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»Das ist wieder einer der Gründe, warum sich die Geschichte nicht für eine Zeitung wie den Globe eignet«, sagte Vince nach einer kurzen Pause, in der er seinen milchigen Kaffee trank und seine Gedanken sammelte.

»Selbst wenn wir die Story weitergeben wollten.«

»Aber das wollen wir nicht«, warf Dave ziemlich gereizt ein.

»Nein, das wollen wir nicht«, stimmte Vince zu. »Aber selbst wenn wir das täten … Steffi, wenn eine große Zeitung wie der Globe oder die New York Times einen Bericht oder eine Serie macht, dann möchte sie Antworten geben oder wenigstens vorschlagen. Ob ich damit ein Problem habe? Und was für eins! Du kannst jede große Zeitung in die Hand nehmen, und was findest du auf der Titelseite? Fragen, die sich als Nachrichten tarnen. Wo ist Osama bin Laden? Wir wissen es nicht. Was macht der Präsident im Mittleren Osten? Wir wissen es nicht, weil er es selbst nicht weiß. Erholt sich die Wirtschaft oder geht sie den Bach runter? Die Experten streiten sich. Sind Eier gut oder schlecht für die Gesundheit? Hängt davon ab, welcher Studie man glaubt. Nicht mal die Meteorologen legen sich heute noch fest, ob tatsächlich ein Nordostwind aus Nordosten kommt, weil sie sich beim letzten Mal geirrt haben. Wenn eine Zeitung also eine Reportage über bessere Lebensbedingungen für Minderheiten bringt, möchte sie gerne sagen können: Wenn man dies, das und jenes macht, wird die Lage 2030 besser sein.«

»Und wenn sie einen Beitrag über ungelöste Rätsel bringt«, erklärte Dave, »will sie dem Leser sagen können, dass die Lichter an der Küste wahrscheinlich Reflexionen in den Wolken waren und die Vergiftungen beim Picknick der Kirchengemeinde die Tat einer sitzen gelassenen Sekretärin der

Methodisten. Aber die Sache mit dem möglichen Zeitablauf …«

»Über den du ja auch gleich nachgedacht hast«, fügte Vince grinsend hinzu.

»Und der ist wirklich ziemlich zusammengezimmert, egal wie man es wendet«, sagte Dave.

»Dann ist er halt zusammengezimmert«, entgegnete Vince.

»Verdammt, ich habe die Sache untersucht, habe mir fast die Finger wund gewählt, da darf mein Ergebnis doch wohl zusammengezimmert sein, oder?«

»Mein Vater sagte immer, selbst wenn man den ganzen Tag Kreide schneidet, wird kein Käse daraus«, sagte Dave, aber er lächelte ein wenig dabei.

»Stimmt, aber lass mich trotzdem noch ein bisschen rumzimmern«, meinte Vince. »Sagen wir, die Fahrstuhltüren schlossen sich um zwanzig nach zehn, Colorado-Zeit, ja? Sagen wir weiterhin, der Beweisführung zuliebe, dass alles von langer Hand geplant war und ein Wagen mit laufendem Motor vor dem Gebäude wartete.«

»Okay«, sagte Stephanie und beobachtete Vince aufmerksam.

»Reine Phantasie«, schnaubte Dave verächtlich, wirkte aber dennoch interessiert.

»Es ist natürlich weit hergeholt«, stimmte Vince zu, »aber schließlich war er um Viertel nach zehn in Denver und etwas mehr als fünf Stunden später bei Jan’s Wharfside. Das ist auch weit hergeholt, aber es ist eine Tatsache. Beide Male war er es selbst. Darf ich jetzt fortfahren?«

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Dave.

»Wenn ein Auto mit laufendem Motor auf ihn wartete, brauchte er vielleicht eine halbe Stunde bis nach Stapleton. Einen Linienflug kann er auf gar keinen Fall genommen haben. Er hätte das Ticket bar bezahlt und einen Decknamen benutzt haben können – damals ging das noch –, aber es gibt keine direkten Linienflüge von Denver nach Bangor. Überhaupt keine von Denver nach Maine.«

»Habt ihr das geprüft?«

»Ja, ich. Mit einem Linienflug wäre er frühestens um Viertel vor sieben in Bangor gelandet, lange nachdem das Mädchen im Restaurant ihn gesehen hatte. Zu der Jahreszeit wäre sogar schon die letzte Fähre nach Moosie fort gewesen.«

»Um sechs geht die letzte?«, fragte Stephanie.

