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Alle stehen noch immer unter Schock. Ich meine, natürlich ist es toll, dass Tom und Jess verheiratet sind. Es ist super. Es ist nur so, dass es uns allen so vorkommt, als hätten wir einen Schritt ausgelassen.

Mussten sie es denn unbedingt in Chile in irgend einem kleinen Standesamt machen, mit nur zwei Zeugen, ohne dass wir wenigstens über Skype dabei sein konnten? Wir hätten eine Party feiern können. Wir hätten ihnen zuprosten können. Jess sagt, es gab nicht mal ein Gläschen Champagner. Offenbar haben sie irgendein Bier aus der Gegend getrunken.

Bier!

Manchmal verstehe ich Jess einfach nicht, und ich werde es wohl auch nie. Kein Hochzeitskleid. Keine Blumen. Kein Fotoalbum. Kein Champagner. Von der ganzen Hochzeit ist ihr nur ein Ehemann geblieben.

(Ich meine, natürlich ist der Ehemann die Hauptsache, wenn man heiratet. Absolut. Das ist ja selbstverständlich. Aber trotzdem, nicht mal ein Paar Schuhe?)

Und die arme, alte Janice! Als die beiden ihre Neuigkeit verkündet haben, ging es in ihrem Gesicht auf und ab wie auf einer Achterbahn. Man sah, dass sie verzweifelt versuchte, glücklich und wohlwollend auszusehen, als sei eine Heirat im fernen Chile, zu der sie nicht mal eingeladen war, genau das, was sie sich seit langem schon erhofft hatte. Nur dass eine winzig kleine Träne im Augenwinkel sie verriet. Besonders nachdem Jess sagte, sie wollten weder einen Empfang im Golfclub, noch eine Hochzeitsliste bei John Lewis, und sich dann auch noch rundweg weigerte, in ein weißes Kleid aus dem Brautmodenverleih zu steigen und mit Janice und Martin im Garten zu posieren.

Janice sah dermaßen unglücklich aus, dass ich mich freiwillig dafür gemeldet habe. Es klang eigentlich ganz lustig, und neulich habe ich sogar ein paar traumhafte Hochzeitskleider im Schaufenster bei Liberty gesehen ...

Egal. Ich schätze, das war vielleicht doch nicht der entscheidende Punkt.

Ich trage mein Lipgloss fertig auf und trete zurück, um mich im Spiegel zu betrachten. Ich hoffe nur, dass Janice heute bessere Laune hat. Schließlich soll es doch ein Fest werden.

Ich streiche mein Kleid glatt und tanze eine kleine Pirouette vor dem Spiegel. Ich trage dieses atemberaubende, dunkelblaue Kleid mit dem Kunstpelzsaum, lange Button Boots und einen Kunstpelzmuff, dazu einen langen Mantel mit Bortenbesatz und einen riesigen Kunstpelzhut.

Minnie sitzt auf meinem Bett und probiert alle meine Hüte auf, was ihre Lieblingsbeschäftigung ist. Sie trägt auch ein kleines Kleid mit Pelzbesatz und weiße Stiefel, mit denen sie wie eine Schlittschuhläuferin aussieht. Ich stehe dermaßen auf dieses russische Thema, dass ich schon halb mit dem Gedanken spiele, Reverend Parker zu bitten, sie »Minska« zu taufen.

Minska Katinka Karenina Brodsky Brandon. »Komm mit, Minska!«, sage ich probehalber. »Zeit, getauft zu werden! Nimm den Hut ab!«

»Mein« Sie klammert sich an meinen roten Philip Treacy mit der großen Feder.

Sie sieht so niedlich aus, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihn ihr wegzunehmen. Wen kümmert es schon, ob sie einen Hut trägt?

»Okay, mein Schatz.« Ich gebe nach. »Du darfst den Hut tragen. Aber jetzt gehen wir. « Ich reiche ihr die Hand.

»Mein.« Augenblicklich klammert sie sich an die Balenciaga Tasche, die auf dem Bett lag. »Mein. Meeeiiiin.«

»Minnie, das ist Mamis Tasche«, erkläre ich langmütig. »Du hast deine eigene kleine Tasche. Wollen wir sie suchen?«

»Meeeeiiiin! Meeeeiiiin Tasche!«, schreit sie wütend und weicht vor mir zurück. Sie hält sich an der Balenciaga-Tasche fest, als wäre es der allerletzte Rettungsring auf dem weiten

Meer und sie hätte keineswegs die Absicht, diesen loszulassen.

»Minnie ... «, seufze ich.

Fairerweise muss ich sagen, dass sie nicht unrecht hat. Die Balenciaga-Tasche ist viel hübscher als ihre kleine Spielzeugtasche. Ehrlich gesagt: Wenn ich getauft werden sollte, würde ich auch eine Balenciaga-Tasche wollen.

