18

»Glaubt ihr, dass er ermordet wurde?« Das wollte sie eigentlich wissen. Die beiden hatten Stephanie gebeten, den Gedanken außen vor zu lassen, und sie hatte gehorcht, aber da das Gespräch über Colorado Kid nun so gut wie vorbei war, nahm sie an, dass sie das Thema wieder aufs Tapet bringen durfte.

»Warum hältst du das für wahrscheinlicher als einen Unfalltod, wenn du alles in Betracht ziehst, was wir dir erzählt haben?«, wollte Dave wissen. Er klang ehrlich interessiert.

»Wegen der Zigaretten. Die Zigaretten muss er absichtlich mitgenommen haben. Er wäre nur nicht auf die Idee gekommen, dass es anderthalb Jahre dauern würde, bis jemand die Steuermarke aus Colorado entdeckt. Cogan glaubte, dass ein Toter ohne Papiere Gegenstand einer größeren Ermittlung sein würde.«

»Ja«, bestätigte Vince. Er sprach mit leiser Stimme, schüttelte dabei aber die geballte Faust wie ein Zuschauer, der gerade miterlebt, wie ein Spieler einen wichtigen Spielzug macht oder einen Superball schlägt.

»Gut, die Kleine. Gut aufgepasst!«

Auch wenn Stephanie erst zweiundzwanzig war, gab es Menschen, denen sie übel genommen hätte, von ihnen so genannt zu werden. Dieser Neunzigjährige mit dem schütteren weißen Haar, dem schmalen Gesicht und den durchdringenden blauen Augen gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil wurde sie rot vor Freude.

»Cogan konnte nicht wissen, dass er an zwei Hohlköpfe wie O’Shanny und Morrison geraten würde«, sagte Dave. »Er konnte nicht wissen, dass er auf einen Studenten angewiesen sein würde, der in den vergangenen Monaten lediglich Aktentaschen geschleppt und Kaffee geholt hatte, ganz zu schweigen von den beiden Opis von der Wochenzeitung, die nicht viel mehr als eine Supermarktbeilage war.«

»Jetzt mal vorsichtig, Bruder«, sagte Vince. »Da muss ich widersprechen.« Er hob die Fäuste.

»Es hat doch noch geklappt«, sagte Stephanie. »Letztendlich hat er es geschafft.« Dann dachte sie an die Frau und den kleinen Michael, der inzwischen Mitte zwanzig sein musste.

»Seine Frau auch. Ohne Paul Devane und euch hätte Aria Cogan niemals Geld von der Versicherung bekommen.«

»Das stimmt«, willigte Vince ein. Stephanie fand es niedlich, dass es ihm irgendwie unangenehm war. Nicht dass er Erfolg gehabt hatte, sondern dass es jemand wusste. Hier draußen gab es Internet, auf so gut wie jedem Haus stand eine Satellitenschüssel, kein Fischerboot fuhr ohne GPS aus dem Hafen, und doch hielten sich die alten calvinistischen Überzeugungen hartnäckig in den Köpfen: Lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.

»Was genau glaubst du, dass passiert ist?«, fragte sie.

»Nein, Steffi«, sagte Vince freundlich, aber entschieden. »Du rechnest immer noch damit, dass gleich Nero Wolfe oder Ellery Queen Arm in Arm mit Miss Marple aus dem Schrank getanzt kommen. Wenn wir wüssten, was passiert ist, wenn wir nur die geringste Ahnung hätten, dann hätten wir nicht lockergelassen. Scheiß auf den Boston Globe, dann hätten wir die Geschichte auf der Titelseite des Islander gebracht. Wir mögen 1981 kleine Journalisten gewesen sein und sind jetzt vielleicht kleine alte Journalisten, aber wir sind keine toten Journalisten. Eine gute Story macht mir immer noch Spaß!«

»Mir auch«, versicherte Dave. Er war aufgestanden, wahrscheinlich in Gedanken bei den Rechnungen, hockte aber nun auf der Schreibtischkante und schwang das Bein. »Ich habe immer davon geträumt, dass wir eine Story entdecken, die in ganz Amerika gedruckt wird, aber den Traum werde ich wohl mit ins Grab nehmen. Los, Vince, sag ihr, was du glaubst. Sie erzählt es nicht weiter. Sie ist jetzt eine von uns.«

Stephanie erschauderte vor Freude, ungewollt, aber Vince Teague schien es nicht zu bemerken. Er beugte sich vor und sah ihr in die hellblauen Augen. Seine Pupillen waren dunkler, von der Farbe des Meeres an einem sonnigen Tag.

