1. Emotionen und Schreiben
Gefühle erkennen
Viele Menschen besuchen eine Schreibwerkstatt oder fangen zu Hause mit dem Schreiben an, weil sie Erlebnisse und Erfahrungen verarbeiten und sich über ihre Gefühle klar werden wollen. Dieser therapeutische Aspekt des Schreibens kann auch erfahrenen Autoren wichtig sein. Durch Erinnern, Erzählen und Sprechen sollen Gefühle hervorgerufen und bewusst gemacht werden, denn unterdrückte und verdrängte Gefühle können krank machen oder zerstörerisch wirken. Nicht selten ist Gewalt ein Resultat unterdrückter Gefühle. Erst Gefühle, die man sich bewusst gemacht hat, kann man verarbeiten und damit auch bewältigen. Schon das Tagebuchschreiben kann auf diesem Weg eine wichtige Hilfe sein. Aber das literarische Schreiben ist mehr als Therapie, denn dazu benötigt man Distanz zu seinen Gefühlen. Das Formen von Gefühlen im literarischen Text ist eine eigenständige ästhetische Leistung, die nicht mit den eigenen Gefühlen des Autors identisch zu sein braucht. Für schriftstellerische Professionalität ist eine solche Distanz Bedingung.
Viele Menschen müssen den Umgang mit ihren Gefühlen erst erlernen, denn oft erleben wir unsere Gefühle als diffus, chaotisch und gestaltlos. Durch Schreiben gibt man ihnen eine Form, sie sind dann weniger bedrohlich, besonders bei Ängsten und depressiven Gefühlen. Die Depression vermag alle anderen Gefühle zu unterdrücken, bis man nichts anderes mehr zu empfinden meint. Gabriele Rico vergleicht die Depression mit einer »immer tiefer führenden Spirale nach unten«. Über das Schreiben sagt sie: »Schon wenn ich den Stift aufs Papier setzte, begannen sich meine erstarrten Gefühle zu lösen. Eine nie gekannte Entspannung erfüllte mich. Letztendlich konnte ich nur beim Schreiben die abwärts führende Spirale vergessen und entdecken, wo das Ich in seinem stillen Mittelpunkt ruhte. Und endlich begann sich die Spirale aufwärts in Richtung Heilung zu bewegen.«
Als Vorarbeit zum Schreiben empfiehlt sie das »Clustering«. Ein Cluster (Haufen) ist eine Skizze auf einem großen Blatt Papier. Um ein Kernwort oder Kernereignis sammelt man Assoziationen. Ohne länger darüber nachzudenken, schreibt man auf, was spontan in den Sinn kommt. Denn das Spontane ist es meist, das den Emotionen am nächsten ist. Weil nicht lange reflektiert wird, artikulieren sich die Gefühle, und zwar oft ganz unbewusst. Auf dem Papier entsteht ein Gebilde aus unterschiedlichen Begriffen und Stichworten, in einer bestimmten, nicht geplanten Form, die die Gewichtung der Gefühle erahnen lässt. Man erkennt, welche Assoziationen besonders stark besetzt sind. An den dichtesten Stellen können Sie vielleicht den Erzählstoff erkennen. Auch als erfahrener Autor können Sie solche Techniken einsetzen, wenn Sie nach einer Idee suchen oder eine Schreibblockade haben.
Anregung
Spontan-Cluster
Schlagen Sie blind ein Lexikon auf und legen Sie den Finger auf ein Wort, das Sie als Kernwort für Ihr Cluster nehmen. Schreiben Sie Ihre ersten Assoziationen in die Nähe des Kernwortes. So geht es weiter: Um jede Assoziation wird ein Kreis gezogen und mit der nächsten Assoziation durch eine Linie verbunden. Jetzt betrachten Sie Ihr Cluster: An welcher Stelle häufen sich Ihre Stichwörter? Liegt darin eine Idee für einen Text?