»Na gut, okay. Du kriegst sie, und ich nehme die Miu Miu. Aber nur für heute. Jetzt gib mir diese Sonnenbrille ... «

»Meeeiiin! Meeeiiin!«

Sie klammert sich an das Retromodell aus den 70ern, das sie vorhin von meinem Schminktisch genommen hat. Es sind rosa Herzchen drauf, und das Ding rutscht ihr ständig von der Nase. »Minnie, du kannst nicht mit der Sonnenbrille zu deiner Taufe gehen. Sei nicht albern!« Ich versuche, streng zu klingen. Obwohl das eigentlich ein ganz cooler Look ist, mit dem Hut, der pinken Brille und der Balenciaga-Tasche. »Na gut, okay«, sage ich schließlich. »Aber mach sie nicht kaputt.«

Als wir in unseren Russenkleidern vor dem Spiegel stehen, ergreift mich ein gewisser Stolz. Minnie sieht einfach anbetungswürdig aus. Vielleicht hat Suze recht. Vielleicht wird Luke seine Meinung heute ändern. Er wird sehen, wie liebenswert sie aussieht und augenblicklich weich werden und beschließen, dass er eine zehnköpfige Brut zeugen möchte.

(Oder lieber nicht. Nie im Leben mache ich das mit der Geburt zehnmal durch. Selbst zweimal ist schon viel verlangt, und noch mal halte ich es nur aus, indem ich mich auf die beiden Bommelhüte konzentriere.)

Apropos Luke. Wo ist er eigentlich? Er wollte heute früh kurz mal rüber ins Büro, hat aber geschworen, dass er vor elf zurück ist. Und jetzt ist es schon zehn nach.

Alles okay?, simse ich eilig. Du bist doch unterwegs, oder? Dann nehme ich Minnies Arm. »Komm!« Ich strahle sie an. »Zeit für deinen großen Auftritt!«

Als wir nach unten gehen, höre ich die Leute vom Partyservice herumwuseln, und Dad summt vor sich hin, während er seine Krawatte bindet. In der Diele stehen Blumengebinde, und auf dem Tisch werden Gläser arrangiert.

»Ich rufe dich von der Kirche aus an ... «, sagt Mum gerade zu jemandem, als sie aus der Küche kommt.

»Oh, hi, Mum.«, Überrascht starre ich sie an. Sie trägt den japanischen Kimono, den Janice ihr aus Tokio mitgebracht hat, ihr Haar ist zu einem Dutt zurückgekämmt, und die Füße stecken in kleinen Seidenslippern. »Was machst du in dem Aufzug? Solltest du nicht längst umgezogen sein?«

»Das ist das, was ich anziehe, Liebes.« Unsicher klopft sie sich ab. »Janice hat ihn mir mitgebracht. Weißt du noch? Reine Seide. Wunderbare Qualität.«

Habe ich irgendwas verpasst? »Das ist hübsch. Aber es ist japanisch. Das Thema ist Russland. Schon vergessen?«

»Oh.« Mum sieht sich vage um, als wäre sie von irgendetwas abgelenkt. « Na ja, so wichtig wird es schon nicht sein ... «

»Doch, ist es!«

»Ach, Liebes.« Mum zieht ein Gesicht. »Pelz kann ich nicht tragen. Von Tierhaaren krieg ich sofort einen Ausschlag, das weißt du doch. Ich habe mich so darauf gefreut, das hier anzuziehen. Und Janice hat den bezauberndsten japanischen Hochzeitsmantel, den man sich nur vorstellen kann. Du wirst begeistert sein ... «

»Was ... du meinst, Janice kommt auch im japanischen Outfit?«, falle ich ihr entrüstet ins Wort.

Ich hätte wissen sollen, dass so was passiert. Seit Janice aus ihrem Tokio-Urlaub zurück ist, ist Mum im Japanfieber. Selbst an den Bridge-Abenden gibt es jetzt Sushi. Entscheidend ist aber, dass ich das Sagen habe, und ich habe gesagt, das Thema ist Russland.

»Verzeihung, wenn ich unterbreche!« Eine fröhliche Frau vom Partyservice kommt mit einem zugedeckten Silbertablett vorbei. « Wohin soll ich die Asiatischen Platten stellen, Jane?«

Bitte?

»Entschuldigen Sie mal!« Ich rotiere zu ihr herum. „Ich habe russisches Essen bestellt! Kaviar, Räucherlachs, kleine russische Hefepfannkuchen, Wodka ... «

»Plus Asiatische Platten, Sushi und Sashimi.« Die Frau wirkt beunruhigt. « Stimmt das? Und Sake?« „Stimmt schon«, sagt Mum eilig. »Stellen Sie sie in die Küche. Danke, Noreen.« Ich verschränke die Arme und funkle Mum an. „Wer hat Sushi bestellt?«

« Möglicherweise habe ich die Speisekarte um das eine oder andere erweitert«, sagt Mum und scheint mir auszuweichen. »Nur um der Vielfalt willen.«

„Aber alles soll doch mit Russland zu tun haben!«

Am liebsten würde ich mit dem Fuß aufstampfen. Wozu braucht man ein Partythema, wenn alle es ignorieren und ihr eigenes Ding machen? Ohne dir etwas davon zu erzählen!

»Wir können doch zwei Themen haben, Liebes!«, schlägt Mum lächelnd vor.

»Nein, können wir nicht!«

»Es könnte eine Kombination von beidem sein. Japanisch-Russisch.« Sie nickt triumphierend. »Fusion Food ist doch heutzutage bei allen Prominenten total in.«

»Aber ... « Ich stocke mitten im Anlauf.