»Ja, und zwar bis Mitte Mai«, erwiderte Dave.

»Dann muss er Charter geflogen sein«, sagte sie. »Ein Charterflugzeug? Gab es Fluggesellschaften, die von Denver aus mit Charterjets flogen? Hätte er sich das leisten können?«

»Ja, ja und ja«, antwortete Vince, »aber es hätte ihn schon ein paar tausend Mäuse gekostet, das hätte sich auf jeden Fall auf seinem Bankkonto bemerkbar gemacht.«

»Tat es aber nicht?«

Vince schüttelte den Kopf. »Es gab keine auffälligen Kontobewegungen vor seinem Verschwinden. Trotzdem muss er ein Flugzeug gechartert haben. Ich habe bei verschiedenen Chartergesellschatten nachgefragt, die mir alle versicherten, dass der Flug an einem guten Tag – wenn eine kleine Lear wie die 35 oder 55 in einen kräftigen Jetstream gerät – rund drei Stunden dauern würde, vielleicht etwas länger.«

»Von Denver nach Bangor«, wiederholte Stephanie.

»Von Denver nach Bangor, ja, es gibt hier in der Nähe sonst nichts, wo die kleinen Vögel landen können. Die Rollbahn ist nicht lang genug, verstehst du?«

Ja, das verstand sie. »Habt ihr die Chartergesellschaften in Denver überprüft?«

»Ich hab’s versucht. Leider ohne großen Erfolg. Von den fünf Gesellschaften, die Jets in der fraglichen Größenordnung haben, waren überhaupt nur zwei bereit, mit mir zu reden. Müssen sie schließlich nicht, stimmt’s? Ich war nur ein Kleinstadt-Journalist, der einen Unfalltod recherchiert, kein Bulle, der in einem Mordfall ermittelt. Einer von ihnen erklärte mir außerdem, dass es nicht nur darum ging, die FBOs zu überprüfen, die von Stapleton aus starten …«

»Was sind FBOs?«

»Fixed Base Operations«, erklärte Vince. »Das sind Gesellschaften, die Flugzeuge chartern, aber auch zahlreiche andere Dienstleistungen anbieten: Sie holen Startgenehmigungen ein, unterhalten kleine Terminals für Passagiere, die privat fliegen, damit sie nicht unters gemeine Volk müssen, außerdem verkaufen, warten und reparieren sie Flugzeuge. Bei zig FBOs kann man durch den Zoll gehen, man kann bei ihnen Höhenmesser kaufen, wenn der eigene kaputt ist, oder der Pilot kann sich acht Stunden in der Lounge erholen, wenn er seine maximale Flugzeit erreicht hat. Manche FBOs wie Signature Air sind riesige Unternehmen, große Ketten wie Holiday Inn oder McDonald’s. Andere sind kleine Klitschen mit einem Snackautomaten und einem Windsack am Rollfeld.«

»Du hast dich wirklich schlau gemacht«, sagte Stephanie anerkennend.

»Allerdings, und inzwischen weiß ich, dass nicht nur Piloten und Flugzeuge aus Colorado Stapleton und andere Flughäfen in Colorado anflogen oder anfliegen. Zum Beispiel könnte das Flugzeug einer FBO von La-Guardia in New York mit Passagieren nach Denver fliegen, die ihre Verwandten in Colorado besuchen wollen. Dann erkundigt sich der Pilot, ob jemand nach New York will, damit er nicht leer zurück muss.«

»Heutzutage stehen die Passagiere für den Rückflug natürlich vorher im Computer«, sagte Dave. »Verstehst du, Steffi?« 

Sie nickte. Und sie sah noch etwas anderes. »Das heißt, die Buchung für Mr Cogans Flug könnte beispielsweise im Archiv von Adler Air in New York sein.«

»Oder bei Adler Air in Montpelier, Vermont«, ergänzte Vince.

