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Einige meiner Leidensgenossen hatten es mir schon vorhergesagt: Es ist, als ob ein Schalter umgelegt wird. Wenn du dein Strafmaß kennst, kommst du zum ersten Mal wieder zur Ruhe. Selbst wenn es eine hohe Strafe ist. Du weißt jetzt, woran du bist, und kannst dein Leben – jedenfalls in sehr engen Grenzen – wieder planen.
Auch mir ging es so. Während meine Freunde in Hamburg sich noch darüber empörten, wie man mich unschuldig für 37 Monate einsperren konnte, spürte ich selbst vor allem Erleichterung. Ich wusste jetzt, dass ich im schlechtesten Fall noch etwa zwei Jahre im Gefängnis sitzen würde – abzüglich 15 Prozent good time wäre meine Strafe im Spätsommer 2008 verbüßt. Alles, was ich jetzt noch auf juristischem Wege erreichen konnte, würde diese Zeitspanne verkürzen. Und ich hoffte, bald in eine Strafvollzugsanstalt vom Level low security zu kommen, in dem ich andere und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten hätte. Ich ahnte ja nicht, welche Überraschungen mir noch bevorstanden.
Am 13. August wurde ich aus dem Broward County Jail wieder ins FDC Miami verlegt, und da ich diese Anstalt schon kannte, war ich froh über die Veränderung. Noch einmal musste ich allerdings eine zermürbende Aufnahmeprozedur über mich ergehen lassen, die sich über zehn oder elf Stunden hinzog. Dann brachten sie mich in den achten Stock des Gefängnishochhauses.
Aus einem Brief vom September 2006: Zeichnung meiner Zelle im FDC Miami
«Die Haftbedingungen im FDC Miami sind – ich wusste es ja schon – wesentlich besser als im Broward County Jail. Mir geht es also gut, es gibt hier viele gute Leute. Das durchschnittliche Alter hier im 8. Stock Westflügel schätze ich auf über 40 Jahre, viele Geschäftsleute, viele in ähnlicher Weise hereingelegt wie ich», berichtete ich meinen Freunden. Kurz vor meiner Ankunft hatte man den Schwiegersohn eines bekannten deutschen Feinkost-Millionärs aus unserer Abteilung entlassen. Unter meinen Mitgefangenen war ein Bauunternehmer aus New York, ein Unternehmensberater aus Düsseldorf und ein Arzt und Betreiber verschiedener Kliniken, in denen ein angeblich innovatives Medikament zur Krebstherapie verordnet worden war. Eine durchaus illustre Gesellschaft, und das Essen war so gut, dass ich anfangen musste aufzupassen, dafür gab es aber einen Fitness-Raum.
Im FDC Miami «bewohnten» wir die etwa acht Quadratmeter großen Zellen jeweils zu zweit. Etagenbett, Toilette, ein Waschtisch, der zum Schreibplatz verlängert war, zwei Kleiderhaken. Mit etwas gegenseitiger Rücksichtnahme kam man auf diesem begrenzten Raum ganz gut miteinander klar. Man benutzte die Toilette zum Beispiel nur, wenn gerade Aufschluss war und der Zellengenosse den Raum verlassen konnte. Jeder Gefangene hatte eine Metallkiste für seine persönlichen Sachen, und wer ein Schloss besaß, konnte diese sogar absperren. Auch die Aufbewahrung von Lebensmitteln, die es beim zentralen Gefangeneneinkauf gab, war erlaubt. Die Auswahl war nicht schlecht, vermutlich zugeschnitten auf die etwas kaufkräftigere Klientel, die hier einsaß. Ich legte mir einen Vorrat von Instantsuppen, Fisch und Fleisch in sogenannten pouches zu – licht- und luftdichten Beuteln aus Kunststoff. Thunfisch-pouches waren eine beliebte Währung unter uns Gefangenen, mit der man allerlei Tauschgeschäfte betrieb und gegenseitige Dienstleistungen wie Haarschnitte bezahlen konnte. Die Qualität dieser Konserven war nicht schlecht, und zu bestimmten Zeiten konnten wir auch die Küche benutzen. So kam es gelegentlich zu Essenseinladungen unter uns Inhaftierten.
