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Es war der Sommer, in dem in Deutschland die Fußball-WM stattfand und plötzlich alle Welt Sudokus löste. Von beidem schwappte auch etwas in meine Gefängniszelle im Broward County Jail. Mittlerweile war ich fast ein halbes Jahr in Haft. Die ersten Sudokus schickte mir eine meiner Töchter, wie immer in Briefform. Sie hatten mich schon vorher mit verschiedenen Knobeleien versorgt, die mir halfen, mich abzulenken und meine Gedanken auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Mit wachsender Leidenschaft begann ich jetzt die Zahlenrätsel zu knacken, und bald war mir kein Level mehr zu schwer. Ich entdeckte, dass Sudokus auch in den zerfledderten Lokalzeitungen zu finden waren, die gelegentlich im Gemeinschaftsraum des Broward County Jail auslagen.
Über die Fußball-WM erfuhr ich aus den amerikanischen Zeitungen und TV-Programmen nur wenig. Aber viele Freunde berichteten in ihren Briefen darüber. In Deutschland herrschte wochenlang Partystimmung, und alle freuten sich darüber, dass plötzlich eine neue Form des Patriotismus, ganz ohne nationalistische Züge, möglich geworden war. Selbst einer meiner altlinken Freunde gestand mir, dass er eine Deutschlandfahne aus seinem Fenster gehängt habe. Nach dem Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien, das «wir» nach dramatischem Spielverlauf in der Verlängerung gewannen, konnte ich mit einem meiner Söhne telefonieren und bekam einen genauen Bericht über das Spiel.
In Hamburg geschah in jenen letzten Junitagen des Jahres 2006 noch etwas anderes, was uns allen das Leben ein bisschen leichter machte: Nach schleppenden Verhandlungen hatten Jan Jütting und meine Töchter den Verkauf einer Immobilie erfolgreich abgeschlossen. Die akuten Liquiditätsprobleme in meiner Kanzlei waren damit erst einmal gelöst. Wenige Tage später kam die nächste gute Nachricht: Wir hatten das Verfahren gegen Carl F. auch vor dem Oberlandesgericht gewonnen. Noch einmal hatte mir also ein deutsches Gericht bestätigt, dass ich mit einem legal claim nach Florida gekommen war und deshalb überhaupt kein Erpresser sein konnte. Dieses Urteil hatten wir unbedingt abwarten wollen, bevor der Termin für das sentencing, für die Festlegung meines Strafmaßes, stattfand. Deshalb hatten wir selbst einen Aufschub in diesem Verfahren beantragt.
Mit der Telefonverbindung nach Deutschland gab es immer wieder Probleme. Oft blieben mir nur die Briefe. Manchmal schrieb ich Dutzende Seiten an einem Tag. Ich notierte penibel jede Sendung, die bei mir eintraf, in einem Posteingangsbuch. Damit wollte ich nicht nur überprüfen, ob mir meine Post im Gefängnis vollständig zugestellt wurde. Ich brauchte diese Kontrolle auch zur Beruhigung meiner eigenen Nerven: So konnte ich schwarz auf weiß nachlesen, wer mir wann zuletzt geschrieben hatte. Diese Post aus Deutschland hielt mich im wahrsten Sinne des Wortes am Leben, und darauf zu antworten war die sinnvollste Möglichkeit, meine Tage zu füllen.
Manchmal habe ich meine Angehörigen mit meinem Bedürfnis, den Überblick über alle Aktivitäten in Hamburg zu behalten, wohl auch ziemlich genervt. In meinen Briefen finden sich Listen von bis zu 40 Einzelpunkten, die sie erledigen oder beantworten sollten. Und gelegentlich erntete ich dafür ein etwas gequältes «Wir tun ja schon, was wir können!».
Es gab draußen Menschen, die sich hervorragend um all meine Belange kümmerten – und ich musste mich damit abfinden, dass ich dazu wenig beitragen konnte. «So beschissen es ist, hier in den USA im Knast zu sitzen, etwas Gutes hat es für mich», schrieb ich an einen Freund, «ich habe jetzt eine Zwangspause einlegen müssen und werde zu der Erkenntnis gezwungen, dass es durchaus auch ohne mich geht, weil es einfach ohne mich gehen muss. Ich kann Dir nur sagen, dass sich bei mir jede Menge ändern wird, wenn ich zurück bin. Was immer mit mir hier passieren wird, diese Gelegenheit kommt für mich vielleicht nicht so schnell wieder, mich grundsätzlich in Bereichen neu zu orientieren.»