Japanisch-Russisch. Fusion Food. Im Grunde ist das ganz cool. Ich wünschte fast, ich wäre selbst darauf gekommen. »Du könntest dir ein paar Stäbchen ins Haar stecken. Das wäre bestimmt hübsch!«

»Na gut, okay«, sage ich schließlich zähneknirschend. »Das könnten wir vielleicht machen.« Ich nehme mein Handy hervor und simse Suze und Danny:

Hey. Neues Thema für heute: Russisch-Japanische Fusion. Bis später. xxx

Prompt kriege ich Antwort von Suze.

Japanisch?? Wie geht das? Sx

Stäbchen im Haar?, antworte ich.

Mum hat schon ein paar schwarze Lackstäbchen hervorgezaubert und versucht, sie mir ins Haar zu stecken. »Wir brauchen eine Klemme«, sagt sie. »Und was ist mit Luke?«

»Der will bestimmt keine Stäbchen in den Haaren.« Ich schüttle den Kopf. »Egal, wie das Thema heißt.«

»Nein, Dummchen!«, Mum schnalzt mit der Zunge. »Ich meine, kommt er gleich?«

Instinktiv sehen wir beide auf unsere Uhren. Mindestens fünfundsechzig Mal hat Luke versprochen, dass er nicht zu spät zur Taufe kommt.

Ich meine, wird er ja auch nicht. Würde er nicht tun.

Gott weiß, was diese Mega-Mammut-Krise bei der Arbeit zu bedeuten hat. Er will nicht darüber sprechen und auch nicht sagen, wer der Kunde ist. Aber irgendwas muss ziemlich schiefgelaufen sein, denn in den letzten zwei Tagen war er kaum zu Hause, und wenn er anrief, hat er kaum mehr als drei Sekunden was gesagt und schon wieder aufgelegt. Ich nehme mein Handy und schreibe ihm:

Kommst du gleich?? Wo bist du???

Einen Moment später plingt die Antwort:

Tue mein Bestes. L

Tue mein Bestes? Was soll das denn heißen? Sitzt er im Auto oder nicht? Es könnte auch bedeuten, dass er noch im Büro ist. Plötzlich spüre ich so einen Schmerz unter meinen Rippen. Er wird doch wohl nicht zu spät zur Taufe seiner Tochter kommen? Das kann er nicht machen!

»Wo ist Luke?« Dad kommt an mir vorbei. »Ist er schon in Sicht?«

« Noch nicht.«

»Er lässt sich ganz schön bitten, was?«, Dad zieht die Augenbrauen hoch. »Er wird schon kommen.« Ich bringe ein zuversichtliches Lächeln zustande. »Wir haben noch reichlich Zeit.«

Aber er kommt und kommt nicht. Die Leute vom Partyservice haben fertig aufgebaut. Alles steht bereit. Um zwanzig vor zwölf stehe ich mit Minnie in der Haustür und starre auf die Einfahrt. Ich habe ihm alle fünf Minuten geschrieben, inzwischen aber aufgegeben. Ich fühle mich wie in einem Traum. Wo ist er? Wieso ist er nicht hier? Was macht er nur?

»Schätzchen, wir müssen los.« Mum ist leise hinter mich getreten. »Inzwischen dürften die Gäste bei der Kirche sein.«

»Aber ... « Ich drehe mich um und sehe ihr verknittertes Gesicht. Sie hat recht. Wir können nicht alle anderen im Stich lassen. »Okay, gehen wir.«

Als wir das Haus verlassen, nehme ich mein Handy hervor und schreibe ihm noch mal. Mittlerweile sehe ich nicht mehr ganz scharf.

Lieber Luke, wir fahren zur Kirche. Du verpasst die Taufe.

Ich schnalle Minnie auf ihrem Kindersitz in Dads Wagen fest und zwänge mich neben sie. Ich merke, dass Mum und Dad sich echt zusammenreißen müssen, damit sie nicht über Luke herziehen.

»Er hat bestimmt einen guten Grund«, sagt Dad schließlich, als er auf die Straße einbiegt. Alle schweigen, denn offenbar kann sich keiner von uns vorstellen, was dieser Grund sein könnte.

»Was war es noch, Liebes?«, meint Mum. »Irgendeine Krise?«

»Offenbar.« Stieren Blickes starre ich aus dem Fenster. »Irgendwas Großes. Aber vielleicht kommt es gar nicht dazu. Das ist alles, was ich weiß.«

Plötzlich plingt mein Handy.

Becky, tut mir so leid. Kann es jetzt nicht erklären. Bin noch hier. Nehme so bald wie möglich Hubschrauber. Wartet auf mich. L

Leicht ungläubig starre ich mein Handy an. Hubschrauber? Er kommt per Hubschrauber?

Urplötzlich bin ich besserer Dinge. Fast möchte ich ihm verzeihen, dass er abgetaucht ist und so geheimnisvoll tut. Eben will ich Mum und Dad (beiläufig) von dem Hubschrauber erzählen, als das Handy noch mal plingt.

Vielleicht dauert‘s noch ein bisschen. Hier geht gerade alles in die Hose.

Was alles?, schreibe ich zurück, brodelnd vor Frust. Welche Hose?