»Na gut«, sagte er. »Schon lange vor der Sache mit der Steuermarke fand ich, dass irgendetwas an seinem Tod und an der Art, wie Cogan hergekommen war, merkwürdig sei. Als ich erfuhr, dass er eine Schachtel Zigaretten dabeihatte, in der nur eine fehlte, obwohl er seit spätestens halb sieben auf der Insel war, begann ich, mir Fragen zu stellen. Den Leuten bei Bayside News bin ich richtig auf die Nerven gegangen.«

Vince grinste bei der Erinnerung.

»Jedem im Laden habe ich Cogans Bild gezeigt, selbst dem Jungen, der da fegt. Ich war überzeugt, dass Cogan die Packung dort gekauft hatte, sofern er sie nicht an einem Automaten in einem Laden wie dem Red Roof, dem Shuffle Inn oder Sonny’s Sonoco gezogen hatte. Damals nahm ich an, dass seine Packung leer war und er sich eine neue besorgte. Ich ging davon aus, dass er sie um kurz vor elf Uhr bei Bayside News gekauft haben musste, denn um elf machen die zu. Das hätte erklärt, warum er vor seinem Tod nur eine geraucht und nur ein Streichholz entzündet hatte.«

»Bis du erfahren hast, dass er Nichtraucher war«, sagte Stephanie.

»Genau. Cathcart bestätigte das. Langsam kam ich zu der Überzeugung, dass die Zigarettenschachtel eine Botschaft war: Ich komme aus Colorado, sucht mich dort.«

»Das werden wir nie mit Sicherheit wissen, aber wir glauben beide, dass es so war«, erklärte Dave. 

»Allmächtiger Himmel«, sagte Stephanie fast flüsternd. »Und, was bringt euch das?«

Wieder schauten sich die Männer an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. »Nichts als Phantasie und Schneegestöber«, sagte Vince. »Kaum geeignet für einen Reporter vom Boston Globe. Aber es gibt ein paar Dinge, von denen ich völlig überzeugt bin. Willst du sie hören?«

»Ja, sicher!«

Vince sprach nun langsam und überlegt, wie ein Mann, der sich durch einen dunklen Tunnel tastet, den er schon oft gegangen ist.

»Cogan wusste, dass er sich in einer so gut wie ausweglosen Situation befand und im Todesfalle nicht identifiziert werden könnte. Das wollte er nicht, wahrscheinlich weil er seine Frau nicht mittellos zurücklassen wollte.«

»Deshalb kaufte er sich die Zigaretten in der Hoffnung, dass es keinem auffallen würde«, sagte Stephanie.

Vince nickte. »Ah jo, und es funktionierte.«

»Aber wer war derjenige, dem es nicht auffallen sollte?«

Vince dachte nach, dann fuhr er fort, ohne auf Stephanies Einwand einzugehen. »Er fuhr mit dem Aufzug nach unten, verließ das Gebäude. Draußen wartete ein Auto auf ihn, das ihn zum Flughafen Stapleton brachte. Entweder stand es direkt vor dem Bürogebäude oder um die Ecke. Vielleicht saßen nur er und der Fahrer drin, es kann aber auch ein Dritter dabei gewesen sein. Das werden wir nie erfahren. Du hast eben gefragt, ob Cogan seinen Mantel trug, als er das Büro verließ, und ich sagte dir, dass George, der Zeichner, sich nicht erinnern konnte, aber Aria erwähnte, sie hätte den Mantel nie wieder gesehen, also trug er ihn vielleicht. Wenn ja, dann hat er ihn im Wagen oder im Flugzeug ausgezogen. Ich glaube, er hat auch die Anzugjacke abgelegt. Entweder gab ihm jemand stattdessen die grüne Jacke oder sie lag schon für ihn bereit.« 

»Im Auto oder im Flugzeug.«

»Ah jo«, sagte Dave.