Ich hatte das, was mir immer gefehlt hatte, plötzlich im Überfluss: Zeit. Ich begann Pläne zu schmieden, nicht nur für das Leben nach meiner Entlassung, sondern auch für meine weitere Haftzeit. Ich würde beginnen, ein Buch über Gitarren zu schreiben – eigentlich hatte ich das schon so lange vor! Ich beauftragte meine Söhne, schon einmal herauszufinden, welche Arbeitsmöglichkeiten es in den verschiedenen Strafanstalten gab, die für mich in Frage kamen: Internet? Eine Bibliothek? Möglichkeiten, Musik zu machen?
Ein alter Freund schrieb mir, ihm sei etwas aufgefallen: In meinen Briefen sei Anteilnahme und Interesse am Leben anderer zu spüren. So etwas habe er bei mir schon seit vielen Jahren nicht mehr wahrgenommen. Er hatte leider recht. Ich antwortete ihm: «Für mich hat sich einiges geändert und ich habe mich selbst geändert. Das betrifft nicht nur die äußeren Umstände durch das Eingesperrtsein, das Briefeschreiben, es hat für mich auch Veränderungen der Wertvorstellungen gegeben. Das hat sehr früh nach der Inhaftierung mit den kleinen Dingen angefangen: z. B. die Wertschätzung eines Styropor-Bechers, den man zum Trinken von Wasser hier benutzt. Nichts ist selbstverständlich und gewinnt dadurch eine ganz andere Bedeutung als zu Hause (so insbesondere das Essen). Bei den kleinen Dingen bleibt es aber nicht, da ist dann sehr schnell das im Fokus, was Du richtig mit ‹Anteilnahme› und ‹Kommunikation› bezeichnest. In der Tat, es ist bedauerlich, dass es erst eines Gefängnisaufenthaltes bedurfte, um solche Prozesse auf den Weg zu bringen, aber in diesem Satz steckt auch, dass diese Prozesse etwas außerordentlich Positives sind, eine Chance, die nicht einfach vertan werden darf!»
Ende Juli verbrachte meine Tochter Lisa zwei Wochen in unserem Haus auf Mallorca. Von dort schickte sie mir eine Ansichtskarte. «Der Weg ist sehr steinig und irgendwie bedrohlich, doch ist die Aussicht klar und wunderschön: unendlicher Horizont und grenzenlose Freiheit», schrieb sie über eine Wanderung, die sie dort gemacht hatte. Etwas Besseres hätte sie über die Situation, die wir alle gemeinsam und doch voneinander getrennt zu bewältigen hatten, nicht sagen können.
Ich antwortete ihr: «Ja, manchmal ist ein Weg beschwerlich. Ich freue mich umso mehr darauf, wieder bei Euch zu sein. Es gibt wirklich eine klare und wunderschöne Aussicht.»
Am 10. August 2006 war es so weit: An diesem Tag, rund sieben Monate nach meiner Verhaftung, würde darüber entschieden, wie lange ich im Gefängnis bleiben musste. Bei uns allen lagen die Nerven blank. Wir hatten alles getan, was zur Vorbereitung dieses letzten, entscheidenden Gerichtstermins getan werden konnte.
Da war zunächst einmal der sogenannte Presentence Investigation Report (PSI-Report), der in den 70 Tagen zwischen Schuldspruch und Festlegung des Strafmaßes erstellt wird. Dies übernimmt der probation officer, in meinem Fall eine taffe junge Frau namens Kathrin Gomez. Als diese ihren Besuch ankündigte, wusste ich schon, dass es nicht darum ging, mit der Dame unverbindlich zu plaudern und dabei einen guten Eindruck zu machen. Alles, was ich in diesem Gespräch sagte, konnte gegen mich verwendet werden, und deshalb bereitete Jeanne Baker dieses Gespräch akribisch mit mir vor.
Für den PSI-Report ist es zum Beispiel eine wichtige Frage, ob man bereit ist, Verantwortung für seine Straftat zu übernehmen. Eine solche Form der Reue wirkt sich strafmildernd aus, sie hätte aber in meinem Fall auch als Schuldeingeständnis gewertet werden können. Und ich wollte mir die Möglichkeit, mit einem appeal für einen Freispruch zu kämpfen, auf keinen Fall verbauen. Die Unterhaltung zwischen Kathrin Gomez und mir beschränkte sich deshalb schließlich auf die Erhebung einiger biographischer Stationen und Finanzdaten.
