es war der Name, der meine Neugier weckte. Ein Russe, vermutete ich. Ein Osteuropäer. Jemand aus einem Land, in dem man noch die pädagogische Bedeutung der Arithmetik als eine der drei Grundfertigkeiten anerkennt. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig, Detective. Ich durchkämme die rückständigen Regionen dieser Welt nach jemandem, der mir hilft, die Zukunft unseres Landes zu sichern.
Es war ein Fehler. Natürlich war es ein Fehler in Anbetracht der jüngsten Ereignisse, aber es war auch a priori ein Fehler. Ich bin ein Mensch, der sich zu seinen Verfehlungen offen bekennt, Detective, und in diesem Fall kann ich meinen Irrtum nur eingestehen. Ich habe mir ein vorschnelles Urteil über ihn gebildet. Ich wollte, dass er der Schablone entspricht, die ich im Kopf hatte, und als das nicht der Fall war, habe ich die Schablone passend gemacht.
Dessen ungeachtet wusste ich von Anfang an, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Das weiß man einfach, finden Sie nicht auch? Er schien ein netter Kerl zu sein, sagt man das nicht so? Ruhig, zurückhaltend. Konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, wie es so schön heißt. Sicher, er war sehr still. Introvertiert, und ich traue introvertierten Menschen nicht über den Weg. Extrovertierten ebenso wenig. Der Mensch braucht Ausgeglichenheit, Detective, da stimmen Sie mir sicher zu. Auf Worte müssen Taten folgen, und Mitgefühl braucht Entschlossenheit, das gilt für Ihren Beruf ebenso wie für jeden anderen. Guter Cop, böser Cop, habe ich recht?
Er hatte einen dünnen, unvorteilhaften Bart. Er war durchschnittlich groß, von durchschnittlichem Körperbau und in jeder Hinsicht durchschnittlich gekleidet. In anderen Worten, wenig beeindruckend, wenngleich er keinen unordentlichen Eindruck machte. Er sah eben aus wie ein Geschichtslehrer, Detective.
Er saß da, wo Sie jetzt sitzen. Er wartete, bis ich ihm einen Platz anbot. Er lächelte nicht, als er mir die Hand gab, und er nahm auch nur meine Fingerspitzen. Es war der Händedruck einer Frau, Detective, und ich würde sagen, in diesem Moment wusste ich Bescheid.
Ja, ich weiß. Ich habe ihn eingestellt. Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken. Ja, ich habe ihn eingestellt, und, wie ich bereits sagte, es war ein Fehler. Glauben Sie mir, es hat mein Selbstvertrauen erschüttert. Meine Menschenkenntnis ist etwas, worauf ich stolz bin. Nun, Sie wissen ja, was man über Stolz sagt. Beim nächsten Mal vertraue ich meinem Instinkt. Ich habe mein eigenes Urteil angezweifelt, das war mein Fehler. Wir brauchten einen Lehrer, und Samuel Szajkowski war der am wenigsten unterqualifizierte einer wahrlich nicht begeisternden Truppe.
Was noch? Viele Kleinigkeiten. Seine Versuche, humorvoll zu sein, zum Beispiel.
Wie spricht man das aus?, habe ich ihn gefragt und auf seinen Namen auf dem Lebenslauf gezeigt.
Schai-kow-ski, sagte er, und ich fragte ihn, woher er stamme.
Es ist ein polnischer Name. Mein Großvater war Pole.
Verstehe. Sprechen Sie denn Polnisch?
Nein, eigentlich nicht.
Nicht so richtig.
Ich kenne ein paar Wörter, mehr oder weniger nützliche. Eher weniger. Aber ich kann kein einziges richtig schreiben.
Verstehen Sie, was ich meine? Er scherzte über seine eigenen Unzulänglichkeiten. Und das in einem Vorstellungsgespräch, um Himmels willen. Ich habe nicht gelacht, und wir fuhren fort.
Warum Schule, Mr. Szajkowski? Was hat Sie dazu gebracht, Lehrer zu werden?