»Und die Zigaretten?«

»Weiß ich nicht genau, aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, er hatte sie bereits dabei«, sagte Dave.

»Er wusste, was passieren würde … Ich nehme an, er hatte sie in der Hosentasche.«

»Später dann, am Strand …« Stephanie hatte Cogan vor Augen, ihre persönliche Vorstellung von Colorado Kid, der sich die erste Zigarette seines Lebens anzündet – seine erste und letzte – und dann am Hammock Beach zum Wasser hinunterschlendert, allein im Mondlicht. Im mitternächtlichen Mondenschein. Er zieht den kratzigen, ungewohnten Rauch ein, einmal, vielleicht zweimal. Dann wirft er die Zigarette ins Meer. Und dann …?

Ja, was dann?

»Das Flugzeug setzte ihn in Bangor ab«, hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die in ihren Ohren ebenfalls kratzig und ungewohnt klang.

»Ah jo«, stimmte Dave zu.

»Und jemand fuhr ihn von Bangor nach Tinnock.«

»Ah jo.« Diesmal Vince.

»Dann aß er Fish and Chips.«

»Genau«, bestätigte Vince. »Das bewies die Obduktion. Und meine Nase. Ich habe den Essig selbst gerochen.«

»Hatte er da noch sein Portemonnaie?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Dave, »aber ich glaube nicht. Ich denke, er gab es mit seinem Mantel, der Anzugjacke und seinem bisherigen Leben ab. Dafür bekam er die grüne Jacke, von der er sich ebenfalls später trennte.«

»Oder die der Leiche gestohlen wurde«, sagte Vince. 

Stephanie erschauderte, sie konnte es nicht verhindern. »Er fährt mit der Sechs-Uhr-Fähre rüber nach Moose-Lookit Island, bringt Gard Edwick einen Pappbecher mit Kaffee – wie in dem Lied Tea for the Tillerman.«

»Ja«, sagte Dave. Er schaute feierlich drein.

»Da hat er bereits kein Portemonnaie und keinen Ausweis mehr dabei, nur noch siebzehn Dollar und etwas Kleingeld, unter anderem eine russische Zehn-Rubel-Münze. Meint ihr, das Geldstück könnte vielleicht … keine Ahnung … irgendeine Art Erkennungszeichen sein, wie in einem Spionageroman? Ich meine, damals herrschte doch noch der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und Amerika, nicht?«

»Und wie!«, bestätigte Vince. »Aber Steffi, wenn dir ein Austausch mit einem russischen Geheimagent bevorstände, würdest du dich dann mit einem Rubel zu erkennen geben?«

»Nein«, gestand sie. »Aber warum sollte er ihn sonst bei sich gehabt haben? Um ihn jemandem zu zeigen, was Besseres fällt mir nicht ein.«

»Ich hatte immer das Gefühl, dass er ihn geschenkt bekam«, sagte Dave. »Vielleicht zusammen mit dem kalten Steak, in Alufolie gewickelt.«

»Warum?«, fragte sie. »Wer sollte das tun?« Dave schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Hat man am Tatort Alufolie gefunden? Vielleicht im Seegras am Ende des Strandes?«

»O’Shanny und Morrison haben mit Sicherheit nicht nachgesehen«, sagte Dave. »Vince und ich haben den ganzen Strand abgesucht, nachdem das Absperrband entfernt war. Wir suchten nicht ausdrücklich Alufolie, verstehst du, sondern irgendetwas, das aussah, als würde es mit dem Toten in Verbindung stehen, was auch immer. Wir fanden nur den üblichen Müll, Bonbonpapier und so.« 

»Wenn das Fleisch in Folie gewickelt oder in einem Beutel war, ist es ebenso gut möglich, dass Colorado Kid es zusammen mit der Zigarette ins Wasser warf«, sagte Vince.