Dennoch vergaß man keinen Moment, wie schnell es mit solchen kleinen Vergünstigungen vorbei sein konnte. Etwa wenn wieder mal inmates in den SHU gesperrt wurden, in Isolationshaft. Das passierte zum Beispiel, als ein junger Mitgefangener beschuldigt wurde, dass er Marihuana ins Gefängnis geschmuggelt habe. Gleich fünf Männer aus unserer unit verschwanden für unabsehbare Zeit im SHU.
Die sich anschließende Durchsuchungsaktion lief erstaunlich unspektakulär. Die ganze Habe der Gefangenen aus den lockern wurde akribisch aufgelistet, in Plastiksäcke verstaut und aus der unit gebracht. Im Broward County Jail hätten sich die Diensthabenden das Zeug kurzerhand unter den Nagel gerissen, hier schien es tatsächlich etwas ordentlicher zuzugehen. Vermutlich wusste die Gefängnisverwaltung, dass nicht wenige der Häftlinge hier in der Lage waren, sich für ihre Belange einzusetzen, im Zweifelsfall mit Hilfe teuer bezahlter Anwälte.
Viele meiner Mitgefangenen saßen wegen Drogendelikten hier, und ihre Strafen waren drakonisch. Zu ihnen gehörte zum Beispiel ein Haitianer, der ein Drogengeschäft vorbereitet oder besser gesagt verabredet hatte. Das Gespräch, das er wahrscheinlich mit einem Lockvogel geführt hatte, war vom FBI aufgezeichnet worden – er war in eine Falle gegangen. Als der Polizei bekannter Drogendelinquent war er für so eine Aktion prädestiniert, als Wiederholungstäter wurde er dann mit besonderer Härte verurteilt: zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe. Der Haitianer war fassungslos und ging dagegen in Berufung. Sein Urteil wurde aufgehoben, und er bekam eine neue Strafe: 25 Jahre.
Auch diesmal hatte ich im FDC einen Zellengenossen, mit dem ich mich sehr gut verstand: José Battle war, wie Carlos Alvarez, geborener Kubaner und etwa in meinem Alter. Darüber hinaus gab es eine ganze Menge Gemeinsamkeiten zwischen uns. Seine Frau war Lehrerin, sie hatten drei erwachsene Kinder. Ein Sohn war Rechtsanwalt, ein anderer Musiker. José Battle hatte wie ich längere Zeit in einer Band gespielt. Sein Instrument war die Bassgitarre. Angeklagt war er wegen Glücksspielgeschäften, Geldwäsche und conspiracy, und in einigen Punkten war er auch verurteilt worden. Er wartete auf sein sentencing, aber auch auf ein neues Strafverfahren, das die Staatsanwaltschaft gegen ihn eingeleitet hatte, nachdem sie mit der Anklage in mehreren Punkten nicht durchgekommen war. Die meisten seiner Mitangeklagten, darunter auch sein Vater, hatten ihre Verfahren schon mit einem plea bargain beendet.
Mit dem – illegalen – Glücksspielgeschäft war José quasi aufgewachsen; sein Vater hatte ihn als Juniorpartner frühzeitig in den Familienbetrieb einbezogen. Doch schon vor beinahe zwanzig Jahren war der Sohn aus diesem Unternehmen ausgestiegen und hatte begonnen, in Immobilien zu investieren. Das, was man ihm strafrechtlich hätte zur Last legen können, war lange verjährt. Unter der Überschrift «Geldwäsche» wurde ihm aber vorgeworfen, dass er illegal verdientes Geld in legale Geschäfte investiert habe. Aber auch dieses Delikt wäre schon verjährt gewesen – wenn die Staatsanwaltschaft nicht eine höchst eigenwillige Interpretation des Straftatbestandes «Geldwäsche» gefunden hätte: Danach war jede Art von Geschäftstätigkeit, die José seit seinem Ausstieg aus dem Glücksspielgeschäft betrieb, «Geldwäsche», und das quasi für den Rest seines Lebens. Legal hätte sich José demnach nur noch von der staatlichen Wohlfahrt ernähren können.