Szajkowski nickte und schien für einen Moment nachzudenken. Ich kann mir nichts Lohnenderes vorstellen, Mr. Travis. Mein Vater war Arzt, und meine Mutter hat in einer Bank gearbeitet. Keiner von beiden war mit seinem Beruf glücklich.
Das sind ehrbare Berufe, junger Mann. Wichtige Berufe.
Oh, da stimme ich Ihnen zu. Aber das ist der Lehrerberuf auch. Er wird zwar nicht besonders gut bezahlt, aber können Sie sich etwas Befriedigenderes vorstellen? Wieder dachte er nach. Ich glaube, Sinn ist das Wort, nach dem ich suche, sagte er. Der Lehrerberuf hat meiner Ansicht nach einen Sinn. Einen echten Sinn.
Auch diese Antwort gefiel mir nicht. Sie erschien mir wichtigtuerisch, und sie erschien mir kalkuliert. Er könnte sie in einem Buch gelesen haben.
Er bat um ein Glas Wasser. Ich hatte ihm keins angeboten, aber er bat trotzdem darum. Ich ließ ihm von Janet eins bringen, und er dankte ihr recht unterwürfig. Er trank einen großen Schluck und wirkte dann unsicher, wusste nicht, wohin mit dem Glas. Er wollte es auf meinen Schreibtisch stellen, überlegte es sich aber anders. Schließlich behielt er es einfach in der Hand, in seinem Schoß. Ich sah genau, dass er bereute, darum gebeten zu haben, aber ich bot ihm nicht an, es ihm abzunehmen. Wie käme ich dazu?
In einer idealen Welt, sagte ich zu ihm, würden wir Sie nur die jüngeren Schüler unterrichten lassen. Die Jahrgangsstufen sieben, acht, neun, zehn. Aber wir leben nun einmal nicht in einer idealen Welt, und bei uns herrscht Personalmangel.
Szajkowski nickte, schien zu verstehen. Ich war mir aber keineswegs sicher, ob er es wirklich verstand.
Sie würden Schüler auf ihre Abschlussprüfung vorbereiten, sagte ich. Mittlere Reife, sogar A-Level. Und das nicht nur in Geschichte, Mr. Szajkowski. Manchmal werden Lehrer krank. Ich ermuntere zwar niemanden dazu, aber es kommt trotzdem vor. Das ist die harte Realität. Und wenn Lehrer krank werden, müssen andere Lehrer ihren Unterricht übernehmen.
Es wäre mir ein Vergnügen, Mr. Travis. Ich bin überaus gewillt, meinen Teil beizutragen.
Das ist ein Dauerzustand, Mr. Szajkowski. Es wird keine Atempause geben, solange Sie hier bei uns arbeiten, das kann ich Ihnen versichern. Vorausgesetzt natürlich, wir entschließen uns dazu, Sie einzustellen.
Selbstverständlich, sagte er und nickte wieder recht ernst. Ich weiß Ihre Warnung zu schätzen, ebenso, wie ich es zu schätzen wüsste, wenn Sie mir eine Chance gäben. Die Situation hier ist ganz sicher nicht ungewöhnlich. Ich nehme an, dass an so ziemlich jeder anderen staatlichen Schule vergleichbare Anforderungen gestellt werden.
Wieder eine Spur von Arroganz, als stünde es ihm zu, mich über den Zustand des Bildungssystems in diesem Land zu belehren. Aber ich ließ die Sache auf sich beruhen. Er wird seine Unerfahrenheit noch früh genug zu spüren bekommen, sagte ich mir.
Bevor er ging – kurz bevor er mein Zimmer verließ und dabei immer noch dieses unsägliche Glas umklammerte –, stellte ich ihm eine weitere Frage, und zwar nach seiner Einstellung zu Geschichte. Ich fragte ihn, was Geschichte seiner Meinung nach sei.
Ob ich Carr gelesen habe, wollen Sie das wissen?, fragte er. Zugegeben, ich war sprachlos. E. H. Carr, Detective. Neben Ihnen im Regal steht das Buch. Ein absolut indiskutables Werk. Recht luzid, aber vollkommen töricht. Jedoch könnte man einen Geschichtslehrer, der es nicht gelesen hat, ebenso gut durch ein Buch ersetzen.