»Und das Stück Fleisch in seinem Hals …«

Vince grinste schwach. »Ich habe mich mehrmals lange sowohl mit Doc Robinson als auch mit Dr. Cathcart über das Fleisch unterhalten. Dave war ein paar Mal dabei. Ich weiß noch, was Cathcart einmal zu mir sagte. Das kann höchstens einen Monat vor seinem Herzinfarkt gewesen sein, der ihm vor sechs oder sieben Jahren das Leben nahm. Er sagte: ›Ihnen lässt die alte Geschichte einfach keine Ruhe. Sie kommen immer wieder darauf zurück, so wie ein Kind, dem ein Zahn ausgefallen ist und das unablässig mit der Zunge in dem Loch herumbohrt.‹ Und ich dachte, jawohl, genau so ist es, so fühlt es sich an. Es ist wie ein Loch, an dem ich herumbohren muss, weil ich bis zum Grund vordringen will. Zuerst wollte ich wissen, ob das Stück Fleisch Cogan nach seinem Tod in den Hals geschoben worden sein könnte, mit den Fingern oder mit einem Werkzeug wie beispielsweise einer Hummergabel. Die Frage ist dir auch schon durch den Kopf gegangen, nicht wahr?«

Stephanie nickte.

»Cathcart meinte, es sei möglich, aber unwahrscheinlich, weil das Fleisch nicht nur zerkaut war, sondern schon so weit zerkleinert, dass es geschluckt werden konnte. Es war kein richtiges Fleisch mehr, sondern ein ›organischer Brei‹, wie Cathcart sich ausdrückte. Jemand anders hätte es vorkauen können, aber es ist unwahrscheinlich, dass er es Cogan danach in den Hals stopfte, denn dann hätte es nicht so ausgesehen, als sei er daran erstickt. Kannst du mir folgen?«

Sie nickte erneut.

»Außerdem meinte Cathcart, dass zu Brei gekautes Fleisch kaum mit einem Instrument zu bewegen sei. Wenn man es aus dem Mund in die Kehle schieben wollte, würde es sich auflösen. Mit dem Finger würde es gehen, aber Cathcart meinte, wenn es so gewesen wäre, hätte es Indizien dafür gegeben, am ehesten gedehnte Bänder im Kiefer.« Vince hielt inne, dachte nach, schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Fachausdruck für dieses Kieferausrenken, aber ich habe ihn vergessen.«

»Erzähl ihr, was Robinson dir gesagt hat«, forderte Dave ihn auf. Seine Augen leuchteten. »Letzten Endes hat es nicht mehr gebracht als der Rest, aber ich fand es ungemein interessant.«

»Robinson meinte, es gebe bestimmte Muskelrelaxanzien, einige seien ganz selten, mit denen Cogans Mitternachtsimbiss hätte versetzt sein können«, sagte Vince. »Vielleicht bekam er die ersten Bissen gut runter, in seinem Magen war schließlich etwas verdautes Fleisch, und beim letzten Bissen merkte er plötzlich, dass er nicht mehr schlucken konnte.«

»Das muss es gewesen sein!«, rief Stephanie. »Jemand hat das Fleisch vergiftet und sah zu, wie er erstickte! Als Cogan tot war, lehnte ihn der Mörder gegen die Mülltonne und nahm den Rest vom Steak mit, damit es nicht untersucht werden konnte! Es war gar keine Möwe! Es …« Sie unterbrach sich, schaute die beiden an. »Warum schüttelt ihr den Kopf?«

»Wegen der Obduktion, mein Mädchen«, antwortete Vince.

»Es fand sich nichts dergleichen bei der Gaschromatographie.«

»Aber wenn es ein richtig seltenes Gift war …«

»So wie bei Agatha Christie?«, fragte Vince mit einem Zwinkern und lächelte. »Nun, vielleicht … aber vergessen wir nicht das Stück Fleisch in seinem Hals.«

»Ach ja, natürlich. Dr. Cathcart hat es untersucht, nicht wahr?« Stephanie sackte in sich zusammen.

»Ah jo«, stimmte Vince zu. »Hat er. Auch wenn wir am Ende der Welt leben, haben wir durchaus dunkle Gedanken. An dem zerkauten Fleisch war keinerlei Gift, nur ein bisschen Salz.« 

Kurz schwieg Stephanie. Dann sagte sie mit leiser Stimme:

»Vielleicht war es ein Gift, das sich auflöst.«

»Ah jo«, machte Dave und schob die Zunge in die Wange.

