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»Wir waren fast von Anfang an dabei – mit ›wir‹ meine ich Dave und mich, den Weekly Islander –, auch wenn ich nichts ins Blatt gesetzt habe, was George Wournos nicht vorher freigegeben hatte. Damit hatte ich kein Problem, weil an der Sache nichts war, das das Wohl der Insel zu beeinträchtigen schien. Nach diesen Kriterien entscheiden Zeitungsleute ständig, Steffi – dir wird es mal genauso gehen –, und irgendwann gewöhnt man sich dran. Man muss nur darauf achten, dass man sich nie zu wohl dabei fühlt.

Die beiden Schüler liefen also zurück und bewachten die Leiche, auch wenn es da nicht viel zu bewachen gab. Bis George und Doc Robinson eintrafen, sahen sie nur vier Autos, die in Richtung Stadt fuhren. Keines verlangsamte die Geschwindigkeit, bloß weil zwei Jugendliche auf der Stelle joggten oder Dehnübungen am kleinen Parkplatz von Hammock Beach machten.

Als George und der Doc eintrafen, schickten sie Johnny und Nancy fort, und hier verlassen die beiden unsere Geschichte. Sie waren neugierig, schätze ich, wie Menschen halt sind, aber letztendlich bestimmt froh, gehen zu können. George stellte seinen Ford auf dem Parkplatz ab, der Doc nahm seine Tasche, dann gingen sie zu dem Mann, der gegen die Mülltonne gelehnt dasaß. Er war wieder ein bisschen zur Seite gesackt, so dass der Doc ihn zuerst wieder richtig hinsetzte.

›Ist er tot, Doc?‹, fragte George.

›Und wie! Der ist seit mindestens vier Stunden tot, vielleicht sogar seit sechs und mehr‹, antwortete der Doc. (Ungefähr in dem Moment kam ich angefahren und parkte meinen Chevy neben Georges Ford.) ›Der ist steif wie ein Brett. Rigor mortis.‹ 

›Was glaubst du, wie lange er hier schon liegt? Seit

Mitternacht?‹, fragte George dann.

›Der kann hier schon länger liegen, wenn du mich fragst‹, sagte der Doc, ›ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass er seit heute Nacht zwei Uhr tot ist. Wegen der Totenstarre. Wahrscheinlich ist er schon seit Mitternacht tot, aber in solchen Fragen bin ich kein Experte. Wenn starker auflandiger Wind herrschte, könnte das Einfluss auf das Einsetzen der Totenstarre gehabt haben.‹

›Gestern Nacht war kein Wind‹, sagte ich, als ich mich zu den beiden gesellte. ›Es war so ruhig und still wie in der Kirche.‹

›Na, sieh mal einer an, noch einer, der seinen Senf dazugeben will‹, meinte Doc Robinson. ›Möchte der rasende Reporter vielleicht den Todeszeitpunkt feststellen?‹

›Nein‹, sagte ich. ›Das überlasse ich lieber dir.‹

›Und ich überlasse das lieber dem Amtsarzt‹, entgegnete er.

›Das ist Cathcart, drüben in Tinnock. Dem zahlt der Staat elf Riesen pro Jahr zusätzlich für seine Leichenfledderei. Nicht genug, meiner bescheidenen Meinung nach, aber jedem das Seine. Ich bin nur allgemeinpraktischer Arzt. Aber … ah jo, dieser Kerl hier war um zwei Uhr tot, so viel ist sicher. Als der Mond unterging.‹

Dann standen wir drei ungefähr eine Minute lang einfach nur da und betrachteten ihn, als würden wir trauern. Unter gewissen Umständen kann eine Minute furchtbar kurz sein, aber in so einer Situation ist sie schrecklich lang. Ich erinnere mich an das Geräusch des Windes. Er war noch schwach, frischte von Osten aber langsam auf. Wenn man auf der dem Festland zugewandten Seite der Insel steht und der Wind von Osten kommt, dann hat er so einen einsamen Klang …«

»Ich weiß«, sagte Stephanie leise. »Wie ein Heulen.« 

Die Männer nickten. Stephanie konnte nicht wissen, dass dieses Geräusch im Winter manchmal schrecklich war. Aber es gab keinen Grund, ihr das zu sagen.

»Schließlich bat George den Doc, einmal zu schätzen, wie alt der Mann sein könnte. Ich glaube, er tat es nur, um das Schweigen zu brechen.

›Ich würde ihn auf rund vierzig schätzen, plus oder minus fünf Jahre‹, sagte der Doc. ›Was meinst du, Vincent?‹ Ich nickte. Vierzig erschien mir richtig. Mir ging durch den Kopf, wie furchtbar es ist, mit vierzig sterben zu müssen – was für eine Schande. Da ist ein Mann in den besten Jahren.