Aber ich bekomme keine Antwort. Aaaah, er nervt! Immer muss er so geheimnisvoll tun. Wahrscheinlich geht es nur um irgend so einen langweiligen, alten Investment-Fond, der ein paar Zillionen Pfund weniger eingebracht hat als erwartet. Und wenn schon.

Die Kirche ist gerammelt voll, als wir eintreten, und ich wandere herum, begrüße Mums Bridge-Freundinnen, von denen die Hälfte japanisch gekleidet ist. (Ich werde Mum später so was von die Leviten lesen.) Etwa fünfzig Mal höre ich mich sagen: „Eigentlich ist das Thema Japan und Russland« und „Luke ist im Hubschrauber unterwegs«, dann nimmt Mum Minnie bei der Hand, und ich höre, wie alle sie umgurren.

„Bex!« Ich drehe mich um und sehe Suze, die einfach toll aussieht in ihrem roten, bestickten Mantel, mit den Pelzstiefeln und den hochgesteckten Haaren, die zwei hölzerne Kaffeeumrührer von Starbucks zieren.

„Besser ging es nicht«, sagt sie und deutet ärgerlich darauf. »Du hast russisch gesagt! Wie kam plötzlich japanisch ins Spiel?«

»Es ist alles Mums Schuld!‹, will ich gerade sagen, als Reverend Parker erscheint, schneidig in seiner raschelnden, weißen Robe .

»Oh, hi!« Ich strahle ihn an. »Wie geht es Ihnen?«

Reverend Parker ist super. Er ist keiner von diesen ultraheiligen Pfarrern, bei denen man für alles ein schlechtes Gewissen bekommt. Er ist eher einer von denen, die nichts dagegen haben, wenn man sich vor dem Mittagessen einen kleinen Gin Tonic genehmigt. Seine Frau arbeitet in der City, und er ist immer braungebrannt und fährt einen Jaguar.

„Es geht mir gut.« Warmherzig schüttelt er mir die Hand.

»Schön, Sie zu sehen, Rebecca. Und wenn ich so sagen darf, Ihr japanisches Thema ist sehr charmant. Ich bin selbst ein großer Sushi-Fan.«

»Eigentlich ist es eine Kombination aus japanisch und russisch«, korrigiere ich ihn entschlossen. »Es gibt auch Blinis und Wodka.«

»Ah. Nun, denn.« Er strahlt. »Ich nehme an, Luke ist aufgehalten worden?«

»Er wird bald eintreffen.« Hinter meinem Rücken kreuze ich die Finger. »Jeden Moment.«

»Gut. Denn ich bin ein wenig unter Zeitdruck. Und sicher haben Sie sich für einen zweiten Namen Ihrer Tochter entschieden? Würden Sie ihn mir vielleicht aufschreiben?«

Oh, Gott.

»Fast.« Ich verziehe das Gesicht. »Ich bin fast so weit. .. »

»Rebecca, ich bitte Sie«, sagt Reverend Parker mit einem Anflug von Ungeduld. »Ich kann Ihre Tochter nicht taufen, wenn ich nicht weiß, wie sie heißen soll.« Ehrlich, ich fühle mich ein wenig unter Druck gesetzt. Ich dachte, Pfarrer sollten verständnisvoll sein.

»Ich werde mich während der Gebete entscheiden«, erkläre ich. » Während ich bete, natürlich«, füge ich angesichts seiner erstarrten Miene hinzu. »Ich finde Inspiration in der Heiligen Schrift.« Ich nehme eine Bibel in die Hand, in der Hoffnung auf ein paar Fleißsternchen. »Sehr inspirierend. Vielleicht nehme ich »Eva« oder »Maria.«

Das Problem mit Reverend Parker ist, dass er mich schon viel zu lange kennt. Er zieht nur skeptisch seine Augenbrauen hoch und sagt: »Und sind die Pateneltern da? Geeignete Personen, wie ich hoffe ... «

»Selbstverständlich! Hier ist die eine.« Ich schiebe Suze nach vorn, die ihm die Hand schüttelt und sofort anfängt, sich nach der Kirchendecke zu erkundigen und ob sie aus dem 19. Jahrhundert stammt oder wann.

Suze ist einfach toll. Sie weiß immer, was sie zu Leuten sagen soll. Jetzt redet sie über Glasmalerei. Wo nimmt sie das nur immer her? Das muss sie im Mädchenpensionat gelernt haben, nach den Merengue-Stunden. Ich interessiere mich nicht besonders für Glasmalerei, wenn ich ehrlich sein soll, also blättere ich wahllos in der Bibel herum.

Oh. Delilah. Na, wenn das kein cooler Name ist.

»Himmel, Arsch und Zwirn, Becky!« Ein vertrauter, amerikanischer Akzent dringt an mein Ohr. Hinter mir höre ich einen kleinen Tumult unter Mums Freundinnen, und jemand ruft: »Wer in Gottes Namen ist das?«

Das kann nur eins bedeuten.