»Wie die Lichter an der Küste nach ein, zwei Stunden.«

»Oder die restliche Crew der Lisa Cabot«, fügte Vince hinzu.

»Nach der Überfahrt mit der Fähre hat ihn keiner mehr gesehen.«

»Nein«, bestätigte Vince. »Wir haben fünfundzwanzig Jahre lang gesucht und nie eine Menschenseele gefunden, die behauptet hat, ihn vor Johnny und Nancy gegen Viertel nach sechs am Morgen des 24. April gesehen zu haben. Und nur fürs Protokoll – nicht dass einer eins führt –, aber ich glaube nicht, dass jemand das restliche Steak stahl, nachdem Cogan am letzten Bissen erstickt war. Ich glaube, dass eine Möwe den Rest aus seiner leblosen Hand stibitzte, genau wie wir immer vermutet haben. Mensch noch mal, ich muss mich wirklich beeilen!«

»Und ich muss mit diesen Rechnungen weitermachen«, sagte Dave. »Aber zuerst ist wohl ein kleiner Abstecher zur Toilette angesagt.« Mit diesen Worten bewegte er sich gen WC.

»Ich denke, ich muss an meiner Kolumne arbeiten«, sagte Stephanie. Dann kam es halb lachend, halb ernst aus ihr heraus:

»Fast wäre mir lieber, wenn ihr mir nie davon erzählt hättet, wo ihr mich jetzt so hängen lasst! Das wird mir noch wochenlang im Kopf herumgeistern!«

»Es ist fünfundzwanzig Jahre her und geistert uns immer noch durch den Kopf«, gab Vince zurück. »Jetzt weißt du wenigstens, warum wir es nicht dem Typen vom Globe erzählt haben.«

»Ja. Auf jeden Fall.«

Lächelnd nickte er. »Du machst das gut, Stephanie.

Du wirst schon zurechtkommen.« Er klopfte ihr herzlich auf die Schulter und steuerte dann auf die Tür zu, nahm im Vorbeigehen das schmale Notizbuch von seinem überfüllten Schreibtisch und stopfte es sich in die Gesäßtasche. Er war neunzig und hatte noch immer einen federnden Schritt. Sein Rücken war vom Alter nur leicht gebeugt. Er trug ein weißes Businesshemd, auf dessen Rücken sich die Hosenträger kreuzten. Mitten im Raum hielt er inne und drehte sich zu Stephanie um. Ein Sonnenstrahl fing sich in seinem feinen weißen Haar und ließ es wie einen Heiligenschein leuchten.

»Es war wirklich schön, dich hier zu haben«, sagte er.

»Ich möchte, dass du das weißt.«

»Danke.« Sie hoffte, dass man ihrer Stimme nicht anmerkte, wie nah sie den Tränen war. »Es war herrlich … anfangs hatte ich so meine Zweifel, aber … aber jetzt kann ich das Kompliment zurückgeben. Es macht wirklich Spaß, hier zu sein.«

»Hast du dir mal überlegt zu bleiben? Bestimmt, oder?«

»Ja. Kannst du mir glauben.«

Er nickte ernst. »Dave und ich haben darüber gesprochen. Es wäre gut, frisches Blut in der Redaktion zu haben! Junges Blut.«

»Ihr beiden macht das doch noch jahrelang«, sagte sie.

»Ja, natürlich«, erwiderte er leichthin, als sei das selbstverständlich, und als er sechs Monate später starb, saß Stephanie in der kalten Kirche, machte in ihrem eigenen schmalen Büchlein Notizen über den Gottesdienst und dachte: Er sah es kommen. »Ich mache noch jahrelang weiter. Trotzdem, wenn du bleiben willst, wir würden dich gerne nehmen. Du musst dich jetzt noch nicht entscheiden, es ist nur ein Angebot.«

»Gut, ich denke drüber nach. Wir wissen, glaube ich, beide, wie die Antwort ausfallen wird.«

»Das freut mich.« Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Der Unterricht für heute ist so gut wie beendet, aber eines könnte ich dir noch über unsere Arbeit verraten. Darf ich?«