Und was halten Sie von Mr. Carrs Hypothese?, fragte ich ihn.
In Teilen stimme ich ihm zu. Aber insgesamt fand ich seine Argumente zu geschraubt. Ein wenig aufgeblasen. Geschichte ist, was sie ist. Sie kann die Zukunft nicht voraussagen, aber sie kann uns verstehen helfen, wer wir sind und woher wir kommen. Geschichte lebt vom Kontext, sagte er, und ohne Kontext geht jegliche Bedeutung verloren.
Das beeindruckte mich, muss ich gestehen. In intellektueller Hinsicht zeigte er ein gewisses Rückgrat, auch wenn sein Auftreten so etwas vollkommen vermissen ließ. An seiner Qualifikation bestand allerdings nie Zweifel. Eine gute Schule, eine ehrwürdige Universität – keine dieser ach so tollen Fachhochschulen – und solide Noten. Ein A-Level in Mathematik, denken Sie nur. Er war intelligent. Unerfahren, aber intelligent, und weil er so unerfahren war, war er billig.
Wir haben jetzt Vorgaben, Detective. Wir haben Vorgaben, die erfüllt werden wollen, und Konten, die ausgeglichen sein müssen. Sehen Sie mich ruhig skeptisch an, aber ich kann nicht außer Acht lassen, welche Kosten das Kapital verursacht, in das wir investieren, ob menschliches oder anderweitiges. Glauben Sie mir, ich würde es gern. Der Umgang mit Geld beschmutzt Seele und Fingerspitzen gleichermaßen. Die Buchhaltung kann eine schäbige Angelegenheit sein. Aber sie ist notwendig, und lieber kümmere ich mich selbst darum, als dass ich sie Bürokraten überlasse, die keinerlei Gespür für das Funktionieren einer Schule haben.
Es gab einige Aspekte an Szajkowskis Bewerbung, die es schwergemacht hätten, ihn nicht einzustellen: Er hatte glänzende Referenzen; sein Lebenslauf war ausgesprochen geradlinig. In seiner Vergangenheit gab es weder einen Hinweis auf Kriminalität noch den geringsten Anhalt dafür, wozu er fähig sein würde. Jede Schule in unserer Lage hätte so gehandelt wie wir, Detective, und wer Ihnen etwas anderes erzählt, ist entweder ein Narr oder ein ausgemachter Lügner.
Aber Sie fragten, was an ihm anders war. Sie fragten, woher mein Zweifel rührte.
Also, sein Händedruck und sein Verhalten. Sein Versuch, Humor zu zeigen, auch wenn er es bei dem einen Mal beließ. Er wirkte nicht nervös, und das bin ich nicht gewohnt, denn ich bin mir bewusst, dass ich die meisten Menschen nervös mache. Er war eher reserviert – und etwas arrogant. In vielerlei Hinsicht war er genau so, wie ich gehofft hatte, dass er nicht wäre.
Alles sehr subjektiv, ich weiß. Alles sehr schwammig. Aber ich sagte ja bereits, Detective, ich rede in erster Linie über intuitives Wissen. Nichts besonders Handfestes, das Sie weiterbrächte, und nichts, was die Entscheidung, ihn nicht einzustellen, gerechtfertigt hätte. Aber das ist ja das Problem mit dem Bauchgefühl, nicht wahr? Es kann sehr stark sein, übermächtig sogar, und doch jeder Grundlage entbehren. Es ist nicht logisch, wissenschaftlich nicht erklärbar und diffus. Und doch behält es so oft recht.
Was für eine Vergeudung. Was für eine Vergeudung von jungem Leben. Sarah Kingsley, wir hatten so große Hoffnungen in sie gesetzt. Felix hatte seine Probleme, und mit Donovan gab es nichts als Scherereien. Ein unheimlich kluges Köpfchen, doch er machte nur Scherereien. Aber Sarah. Sarah hätte vielleicht das Zeug für Oxford gehabt, Detective. Es sind Schüler von genau diesem Format, die wir an unsere Schule zu holen versuchen. Ganz genau von diesem Format.
Wohlan. Noch einen Tee? Soll ich Janet noch ein paar Kekse bringen lassen?