Da er mit einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren rechnete, reagierte er geradezu euphorisch, als sein PSI-Report eintraf, in dem eine Strafe von 46 bis 57 Monaten vorgeschlagen wurde. Aber er wusste auch, dass schon wieder ein neuer Strafprozess auf ihn zukam. Und er war entschlossen, bis zum Schluss zu kämpfen, weil das government sein gesamtes Vermögen eingefroren hatte. Seine Frau durfte gerade noch gegen Geld ein Shopping-Center managen, das ihm gehörte. José glaubte, dass das government nur das Geld wollte; an den strafrechtlichen Vorwürfen sei entweder nichts dran oder sie seien verjährt. Und nach allem, was ich selbst bisher erlebt hatte, und so, wie ich José einschätzte, glaubte ich ihm das.
Im März 2007 wurde José tatsächlich ein weiteres Mal verurteilt. Er muss, so vermerkt es die Website des Federal Bureau of Prisons, eine Haftstrafe bis zum Jahr 2017 absitzen. Mit dem Gerichtsurteil wurde zudem ein Vermögen von 632 Millionen Dollar beschlagnahmt – ein Vermögen, das José kaum je besessen haben dürfte. Das Gericht hat einfach alle geschätzten Gewinne aus dem Glücksspielgeschäft aus der Ära seines Vaters, seit den sechziger Jahren, zusammengezählt. Wie sehr die Staatsanwaltschaft tatsächlich im Dunkeln tappte, zeigte die Tatsache, dass sie ihn noch nicht einmal wegen Steuerhinterziehung anklagte: Dafür nämlich hätte sie Zahlen auf den Tisch legen müssen.
Wenige Monate später, im Sommer 2007, starb sein Vater, José Battle senior, im Alter von 77 Jahren im Gefängnis. Jahrzehntelang hatte er im Ruf eines godfather der exilkubanischen Mafia gestanden. Battle senior war einstmals Polizist im Dienst des kubanischen Diktators Fulgencio Batista gewesen. Als dieser 1959 von Fidel Castros Truppen aus dem Land gejagt wurde, ging auch Battle ins Exil. Im Auftrag der CIA bildete er seine Landsleute in Miami für den Kampf gegen das Revolutionsregime Castros aus – und nahm schließlich mit seinem Regiment an der Invasion in der Schweinebucht teil. Nachdem John F. Kennedy die amerikanischen Truppen kurz vor ihrem Einsatz auf Kuba zurückrief, hatten die Invasoren keine Chance mehr, ihren Krieg zu gewinnen. José Battle wurde von kubanischen Truppen gefangen genommen. Nach zwei Jahren kauften die USA ihn frei.
Ab Mitte der sechziger Jahre lebte er in den Vereinigten Staaten. Offenbar weitgehend unbehelligt von der amerikanischen Polizei, baute er zügig ein Glücksspielimperium auf. Die verbotene Lotterie Bolita war vor allem unter Exilkubanern beliebt. 1977 saß José Battle senior noch einmal für zwei Jahre im Gefängnis, wurde dann aber wieder freigelassen und machte einen auch für amerikanische Verhältnisse sonderbaren Deal: Er gestand seine Beteiligung an einem Mord im «Tausch» gegen die bereits abgesessenen Gefängnisjahre.
Erst 2004 änderte die Staatsanwaltschaft ihre Laisser-faire-Politik gegenüber den Geschäften des ehemaligen Glücksspielkonzerns: Sie verhaftete den 74-jährigen José Battle sen. und 20 weitere Beschuldigte wegen «organisierter Kriminalität», darunter auch meinen Zellengenossen José Battle jun. Er wird nun vermutlich noch viele Jahre seines Lebens für die Geschäfte büßen, die sein Vater unter den Augen der US-Regierung ungestört aufbauen konnte.
Das, was die Ankläger aus Josés Besitz dingfest machen konnten, ist inzwischen in den staatlichen Treasury Forfeiture Fund (TFF) geflossen, ein gemeinsames Unternehmen des Finanzministeriums und des nach dem 11. September 2001 neu eingerichteten US Department for Homeland Security. Dieser Fund sammelt und verteilt beschlagnahmte Vermögenswerte von angeblichen Straftätern. Im Jahresbericht für 2006 präsentiert der TFF unter der Überschrift Highlights stolz eine Villa und ein Apartmenthaus, die einst José gehörten. Gezeigt wird auch eine Reihe von schicken Autos, darunter eine Stretchlimousine, die von anderen Verurteilten kassiert wurde. Der weitere Verwendungszweck? Häuser, Boote, Autos und Flugzeuge werden an Polizei, FBI oder andere law enforcement agencies weitergegeben und dort benutzt. Es sind Fälle dokumentiert, in denen die Polizeichefs selbst stolz mit den beschlagnahmten Gangster-Autos durch die Stadt fuhren. Millionen US-Dollar aus dem Besitz angeblicher Straftäter fließen außerdem in Ausrüstung und Fortbildung der Gesetzeshüter (mehr dazu unter www.fear.org).