»Oder bei Alles in Butter Jets aus Washington, D. C«, sagte Dave.

»Und wenn Cogan bar bezahlt hat«, fügte Vince hinzu, »gibt es möglicherweise überhaupt keine Unterlagen darüber.«

»Aber es gibt doch bestimmt alle möglichen Behörden –«

»Allerdings«, bestätigte Dave. »Mehr als man sich vorstellen kann, angefangen bei der Flugaufsichtsbehörde bis hin zum Finanzamt. Würde mich nicht wundern, wenn die Nachwuchsorganisation der amerikanischen Farmer auch irgendwie dazugehörte. Aber bei Barzahlung gibt’s nicht viele Unterlagen. Denk an Helen Hafner!«

Natürlich konnte sich Stephanie an die Kellnerin aus dem Grey Gull erinnern. Deren Sohn kürzlich aus dem Baumhaus gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte. Sie bekommt den ganzen Batzen, hatte Vince gesagt, bevor er Helen Hafner das Geld zusteckte. Was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und Dave hatte hinzugefügt: So werden in Amerika Geschäfte gemacht.

Stephanie nahm an, dass sie Recht hatten, aber im vorliegenden Fall bereitete ihnen diese Art, Geschäfte zu machen, erhebliche Probleme.

»Ihr wisst es also nicht«, schloss sie. »Ihr habt euer Bestes getan, aber ihr habt es nicht herausbekommen.«

Vince schaute erst überrascht, dann erheitert drein.

»Ob man sein Bestes getan hat, Steffi, kann man, glaube ich, nie mit Sicherheit sagen: Ich bin sogar der Ansicht, dass die meisten dazu verurteilt, ja verflucht sind zu glauben, sie hätten es noch ein bisschen besser machen können, selbst wenn sie eigentlich mit dem Ergebnis zufrieden sind. Aber du irrst dich – ich habe es herausbekommen. Er hat sich ein Flugzeug in Stapleton gechartert. Auf jeden Fall.«

»Aber du hast gesagt –«

Er beugte sich noch weiter über seine gefalteten Hände und fixierte sie mit seinem Blick. »Hör gut zu und lass dir etwas gesagt sein, mein Mädchen. Es ist lange her, dass ich Sherlock Holmes gelesen habe, weshalb ich nicht präzise zitieren kann, aber irgendwann sagt der große Detektiv zu Dr. Watson so etwas wie: ›Eliminiert man das Unmögliche, muss das, was übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch ist, die Wahrheit sein.‹ Also, wir wissen, dass Colorado Kid bis Viertel oder zwanzig nach zehn am Mittwochmorgen in seinem Büro in Denver war. Und wir können auch davon ausgehen, dass er um halb sechs bei Jan’s Wharfside war. Heb noch mal die Finger hoch, wie du es eben getan hast, Stephanie.«

Sie tat wie ihr geheißen, den linken Zeigefinger für Colorado Kid in Denver, den rechten für James Cogan in Maine. Vince nahm die Hände auseinander und berührte mit seinem Zeigefinger den ihrer rechten Hand. Alter und Jugend trafen sich quasi mitten in der Luft.

»Dieser Finger darf aber nicht halb sechs sein«, sagte er. »Wir müssen der Bedienung nicht unbedingt glauben. Sie hat sich zwar nicht die Hacken abgelaufen wie im Juli, aber sie hatte bestimmt genug zu tun, es war schließlich Abendessenszeit und so.«

Stephanie nickte. In diesem Teil der Welt aß man früh zu Abend. Das Mittagessen nahm man mittags aus dem Henkelmann zu sich, oft draußen im Hummerboot.

»Dieser Finger ist jetzt mal sechs Uhr«, sagte er. »Die letzte Fähre.«

Stephanie nickte abermals. »Die muss er genommen haben, oder?« 

»Ja, es sei denn, er ist geschwommen«, warf Dave ein.

»Oder hat ein Boot gemietet«, ergänzte Stephanie.