Mein probation officer hatte an der Verhandlung gegen mich nicht teilgenommen, aber hatte jetzt die Aufgabe, alle wesentlichen Tatbestände noch einmal zusammenzustellen. Ihre wichtigste Informationsquelle war die Staatsanwaltschaft, und deren Schriftsätze schrieb sie denn auch zum Teil wortwörtlich ab. Das Absurde an diesem Vorgang war nur, dass die Staatsanwaltschaft wiederum die Darlegungen von Frau Gomez als weiteren «Beweis» für diese Taten in das sentencing einbrachte! «Es wird Dich vermutlich nicht wundern, wenn ich Dir erzähle, dass eine Lüge nach der anderen serviert worden ist (und mit Lüge meine ich vorsätzliche Mitteilung der Unwahrheit). Ich habe mich in diesem Verfahren manches Mal gefragt, ob das Government, also die Staatsanwaltschaft, nicht ganz genau weiß, dass wir unschuldig sind. Ich kann die Frage bis heute nicht sicher beantworten, das vorsätzliche Verbreiten von Unwahrheiten – Tatsachenbehauptungen der Anklage, deren Gegenteil sich in der Beweisaufnahme herausgestellt hat – deutet stark darauf hin. Warum tun die so was?», fragte ich mich in einem Brief an einen Freund.
Noch vor der mündlichen Verhandlung fassten Verteidigung und Ankläger ihre Sicht der Dinge schriftlich zusammen und tauschten Schriftsätze darüber aus. Jeanne Baker hatte dabei eine ausgesprochene Gratwanderung zu bewältigen: Sie hatte darum gekämpft, dass ich «nicht schuldig» gesprochen wurde. Und sollte jetzt dem Richter überzeugend darlegen, dass ich ein reuiger Täter war und bereit, nach einem einmaligen Ausrutscher künftig gesetzestreu zu leben.
Der Staatsanwalt Chris Clark ließ derweil nichts unversucht, mich in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. In seiner Stellungnahme zum Strafmaß war plötzlich vom Verdacht der Geldwäsche die Rede, ein Vorwurf, zu dem es nicht einmal ein Ermittlungsverfahren gegeben hatte. Außerdem legte Chris Clark Informationen vor, die er auf einem Umweg vom Bundeskriminalamt bekommen hatte – Daten, deren Weitergabe illegal ist. Das BKA hatte die Hamburger Staatsanwaltschaft über zwei Ermittlungsverfahren gegen mich informiert, die längst eingestellt waren; und diese hatte die Auskünfte wiederum an ihre amerikanischen Kollegen weitergegeben. In dem einen Fall handelte es sich um die angebliche Fahrerflucht eines meiner Kinder, im anderen um die Strafsache eines Mandanten, in der für kurze Zeit auch gegen mich ermittelt worden war. Mit diesem «Vorstrafenregister» wollte Chris Clark also den Eindruck erwecken, dass ich eben doch keine blütenweiße Weste hatte. Und wenn Jan Jütting und meine Töchter nicht noch einen Tag vor dem sentencing Stellungnahmen von Anwälten und Richtern aufgetrieben hätten, die meine Unschuld belegten, wäre ihm das wohl auch gelungen.
Ein zweiter wichtiger Bestandteil unserer Argumentation waren die sogenannten character references. Auch hier liefen meine Kinder und mein gesamtes soziales Umfeld noch einmal zu Hochform auf. Es ging darum, persönliche Statements von Menschen vorzulegen, die in meinem bisherigen Leben mit mir zu tun gehabt hatten und etwas darüber sagen konnten, ob ich ein guter Kerl war oder auch nicht. Etwas Vergleichbares gibt es im deutschen Recht nicht. Aber Leute, die bereit waren, mir eine solche Referenz zu schreiben, gab es in meinem Umfeld genug: Angehörige, Freunde, Angestellte, Mieter, Nachbarn, Kollegen und Vertreter verschiedener Hamburger Institutionen, mit denen ich beruflich zu tun hatte. Jeanne Baker packte dem Richter einen dicken Stapel mit rund 50 Schreiben auf den Tisch, die bezeugten, wie sehr ich als Anwalt, Vermieter und Familienvater in meinem Beruf und meinem Stadtteil verwurzelt und geachtet war.