So alimentiert der Apparat sich selbst – und schafft sich damit eine unmittelbare materielle Motivation, möglichst viele Menschen zu kriminalisieren. Auch ganz normale, eher mittelmäßig verdienende Bürger der USA können ihr Geld, ihr Auto, ihr Haus oder Grundstück verlieren, wenn auch nur der Verdacht besteht, etwas davon könnte zu einer Straftat benutzt worden sein. Es gibt zahllose Fälle, in denen die Betroffenen niemals wegen irgendetwas verurteilt wurden und ihr Eigentum trotzdem nicht zurückerhielten.
Nachträglich bin ich richtig froh darüber, dass mein Angebot, eine Million Dollar als Kaution zu stellen, vom Richter abgelehnt wurde. Vermutlich säße ich immer noch in Florida fest, mein Geld und meine Grundstückswerte wären inzwischen beschlagnahmt und in einen Polizei-Unterstützungs-Fonds geflossen. Eine ganze Reihe meiner Mitgefangenen waren Geschäftsleute, die den Eindruck hatten, dass ihre Strafverfahren vor allem betrieben wurden, um an ihr Geld heranzukommen. Die Staatsanwaltschaft drohte ihnen horrende Strafen an, oft von 20 Jahren und mehr, und schuf damit die Legitimationsgrundlage, ihr Vermögen einzuziehen. Unter dem Eindruck solcher Drohungen und Maßnahmen stimmten viel einem plea agreement zu und akzeptierten eine Freiheitsstrafe von «nur» einigen Jahren. Damit aber bekannten sie sich unwiderruflich als schuldig und hatten natürlich erst recht keine Chance mehr, ihr Geld wiederzubekommen.
Natürlich, darüber war ich mir auch damals im Klaren, saßen im FDC Miami nicht nur Unschuldige hinter Gittern. Und natürlich gibt es zu den Geschichten, die manche von ihnen erzählten, oft eine ganz andere Version von Polizei und Staatsanwaltschaft. Ich war lange genug Anwalt, um das zu wissen. Aber warum sollte sich jemand eine Story ausdenken, wie sie mir ein junger Mithäftling – nennen wir ihn Silvio – erzählte?
Der Student war angeklagt, in der Wohnung seiner Exfreundin Feuer gelegt zu haben. Sie hatte ihn verdächtigt, und die Ermittler hatten auf seinem Computer Spuren einer Internetrecherche zum Thema Brandstiftung gefunden. Ich weiß nicht, ob Silvio diese Tat begangen hat. Sein Vater jedenfalls war von seiner Unschuld überzeugt. Er reiste zum Ort des Geschehens und begann, im Umfeld zu recherchieren: Gab es Zeugen oder andere Hinweise, die seinen Sohn entlasten könnten? Schließlich traf er auf einen Mann, der behauptete, er habe Kontakt zu einem Augenzeugen des Brandes. Und dieser wiederum könne etwas darüber sagen, wer das Feuer wirklich gelegt habe. Silvios Vater war natürlich überaus interessiert daran, diesen Zeugen kennenzulernen. In einem zweiten Gespräch erklärte ihm der Vermittler dann, der Zeuge sei zwar gern bereit, ihn zu treffen, aber er habe einige Auslagen – Fahrtkosten und so weiter. «Kein Problem», sagte Silvios Vater, «um was für einen Betrag geht es denn?»
Das waren ein paar Worte zu viel. Silvios Vater wurde verhaftet: Er war in eine Falle gegangen, die ihm das FBI gestellt hatte. Der Vorwurf: Er habe versucht einen Zeugen zu «kaufen». Nun saßen Vater und Sohn also im selben Gefängnis, wenn auch auf unterschiedlichen Etagen. Natürlich erfuhr Silvio von der Verhaftung seines Vaters. Und er hörte auch, dass diesem ein Deal angeboten worden war: Wenn er bereit sei, seinen Sohn zu belasten, käme er frei. Was tat Silvio? Er bat seinen Vater inständig, gegen ihn auszusagen. Damit jedenfalls einer von ihnen in die Freiheit zurückkehren könnte. Ich weiß nicht, wie Silvios Vater sich entschieden hat.