Dann entdeckte der Doc etwas, das ihn interessierte. Er stützte sich auf ein Knie (was bei einem Mann von seiner Statur nicht leicht ist, er musste um die hundertdreißig Kilo wiegen und war höchstens eins fünfundsiebzig groß) und nahm die rechte Hand des Toten hoch, die im Sand lag. Die Finger waren leicht gekrümmt, als hätte der Tote sie im Sterben zu einem Fernrohr formen wollen. Als der Doc die Hand hochhielt, sahen wir, dass innen an den Fingern und auf dem Handteller Sand haftete.

›Was soll das sein?‹, fragte George. ›Sieht mir nach normalem Sand aus.‹

›Ist es auch, aber warum klebt er an den Fingern?‹, gab Doc Robinson zurück. ›Diese Mülltonne ist wie alle anderen weit über der Hochwasserlinie aufgestellt, das weiß jeder, der einen Funken Verstand im Kopf hat. Gestern Nacht hat es nicht geregnet. Der Sand ist knochentrocken. Außerdem: Seht mal hier!‹

Er hob die linke Hand der Leiche an. Wir konnten erkennen, dass der Tote einen Ehering trug, doch an den Fingern und auf dem Handteller war kein Sand. Der Doc legte die Hand wieder hin und hob noch mal die andere hoch. Er kippte sie ein wenig, so dass mehr Licht auf die Innenfläche fiel. ›Da!‹, sagte er. ›Seht ihr das?‹ 

›Was ist das?‹, fragte ich. ›Fett? Ein bisschen Schmiere?‹ 

Grinsend sagte er: ›Du gewinnst den Teddybär, Vincent.

Siehst du auch, wie die Finger gekrümmt sind?‹

›Ja, als würde er damit ein Fernrohr bilden wollen‹, meinte George. Inzwischen knieten wir beide neben dem Doc, es sah aus, als sei der Mülleimer ein Altar und wir wollten den Toten durch unser Gebet wieder zum Leben erwecken.

›Nein, das glaube ich nicht‹, sagte der Doc, und ich merkte etwas, Steffi: Er war aufgeregt, und zwar so, wie man es nur ist, wenn man etwas herausgefunden hat, mit dem man normalerweise niemals konfrontiert würde. Er blickte dem Toten ins Gesicht (das nahm ich zumindest an, es stellte sich heraus, dass er etwas tiefer schaute), dann wieder auf die gekrümmte rechte Hand. ›Das sehe ich ganz anders.‹

›Was denn dann?‹, fragte George. ›Ich möchte das hier gerne der Polizei und dem Staatsanwalt melden, Chris. Ich habe keine Lust, den Vormittag auf den Knien zu verbringen, weil du Ellery Queen spielst.‹

›Seht ihr, dass der Daumen fast den Zeige-und Mittelfinger berührt?‹, fragte der Doc. Natürlich konnten wir das erkennen.

›Wenn dieser Typ im Sterben durch seine zum Fernrohr gekrümmten Finger geschaut hätte, wäre der Daumen über den Fingern und würde den Mittel-und den Ringfinger berühren. Probiert es aus, wenn ihr mir nicht glaubt!‹

Ich versuchte es und er hatte natürlich Recht.

›Das soll kein Rohr oder Schlauch sein‹, erklärte der Doc und berührte die rechte Hand des Toten abermals mit den Fingern.

›Das ist wie eine Pinzette. Dazu das Fett und der Sand auf dem Handteller und auf den Fingerkuppen – was sagt euch das?‹

Ich wusste es, aber da George der Gesetzesvertreter war, ließ ich ihm den Vortritt. ›Sieht aus, als hätte er etwas gegessen, als er starb‹, antwortete er. ›Aber wo ist das geblieben, verdammt noch mal?‹ 

Der Doc wies auf den Hals des Toten. Selbst Nancy Arnault hatte bemerkt, dass er leicht geschwollen wirkte. ›Ich vermute, dass das, woran er erstickt ist, noch da drin sitzt. Gib mir mal meine Tasche, Vincent!‹

Ich reichte sie ihm. Er versuchte, darin herumzukramen, musste aber feststellen, dass er nur eine Hand frei hatte und sein ganzes Gewicht auf einem Knie balancierte: Der Doc war groß, er musste sich mit mindestens einer Hand abstützen, um nicht umzukippen. Deshalb schob er die Tasche zu mir zurück und sagte: ›Ich habe da zwei Ohrenspiegel drin, Vincent, will sagen, meine kleinen Untersuchungsleuchten. Eine, die ich jeden Tag benutze, und eine andere, die noch ganz neu ist. Ich brauche beide.‹

›Also, Moment mal, ich weiß ja nicht‹, sagte George. ›Ich dachte, das überlassen wir alles Cathcart vom Festland. Der wird schließlich vom Staat für diese Arbeit bezahlt.‹

›Ich übernehme die Verantwortung‹, erklärte Doc Robinson.