»Natürlich.«

»Es gibt tausende von Zeitungen und zehntausende von Menschen, die für sie schreiben, aber es gibt nur zwei Sorten von Berichten. Das eine sind Meldungen. Das sind gar keine richtigen Geschichten, sondern schlicht Wiedergabe von Fakten. Sie brauchen auch gar keine Geschichten zu sein. Die Leute kaufen eine Zeitung, weil sie von Blut und Tränen lesen wollen, so wie sie bei einem Unfall auf der Autobahn langsamer fahren, um alles sehen zu können, und anschließend geht’s weiter. Aber was finden sie in der Zeitung?«

»Reportagen«, sagte Stephanie und dachte an Hanratty und seine ungelösten Rätsel.

»Ah jo. Das sind richtige Geschichten. Jede hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Deshalb sind es gute Nachrichten, Steffi, deshalb sind sie gut. Selbst wenn sie von einer Sekretärin handeln, die wahrscheinlich die halbe Gemeinde beim Picknick umgebracht hat, weil ihr Geliebter sie sitzen ließ, sind es gute Nachrichten. Weißt du, warum?«

»Keine Ahnung.«

»Wäre aber besser«, sagte Dave, der gerade von der Toilette kam und sich die Hände an einem Papiertuch abtrocknete. »Das solltest du wissen, wenn du in diesem Geschäft arbeiten und verstehen willst, was du tust.« Er warf das Tuch in seinen Papierkorb.

Stephanie dachte nach. »Reportagen sind gute Geschichten, weil sie vorbei sind.«

»Stimmt!«, rief Vince strahlend. Er warf die Hände in die Luft wie ein Erweckungsprediger. »Sie haben einen Schluss! Sie sind gelöst! Aber im richtigen Leben, Stephanie, haben die Dinge da auch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende? Was sagt dir deine Erfahrung?« 

»Was das Schreiben angeht, habe ich nicht viel Erfahrung«, sagte sie. »Nur an der Uni und diese Kolumne hier.«

Vince winkte abwehrend mit der Hand. »Dein Herz, was sagt dir das?«

»Dass es im Leben meistens nicht so ist.« Sie dachte an einen jungen Mann, um den sie sich kümmern musste, falls sie sich entschied, über die Praktikumszeit von vier Monaten hier zu bleiben … das könnte unangenehm werden. Würde es sogar ziemlich sicher. Rick würde die Nachricht nicht positiv aufnehmen, denn in Ricks Kopf sollte die Geschichte eigentlich anders weitergehen.

»Ich habe noch keine Reportage gelesen, in der nicht irgendwas gelogen war«, sagte Vince milde, »aber meistens reichen sie für den Innenteil. Mit dieser Geschichte würde das nicht gehen. Es sei denn …« Er zuckte leicht mit den Schultern.

Einen Moment lang wusste Stephanie nicht, was dieses Schulterzucken zu bedeuten hatte. Dann fiel ihr ein, was Dave gesagt hatte, kurz nachdem sie sich draußen auf die Veranda in den späten Augustsonnenschein gesetzt hatten. Sie gehört uns, hatte er gesagt, und es klang trotzig. Ein Typ vom Globe, einer, der nicht von hier kommt, der würde sie nur vermasseln.

»Wenn ihr sie Hanratty erzählt hättet, hätte er sie verwendet, stimmt’s?«, fragte Stephanie.

»Wir hätten es nicht verbieten können, sie gehört uns ja nicht«, erwiderte Vince. »Sie gehört dem, der sie findet.«

Leicht lächelnd schüttelte Stephanie den Kopf. »Das ist Haarspalterei. Du und Dave, ihr seid die Letzten, die die ganze Geschichte kennen.«

»Waren wir«, entgegnete Dave. »Jetzt gehörst du auch dazu, Steffi.«

Sie nickte, bedankte sich für das stille Kompliment, dann wandte sie sich mit erhobenen Augenbrauen Vince Teague zu. 

Nach ein paar Sekunden fing er an zu schmunzeln.

»Wir haben ihm nicht von Colorado Kid erzählt, weil er aus einem echten ungelösten Rätsel eine Reportage wie jede andere gemacht hätte«, erklärte Vince.