Ein anderer junger Mitgefangener namens John hat mir erzählt, vor welche Wahl er gestellt war. Der Mann war EDV-Spezialist und als solcher bei der Polizei irgendwo in Südamerika beschäftigt gewesen, bis ihn das FBI nach Florida abgeworben hatte. Möglicherweise hat er seinen Job dort dazu missbraucht, die Datenbank der Einwanderungsbehörden zu knacken und einem oder zwei seiner Freunde bei der Beschaffung einer Aufenthaltserlaubnis zu helfen. Jedenfalls saß er mit diesem Tatvorwurf im Gefängnis. John war schon einige Zeit im FDC Miami inhaftiert, als er eines Nachts plötzlich abgeholt und zu einer Polizeidienststelle gebracht wurde. Dort warteten überraschenderweise bereits der Staatsanwalt und sein Verteidiger auf ihn. Er wurde gefragt, ob es ihm möglich sei, über die Daten von Mobiltelefonen an die Kontodaten ihrer Inhaber heranzukommen. Nach kurzem Überlegen bejahte er und musste sein Können auch gleich auf die Probe stellen: Es gelang ihm, die Vertragsdaten eines Telefonkunden einzusehen und sich so auch in seine Bankverbindung einzuhacken.
Er hatte die Prüfung bestanden, und nun folgte das Angebot: Wenn er bereit war, seine Fähigkeiten der Polizei zur Verfügung zu stellen, würde er freigelassen. Die Bedingung: Er müsse rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Warum rund um die Uhr?, fragte er. Weil man eben nicht zu allen Tages- und Nachtzeiten an einen richterlichen Beschluss herankam. Mit anderen Worten: Er sollte richterlich nicht genehmigte, illegale Ermittlungen für die Polizei übernehmen. Nach einigem Überlegen lehnte der junge Mann das Angebot ab. Ob er gut daran getan hat? Ich weiß nicht, was später aus ihm geworden ist.
Vermutlich erzählten mir manche Insassen solche Geschichten auch deshalb, weil sich bald herumgesprochen hatte, dass ich Rechtsanwalt war. Viele kannten mich namentlich, manche sprachen mich sogar ehrfürchtig mit Doctor an und suchten meinen Rat. Natürlich konnte ich ihre Erzählungen nicht nachprüfen, und ich kannte mich auch im amerikanischen Recht nicht gut genug aus, um wirklich helfen zu können.
Aber das, was ich über manche Fälle – wie etwa den von Carlos Alvarez, Martino D. oder José Battle – später in Gerichtsdokumenten und Presseberichten nachlesen konnte, bestätigte alles, was meine Mithäftlinge mir erzählt haben. Und insgesamt ähneln alle diese Geschichten einander und dem, was mir selbst passiert ist, zu sehr, um anzunehmen, dass sie zum größeren Teil erfunden oder grob übertrieben waren.
Erpressung, Bespitzelung, Zeugenbeeinflussung, die Verwendung «schmutziger» Gelder für legale Geschäfte: All das, wofür viele der Männer, die ich im Gefängnis kennenlernte, jahrelang eingesperrt waren, scheint zu den ganz alltäglichen Praktiken der amerikanischen Gesetzeshüter selbst zu gehören. Aber die Gesetze gelten dort immer nur für die anderen. Erst wenn jemand über die Stränge schlägt wie Sheriff Ken Jenne oder die Richter Conahan und Ciavarella, erst wenn sich jemand aus diesem System mit seinen Praktiken Neider und Feinde in den eigenen Reihen schafft, muss er fürchten, dass die Gesetze auch einmal gegen ihn selbst angewendet werden.
«Wenn du das alles weißt, wie das hier so geht, was sie mit den anderen so machen, dann bleibt nur ein Schluss», schrieb ich an meinen Freund Uli Stellfeld, «ich habe insgesamt noch richtig Glück gehabt und sollte das alles zum Anlass nehmen, auf die positiven Seiten zu schauen. Und genau das tue ich auch!»