»Wir haben uns umgehört«, erklärte Dave. »Wichtiger noch: Wir haben Gard Edwick gefragt, der im Frühjahr 1980 der Fährmann war.«

Hat Cogan ihm Tee gebracht?, fragte Stephanie sich plötzlich. Denn wenn man mit der Fähre fahren will, muss man dem Steuermann Tee mitbringen. Hast du selbst gesagt, Dave. Oder sind der Fährmann und der Steuermann zwei verschiedene Personen?

»Steffi?« Vince klang besorgt. »Alles in Ordnung, mein Mädchen?«

»Sicher, warum?«

»Weiß nicht, du sahst gerade aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Hab ich auch. Ist ja eine seltsame Geschichte, oder?«

Dann fügte sie hinzu: »Nur dass es gar keine Geschichte ist, da hattet ihr Recht, und wenn ich gerade ein komisches Gesicht gemacht habe, liegt es wahrscheinlich daran. Es ist, als würde man mit dem Fahrrad auf einem Drahtseil fahren wollen, das gar nicht existiert.«

Stephanie zögerte, dann entschied sie sich, weiterzusprechen, auch wenn sie sich komplett zum Narren machte.

»Konnte sich Mr Edwick an Cogan erinnern, weil der ihm etwas mitgebracht hatte? Weil er Tee für den Steuermann mitbrachte?«

Eine Weile sagte keiner der Männer etwas, sie betrachteten Stephanie nur mit ihren unergründlichen Augen – so sonderbar lebendig und sympathisch jungenhaft in ihren alten Gesichtern –, und Stephanie hatte Angst, jeden Moment loszulachen oder – zuweinen, irgendetwas zu tun, bloß um die Spannung und wachsende Gewissheit zu vertreiben, dass sie sich völlig blamiert hatte.

Vince sagte: »Es war eine kalte Überfahrt. Ein Mann kam zum Ruderhaus und reichte Gard einen Pappbecher mit Kaffee. Sie wechselten nur wenige Sätze. Es war ja April, zu der Zeit wurde es schon langsam dunkel. Der Mann sagte: ›Ruhige See‹, und Gard antwortete: ›Ah jo.‹ Dann sagte der Mann: ›Das hat sich schon lange angekündigt‹, vielleicht aber auch ›Ich hab mich schon lange angekündigt‹. Gard meinte, es hätte sogar heißen können ›Haas hat sich schon lange angekündigt‹. Es gibt den Namen; zwar nicht im Telefonbuch von Tinnock, aber in mehreren anderen habe ich ihn gefunden.«

»Trug Cogan die grüne Jacke oder den Mantel?«

»Steffi«, sagte Vince. »Gard konnte sich nicht nur nicht erinnern, ob der Mann einen Mantel trug, er hätte vor Gericht nicht mal beschwören können, ob der Mann zu Fuß oder zu Pferde kam. Erstens wurde es schon dunkel; zweitens waren es lediglich eine freundliche Geste und ein paar Sätze, an die er sich anderthalb Jahre später erinnerte; drittens … naja, der alte Gard, weißt du …« Vince tat, als halte er sich eine Flasche an den Mund.

»Wir wollen nicht schlecht über die Toten reden, aber der Mann soff wie ein Loch«, sagte Dave. »1985 verlor er die Stelle als Fährmann. Die Stadt gab ihm den Schneepflug, damit seine Familie nicht hungern musste. Er hatte fünf Kinder und seine Frau litt an MS. Aber irgendwann räumte er im Februar stinkbesoffen die Main Street und fuhr den Pflug an einem Strommasten zu Schrott, danach gab es eine verdammte Woche lang keinen Strom mehr, entschuldige meine Ausdrucksweise. Er verlor die Stelle und lebte von der Wohlfahrt. Wundere ich mich also, dass er sich an nichts erinnern konnte? Nein, überhaupt nicht. Aber aufgrund der Fakten, die er noch wusste, bin ich überzeugt, dass Colorado Kid mit der letzten Fähre vom Festland rüberkam und dass er dem Steuermann tatsächlich Tee brachte, beziehungsweise einen akzeptablen Ersatz. Klasse, dass du das noch wusstest, Steffi!« Er tätschelte ihr die Hand. Sie lächelte ihn an und hatte das Gefühl, ihr würde schwindelig.