»Danny!« Freudig wirble ich herum. »Du bist hier!«

Es ist so lange her, seit ich Danny zuletzt gesehen habe. Er sieht dürrer aus als je zuvor und trägt eine weite Lederjacke im Kosakenstil mit engen, schwarzen Hosen und Army-Stiefeln. Außerdem hat er einen winzigen Hund an der Leine, den ich noch nie gesehen habe. Ich will ihn umarmen, doch er hebt eine Hand, als hätte er eine bedeutsame Ankündigung zu machen.

« Dieses Thema?«, sagt er ungläubig. »Dieses Japanisch-Querstrich-Russische-Fusion-Ding? Einfach genial! Mein neuer Hund kann da nicht mithalten. Der ist nur ein scheißeinfacher Shih-Tzu!«

»Gibt‘s ja gar nicht!« Plötzlich fällt mir ein, dass Reverend Parker neben mir steht. »Äh... Reverend Parker... das ist Danny Kovitz. Der andere Pate.«

»Ach du je.« Danny hält sich den Mund zu. «Ich bitte um Verzeihung, Reverend. Traumhafte Kirche», fügt er großherzig hinzu, mit weiter Geste. »Traumhaftes Dekor. Haben Sie sich bei den Farben beraten lassen?«

»Sie sind sehr freundlich.« Reverend Parker schenkt ihm ein steifes Lächeln. »Aber wenn Sie vielleicht so nett wären, Ihre Ausdrucksweise während des Gottesdienstes zu mäßigen ... «

»Danny ist ein berühmter Modedesigner«, werfe ich eilig ein.

»Aber ich bitte dich!« Danny lacht bescheiden. »Nicht berühmt. Eher ... beliebt. Berüchtigt. Wo ist eigentlich Luke?«, fügt er leise hinzu. »Ich brauche ihn. Jarek ruft mich täglich an. Er droht mir damit vorbeizukommen.« Dannys Stimme wird vor Sorge immer lauter. »Du weißt, wie sehr ich Konfrontationen hasse.«

Jarek ist Dannys ehemaliger Geschäftsführer. Wir sind ihm letztes Jahr begegnet und haben bald gemerkt, dass er sich einen Riesenbatzen von Dannys Geld genommen und dafür im Grunde nichts weiter getan hat, als Dannys Klamotten zu tragen und ständig auf Spesen essen zu gehen. Luke war derjenige, der ihn vor die Tür gesetzt und Danny einen Vortrag darüber gehalten hat, dass man Leute nicht allein deswegen einstellt, weil man ihren Haarschnitt mag.

»Ich dachte, du hättest alle deine Nummern geändert«, sage ich verdutzt. »Ich dachte, du wolltest keine Anrufe von Jarek mehr entgegennehmen.«

»Habe ich ja auch nicht«, sagt er bockig. »Zuerst. Aber er hatte so tolle Tickets für dieses Festival auf Bali, und da sind wir hingeflogen, und danach hatte er dann natürlich meine neue Handynummer, also ... «

»Danny! Du bist mit ihm auf ein Festival gegangen? Nachdem du ihn gefeuert hattest?«

Danny sieht aus wie ein begossener Pudel.

»Okay. Ich hab‘s vermasselt. Wo ist Luke?« Mit Leidensmiene sieht er sich in der Kirche um. »Könnte Luke nicht mit ihm reden?«

»Ich habe keine Ahnung, wo Luke ist«, sage ich etwas schnippischer, als ich es meine. »Er ist im Hubschrauber auf dem Weg hierher.«

»Im Hubschrauber ... « Danny zieht die Augenbrauen hoch. »Ein echter Action Man. Klettert er denn auch am Seil herunter?«

»Nein.« Ich rolle mit den Augen. »Sei nicht albern.«

Obwohl, wenn ich es recht bedenke, tut er es vielleicht doch. Ich meine, wo wollen die sonst einen Landeplatz für ihren Hubschrauber finden?

Ich zücke mein Handy und schreibe Luke:

Bist du schon im Hubschrauber? Wo wollt ihr landen? Auf dem Dach?

»Oh, mein Gott. Hast du seine Lordschaft gesehen?« Danny wird von Tarquins Anblick abgelenkt. »Sei still, mein pochend Schritt!«

»Danny!« Ich boxe ihm in den Arm und sehe zu Reverend Parker hinüber, der glücklicherweise ein paar Schritte weitergegangen ist. »Wir sind hier in einer Kirche!«

Danny hat schon immer für Tarquin geschwärmt. Und fairerweise muss ich sagen, dass Tarquin heute ausnehmend gut aussieht. Er trägt ein weites, weißes Hemd mit schwarzen Hosen und einer schweren Militärjacke darüber. Sein dunkles Haar ist ganz vom Wind zerzaust, was eine echte Verbesserung seines normalen Unstils ist, und sein knochiges Frettchengesicht sieht im matten Licht der Kirche fast wie gemeißelt aus.

»Da sehe ich meine neue Kollektion, direkt vor meinen Augen.« Danny zieht irgendein altes Notizbuch hervor und fängt an, Tarquin zu skizzieren. »Englischer Lord trifft russischen Prinzen.«

»Er ist Schotte«, korrigiere ich.