›Neugier kann gefährlich sein, schon klar, aber der Erfolg ist manchmal das Risiko wert. Ihr ruft mich hier nach draußen in die feuchte Kälte, ohne dass ich eine Tasse Tee getrunken hätte, nicht mal ’ne Scheibe Toast hab ich gegessen. Da möchte ich wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis haben, wenn’s recht ist. Vielleicht funktioniert es nicht, aber ich habe so ein Gefühl … Vincent, nimm mal diese Leuchte! George, du nimmst die neue, aber lass sie bitte nicht in den Sand fallen, ja? Die kostet nämlich zweihundert Dollar. Also, ich bin seit, ich sag mal, seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr wie ein kleines Kind auf allen vieren gewesen und hab Pferdchen gespielt, und wenn ich mich noch lange in dieser Position halten muss, kippe ich mit Sicherheit um und falle auf diesen Kerl. Macht also schnell und tut, was ich euch sage! Habt ihr schon mal gesehen, wie die Angestellten im Museum zwei Punktstrahler auf ein kleines Bild richten, so dass es hell ist und schön aussieht?‹ 

George kannte das nicht, deshalb erklärte Doc Robinson es ihm. Als er fertig war (und überzeugt war, dass George Wournos es verstanden hatte), kniete der Chefredakteur der Inselzeitung auf einer Seite der Leiche und der Wachtmeister der Insel auf der anderen, jeder mit einer kleinen Stableuchte des Docs in der Hand. Bloß dass wir kein Kunstwerk beleuchteten, sondern die Kehle des Toten, damit der Doc genauer hineinsehen konnte.

Unter Schnaufen und Grunzen brachte er sich in die richtige Position – unter anderen Umständen hätte es lustig sein können, wenn ich nicht irgendwie Angst gehabt hätte, dass er an Ort und Stelle einen Herzinfarkt bekommt. Dann streckte er die Hand aus, schob sie in den Mund des Toten und hebelte den Kiefer aus, als sei er ein Scharnier. Was er ja eigentlich auch ist, wenn man es recht bedenkt.

›So‹, sagte er. ›Näher ran, Leute! Ich glaube, er beißt nicht mehr, und falls ich mich irre, werde ich selbst für den Fehler büßen müssen.‹

Wir rückten näher und leuchteten in die Kehle des Toten. Sie war rot und schwarz, nur die Zunge leuchtete rosa. Der Doc schnaufte und grunzte und sagte zu sich selbst: ›Noch etwas mehr!‹ Dann zog er den Unterkiefer weiter herunter. Er wies uns an: ›Höher, richtig tief in den Schlund strahlen!‹ Wir versuchten es, so gut wir konnten. Der Lichteinfall veränderte sich gerade so weit, dass die Zunge nicht mehr rosa war und dieses Ding hinten im Mund bestrahlte, wie heißt es noch gleich …«

»Zäpfchen«, sagten Stephanie und Dave wie aus einem Mund. Vince nickte. »Ah jo, genau. Und direkt dahinter konnte ich etwas erkennen. Es war dunkelgrau. Das Ganze dauerte nur zwei oder drei Sekunden, aber Doc Robinson war schon zufrieden. Er nahm die Finger aus dem Mund des Toten. Die Unterlippe machte ein sonderbar schmatzendes Geräusch, als sie wieder auf das Zahnfleisch traf, aber der Kiefer blieb im Großen und   Ganzen da, wo er gewesen war. Dann setzte sich der Doc zurück und schnappte nach Luft.

›Ihr müsst mir gleich beim Aufstehen helfen‹, sagte er, als er wieder genug Luft zum Sprechen hatte. ›Meine Beine sind von den Knien abwärts eingeschlafen. Verflucht, was bin ich auch so schwer!‹

›Ich helfe dir gleich‹, sagte George. ›Hast du was gesehen? Ich nämlich nicht. Du, Vincent?‹

›Ich glaub schon‹, erwiderte ich. In Wahrheit wusste ich verdammt gut, was ich gesehen hatte – ’tschuldigung, Steffi –, aber ich wollte nicht vor ihm angeben.

›Ah jo, da hinten ist was drin‹, sagte der Doc. Er war immer noch atemlos, aber klang zufrieden, als hätte er sich gerade an einer juckenden Stelle gekratzt. ›Cathcart wird es herausholen, dann werden wir wissen, ob es ein Stück Steak oder Schwein oder sonst was ist, aber das ist nebensächlich. Was wichtig ist, wissen wir jetzt: Er kam hier raus mit einem Stück Fleisch in der Hand und setzte sich zum Essen hin, wollte vielleicht bewundern, wie das Mondlicht aufs Wasser fällt. Lehnte sich gegen die Mülltonne. Und erstickte, genau wie in dem Kinderlied von den zehn kleinen Negerlein. Am letzten Bissen. Kann so gewesen sein, muss aber nicht.‹

›Als er tot war, könnte eine Möwe herangeflogen sein und ihm den Rest aus der Hand gepickt haben‹, meinte George. ›Nur das Fett blieb zurück.‹

›Genau‹, bestätigte der Doc. ›Helft ihr beiden mir jetzt hoch oder muss ich zu Georges Auto rüberkriechen und mich am Türgriff hochziehen?‹«