»Wie du schon gesagt hast«, nahm Vince den Faden wieder auf, »muss der Zeitunterschied von zwei Stunden berücksichtigt werden.« Er schob ihren linken Zeigefinger näher an den rechten heran. »Um Viertel nach zwölf Ostküstenzeit verlässt Cogan das Büro. Sobald sich die Aufzugtüren zum Eingangsbereich des Gebäudes öffnen, legt er seine lässige, routinierte Art ab. Augenblicklich schaltet er um. Als säße ihm der Teufel im Nacken, rast er nach draußen, wo das schnelle Auto mit einem ebenso schnellen Fahrer auf ihn wartet.

Eine halbe Stunde später ist er bei einer FBO in Stapleton und fünf Minuten später steigt er in ein Privatflugzeug. Er hat nichts dem Zufall überlassen. Kann er gar nicht. Viele Leute fliegen regelmäßig privat hin und her, bleiben dann aber ein, zwei Wochen an einem Ort. Die Flugzeuge, die die Passagiere hinbringen, können in diesen zwei Wochen auch von anderen gemietet werden. Unser Mann wird sich für eines dieser Flugzeuge entschieden und mit großer Wahrscheinlichkeit im Voraus bar bezahlt haben. Um Richtung Osten zu fliegen.«

Stephanie fragte: »Was hätte er denn getan, wenn der Flug, den er nehmen wollte, in letzter Minute abgesagt worden wäre?«

Dave zuckte mit den Schultern. »Das Gleiche, was er auch bei schlechtem Wetter getan hätte, nehme ich an: Er hätte sein Vorhaben auf einen anderen Tag verschoben.«

Vince hatte Stephanies linken Finger ein bisschen weiter nach rechts gerückt. »Nun ist es bald ein Uhr mittags an der Ostküste«, sagte er, »aber immerhin muss sich unser Freund Cogan keine großen Gedanken über das ganze Sicherheitstrara machen, das gab’s 1980 noch nicht, schon gar nicht bei einem Privatflug. Wir müssen davon ausgehen – wieder nur eine Annahme –, dass sein Flugzeug nicht lange auf die Starterlaubnis wartete, denn das hätte den ganzen Zeitplan durcheinander gebracht, am Ziel wartete ja schließlich schon …«

Er berührte Stephanies rechten Finger. »… die Fähre. Die letzte. Der Flug dauerte drei Stunden. Sagen wir jetzt mal so. Mein werter Kollege hat im Internet recherchiert, er ist ganz verrückt danach, jedenfalls behauptet er, an dem Tag sei gutes Wetter zum Fliegen gewesen, und auf den Karten sieht man, dass der Jetstream ungefähr im richtigen Bereich war …«

»Allerdings habe ich nie herausfinden können, wie stark er war«, unterbrach ihn Dave. Er warf Vince einen Blick zu. »In Anbetracht der dürftigen Ergebnisse in unserem Fall ist das wahrscheinlich nicht so schlimm, Partner, was?«

»Sagen wir also, drei Stunden«, wiederholte Vince und schob Stephanies linken Finger (den sie bei sich nun ›Colorado Kid‹ nannte) bis auf fünf Zentimeter an den rechten heran (der für sie jetzt ›der fast tote James Cogan‹ hieß). »Viel länger kann es nicht gedauert haben.«

»Weil die Fakten das nicht zulassen«, murmelte sie vor sich hin, fasziniert (und auch ein wenig eingeschüchtert) von der Vorstellung. Auf der High School hatte sie mal einen Science-Fiction-Roman gelesen, der hieß Der Mond ist eine herbe Geliebte. Mit dem Mond kannte sie sich nicht so gut aus, aber langsam war sie überzeugt, dass das Urteil auf die Zeit allemal zutraf.

»Genau, weil es nicht anders sein kann«, stimmte Vince zu.