»Noch besser. Dann lege ich noch einen Kilt drauf.«

»Danny!« Ich kichere leise, als ich einen Blick auf seine Skizze werfe. »SO was kannst du doch nicht in einer Kirche zeichnen!«

Dieses Bild von Tarquin ist nicht gerade treffend. Im Grunde ist es obszön. Obwohl ich einmal von Suzes Mum gehört habe, dass alle männlichen Cleath-Stuarts sehr gut ausgestattet sein sollen. Vielleicht ist es doch treffender, als mir bewusst ist.

»Und wo ist nun meine Patentochter?« Danny reißt die Seite heraus, faltet sie zusammen und beginnt die nächste Zeichnung.

»Sie ist irgendwo bei Mum ...« Ich sehe mich nach Minnie um und entdecke sie plötzlich etwa zehn Meter entfernt bei einer Gruppe von Mums Freundinnen. Oh, Gott, was macht sie jetzt schon wieder? Sie hat sich mindestens fünf Handtaschen über die Arme gehängt, reißt fest an der Schultertasche einer älteren Dame und schreit: »Meeeeiiin!«

»Wie niedlich!«, höre ich die Dame lachen. »Da hast du sie, Minnie, Liebchen.« Sie drapiert den Schultergurt um Minnies Hals, und Minnie taumelt los, hält entschlossen alle Taschen fest.

»Hübsche Balenciaga«, meint Danny. »Das perfekte Accessoire für die eigene Taufe.«

Ich nicke. »Deshalb habe ich sie ihr geliehen.«

»Und du hast dich für die Miu Miu entschieden, von der ich sicher weiß, dass du die schon ein Jahr hast, wohingegen die Balenciaga neu ist ... « Danny stößt einen melodramatischen Seufzer aus. »Ich kann mir kein schöneres Beispiel für mütterliche Liebe denken.«

« Schnauze!« Ich schubse ihn. »Mal weiter!«

Während ich ihm beim Skizzieren zusehe, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Wenn Dannys nächste Kollektion tatsächlich auf Tarkies Look basieren soll, könnten sie sich doch vielleicht irgendwie zusammentun. Vielleicht könnten sie ein PR-Termin mit Shetland Shortbread machen! Ich bin ein echtes Geschäftsgenie! Luke wird so was von beeindruckt sein. Gerade will ich Suze meine tolle Idee unterbreiten, als Reverend Parkers Stimme laut wird.

»Wären vielleicht alle so nett, sich einen Platz zu suchen?« Er schiebt uns zu den Kirchenbänken. »Wir könnten dann anfangen.«

Anfangen? Schon?

Besorgt zupfe ich an seiner weißen Robe, als er vorüberraschelt. »Äh, Luke ist noch nicht da. Wenn wir es vielleicht noch etwas länger hinauszögern könnten ... «

»Meine Liebe, wir haben es bereits zwanzig Minuten hinausgezögert.« Reverend Parkers Lächeln wirkt ein wenig frostig. »Wenn Ihr Mann es nicht schaffen kann ...«

»Selbstverständlich kann er es schaffen!« Fast bin ich ein wenig verletzt. »Er ist unterwegs. Er wird schon kommen ...«

»Meeeeeeiiiiiinnnn!« Ein hohes, freudiges Quieken geht durch die Kirche, und ich erstarre vor Schreck. Mein Kopf fahrt zum Altar herum, und mein Magen scheint mir in die Kniekehlen zu sacken.

Minnie ist über das kleine Geländer geklettert, steht direkt vor dem Altar, stellt alle Handtaschen auf den Kopf und schüttet deren Inhalt aus. Hinter mir höre ich Mums Freundinnen japsen, als sie sehen, wie ihre Habe über den Boden kullert.

»Minnie!«, schreie ich und wetze den Mittelgang hinauf. »LASS DAS!«

»Meeiiin!« Fröhlich schüttelt sie eine Burberry-Schultertasche, und eine Kaskade von Münzen rieselt daraus hervor. Der ganze Altar liegt voller Taschen und Geld und Make-up-Döschen und Lippenstifte und Haarbürsten.

»Das soll hier deine Taufe werden!«, fauche ich in Minnies Ohr. »Du solltest dich von deiner besten Seite zeigen! Sonst kriegst du nie im Leben ein Geschwisterchen!«

Minnie zeigt keinerlei Reue, nicht einmal als Mums Freundinnen eintreffen, ihrer Empörung Ausdruck verleihen, missbilligend die Köpfe schütteln und ihre Taschen und das Geld einsammeln.

Positiv daran ist, dass das Chaos wenigstens den Ablauf hinauszögert. Dennoch treibt Reverend Parker bald schon alle in die Kirchenbänke.

»Wenn sich jetzt bitte alle setzen würden. Wir müssen wirklich anfangen ... «

»Was ist mit Luke?«, flüstert Mum bedrückt, als sie Platz nimmt. »Er wird schon noch kommen«, sage ich und gebe mir Mühe, zuversichtlich zu klingen. Ich muss nur alles etwas in die Länge ziehen. Bestimmt gibt es reichlich Gebete und Ansprachen. Es wird schon klappen.

Okay. Ich werde an den Erzbischof von Canterbury schreiben. Meiner Meinung nach sind Taufen viel, viel zu kurz.