Anregung
Sprachskizzen
Schreiben Sie in Form kleiner Gedichte oder Prosatexte etwas auf, das Sie bewegt – ohne den Text weiter zu formen oder zu gestalten. Oftmals entstehen dabei bemerkenswert dichte kleine Texte, die zeigen, was Ihnen wichtig ist.
Die ersten Formen der literarischen Verarbeitung von Gefühlen sind einzelne sprachliche Bilder oder sprachmelodische Sequenzen. Als Einstiegstexte eignen sich Entwürfe von Gedichten oder lyrischer Prosa, bei denen die einzelnen Elemente locker miteinander verknüpft sind. Solche Augenblickstexte führen Sie weg vom rein funktionalen, informativen Sprachgebrauch und nähern Sie den emotionalen Schwingungen Ihrer Worte und Formulierungen an.
Anregung
Augenblickstext
Beginnen Sie mit einem Augenblickstext zum Stichwort »Heute«. Wo bin ich gerade? Was fühle ich jetzt? Was habe ich hinter mir gelassen oder ausgeblendet, als ich mich an den Schreibtisch gesetzt habe?
Anregung
Bildskizzen
Sie können auch andere Übungen ausprobieren, um Ihre Gefühle zu erkennen. Es gibt viele Varianten des Impulsschreibens. Bildliche, gegenständliche oder musikalische Reize können Ihre Gefühle und die Schreiblust anregen. Stellen Sie eine kleine Skulptur oder ein Bild auf den Schreibtisch und assoziieren Sie, was Ihnen einfällt. Vielleicht erinnern Sie sich an ein Ereignis oder eine Personen, die Sie inspiriert?
Anregung
Musikskizzen
Hören Sie sich Melodien an, die in Ihrem Leben etwas bedeutet haben. Was empfinden Sie dabei? Können Sie dafür sprachliche Bilder finden? Versuchen Sie sich zur Musik eine Landschaft vorzustellen, den Ort, an dem Sie die Musik gehört haben. Er kann ein Bindeglied zwischen der Musik und den Menschen sein, an die Sie die Musik erinnert. Vielleicht weckt die Musik aber auch Gefühle, die von den Klängen selbst ausgehen. Denken Sie an ein wogendes Meer, das der Sturm aufgewühlt hat? Oder an eine stille Winterlandschaft? An eine Wiese am Waldrand, von deren Rändern Vogelgesang ertönt?
Anregung
Farbskizzen
Eine anderer Ausgangspunkt sind Farben. An welche Farben erinnern Sie die Töne, die Sie hören? Legen Sie Stifte oder Wasserfarbe und Papier bereit und malen Sie die Farben. Danach können Sie ein Gedicht über die Farben schreiben. Ihre Erinnerung an das Musikstück wird darin mitschwingen.
Sie wollen über ein bestimmtes Gefühl schreiben – und ein ganz anderes entsteht. Sie wollen über die Liebe schreiben, und es meldet sich eine Enttäuschung. Sie wollen über die Freude über den Frühling schreiben, und heraus kommt eine Winterdepression. Sie wollen Mitmenschlichkeit und Solidarität in den Mittelpunkt Ihres Textes stellen – und plötzlich kommt Ihnen alles spaßig vor. Sie beginnen mit einem ganz erhabenen Gefühl – und heraus kommt eine Persiflage. Und wenn Sie beginnen, einen Text zu überarbeiten, ist es plötzlich der Text, der die Gefühlslage bestimmt. Er gibt den Ton an, und Sie folgen, indem Sie versuchen, noch dichtere, noch treffendere Formulierungen zu finden. Ab jetzt sind Sie gebunden. Hier beginnt das professionelle Schreiben: Ihr Text ist ein eigenständiges Gegenüber geworden mit seiner eigenen emotionalen Sphäre. Sie stehen im Dialog mit ihm, er ist widerständig, Sie müssen ihm entsprechen – oder ihn verwerfen.