»Um vier Uhr oder vielleicht um fünf nach vier – sagen wir um fünf nach – landet Cogan und geht bei Twin City Civil Air von Bord, damals die einzige FBO am Flughafen Bangor –«

»Wurde seine Ankunft irgendwo registriert?«, wollte Stephanie wissen. »Hast du das geprüft?« Sie wusste, dass Vince das getan hatte, natürlich, und dass es zu nichts geführt hatte. So war es nun mal bei dieser Geschichte. Eine Geschichte, als müsste man niesen und könnte nicht.

Vince lächelte. »Na klar, aber damals, in der sorglosen Zeit vor den Sicherheitsvorkehrungen, bewahrte Twin City lediglich Rechnungsbücher für längere Zeit auf. Die Fluggesellschaft hatte an dem Tag mehrere Barzahlungen, darunter einige ansehnliche Tankquittungen am späten Nachmittag, aber selbst die haben nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Soweit wir wissen, kann derjenige, der Colorado Kid herflog, die Nacht in einem Hotel in Bangor verbracht haben und am nächsten Morgen zurückgeflogen sein …«

»Oder das Wochenende über hier geblieben sein«, sagte Dave.

»Andererseits könnte der Pilot auch direkt umgedreht haben, ohne wieder aufzutanken.«

»Wie soll das gehen, wenn er die weite Strecke von Denver hergeflogen ist?«, wollte Stephanie wissen.

»Er könnte einen Zwischenstopp in Portland eingelegt haben«, erklärte Dave, »um da nachzutanken.«

»Warum sollte er?«

Dave grinste. Er sah erstaunlich pfiffig aus, ganz anders als sonst, wenn sein ernster Gesichtsausdruck eher den Eindruck dümmlicher Ehrlichkeit vermittelte. Jetzt kam Stephanie der Gedanke, dass Daves Hirn hinter dem rundlichen Kindergesicht ebenso raffiniert und schnell war wie das von Vince Teague.

»Cogan könnte dem Piloten aus Denver Geld gegeben haben, damit er dort tankt, weil Cogan befürchtete, Spuren zu hinterlassen«, erklärte Dave. »Und wenn der Pilot aus Denver entsprechend bezahlt wurde, war er sicherlich mit diesem Ansinnen einverstanden.«

»Colorado Kid«, fuhr Vince fort, »blieben noch zwei Stunden, um nach Tinnock zu gelangen, bei Jan’s Wharfside einen Teller mit Fish and Chips zu holen, sich an den Tisch zu setzen, beim Essen aufs Wasser zu schauen und dann die letzte Fähre nach Moose-Lookit Island zu nehmen.« Während der Aufzählung bewegte er Stephanies linken Zeigefinger auf den rechten zu, bis sie sich berührten.

Fasziniert schaute Stephanie zu. »Ist das möglich?«

»Schon, aber es ist verdammt knapp«, erwiderte Dave seufzend. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn er nicht tot am Hammock Beach gelegen hätte. Du, Vince?«

»Nie«, sagte Vince wie aus der Pistole geschossen.

»Im Umkreis von zwölf Meilen von Tinnock gibt es vier Behelfsrollbahnen, die nur in der Hochsaison benutzt werden«, erklärte Dave. »Meistens starten dort im Sommer Touristen zu Besichtigungsflügen oder um sich im Herbst das bunte Laub anzusehen, wenn die Farben explodieren. Wir haben alle vier Rollbahnen auf die Möglichkeit überprüft, ob Cogan vielleicht ein zweites Flugzeug charterte, eine kleine Propellermaschine wie eine Piper Cub, und von Bangor zur Küste flog.«

»Ebenfalls ohne Erfolg, nehme ich an.«

»Da liegst du richtig«, gab Vince zurück, und er grinste eher trübsinnig als gerissen. »Von dem Moment an, wo sich die Fahrstuhltüren in Denver hinter Cogan schließen, besteht die Geschichte nur noch aus Schatten, die man nicht zu fassen bekommt … plus einer Leiche.