Wir sitzen alle in den vorderen Reihen der Kirche. Es gab ungefähr zwei Gebete und ein paar kurze Sprüche, dass man dem Bösen entsagen soll. Gemeinsam haben wir ein Lied gesungen, und Minnie hat die Zeit damit verbracht, zwei Liederbücher zu zerfetzen. (Anders war sie nicht ruhigzustellen. Ich werde der Kirche etwas Geld spenden.) Und dann plötzlich bittet uns Reverend Parker, uns um den Taufstein zu versammeln, und ich gerate in Panik.

Wir dürfen noch nicht mit dem Wasserspritzen anfangen. Ich werde nicht zulassen, dass Luke den großen Moment verpasst.

Weit und breit ist nichts von ihm zu sehen. Er antwortet auf keine meiner SMS. Ich hoffe nur, dass er sein Handy abgestellt hat, weil es die Hubschrauberinstrumente stören würde. Ich mache einen langen Hals und lausche, ob ich draußen etwas flattern höre.

»Minnie?« Reverend Parker lächelt sie an. »Bist du bereit?«

»Moment!«, rufe ich verzweifelt, als die Leute schon aufstehen. »Vor der eigentlichen Taufe ... äh ... aus gegebenem Anlass möchte Minnies Patentante Susan Cleath-Stuart ein Gedicht aufsagen. Stimmt‘s, Suze?«

Suze fährt auf ihrem Platz herum und flüstert: »was?«

»Bitte, Suze!«, zische ich zurück. »Ich muss irgendwie Zeit schinden, sonst verpasst Luke noch alles!«

»Ich kenne überhaupt keine Gedichte!«, murmelt sie, als sie aufsteht. »Lies einfach irgendwas aus dem Liederbuch vor! Irgendwas Langes!«, Suze verdreht die Augen, nimmt ein Liederbuch und geht nach vorn. Dort lächelt sie in die Runde.

»Ich möchte gern etwas vorlesen ... » Sie schlägt das Buch auf und blättert herum. »Drei Könige Sind Wir.« Sie räuspert sich. »Drei Könige aus dem Morgenland sind wir und bringen Gaben aus der Ferne dir ... «

Suze ist einfach die Größte. Sie liest im Schneckentempo und wiederholt jeden Refrain zweimal.

»Sehr schön.« Reverend Parker unterdrückt ein Gähnen. »Und nun, wenn Sie sich bitte um den Taufstein ... «

»Moment!« Ich rotiere auf meinem Platz herum. »Äh, Minnies Patenonkel Danny Kovitz wird nun ... « Flehentlich starre ich ihn an. »Auch er wird ... ein Gedicht aufsagen?« Bitte, sage ich lautlos, und Danny zwinkert mir zu.

»Zu Ehren der Taufe meiner Patentochter werde ich nun The Real Slim Shady von Eminem aufführen«, sagt er verwegen.

Oha. Ich hoffe, Reverend Parker hört nicht allzu genau hin.

Danny ist nicht der beste Rapper auf der Welt, doch als er fertig ist, klatschen und johlen alle, sogar Mums Bridge-Freundinnen. Also bringt Danny als Zugabe noch „Stan“, wobei Suze den Part von Dido übernimmt. Dann beteiligen sich Tom und Jess mit einem südamerikanischen Kindergedicht, was wirklich bewegend ist. Und schließlich betritt Dad die Bühne und singt „Que Sera Sera“, wobei im Refrain alle mit einsteigen und Martin uns mit einem von Janices Essstäbchen dirigiert.

Mittlerweile sieht Reverend Parker ernstlich genervt aus. »Dank Ihnen allen für die interessanten Beiträge«, sagt er verspannt. »Wenn Sie sich nun um den Taufstein ... «

»Moment!«, falle ich ihm ins Wort. »Als Minnies Mutter möchte ich noch ein paar Worte sagen.«

»Rebecca!«, fährt Reverend Parker mich an. »Wir müssen jetzt wirklich fortfahren!«

»Nur ganz kurz! «

Hastig laufe ich nach vorn und stolpere in meiner Eile fast. Ich werde einfach reden, bis Luke kommt. Es ist die einzige Möglichkeit.

»Willkommen, Freunde und Familie.« Ich lächle allen zu und meide Reverend Parkers steinernen Blick. »Welch ein besonderer Tag heute ist! Ein besonderer, besonderer Tag! Minnie wird getauft.«

Ich lege eine Pause ein, um diesen Gedanken wirken zu lassen, und werfe einen kurzen Blick auf mein Handy. Nichts.

« Doch was meinen wir damit?« Ich hebe einen Finger, genau wie Reverend Parker es in seinen Predigten tut. »Oder sind wir alle nur so hier?«

Interessierte Unruhe macht sich im Publikum breit, und einige stoßen sich an und flüstern. Ich fühle mich direkt geschmeichelt. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Rede ein solches Aufsehen erregen würde.

»Denn allzu leicht geht man durchs Leben, ohne sich nach den Blumen umzusehen.« Ich nicke bedeutungsvoll, und es folgt noch mehr Flüstern und Stoßen.

Diese Reaktion ist doch erstaunlich! Vielleicht sollte ich Predigerin werden! Offensichtlich habe ich ein natürliches Talent dafür und einen ganzen Haufen tiefschürfender Ideen.