All das zusammengenommen ergab unsere Argumentation für eine downward departure. Was sich anhört wie der Titel eines amerikanischen Roadmovies, bedeutet etwa so viel wie eine Abwärtsbewegung in der Festlegung der Strafmaßrichtlinien. In meinem Fall war nach Ansicht des probation officer eine Strafe zwischen 63 und 78 Monaten angemessen. Chris Clark wollte so viel wie möglich, nämlich 78 Monate. Er hatte im Vorfeld des PSI-Report sogar versucht, das Strafmaß noch um weitere 12 Monate zu erhöhen – mit der Begründung, dass ich Anwalt sei und deshalb besonderen Anforderungen an mein Rechtsempfinden genügen müsste. Damit allerdings war Frau Gomez nicht einverstanden gewesen. Jeanne Baker machte nun nach allen Regeln der Kunst klar, warum der Strafrahmen deutlich niedriger liegen müsste, nämlich zwischen 37 und 43 Monaten.
Aber auch diese Strafe, meinte meine kämpferische Anwältin, sei in meinem speziellen Fall noch viel zu hoch. Dabei berief sie sich auf ein Urteil, das in der amerikanischen Justiz Rechtsgeschichte geschrieben hat: Im Jahr 2005 hatte der Supreme Court in einem Strafverfahren gegen einen Angeklagten namens Booker entschieden, dass die bisher verbindlichen Strafmaß-Richtlinien mit der amerikanischen Verfassung unvereinbar seien. In speziellen Fällen dürfen die Gerichte diese Richtlinien mit der Berufung auf Booker seitdem auch über- oder unterschreiten. Solche Gesichtspunkte, so trug Jeanne Baker vor, bestanden in meinem Fall in meinem Alter, in meinem gesundheitlichen Zustand und in der Tatsache, dass ich als Ausländer in den USA nicht in den Genuss von Rehabilitationsprogrammen kommen würde. Und natürlich auch in dem Umstand, dass selbst der Richter erheblich daran zweifelte, ob ich überhaupt eine Straftat begangen hatte. Meine Verteidigerin zitierte Dutzende Gerichtsurteile, bei denen es unter solchen Umständen zu einer drastischen Verkürzung der Strafe gekommen war.
Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte schlug sie eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun bis zehn Monaten vor. Danach wäre ich in wenigen Wochen frei! Eigentlich hatte ich mir, während ich auf das sentencing wartete, jede Spekulation darauf verboten, dass meine Entlassung in greifbare Nähe rücken könnte. Aber als ich diesen Schriftsatz von Jeanne Baker im Broward County Jail zum ersten Mal las, fing ich doch wieder an – zu hoffen.
Zur Verhandlung am 10. August 2006 trafen wir alle wieder in dem inzwischen vertrauten Gerichtsgebäude in Fort Lauderdale zusammen, das nur wenige hundert Meter vom Broward County Jail entfernt liegt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch einmal in diesem schlimmen Knast ausharren müssen.
Inzwischen kannte ich all das ja schon: dass ich in Ketten gelegt wurde, dass man mich in diesen seltsamen Tiertransporter bugsierte und zum Gericht fuhr, wo ich in einer Arrestzelle erst einmal stundenlang warten musste. Irgendwann wurde ich dann in den Gerichtssaal geführt und konnte auf der Anklagebank zwischen meinen beiden Verteidigern Jeanne Baker und Jan Jütting Platz nehmen. Heute, das wussten wir alle, würde sich entscheiden, wie mein Leben weiterging. Und auch das Leben in Hamburg, in meiner Kanzlei und in der Familie. Sieben Monate lang hatte Jan Jütting, zusammen mit meinen Töchtern, rund um die Uhr gearbeitet, um das Büro aufrechtzuerhalten, mich als Arbeitgeber gegenüber unseren Mitarbeitern zu vertreten, die finanziellen Belange der Immobilienverwaltung in den Griff zu bekommen und meine Verteidigung zu organisieren. Auch für sie würde sich an diesem Tag endlich entscheiden, ob sich all das gelohnt hatte: ob ich in absehbarer Zeit nach Hause zurückkehren würde und das Anwaltsbüro Berkau weiter existieren könnte.
Am Vormittag lief es nicht wirklich gut für uns. Richter William Dimitrouleas wirkte desinteressiert, stellte kaum Fragen und machte mit verschiedenen Bemerkungen deutlich, dass er überhaupt keinen Grund für eine downward departure sah. Ich wusste, dass der Staatsanwalt mich für über sechs Jahre im Gefängnis sehen wollte, und meine Hoffnung auf eine mildere Strafe schwand immer mehr. Auch Jeanne Baker und Jan Jütting wirkten bedrückt und sehr besorgt.