Drei der vier Landeplätze waren im April gar nicht in Betrieb, dort hätte also jemand landen können, ohne dass es einer bemerkt hätte. Beim vierten wohnte eine Frau namens Maisie Harrington mit ihrem Vater und rund sechzig Kötern. Sie behauptete, von Oktober 1979 bis Mai 1980 sei niemand bei ihnen gelandet, aber sie roch wie eine ganze Schnapsbrennerei, so dass ich meine Zweifel hatte, ob sie noch wusste, was eine Woche zuvor passiert war, von anderthalb Jahren ganz zu schweigen.«

»Und der Vater von dieser Frau?«, fragte Stephanie. 

»Blind wie ein Maulwurf und nur noch ein Bein«, erklärte

Dave. »Zucker.«

»Oje«, gab sie zurück.

»Ah jo.«

»Legen wir Jack und Maisie Harrington zu den Akten«, sagte Vince ungeduldig. »Ich habe nie an die Theorie mit dem zweiten Flugzeug geglaubt, genauso wenig wie an die Theorie mit dem zweiten Schützen bei Kennedy. Wenn in Denver ein Auto auf Cogan gewartet hat – und das kann ich mir nicht anders vorstellen –, dann kann auch eins am General Aviation Terminal auf ihn gewartet haben. Davon gehe ich aus.«

»Das ist sehr weit hergeholt«, sagte Dave, allerdings nicht spöttisch, sondern traurig.

»Kann sein«, erwiderte Vince unbeirrt, »aber wenn man das Unmögliche ausschaltet, ist das, was übrig bleibt … der kleine Hund, der an der Tür kratzt und reinwill.«

»Cogan könnte auch selbst gefahren sein«, sagte Stephanie nachdenklich.

»Mit einem Mietwagen?« Dave schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht, mein Mädchen. Autovermietungen nehmen nur Kreditkarten, das hätte eine Spur hinterlassen.«

»Außerdem«, fügte Vince hinzu, »kannte sich Cogan im Osten und an der Küste von Maine nicht aus. Soweit wir herausgefunden haben, war er nie zuvor hier gewesen. Du kennst die Straßen inzwischen, Steffi: Es gibt nur eine Hauptstraße, die von Bangor nach Ellsworth führt, aber wenn man in Ellsworth ist, gibt es drei oder vier Möglichkeiten. Da ist ein Auswärtiger, selbst wenn er eine Karte hat, schnell überfordert. Nein, ich glaube, Dave hat Recht. Wenn Colorado Kid mit dem Auto fahren wollte und vorher wusste, wie klein sein Zeitfenster sein würde, wird er dafür gesorgt haben, dass ein Fahrer auf ihn wartete. Jemand, der Bargeld brauchte, schnell fahren konnte und sich nicht verirrte.«

Stephanie dachte kurz nach. Die beiden Männer warteten.

»Das macht insgesamt drei Personen«, sagte sie schließlich.

»Ein Fahrer in Denver, der Pilot im Privatflugzeug und ein Fahrer hier.«

»Vielleicht sogar noch ein Copilot«, warf Dave schnell ein.

»So sind jedenfalls die Vorschriften.«

»Das ist doch so gut wie unmöglich«, bemerkte sie. Vince nickte seufzend. »Da widerspreche ich nicht.«

»Ihr habt keinen von denen gefunden, oder?«

»Nein.«

Sie dachte erneut nach, hielt den Kopf gesenkt, ihre sonst so glatte Stirn war tief gefurcht. Wieder ließen ihr die Männer Zeit, und nach vielleicht zwei Minuten schaute sie auf. »Aber warum? Was könnte fur Cogan so wichtig gewesen sein, um solche Umstände in Kauf zu nehmen?«

Vince Teague und Dave Bowie sahen sich an, dann sagte Vince: »Na, das ist wirklich eine gute Frage!«

»Eine supergute Frage«, echote Dave.

»Die größte Frage überhaupt«, ergänzte Vince.

»Natürlich«, meinte Dave. »War sie schon immer.«

Dann sagte Vince leise: »Wir wissen es nicht, Stephanie. Wir haben es nicht herausgefunden.«

Und Dave fügte noch leiser hinzu: »Das würde dem Boston Globe nicht gefallen. Ganz und gar nicht.«