»Das gibt einem doch zu denken, oder?«, fahre ich fort. »Doch was meinen wir mit denken?« Mittlerweile flüstern alle. Die Leute reichen iPhones durch die Bänke und zeigen auf irgendwas. Was geht da vor sich? »Ich meine, warum sind wir alle hier?« Meine Stimme geht im Stimmengewirr unter. »Was ist los?«, rufe ich. »Was guckt ihr euch da alle an?« Selbst Mum und Dad starren auf Mums BlackBerry.

»Becky, das solltest du dir ansehen«, sagt Dad mit merkwürdiger Stimme. Er steht auf und reicht mir den BlackBerry. Ich sehe einen Nachrichtensprecher auf der BBC-Website.

» ... das Neueste zu der Eilmeldung, dass die Bank of London einer Notfinanzierung durch die Bank of England zugestimmt hat. Die Entscheidung fiel nach tagelangen Geheimverhandlungen, während derer die Entscheidungsträger um eine Rettung der Lage rangen ...«

Der Nachrichtensprecher redet immer weiter, aber ich höre gar nicht, was er sagt. Ich starre nur das Bild an. Es zeigt mehrere Männer in Anzügen, die mit grimmiger Miene aus der Bank of England kommen. Einer davon ist Luke. Luke war auch dort?

Oh, Gott. Ist er jetzt noch in der Bank of England?

Dann zeigt der Bildschirm eine Gruppe von Fachleuten, die ernst um einen runden Tisch sitzen, mit dieser bebrillten Fernsehmoderatorin, die ihre Gäste ständig unterbricht.

»Also ist die Bank of London praktisch pleite, habe ich recht?«, sagt sie energisch.

»Pleite ist ein starkes Wort. ..«, setzt einer von den Fachleuten an, aber ich kann nicht hören, was er sonst noch sagt, weil in der Kirche plötzlich der Teufel los ist.

»Die sind pleite!«

»Die Bank of London ist pleite!«

»Aber da haben wir unser ganzes Geld angelegt!« Mum wird hysterisch. »Graham, tu was! Heb es ab! Hol das Geld!«

»Unsere Urlaubskasse!«, stöhnt Janice. »Meine Altersversorgung!« Ein alter Herr rappelt sich mühsam auf.

»Immer mit der Ruhe«, ruft Jess über das Stimmengewirr hinweg. »Ich bin mir sicher, dass niemand etwas verliert. Banken sind doch abgesichert ... « Niemand hört jedoch auf sie.

»Mein Investment-Fond!« Reverend Parker reißt sich seinen Talar vom Leib und steuert auf die Kirchentür zu.

»Aber Sie können doch nicht einfach verschwinden!«, rufe ich ihm ungläubig nach. »Sie haben Minnie noch gar nicht getauft!« Doch er ignoriert mich einfach, und zu meinem Erstaunen ist Mum ihm dicht auf den Fersen.

»Mum! Komm zurück!«

Ich schnappe mir Minnies Hand, bevor sie ihr hinterherrennt. Alle gehen. Nur Augenblicke später ist die Kirche leer, bis auf Minnie, Suze, Jess, Tom und Danny. Wir sehen uns an, und in stillem Einvernehmen laufen auch wir zum Ausgang der Kirche. Wir stürzen aus der großen Holztür hinaus und bleiben draußen unter dem Vorbau stehen.

»Ach, du liebe Güte!«, haucht Danny.

Auf der Hauptstraße drängen sich die Menschen. Zwei-, dreihundert müssen es wohl sein. Alle rennen in dieselbe Richtung zu der kleinen Zweigstelle der Bank of London, vor der sich bereits eine lange Schlange gebildet hat. Ich sehe Mum, die sich einen Platz erkämpft, und Reverend Parker, der sich unverfroren vor eine alte Dame drängelt, während ein junger Bankangestellter verzweifelt versucht, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Während ich das alles staunend betrachte, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Ein Stück abseits der Bank of London, direkt gegenüber der Kirche, fällt mir jemand in der Menge auf. Dunkle, helmartige Frisur, blasse Haut, Jackie-O-Sonnenbrille, Hahnentrittkostüm ...

Ungläubig sehe ich genauer hin. Ist das ...

Das kann nicht sein ...

Elinor?

Doch im selben Moment ist sie - oder wer es auch gewesen sein mag - bereits wieder in der Menge verschwunden. Ich reibe mir die Augen und sehe noch mal hin. Jetzt steht an der Stelle ein Polizist, der aus heiterem Himmel aufgetaucht ist und den Leuten sagt, dass sie von der Straße runtergehen sollen.

Seltsam. Ich habe es mir wohl eingebildet.

»Guck dir den Bullen an!«, sagt Danny fröhlich. »Der flippt gleich aus. Es dauert nicht mehr lange, dann geht er mit seinem Elektroschocker auf die Leute los.«

»Oh, mein Gott!« Stöhnend deutet Suze nach oben.

Es ist unglaublich. Inzwischen klettern welche auf das Dach der Bank. Sprachlos sehen Suze und ich uns an. Es ist, als wären Außerirdische in Oxshott gelandet oder als wäre Krieg oder irgendwas. So was habe ich noch nie gesehen, in meinem ganzen Leben nicht.