»Nicht dass er die Fakten falsch wiedergegeben hätte, aber er hätte hier was hervorgehoben – sagen wir mal, die Idee mit dem Muskelrelaxans, das das Schlucken so gut wie unmöglich macht – und an anderer Stelle etwas ausgelassen.«

»Beispielsweise, dass es nirgends auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür gibt«, warf Stephanie ein.

»Ah jo, vielleicht das, vielleicht etwas anderes. Kann auch sein, dass er sich was zurechtgebastelt hätte, einfach weil man sich angewöhnt, aus Fakten, die nicht für eine Geschichte reichen, irgendwas zusammenzuflicken, wenn man eine Weile in diesem Geschäft ist, oder weil sein Redakteur ihm die Geschichte zum Umschreiben zurückgegeben hätte.«

»Notfalls hätte es der Redakteur auch selbst gemacht, wenn nicht viel Zeit gewesen wäre«, ergänzte Dave.

»Genau, so was soll schon vorgekommen sein«, stimmte Vince zu. »Jedenfalls wäre Colorado Kid Folge sieben oder acht in Hanrattys Reihe über Ungelöste Rätsel Neuenglands geworden, die Leute hätten am Sonntag eine Viertelstunde über die Geschichte gestaunt und am Montag damit ihre Katzenklos ausgelegt.«

»Und sie hätte nicht mehr euch gehört«, fügte Stephanie hinzu. Dave nickte, aber Vince wedelte abweisend mit der Hand.

»Damit könnte ich mich abfinden, aber man hätte einem Toten, der sich nicht mehr wehren kann, eine Lüge um den Hals gehängt, und das kann ich nicht ertragen. Muss ich auch nicht.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich mach mich jetzt jedenfalls auf den Weg. Wer von euch als Letztes geht, schließt hinter sich ab, ja?« 

Vince ging. Sie sahen ihm nach, dann sagte Dave zu Stephanie: »Noch Fragen, Euer Ehren?«

Sie lachte. »Mindestens hundert, aber die können Vince und du wohl nicht beantworten.«

»Solange du nicht müde wirst, sie auch zu stellen, ist das kein Problem.« Er schlenderte zu seinem Tisch, setzte sich und zog seufzend einen Papierstapel zu sich heran. Stephanie steuerte auf ihren Tisch zu, doch da entdeckte sie etwas am schwarzen Brett am anderen Ende des Raumes, gegenüber von Vince’ überfülltem Schreibtisch. Sie trat näher.

Das schwarze Brett zog sich über die gesamte Wand. An der linken Seite hingen alte Titelblätter des Islander, vergilbt und knittrig. Oben in der Ecke klebte einsam der Titel vom 9. Juli 1951. Die Schlagzeile lautete: GEHEIMNISVOLLE LICHTER ÜBER HANCOCK FASZINIEREN TAUSENDE. Darunter war ein Foto von einem gewissen Vincent Teague, der damals erst siebenunddreißig gewesen sein durfte, wie Stephanie errechnete. Auf dem gewellten Schwarzweißbild war ein Baseballfeld mit einer Anzeigentafel zu sehen, auf der stand: HANCOCK LUMBER WEISS WIE ES STEHT! Auf Stephanie wirkte das Bild, als sei es in der Dämmerung geschossen. Die wenigen Erwachsenen auf der durchhängenden Tribüne schauten hoch in den Himmel. Ebenso der Schiedsrichter, der breitbeinig über der Home Plate stand, den Helm in der rechten Hand. Eine Mannschaft – die Gäste, nahm sie an – drängte sich um die dritte Base, als suchte sie Trost. Die anderen Kinder in Jeans und Trikots, auf deren Rücken HANCOCK LUMBER gedruckt war, standen in einer Reihe im Innenfeld und starrten in den Himmel. Auf dem Wurfhügel wies der kleine Junge, der geworfen hatte, mit seinem Handschuh auf einen hellen Kreis, der direkt unter den Wolken am Himmel schwebte, als wolle er das Geheimnis berühren und heranholen, ihm das Herz öffnen und seine Geschichte erfahren.