Am Nachmittag drehte sich das Blatt, und zwar ausgerechnet in dem Augenblick, als Chris Clark begann, die verlangten 78 Monate zu begründen. Der Richter ließ den prosecutor kaum ausreden und stellte eine kritische Frage nach der anderen. Danach hatte Jeanne Baker die Möglichkeit zu erwidern. Endlich einmal hatte die Verteidigung das letzte Wort, und nicht, wie es im Strafprozess der Fall gewesen war, der Ankläger. «Ich habe sie noch nie so gut erlebt wie in diesen Minuten!», schrieb ich ein paar Tage später an einen Freund. «Getragen von dem Wissen und der tiefen Überzeugung meiner Unschuld nahm sie Stück für Stück alles auseinander, was nicht für eine Herabsetzung des Strafmaßes hätte sprechen können. Sie war wirklich beeindruckend, ich habe gehört, dass auch die im Saal anwesenden marshals die Augenbrauen hochgezogen haben. Zu etwa diesem Zeitpunkt habe ich mich dann getraut, meine Prognose auf den vor mir liegenden Zettel zu schreiben und Jan, der neben mir saß zuzuschieben: 48 Monate.» Den Zettel habe ich aufbewahrt, bis heute.
Am Ende bekam auch ich die Möglichkeit, ein Schlusswort zu sprechen. Und da hatte ich meine Gefühle nicht mehr im Griff. In diesem Augenblick kulminierte alles, was ich in den vergangenen sieben Monaten erlebt hatte, vor allem aber meine Ohnmacht und Wut darüber, in einem mir völlig unverständlichen System gefangen und reiner Willkür ausgeliefert zu sein. Aber auch die Vorwürfe, die ich mir selbst immer wieder wegen der unfassbaren Naivität gemacht hatte, durch die ich in diese Lage geraten war.
Ich brachte schlicht kein Wort heraus. Jeanne Baker bat das Gericht, mir etwas Zeit zu lassen. Ein paar Minuten später sagte ich dann doch noch etwas: Ich erklärte, dass ich niemals vorgehabt hätte, irgendjemandem etwas zuleide zu tun. Dass ich aber bereit sei, die Verantwortung für den Gesetzesverstoß zu übernehmen, den die Jury festgestellt habe. Und ich bat den Richter, meine Strafe so niedrig festzusetzen, wie es ihm nach rechtlichen Grundsätzen möglich war.
Unmittelbar nach meinem Statement gab William Dimitrouleas seine Entscheidung druckreif zu Protokoll: 37 Monate. Jan Jütting erinnert sich daran, dass in diesem Augenblick ein schelmisches Lächeln über mein Gesicht huschte. Dies war keine Stunde des Triumphes. Aber zum ersten Mal hatten wir eindeutig gewonnen.
Die Entscheidung, ob ich angesichts dieser Strafzumessung noch in den appeal gehen sollte, fiel mir leicht. Die Alternative dazu hieß treaty transfer, ein Überstellungsverfahren in die Bundesrepublik Deutschland, das durch ein Straßburger Abkommen von 1983 geregelt ist.
Ein appeal in den USA hat – ganz ähnlich wie bei uns eine Revision beim Bundesgerichtshof – eine Erfolgsaussicht von weniger als 15 Prozent. Das Verfahren dauert 12 bis 18 Monate und kostet zwischen 50 000 und 150 000 US-Dollar. Wenn ich den appeal gewinnen würde, müsste das Verfahren neu aufgerollt werden: Ich musste dann damit rechnen, sogar länger als 37 Monate in Haft zu bleiben, bis ein erneuter Strafprozess abgeschlossen war! Ein gewonnener appeal bedeutet für beide Seiten zudem neues Spiel und neues Glück. Man kann auch zu einer höheren Strafe verurteilt werden als in der ersten Instanz. Erst dann, wenn das Urteil gegen mich rechtskräftig geworden war, konnte ich beginnen, meine Auslieferung nach Deutschland zu betreiben. Das Treaty-transfer-Verfahren war schneller durchführbar als ein appeal, es kostete weniger Geld, und es hatte recht gute Erfolgsaussichten.
Meine Entscheidung war schnell getroffen: Ich wollte in diesem Unrechtssystem nicht mehr um meine Rehabilitation, nicht mehr um Gerechtigkeit kämpfen. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause.