1962
Der blaue Wald über dem verstreuten Ort, kleine Villen, satte Menschen, eisenhaltiges Mineralwasser, die häßliche Betonkirche, die Weinberge, eine laue Sonne – Betriebsamkeit.
In zwei Tagen ist ein Fest, ein Kirchtag. Auf einem Wagen festgezurrt ein langer entrindeter Baumstamm und lachende Menschen, Musik und Gekreische.
Sie trinken und reden und laufen neben dem Wagen her. Musik klingt aus Blech, und durch den Viadukt sieht man den Hauptplatz, Buden, Bäume, dahinter den Kurpark.
Der Baum wird behängt und gehoben. Die Begleiter verteilen sich auf Gasthäuser, Cafes und Espressos.
Er steht da und schaut ins Gedränge. Die Falte ist steil auf der Stirn im sonnenverbrannten Gesicht. Er ist siebzehn und schmal und unruhig. Neben ihm steht einer. Kleiner, mit mächtigen Schultern und winzigem Kopf. Die Arme sind wie Keulen, doch pendeln sie locker im Gehen. Sandfarbenes Haar, kurz geschnitten. Helle, fast wimpernlose Augen.
»Weißt du, wo sie ist?« fragt der Schmale.
»Nein, Heinz, ich weiß es nicht«, sagt der andere, »aber wir werden sie finden.«
Sie gehen die Treppe hoch ins Park-Cafe. Setzen sich auf Stühle. Mädchen reden am Nebentisch.
»Robert – such sie«, sagt Heinz leise.
»Dein Vater hat dir verboten …«, sagt Robert.
»Mein Vater hat mir vieles verboten – wenn du sie findest, bring sie her, ich warte hier«, sagt Heinz. Robert verläßt die Terrasse. Heinz bestellt ein Glas Wein und schaut gegen die alten Bäume.
… »ich habe dir verboten, mit Nutten zusammenzusein, erinnere dich, und ich habe dir versprochen, ich erschlage dich, wenn du dich wieder mit einer abgibst« … so hatte der Alte gesagt.
Der Junge streift die Asche von der Zigarette. Sie hat schwarzes Haar, es legt sich zärtlich um ihr schmales Gesicht.
Er bestellt ein Glas Wein. Das Treiben am Platz ist dicht und laut. Sinnloses, Buntes, marktschreierisch Grelles. Wie Segel spannen sich die Zeltwände über die Pulte. Gesponnener Zucker und türkischer Honig, Puppen und Knallfrösche, Blechtrompeten und Kapselrevolver. Kinder balgen sich vor dem Schaukelgerüst und pressen Münzen in verkrampften, klebrigen Fäusten.
»Bist du schlecht gelaunt?« fragt ein Mädchen vom Nebentisch. Der Junge nickt abwesend in ihr sorgloses Gesicht.
›Ich bringe ihn um … ich bringe ihn um.‹ Er denkt es, weiß es deutlich, weiß es seit einem Jahr oder länger, denkt es oft, bis ihm der Schweiß vom Hals in die Schulterblätter rinnt, es ist ein vertrauter Gedanke, erschreckt ihn nicht, aber er hat es nie getan, er hat ihn nicht erschlagen, nicht erwürgt, nicht niedergestochen, hat sich nur gefreut, gemästet an den Vorstellungen, wie er es tun wird, wie er den Vater töten wird. Der Haß war alt und kühl geworden, er hatte es verschoben und verdrängt, bis wieder ein Punkt erreicht war, wo alles hochgeschwemmt wurde, dann verkroch er sich vor den Menschen und wollte töten – und konnte es nicht. Der Junge winkt dem Serviermädchen. Sie bringt ein volles Glas. Licht spiegelt sich am Schliff, auch an der Kante des Feuerzeugs.
»Kommt die Silvie nicht?« fragt das Mädchen wieder. Er hebt die Schultern. »Später«, sagt er.
»Sag, Heinz, ist es wahr, daß sie auf den Strich geht? Ich hab es gehört«, sagt das Mädchen zu ihm gebeugt.
»Ich weiß es nicht«, antwortet er und trinkt sein Glas aus. Ein alter klappriger Skoda hält, Robert winkt, läßt den Motor laufen. Der Junge bezahlt, geht über die Treppe hinunter und steigt ein.
»Sie ist zu Hause, ich bringe dich hin«, sagt er und fährt los. Mit verkniffenem Mund schaut der Junge durch die Scheiben. Beim Berg neben dem Bahndamm tuckert der Motor asthmatisch. Robert schaltet in den zweiten Gang. »Jetzt fällt er bald auseinander«, sagt er.
»Ist sie allein?« fragt Heinz.
»Ja«, sagt Robert. Eine Viertelstunde später biegt Robert in Wiener Neustadt zum Domplatz ein.
»Wir sehen uns morgen«, sagt der Junge und steigt aus.
Er geht langsam über den staubigen Platz und schwenkt in eine schmale Gasse ein. Das Haus liegt im Schatten. Dunkelgelb und schmalbrüstig. Er geht durch die angelehnte Haustür und steigt die Treppe hoch. Dann klopft er und wartet. »Bist du doch gekommen«, sagt sie und drückt sich an ihn.
»Du mußt mir verzeihen, aber ich habe gedacht, nach dem Auftritt mit deinem Vater willst du mich nicht mehr sehen, deshalb bin ich nicht gekommen – es war furchtbar. Warum haßt er mich so?« sagt sie und zieht ihn in den Raum.
»Er haßt mich – und er glaubt, du gehst auf den Strich. Er hat zwar auch seine kleinen Nutten, aber ich … reden wir nicht darüber, es führt zu nichts«, und seine Hände gleiten an ihren Strümpfen hoch.
»Wer sagt das von mir, wer?« fragt sie und krampft die Finger in seinen Arm.
»Da gab es einen, der mit dir ins Bett wollte, du hast ihm gesagt, er soll sich einen durch die Finger ziehen. Später, betrunken, hat er dann in der Bar erzählt, du verlangst vierhundert, mein Vater saß am Nebentisch«, erklärte er ihr und knöpft dabei ihr Kleid auf.
»Diese miese Figur … und du«, sagt sie und streift das Kleid über die Schultern. Er legt sich auf das Bett. Sie beugt sich vor. Seine Lippenränder berühren ihre Brustspitzen.
»Ich habe es heute zu Mittag aus ihm herausgeprügelt … dann ist Robert gekommen und hat mich weggezogen … überall ist Scheiße. Komm näher – «, sagt er kaum verständlich, dann rollt er die Brustwarze zwischen Zunge und Zähnen.
»Zieh dich aus«, befiehlt er und liegt mit dem Gesicht zur Decke. Es raschelt, dann kauert sie neben ihm und knöpft sein Hemd auf. Dann ist auch er nackt. Mit der Hand spreizt er ihre Beine, dann leckt er über den Spalt. Er teilt die Schamlippen und preßt den Mund gegen den Kitzler. Hart, dann weich saugend, gräbt er seine Zungenspitze gegen den Punkt. Sie stöhnt, wirft sich gegen den Mund, krallt die Hände in sein Haar. Er strafft mit der Rechten die glitschigen Hälften über das Schambein, die Zunge bohrt hart gegen die steife Wölbung. Sie schreit auf, strömt in seinen Mund. Er leckt, schluckt. Er dreht sie, hebt ihre Beine, gleitet seitlich in sie. Der Schwanz kreist in der warmen, nassen Höhle. Tief pumpen seine Stöße. Das Mädchen flüstert, ihr Atem fliegt, Flecken wuchern auf ihrer Haut. Mit einem Schluchzen bricht er in sie. Ihre Beine pressen gegen seinen Nacken, ihre Leiber zucken, dann streicheln seine Hände, er küßt ihr Rückgrat entlang, die Pospalte, die zitternden Schenkel, die Kniekehlen. Ihre Stammelei mündet in Worten:
»Ich habe dich gefunden … ich liebe dich …«, sagt sie leise in seine Armbeuge. Er raucht, sieht zum Fenster hinaus. Die schräge Sonne legt einen schmalen, goldfarbenen Rand auf die Dachkanten der Glockentürme des Domes.
»Du bist nicht da«, sagt sie und sieht ihn an. Dann sieht sie zu, wie er sich ankleidet. Sie weint. Er zieht sie zu sich, seine Augen sind sehr dunkel, die Falte gerade tief in die Stirne gegraben. Sie klammert die Hände um seinen Nacken. Behutsam löst er sich und geht aus dem Zimmer.
Er geht durch die Gasse. Das Mädchen ruft ihm nach, ohne den Kopf zu wenden verschwindet er am Platz. Später geht er durch den Park, zerpflückt gelbe Blüten zwischen den Fingern und starrt auf die fetten Goldfische in einem trüben Teich. Dann sitzt er in einer dunklen Bar neben dem Bahnhof, blättert in alten Journalen und wartet auf den Abend.
Er geht zum Bahnhof. Der warme Wind zerrt an seinem Haar. Am Schalter kauft er eine Karte nach Sauerbrunn, dem Ort, wo er mit seinen Eltern wohnt. Er geht in das Bahnhofsrestaurant, setzt sich an einen Tisch und sieht auf den Bahnhofsplatz. Dann bestellt er ein Glas Wein. Er trinkt ein zweites, bezahlt und geht durch die Halle zum Bahnsteig. Er besteigt einen Waggon des Zuges, der kurz darauf die Station verläßt. Es ist 21 Uhr 55 Minuten. Um 22 Uhr 25 Minuten verläßt der Junge den Zug. Er ist der einzige, der in der Station des Ortes aussteigt.
Er geht durch das Bahnhofsgebäude und verschwindet in der Dunkelheit. Er geht am kleinen Gedenkmai für die Gefallenen beider Weltkriege vorbei.
Karin hört einen Stein gegen ihr Fenster knallen. Sie öffnet einen Flügel und sieht im Licht der Straßenlaterne den Jungen auf der Straße stehen.
»Läßt du mich herein?« fragt er. Sie kennt den jungen Mann seit drei Wochen, manchmal schlafen sie miteinander. Sie zieht einen Schlafrock an und geht, um ihm zu öffnen.
»Was bringt dich so spät?« fragt sie und küßt ihn.
»Ich wollte mit dir reden, aber ich habe vergessen worüber, ich wußte es genau, aber … es ist mir entfallen«, sagt er. Sie läßt ihn eintreten und holt ein zweites Glas aus dem Wandschrank, dann schenkt sie aus einer Flasche Rotwein ein. Er steht neben dem Fenster, sieht auf die Straße und schweigt.
»Sehr gesprächig bis du ja nicht, gab es wieder Stunk mit deinem Vater, bis du deshalb deprimiert, komm’, leg dich her …«, sagt sie Sie ist vierunddreißig. Sie verbringt ihren Urlaub in dem kleinen Ort und sie kennt auch den Vater des Jungen. Er macht ihr den Hof. Der Junge weiß das, manchmal spricht er mit ihr darüber. Er spricht auch darüber, wie schlecht er sich mit seinem Vater versteht. Die Frau weiß, daß der Junge seinen Vater haßt. Nie aber spricht der Junge darüber, warum dies so ist.
Er läßt sich rückwärts auf das breite Bett fallen und legt seinen Kopf der Frau auf den Schoß. Ihre Hände liegen auf seiner Stirn. Sie streichelt darüber, versucht die scharfe Falte zwischen den Brauen zu glätten.
»Zieh dich aus, bleib hier«, sagt sie und schiebt den Schirm über die Lampe. Sie spürt, daß sich sein Gesicht langsam entspannt. »Ich bringe ihn um«, sagt er leise.
»Und dann sperrt man dich zehn Jahre ein.«
»Ich weiß. Aber von uns beiden ist einer zuviel.«
»Zieh dich an, wir gehen irgendwohin, ich möchte Leute sehen und trinken und lachen und mich unterhalten«, sagt er und richtet sich auf. Sie sieht auf sein Gesicht, während er spricht. In der Dunkelheit sieht sie nur, daß seine Lippen sich bewegen. Die Finger seiner rechten Hand klopfen unruhig gegen die Bettdecke. »Gut, ich ziehe mich an und komm’ mit dir.« Sie zieht das Nachthemd über die Schultern. Er beugt sich vor und küßt ihre Brüste.
Sie stößt leicht seine Schultern zurück.
»Wenn du damit beginnst, werden wir nie fertig«, sagt sie und drückt seinen Kopf gegen ihre Brust. Er küßt langsam die Rundungen entlang, dann den vollen Haarbusch über der Spalte, dann nimmt er seine Zigaretten und geht wieder zum Fenster.
»Hast du Lust darauf?« fragt er sie.
»Ja, aber bitte nicht jetzt, Liebster, du brauchst nichts zu beweisen, ich liebe dich, auch wenn es dir egal ist, wenn ich so vieles älter bin …«, sagt sie.
»Schläfst du mit mir?« Sie hält in der Bewegung inne, geht zu ihm. Er legt seine Hände um ihre Wangen, ihr Gesicht liegt in der Schale seiner Hände.
»Ist er so zärtlich wie ich?« Seine Augen sind weit geöffnet. Sie sind starr.
»Nein. Ich weiß nicht, wie zärtlich er ist. Ich lasse mich von ihm nicht anfassen«, sagt sie.
»Fragt er denn …?« sagt er höhnisch.
Sie schlüpft in den Strumpfbandgürtel, dann ins Höschen. Er sieht ihr zu, wie sie die Strümpfe hochzieht und an den Rändern festklemmt. Sein Gesicht ist ohne Ausdruck. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Die Frau bürstet ihr Haar.
»Du bist nicht eifersüchtig … dir geht es darum, ihn zu übertrumpfen; bei allem und jedem, was du tust, zählt nur der Vergleich mit ihm … du vergiftest dein Leben … selbst wenn du lachst, ziehst du dieselben zynischen Falten. Wie, Heinz, wie geht das weiter, sage es.«
Sie schaut durch den Spiegel zu ihm. Er gibt keine Antwort. »Der Haß kreist dich ein, du bist ungeduldig und aggressiv. Wie du mich das erstemal geschlagen hast, waren Tränen hinter deinen Augen. Du schlägst ihn, immer ihn, wenn du dich prügelst. Was war heute mittag? Ich weiß es schon. In diesem Tratschnest spricht sich alles sehr schnell herum. Dir geht es nicht um das Mädchen – er hat sie dir verboten – und du wirst sie dir nehmen, oder kommst von ihr. Hast du dich bestätigt, sie soll sehr hübsch sein, aber ganz geklappt dürfte es doch nicht haben, sonst wärst du jetzt nicht hier. Dein Vater hat dich gesucht, er war um sechs Uhr hier. Er sagte mir, ihr hättet gestern wieder eine eurer ›ernsten‹ Auseinandersetzungen gehabt. Willst du nicht darüber sprechen, du, steh nicht wie ein Stein da!« Sie rüttelt ihn am Arm, aber er schiebt sie weg.
»Er verbietet mir jeden Tag etwas, und wenn ihm nichts einfällt, dann blättert er im ›Faust‹, liest mir einige Absätze vor und mit seinem zynischen Grinsen verkündet er dann ein neues Verbot … was soll ich dir sagen … es gibt nichts mehr zu sagen!«
»Gehen wir«, sagt die Frau und löscht das Licht. Auf der Straße nimmt sie seinen Arm und drückt ihre Brust gegen seinen Ellbogen.
»Wohin möchtest du gehen?« fragt sie.
»Mir ist es egal, meinetwegen zum Mundl«, sagt er und deutet auf ein grell beleuchtetes Restaurant an der nahen Kreuzung. Als sie eintreten, rufen und winken von einigen zusammengeschobenen Tischen her junge Leute. Er geht in den rückwärtigen, dunkleren Teil des Lokales. Er beachtet nicht, daß man ihn ruft, daß man ihm winkt. An einem in einer Nische etwas verborgenen Tisch setzen sie sich. Er bestellt Wein.
Er stürzt ein Glas hinunter. Die Frau legt ihre Hand auf seinen Arm.
»Ich dachte, du möchtest lachen, dich unterhalten, nicht nur trinken«, sagt sie.
»Wenn es dich stört, setz dich an einen anderen Tisch, ich bin eben dabei, das große Gelächter vorzubereiten, vielleicht habe ich nur noch nicht den Mut dazu, Geduld, ein bißchen Geduld, du weißt eine Menge vom Leben, ich muß dich dann etwas sehr Wichtiges fragen, Geduld«, die Frau hat ihre Hände um das Weinglas gelegt und sieht ihn ruhig an.
»Und weiter …«, sagt sie.
»Was weiter, nichts weiter, du sitzt bei mir, weil du mich liebst, einen Scheißdreck liebst du mich, du meinst es vielleicht gut mit mir, alle meinen es gut mit mir, alle wollen mir helfen, warum helfen, schau mich an, seh’ ich so hilfsbedürftig aus? Ich möchte euch in euer triefendes Mitleid scheißen. Gut meinen, klug reden und ruhig und beherrscht bleiben: ›Er ist so nervös, so aggressiv.‹ Ihr scheißklugen Figuren, meine Eltern, mein Leibpsychologe, diese fette, unfähige Ratte, du, und, und – leckt mich doch am Arsch.
Mich holt auf euer Gutmeinen der Teufel, ich kann nicht mehr atmen, morgen kommt der Psychologe und wird mir die Direktiven des Alten übermitteln: Dein Vater wünscht, dein Vater denkt, dein Vater ordnet an. Fünfzehn Jahre war ich dem Alten scheißegal, und jetzt beginnt er, mich zu erziehen. Seit einem Jahr reden wir kaum noch miteinander, wenn Mutter nicht wäre, aber sie ist so voll Vertrauen und Hilflosigkeit. Ich hätte ihn schon lange erwürgt.« Keuchend stößt er die Worte heraus. Die Frau steht dem Ausbruch wehrlos gegenüber. Er spricht dann leise und abgehackt.
»Mutter krepiert dabei, aber was zählt das schon? Karin, ich kann nicht mehr schlucken, nicht mehr fressen, verstehst du, es geht nicht mehr.«
»Du bist sein Sohn, willst du das nicht begreifen, er ist zu verbohrt, um dir nachzugeben, du bist siebzehn, warst im Gefängnis, du, sein einziger Sohn, er ist zu stolz, um einzulenken, willst du nicht vernünftiger sein«, sagt sie langsam und streichelt seine Hand. Er spricht schnell, starrt vor sich auf den Tisch.
»Ich will gar nichts, wir haben nächtelang gesprochen, ich habe ihn gebeten, weißt du, was er sagte, ›wenn du dich selbst erhalten kannst, hast du ein Recht auf eine eigene Meinung, bis dorthin bestimme ich und du hast zu gehorchen, ohne Widerspruch‹.
Er ist ein Schwein, ein Schwein – »Wo warst du bis heute‹, sagt er, »im Dreck, und anscheinend hast du dich wohl gefühlt, aus allen Schulen warfen sie dich hinaus, wegen der Mädchen, mit Zwölf der Raubüberfall. Weitere Mädchen, mit Dreizehn warst du in der Schule besoffen – und das Wochen hindurch. Immer wieder habe ich dir geholfen, wir haben andere Schulen gesucht, was war, wieder den Mädchen schmierig, dreckig unter die Röcke greifen, dann hast du eingebrochen, warst eingesperrt. Ich habe den Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen können, so habe ich mich für dich geschämt, und Mutter – ihre Krankheit verdankt sie dir. Dann wollten wir dir deinen Wunsch mit der Seefahrtsschule erfüllen, ich kann nichts dafür, daß der Staatsanwalt Berufung gemacht hat und man dich wieder einsperren wollte. Immer hast du es geschafft, jede Hilfe von uns in einen Schaden für dich umzukehren, man müßte dich totprügeln. Dir die Hände abhacken, wenn du damit nichts fertig bringst.«
»Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, begreifst du?« sagt er und trinkt. Er spricht wie im Fieber, beachtet die Frau nicht.
»Vielleicht hat er recht, vielleicht tauge ich wirklich nichts, aber warum kann ich dann nicht auf meine Art vor die Hunde gehen? Ich habe Wochen allein gearbeitet, verdient, dann kam er mit seinem ›ganz anständig, aber jetzt ans Studium. Tankwart ist sicher ein ehrenwerter Beruf, aber mein einziger Sohn als Tankwart, wirf den Fetzen weg und verzichte auf das Trinkgeld, du hast anderes zu tun‹. Ich mußte zuhören, was geworden wäre, wenn ›Unser Führer‹ gegen dieses Drecksgesindel gewonnen hätte, Schlachten, Feldzüge, Eroberungen und er: ›Einmal hätte mir der Führer beinahe die Hand geschüttelt‹, und die Stimme brach ihm vor Ergriffenheit. Er, der Held … ›ich hatte keine Munition mehr, aber es war klar, ich musste sie töten … ich schoß ihnen Leuchtkugeln in den Körper … es hatte minus vierzig Grad, aber der Eindruck war herzerwärmend!‹ … acht Jahre war ich alt, und er erzählte, sein Gesicht glühte, und ich schlief am Tisch ein, dann bekam ich eine Ohrfeige, und weiter ging’s mit den Gröfaz-Geschichten … ›laß dich mit einer Jüdin ein, und ich brech dir die Knochen‹ … sagte er vorigen Sommer … er spielt Mutter aus, und sie merkt es nicht einmal … ›warum weint deine Mutter‹, fragt er, heuchlerisch und höhnisch.
Ja, es stimmt, sie warfen mich aus jeder Schule und aus den Internaten … wegen der Mädchen, auch richtig. Aber glaubst du, dass er bis heute mit mir auch nur ein Wort über das andere Geschlecht gesprochen hätte, außer in wegwerfendem, angeekeltem Ton, und dann nur Phrasen und harte Sprüche … ›leg dich nur mit einer Frau ins Bett, mit der du am nächsten Tag über die Straße gehen würdest‹ … der Merksatz, den er mir für die Frauen vermittelt hat. Als er erfuhr, daß ich 1960 in Paris sechs Monate in Einzelhaft war, sagte er zum Psychologen … ›das beeindruckt ihn nicht‹ … und als ich zurück kam, mußte ich tags darauf wieder ins Gefängnis, um die Reststrafe fertigzumachen, sechs Monate, keine Affäre. Als ich mit Zwölf den Raubüberfall machte, traf ihn fast der Schlag, aber nach zwei Tagen war es für ihn überwunden, und ich saß im Erziehungsheim zwischen Schwulen und sadistischen Erziehern. Er hat sich im Laufe der Jahre oft die Hände gewaschen …. ihn trifft keine Schuld, ihn nicht …«, sagt er und schweigt dann erschöpft.
Sie wendet ihre Augen nicht von ihm, während die Worte auf sie niederprasseln. Saugt die Worte in sich ein. Vieles ist ihr unverständlich. Befreit ihn dieser Ausbruch? Er läßt die Schultern sinken. Seine Augen glänzen, auf einmal ist seine Stimme tot.
»Verzeih, daß ich mit dem alten Dreck komme«, sagt er.
»Ich glaub, du hast gar nicht mit mir gesprochen. Was ist mit dem Mädchen, von dem die Leute reden?« sagt sie. »Das ist eine alte Geschichte. Ich war im Vorjahr einige Monate in Zürich, die ersten Wochen habe ich bei einer Lebensmittelfirma gearbeitet, dann habe ich ein Mädchen kennengelernt und von ihr gelebt. Der Alte hat das erfahren. Er wurde mißtrauisch. Er kam in die Schweiz. Es gab einen Streit, und er wollte mich zwingen, mit ihm zurückzufahren. Ich bin untergetaucht und wenig später wurde ich wegen ein paar Prügeleien auf zehn Jahre ausgewiesen. Ich wollte das Mädchen mitbringen, aber er sagte, er würde sie und mich anzeigen. Da kam ich allein. Vor zwei Monaten ist sie nach Österreich gekommen, und wir waren ein paar Tage in Wien zusammen. Mutter bekam einen hysterischen Anfall, und ich schickte das Mädchen wieder nach Hause, sie hatte mir fünftausend Franken mitgebracht. Der Alte hat das Geld gefunden und an sie zurückgeschickt. Mutter ließ mich feierlich versprechen, mich nie mehr mit einer Dirne abzugeben, denn sie würde diese Schande nicht überleben, und ich … ich habe es versprochen … deshalb dreht der Alte durch, die Schande, verstehst du!« sagt er.
»Und das Mädchen, was macht sie jetzt?« fragt sie.
»Ich weiß es nicht. Der Alte sagte zu mir: ›Einige Briefe und Telegramme sind gekommen, ich habe sie alle verbrannt, ich nehme an, du bist einverstanden‹, ich sagte nichts mehr, wozu auch. Das Mädchen, sie ist Zwanzig, ich war der erste, sie mag mich sehr.«
»Und du?« fragt sie. Er antwortet nicht. Das Lokal ist fast leer, nur von zwei Tischen an der Türe tönt Stimmengewirr. »Gehen wir«, sagt er. Er begleitet die Frau nach Hause. Vor dem Haus klammert sie sich an ihn. Sie küßt sein Gesicht, heftig preßt sie die Lippen gegen seine Haut.
»Bleib hier, du darfst jetzt nicht nach Hause gehen. Ich habe Angst. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe furchtbare Angst!«
»Ich möchte nach Hause, ich bin sehr müde! Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Du bist so verbohrt, so versperrt gegen jedes Gefühl, laß mich Angst haben, bleib da, ich will nicht, daß etwas geschieht, womit du vielleicht dein Leben zerstörst. Aber ich weiß ja gar nicht, was ich da sage. Ich liebe dich, will denn das nicht bis zu dir?«
Sie krallt die Finger in den Revers seiner Jacke. Er löst ihren Griff, stößt sie leicht von sich.
»Ich weiß wohl nicht, was es bedeutet, nein, es dringt nicht durch. Gute Nacht, und, danke, daß du mit mir warst.« Die Frau sieht ihm nach, wie er entlang der Bäume rasch davongeht. Sie möchte hinterherlaufen, ihn festhalten, aber dann senkt sie den Kopf und geht ins Haus. Sie weiß, er würde nicht hören. Er blickt auf seine Armbanduhr, es ist knapp nach zwei Uhr früh. Unschlüssig zögert er, als er nochmals am Gasthaus vorbeikommt. Er verhält den Schritt, zündet sich eine Zigarette an. Dumpf klingen Musik und Lachen hinter den Scheiben durch die geschlossene Türe. Dann wendet er sich ab und geht der Ortsmitte zu. Er verläßt die Straße und geht im Dunkel des Kurparks. Er kennt die Wege, rasch geht er, hohe, schwarze Sträucher sind rechts, links ein finsterer Block, der Musikpavillon. Er überquert den hell beleuchteten Hauptplatz und biegt in die Wiener Neustädterstraße ein, in der seine Eltern wohnen.
Die Fenster sind dunkel. Er zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche, schließt die Gartentüre auf, tritt ein. Die Türe bleibt offen, pendelt in den Angeln. Er geht an der fensterlosen Seitenwand des Hauses vorbei zum Hauseingang. Leise öffnet er und schließt hinter sich ab. Im dunklen Vorraum hängt er seine Jacke an die Garderobenwand.
In der schmalen Küche dreht er das Licht an. Er klinkt den Eisschrank auf, nimmt eine Flasche Bier und ein Paket mit aufgeschnittener Wurst heraus. Aus einer Kredenzlade nimmt er Brot und belegt es dick mit Wurst. Aus einer anderen Lade nimmt er einen Flaschenöffner, löst den Metallverschluß und trinkt. Unabsichtlich bleibt die Lade offen. In der offenen Lade liegt auch ein hölzerner Fleischhammer mit einer schweren Metallkappe.
Er beißt von dem Brot ab. Er steht mit dem Rücken zu Türe.
»Stell die Flasche weg. Was war gestern mittag?«
Der Vater steht hinter ihm. Der Junge dreht den Kopf. Die Lippen des Vaters sind dünn und hart, seine Stimme bebt vor unterdrückter Wut.
»Ich hatte Streit«, sagt der Junge.
»Wegen dieser Hure?«
Der Junge schweigt. Er beißt von dem Brot ab, kaut, sieht den Vater an. »Seit zwölf Uhr warte ich, aber mein Sohn trinkt und treibt sich herum. Mutter kann nicht schlafen und weint. Aber dir ist das egal.«
»Ich war mit Karin zusammen. Das hast du mir ja noch nicht verboten.«
»Ich glaube, daß auch Karin einen schlechten Einfluß auf dich ausübt. Ich werde verhindern, daß du dich in Zukunft mit ihr triffst.«
»Du wirst sie trotzdem nicht ins Bett bekommen«, sagt der Junge.
»Du elendes Dreckstück, umbringen müßte man dich.«
Der Junge sieht den Fleischhammer noch in der Lade, aber er hat ihn schon in der Hand und schlägt dem Vater mit Wucht auf den Kopf. Er sieht eine blutende, klaffende Wunde am Schädel des Vaters. Mit einem grunzenden Ausatmen ist der Vater zusammengebrochen. Der Junge bückt sich, wartet, zieht dann den Vater hoch, lehnt ihn gegen die Türe. Ein Trommeln ist an der Türe. Die Mutter schreit. Dann knallt eine Türe, außen.
Er schlägt mit der Faust in das Gesicht und den Bauch des Vaters. Wenn der schlaffe Körper an der Türe zusammensinkt, zieht er ihn wieder hoch und schlägt und schlägt.
Keuchend hält er inne. Der Vater liegt da, blutet stark. Der Junge glaubt ihn tot.
Er starrt in das zerschlagene Gesicht des Vaters, schiebt ihn zur Seite und geht ins Wohnzimmer. Aus der Anrichte nimmt er eine Flasche Schnaps, setzt sich in den Schaukelstuhl vor dem Fenster und trinkt in langen Schlucken. An der Wand hängt ein Bild des Vaters. Er reißt es herunter, zertritt es. Knirschend bricht das Glas.
Von der Eingangstüre her hört er ein Geräusch. Er verbirgt sich im Schatten der Türe, die Flasche in der Hand. Ein junger Mann kommt langsam durch den Hauseingang, tastet sich vorsichtig durch die Dunkelheit bis zur Küchentüre. Der Junge steht nun hinter ihm.
»Verschwinde, oder ich schlag’ dir den Schädel ein«, flüstert er. Der andere zuckt zusammen.
»Ich wollte ja gar nichts, nur …«, stottert er und rennt davon. Stimmengewirr kommt aus dem Hof. Taschenlampen leuchten auf. Zwei Männer kommen die Stiegen zum Eingang hoch. Der Junge springt ins Licht. In der linken Hand schwingt er die leere Flasche.
»Wer versucht, ins Haus zu kommen, dem schlage ich die Flasche über den Schädel!« schreit er und verschwindet wieder im Vorraum.
Die Männer weichen zum Fuß der Treppe zurück. In einer Stellage im Vorzimmer findet der Junge eine andere Flasche. In der Dunkelheit setzt er sie an die Lippen und trinkt. Es ist Brennspiritus. Der Schluck legt Feuer in seine Brust. Der Atem bleibt ihm weg.
Inzwischen sind Gendarmeriebeamte eingetroffen. Zweimal stößt sie der Junge über die Treppe, dann aber gelingt es einem der Beamten, während die anderen den Jungen ablenken, ihn mit einem herbeigeschafften Knüppel niederzuschlagen.
Unmittelbar danach bringt eine Ambulanz den schwerverletzten Vater in das Krankenhaus. Den Jungen hat man draußen im Garten auf eine Bank gelegt, und der herbeigerufene Arzt leuchtet mit der Taschenlampe in seine Pupillen. Aus einer Platzwunde hinter seinem Ohr rinnt ein dünner Blutfaden. Kurze Zeit später trifft eine zweite Ambulanz ein und bringt auch den Jungen ins Krankenhaus. Der Morgen dämmert. Leute stehen noch lange beisammen und reden.
Pfingstsonntag – ein hoher Feiertag, die Bewohner des Ortes streben gegen neun Uhr der Kirche zu, um am Gottesdienst teilzunehmen. Sie reißen ihre Augen auf, tuscheln hinter vorgehaltenen Händen – starren zum Rathaus am Hauptplatz, in dem auch die Gendarmerie untergebracht ist. Ein VW-Kombibus hat vor dem Gebäude gehalten, drei Gendarmeriebeamte zerren einen jungen Mann aus dem Fahrzeug. Mit Handschellen sind seine Hände auf den Rücken gefesselt. Ein Beamter zieht an diesen Fesseln so, dass der Junge gebückt bleibt. Die beiden anderen Beamten gehen seitwärts und treten hin und wieder gegen die Beine des Jungen. Dieser trägt keine Schuhe und sein Oberkörper ist nackt. Über dem Hals ist ein breiter, getrockneter Blutstreifen, auch die Hände sind blutig. Bei einem Tritt stolpert der Junge und fällt gegen die Bordsteinkante, der Beamte zerrt ihn an den Fesseln hoch, dann treten sie ihn gemeinsam durch die Eingangstüre des Hauses und entschwinden den Blicken der Schaulustigen.
Die Beamten zerren den Jungen die Treppe hoch, die Diensträume der Gendarmerie liegen im ersten Stock.
Sie legen ihre Kappen, die Ledertaschen mit den diversen Dienstutensilien, die Koppel, sowie die schweren Dienstpistolen ab. Der Junge sitzt nach vorne gebeugt gegen einen Schreibtisch gelehnt am Boden und hat die Augen geschlossen.
»Wir werden ein Protokoll aufnehmen«, sagt der erste Beamte, ein Revierinspektor.
»Und wenn er aufmuckt, ein paar hinter die Ohren«, sagt der zweite Beamte, ein Patrouillenleiter.
»I mecht eahm eh schon die lengste Zeit ane in die Goschn haun«, sagt der dritte Beamte, ein Gendarmeriewachmann.
Der Inspektor setzt sich an die Schreibmaschine.
»Setz dich da her auf den Sessel!«
Der Junge erhebt sich mühsam. Schwellungen sind in seinem Gesicht, über der rechten Augenbraue hat er einen tiefen Riß. Er setzt sich auf den Sessel gegenüber dem Schreibtisch. Die beiden Beamten stehen links und rechts.
Der Inspektor spult das Farbband der Maschine zurück, er flucht dabei leise.
»Name?« fragt der Inspektor, »ich kenn dich zwar, du Verbrecher, aber Ordnung muß sein, also!«
»N.«, sagt der Junge mit leiser Stimme.
»Vorname?«
»Heinz.«
»Geboren am?«
»9. 11. 44.«
»Wo?«
»In Schärding am Inn.«
»Welcher Bezirk?«
»Schärding am Inn.«
»Name des Vaters?«
»Karl.« Der Junge spricht mit geschlossenen Augen, die neben ihm stehenden Beamten haben die Hände verschränkt und wippen auf den Stiefelspitzen.
»Name der Mutter?«
»Helene, geborene N.«
Der Inspektor stellt weiter Fragen zur Person, zum Abschluß fragt er:
»Vorstrafen?«
»Ja, eine wegen Einbruchdiebstahls.«
»Wieviel?«
»Neun Monate Arrest.«
Dann beginnt das Verhör, der Inspektor versucht, die letzten Stunden vor der Tat zu rekapitulieren. Der Junge schweigt. Nach jeder Frage des Inspektors schlägt einer der beiden gegen den Kopf oder die Seite des Jungen.
»Du Scheißhund, an Vätern umbringen woin, und daun nix redn a no, i wer da gebn.« Der Gendarmeriewachmann schlägt mit rotem Kopf auf den Jungen ein, zwischendurch auch der andere. Der Junge schweigt. Er hängt im Sessel, man sieht, er kann sich nicht mehr aufrecht halten. Drei Stunden betreiben die Beamten dieses Verhör, dann geben sie vorläufig auf.
»Er hört ja nicht einmal zu, dieser Dreckhund«, sagt keuchend der Patrouillenleiter und wischt sich die glänzende Stirne.
Er ist beim Prügeln stark ins Schwitzen geraten.
Ein vierter Beamter betritt das Zimmer. Er geht zu dem Jungen, beugt sich zu ihm.
»Hast du Durst?«
Der Junge nickt. Der Beamte geht und holt ein Glas Wasser und gibt es dem Jungen, dann zündet er ihm eine Zigarette an und steckt sie ihm zwischen die Lippen.
»Sag, was ist dir da eingefallen, ich verstehe das nicht. Deine Eltern haben doch immer alles für dich getan. Gute Schulen, gute Internate. Du wolltest ins Ausland, sie haben dich gehen lassen, und ganz schönes Taschengeld hast du auch bekommen. Du hattest doch keine Probleme, wie konnte das passieren?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, ob ich ihn umbringen wollte, oder nur verletzen, ich weiß gar nichts … mein Kopf ist leer … ich weiß gar nichts … nicht einmal, wie es in den Einzelheiten passiert ist … es tut mir leid.«
Die Beamten sehen sich an, erstmals, daß der Junge den Mund aufmacht.
»Dir tut es nicht leid, ich kenne dich … du wolltest ihn umbringen!«
Der Gendarmeriewachmann schreit den Jungen an. Der zuletzt Eingetretene, ein Rayoninspektor, hebt beruhigend die Hand. »Laßt ihn in Ruhe, er wird schon reden, und wenn er nichts sagen will, dann könnt ihr ihn erschlagen, dann redet er nicht. Ich kenne ihn auch schon lange.« Die Beamten bringen den Jungen in einen anderen Raum. Sie behandeln ihn ruhig und ohne Schläge. Einige Stunden später beginnen sie wieder mit dem Verhör. Sie haben nun eine psychologische Arbeitseinteilung vorgenommen. Einer schreit, einer redet dem Jungen gut zu, die anderen beiden schießen mit ihren Fragen dazwischen. Viele Stunden geht das so. Der Junge hockt noch immer verkrümmt auf einem Sessel, die Hände sind nach wie vor fest auf den Rücken gebunden.
Einmal, als er auf die Toilette muß, werden ihm die Handschellen kurz geöffnet. Aber drei Mann begleiten ihn, und die Tür muß ganz offen bleiben. Langsam ergibt sich ein Protokoll. Der Junge sagt ja und nein und ja. Manchmal sagt er auch dort ja, wo er nein sagen sollte, und manchmal sagt er nein, wo es nicht ganz paßt, z. B. als man ihn bei den ewigen Wiederholungen fragt, wann er geboren sei und wo er wohne.
Er sagt auch andere wirre Dinge, aber die werden in Amtsdeutsch übersetzt, einiges wird hinsichtlich Zeit und Ort hingebogen, anderes wird ausgelassen. Es ist später Abend, endlich unterschreibt der Junge. Der Revierinspektor ist zwar überrascht, daß er dies, ohne es zu lesen, tut, aber er ist zufrieden. Sein Werk ist getan, alles andere macht die Staatsanwaltschaft. Mit einem VW-Bus wird der Junge nach der nahen Landeshauptstadt gebracht, man löst seine Fesseln erst, als er schon in der Zelle im Landesgericht ist. Der Junge ist teilnahmslos, er scheint müde. Kurze Zeit später holt man ihn und bringt ihn nach Wien ins Gefängnis des Jugendgerichtshofes in der Rüdengasse im dritten Wiener Bezirk.
Es ist später Abend, und er wird ohne Formalität in eine Zugangszelle auf der ersten Etage gebracht. Der Junge wirft sich auf das Bett und schläft sofort ein. Seine blutigen Hände zeichnen sich scharf vom weißen Leintuch ab – man hatte ihm nicht erlaubt, sich zu waschen.
Die scharfe Glocke hat mich aus dem Schlaf gerissen. In der Ecke steht ein Waschlavoir, davor ein voller Wasserkrug. Ich ziehe mein Hemd aus – irgendwann in den Tagen haben mir die Gendarmeriebeamten Kleidungsstücke von zu Hause gebracht und Schuhe. Sorgfältig wasche ich mir das Blut von den Händen. Es klebt wie Schorf fest auf meiner Haut. Vorsichtig reibe ich mir danach das zerschlagene Gesicht mit Wasser ab. Mein Körper schmerzt bei jeder Bewegung – dann sitze ich am Bett und warte.
Die Türe wird aufgesperrt, ein Beamter betritt den Raum.
»Aufstehen, wenn ein Beamter in die Zelle kommt, klar!«
Er sieht mich von Kopf bis zu den Füßen an. Ein schmächtiger Mann in grüner Uniformjacke und schwarzer Hose.
»Ah, a bisserl gestoipat san ma a.«
Er deutet gegen mein Gesicht. »Mocht nix, des vageht wida. In olle Zeitungen stehst, kaunst da wos eibüdn drauf.«
Aus der Innentasche seiner Jacke zieht er ein Exemplar einer Morgenzeitung, in großen Lettern steht da …
›JUGENDLICHER WOLLTE SEINEN VATER ERMORDEN‹
Eine Sensation für eine Stunde, für ein Gerede von vielen … den anderen, da draußen … ich höre sie schon sagen in ihrer selbstgerechten Entrüstung … »Wenn das mein Sohn wäre, brauchte ich keine Polizei, den würde ich eigenhändig erschlagen« … ja, natürlich, eigenhändig.
Der Beamte geht aus der Zelle, später kommt ein anderer mit einem Gefangenen und bringt mir einen Becher Milch – das Frühstück.
Dann werde ich geholt, – Aufnahmeformalitäten – Angaben zur Person – ja, ich war schon einmal hier in Haft, vor drei Jahren etwa. Der Ton wird plötzlich freundlicher, ach ja, ich bin ja kein Fremder mehr – gewissermaßen ein Heimgekehrter. Dann werde ich umgezogen. Blaue Schlossergarnitur, Decken, Zahnbürste und Leintücher, ein Pullover, Socken, ein paar Schuhe, ein Überrock, dann in die Zelle Nummer 21. Eckzelle der ersten Etage.
»Arbeiten wirst du wahrscheinlich in der Werkstätte, bei den Bürstenbindern«, sagt der Etagenbeamte, dann schließt er die Zelle hinter mir ab. Ein Tisch, ein Hocker, ein Stockbett und ein Wandkästchen, – die Einrichtung. Neben der Türe ist das Klosett, daneben stehen ein Lavoir und ein Wasserkrug. Das Fenster, etwa in Hüfthöhe, mit breitem Fensterbrett und Doppelflügeln, läßt viel Licht in den Raum. Ich schaue in einen rechteckigen Hof mit Asphaltboden, der auf der linken Seite und gegenüber von dem Gebäude begrenzt ist. Die rechte Längsseite wird von einer drei Meter hohen Mauer geteilt, dahinter ist ein anderer Hof sichtbar, der ebenfalls von einer Gebäudeseite abgegrenzt ist. Auf der Mauer zwischen den beiden Höfen sind einige Lagen Stacheldraht montiert, in die Mauerkrone sind Glasscherben eingemauert.
Das Gefängnis erstreckt sich rechtwinklig über zwei Seiten des Vierkanters, die beiden anderen Seiten sind das Gebäude des Jugendgerichtshofes .
Die Zelle wird geöffnet. Ein Hausarbeiter drückt mir zwei Blechschalen in die Hand, das Mittagessen.
In mir ist zerbrochenes Glas, die Gedanken knirschen über Laufbänder, ich bin unfähig, sie festzuhalten – irgendwie läuft es weiter. Und dann folgt der Abend, die Finsternis, der Schlaf. Ich bin müde, möchte keinen sehen, niemanden hören. Hier im Raum ist es gut, nichts ist laut, stört.
Nach dem Essen kommt ein Beamter. Eine Silberplatte am Revers zeigt seinen höheren Rang. In der Hand hält er einen Schlüsselbund, die andere ist in der Tasche eines grauen Arbeitsmantels versteckt.
»Na ja, kommst zu mir, in die Werkstätte. Du wirst dich schon eingewöhnen.«
Ich greife nach meiner Jacke. Am Gang stehen schon etwa zwanzig Häftlinge, schauen mir entgegen und warten auf den Abmarsch. Über den Hof gehen wir dann einige Treppenstufen in ein dunkles Gewölbe. Mehrere Arbeitstische stehen da, Drahtpakete liegen herum. Ich warte, bis mir der Beamte einen Platz zuweist, dann setzt er sich zu mir und erklärt mir die Arbeit.
Man sitzt vor einer Spindel und zieht Drahtbüschel durch vorgestanzte Löcher in eine Metallscheibe. Diese werden genau in der Mitte gebogen und mittels eines Bindedrahtes von der Spindel festgezurrt. Ist der Kreis der Metallplatte gefüllt, werden Drähte durch kleine Löcher seitlich der Drahtbüschel gezogen und diese somit an der Metallscheibe fixiert. Zuletzt werden die Bindedrähte ausgebürstet, und eine Schleifscheibe ist fertig. Es wird bei dieser Arbeit eine Mindestleistung – ein Pensum – verlangt. Je nach Größe der Metallscheiben oder nach Härte des Materials – fünf fertige Bürsten pro Tag. Dafür, erklärt mir der Beamte, gibt es auch Zigaretten. Drei Stück pro Pensum, und wenn ich mehr arbeiten wolle, dann könnte ich auch mehr Zigaretten verdienen.
Die Arbeit ist einfach, verlangt kein Denken. Man zersticht sich die Finger, doch das ist mir egal. Es ist Übungssache, nach einigen Wochen werde ich mich mit dem Pensum spielen.
Es wird viel gelacht unter den Gefangenen, viel erzählt, warum und wieso und wie viele Einbrüche, wie oft man aus den Heimen geflüchtet ist und ob jemand zu Besuch kommt. Manchmal richtet auch einer das Wort an mich, dann sage ich das und das. Ich bin wegen Körperverletzung hier, nichts Besonderes, ich werde nicht lange hierbleiben.
Die anderen verlieren das Interesse …
Gegen halb fünf Uhr abends wird die Arbeit abgesammelt, dann werden die Werkzeuge eingesammelt. Man wäscht sich die Hände, holt sich die Zigaretten, marschiert zurück in die Zellen.
Der erste Abend. Ich liege am Bett und rauche – zwei Zigaretten hat mir der Beamte gegeben. Er sah mich von unten her aufmerksam an. Die Gefangenen rufen sich über den Hof, sprechen, lachen, singen. Es sind meist zwei oder mehrere in einem Haftraum. Man hat mir drei Bücher auf den Tisch gelegt, als ich in der Arbeit war. ›Ein Kampf um Rom‹, ›Der König der Bernina‹ und ›Das fliegende Klassenzimmer‹.
Ich lege die Bücher in das Wandkästchen – Abendessen – Grießbrei, anschließend Meldung.
»Zelle 21 belegt mit einem Jugendlichen«, so muß man sich melden, sagt mir der Beamte, und, »merk dir das.«
Ich werde es mir merken. Ich denke an nichts, gehe in der Zelle auf und ab. Das Licht wird gegen neun Uhr abgedreht, lange davor schon liege ich in den Decken, das Gesicht zur Wand. Ich höre sie nicht schreien und reden und lachen – ich schlafe. Viele Tage wie der vergangene.
In der Werkstätte arbeiten auch einige größere Jungen, knapp an die achtzehn wie ich und darüber. Beim Händewaschen bekomme ich mit einem Streit. Ich schlage ihn gegen den Mund und gegen die Nase, er blutet stark. Der Beamte läßt mich einige Tage nicht in die Werkstätte gehen.
»Wennst raufn wüllst, bleibst auf da Zölln.«
Ich sitze am Fenster, schaue in den Hof, dann lese ich. Nach einigen Tagen nimmt er mich wieder zur Arbeit mit. Ein großer Mann in Uniform mit langem, schmalem Gesicht geht mit einigen Zivilisten durch die Werkstätte.
»Da Direkta und de Gerichtsvisit«, flüstert mir ein Gefangener zu. Wir müssen in einer Reihe antreten, der Beamte meldet:
»Einundzwanzig Gefangene bei der Arbeit.«
Ein Zivilist fragt gegen alle:
»Jemand Bitten oder Beschwerden?« Es sagt keiner etwas. Getuschel unter den Zivilisten, dann sagt der Direktor:
»N. vortreten!«
Ich trete vor die Reihe. »Das ist er«, sagt der Direktor.
Der andere Zivilist nickt: »Aha, das also.«
Dann gehen sie. Ein Gefangener fragt mich, warum das war. Ich weiß es nicht, sage ich und arbeite weiter.
Einige Tage später habe ich wieder eine Prügelei. Der andere blutet stark, zwei Zähne habe ich ihm auch ausgeschlagen. Der Beamte meint, ich müßte nun ganz auf der Zelle bleiben, und er müßte einen Rapport schreiben. Ich komme zum Direktor. Ich erkläre den Vorfall. Er bestraft mich, indem er verordnet, daß ich einen Monat nicht in der Werkstätte arbeiten darf. Der Beamte läßt mir ein Arbeitsstockerl auf die Zelle bringen, nun arbeite ich im Haftraum.
Er bringt mir Material, manchmal auch Zigaretten. Er ist ein guter Kerl. Manchmal fragt er:
»Warum wolltest du denn deinen Vater erschlagen?«
Ich kann ihm keine Antwort geben. Ich sage: »Ich weiß es nicht.«
An einem Donnerstag werde ich in die Aufnahmekanzlei geholt, dort wartet ein Zivilist. Ein eleganter, junger Mann mit Brille. »Ich bin Ihr Untersuchungsrichter. Sie sind nach Eisenstadt zuständig, und ich komme einmal in der Woche hierher, da wir im Burgenland kein eigenes Gefängnis für Jugendliche haben. Ich muß jetzt ein Protokoll mit Ihnen aufnehmen – das von der Gendarmerie, na ja, also, sind Sie einverstanden?«
Er hat auch eine Sekretärin, ein junges, hübsches Mädchen, mit. Ich starre auf ihre Beine, bis das Schweigen peinlich wird. Dann folgen wieder Fragen und Fragen, und alle diese Fragen wurden ja schon von der Polizei an mich gestellt.
›Ich kann mich an nichts erinnern, ich weiß nicht, was damals geschehen ist.‹
Der geschniegelte Richter sieht mich Vorwurfsvoll an- »aber Sie müssen sich erinnern können«.
Ich kann mich aber beim besten Willen nicht erinnern, damals nicht, danach, und heute schon gar nicht.
»Gut«, er diktiert dem Mädchen, »also schreiben wir eben, daß er sich nicht erinnern kann …«
Mir sagt er dann, daß ich in den nächsten Wochen psychiatriert werde. Jeden Mittwoch vormittag ist Unterricht. Ein junger, glatzköpfiger Lehrer versucht, an die Gefangenen Bildung zu vermitteln. Ich schreibe an den Direktor, dann werde ich vom Schulbesuch befreit. Nicht, daß ich keine Bildung nötig hätte, aber der Mann macht mich nervös – er schreit so viel.
»Hier wird nicht geraucht – halt den Mund, rede, wenn du gefragt wirst – du bist ein Idiot«, okay, ich bin ein Idiot, ich bin eingesperrt, und … Der Unterricht besteht vorrangig aus Erläuterungen von Geboten und Verboten. Da hocke ich doch lieber stumpfsinnig in meiner Zelle und arbeite. Meine Finger sind in den Nagelbetten vereitert, ich kann sie nur schwer abbiegen, doch man gewöhnt sich daran.
Mit meinem Zellennachbar verstehe ich mich gut. Abends quatschen wir immer am Fenster. Er erzählt von seinen Freundinnen, ich höre ihm zu. Der bleierne Ring um mich will sich nicht lösen. Das Leben im Gefängnis ist ein Vorbeigleiten der Bilder. Ich bin draußen, es geht mich nichts an. Ich weiß nicht, wo in dieser Zeit mein Leben geschieht.
Im vierten Stock liegen die Mädchen. Hin und wieder hört man ihre hellen Stimmen. Viele Gefangene gehen sonntags zur Messe, um sie zu sehen. Mein Zellennachbar erzählt mir von ihnen. Ich weiß, wenn man hinter der Klosettmuschel den Deckel abschraubt, kann man durch das Kanalisationsrohr mit dem Mädchen reden, das in der Zelle darüber liegt. Ich habe es nie versucht.
An einem der nächsten Tage sagt mir mein Zellennachbar, ich solle den Deckel lösen, das Mädchen über mir wolle mit mir reden. Ich löse die Schrauben – Uschi heißt sie, hat er mir gesagt, dann rufe ich einige Male.
Nach einer Weile höre ich klar ihre Stimme.
»Ja, bist du der ganz unter mir, der im ersten Stock?« fragt sie.
»Ja«, sage ich.
»Sag, bist du arrogant, daß du dich nie meldest. Du bist doch der, der nicht mit den anderen arbeiten darf«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
»Weißt du, wie ich aussehe?« fragt sie.
»Nein, aber wenn du nur halb so bist, wie deine Stimme klingt, bist du eine Superbraut«, sage ich.
Sie lacht, wir reden lange Nichtigkeiten, dann fragt sie:
»Könntest du dich nicht eine Weile anständig benehmen, daß du zum Kino gehen darfst, dann sehen wir uns ganz aus der Nähe«, sagt sie.
»Okay, ich werde es versuchen«, sage ich.
Es ist Suchtgift. Wenn man beginnt, kann man nicht mehr aufhören. Die langen Nachdenkstunden sind zu Ende. Ich sitze wie ein Mohammedaner am Gebetsteppich vor der Klosettmuschel und führe Liebeskonversation. Hin und wieder wird in den Zwischenstockwerken gespült, Scheiße kollert vorbei, aber das tut der Liebe keinen Abbruch. Die Gespräche werden zweideutig – »was tust du denn in der Nacht, wenn du Sehnsucht nach mir hast?«, dann eindeutig – »Ich lege mir den Finger auf den Juden und dann kreise ich so lange, bis ich fast verrückt werde – du bist dann da und leckst mich, und dann steckst du ihn mir tief hinein, deinen dicken, starken Schwanz – du, ich liebe dich.«
Und von mir zu ihr umgekehrt. Es ist Scheiße zur Potenz, aber es ist wenigstens etwas. Manchmal sperrt der Beamte auf und brüllt, aber was zählt das schon?
Ich verbessere meine Führung, bin sanft wie ein Lamm.
Der Besuch der Filme und Lichtbildervorträge jeden Freitag- nachmittag wird mir gestattet. Ich sehe das Mädchen, sie sieht mich an. Wir sind uns in diesen Augenblicken nahe, eine Wärterin schreit sie an, ein Beamter stößt mich fort – was bedeutet es, sie hat gesagt - ich liebe dich – mitten in mein Gesicht.
Beim Plaudern beginnt sie zu träumen, wir, sagt sie …
»Wir werden draußen auch zusammen sein. Wir werden uns eine Wohnung einrichten. Ich werde für dich auf den Strich gehen – ich liebe dich ja –, willst du, daß es so wird?«
Ich schaue dann gedankenverloren gegen das Scheißhaus, wenn gerade einer runterläßt, warte ich, bis sich der Geruch ein bißchen verzogen hat, dann sage ich – klar, möchte ich es auch, es wird wunderbar …
In diesen Wochen, während ich jeden Abend mit dem Mädchen spreche, komme ich zurück aus den Zwischenlandschaften, in die ich geflüchtet bin. Ich spüre, wie ich auftaue.
Eines Tages ruft man mich zum Psychiater. Ein großer, grauhaariger Mann mit tiefer, ruhiger Stimme erwartet mich. Er befragt mich zur Person, ausführlich über das Elternhaus, kurz über einige Geschehnisse um die Tat. Zwei Stunden sind vergangen, er untersucht meine Reflexe, beschreibt meine Statur, fragt mich kurz um mein körperliches Befinden. – C’est tout – ich kann gehen. Man erwägt wieder, mich in der Werkstätte arbeiten zu lassen. Einige Tage geht es gut, dann kommt es wieder zu einer Auseinandersetzung. Ein Gefangener, groß, muskulös, hat in der Zwischenzeit eine gewisse Vorrangstellung in der Werkstätte erreicht. Er befiehlt den anderen und tut dies auch bei mir. Ich schlage ihm zweimal wuchtig gegen die Fresse, er fällt gegen einen Arbeitstisch und verletzt sich am Kopf. Wieder werde ich in meiner Zelle abgesondert.
Ich habe mich an das Alleinarbeiten gewöhnt, es macht mir nichts aus. Ich schaffe spielend das doppelte und dreifache Pensum. Manchmal lasse ich mir den Preis für die Zigaretten gutschreiben, der Beamte kauft mir dann andere Sachen, wie Zahnpasta oder Lebensmittel.
Als Arbeitslohn werden sechzehn Groschen pro Stunde bezahlt. Am Monatsende ergibt sich daraus ein Gesamtbetrag von ca. 28,- Schilling, dafür kann man ebenfalls einkaufen.
Ich werde in eine andere Zelle verlegt, nun ist es vorbei mit den täglichen Liebeslitaneien. Die Zelle Nummer 16 ist zwar auf derselben Etage, aber es liegt kein Mädchen über mir. Einige Tage bin ich niedergeschlagen, dann spült das Tägliche darüber, ich vergesse.
Ich schreibe keine Briefe. Ich erwarte auch keine. Manche Beamte rufen mich ›Mörder‹ und prophezeien mir mindestens an ›Fünfa‹. Anfangs bin ich zusammengezuckt, später höre ich es nicht mehr.
Unmerklich ist der Winter gekommen. Trotz der doppelten Fenster ist es unerträglich kalt in den Zellen, die Hände sind klamm bei der Arbeit, die entzündeten Stellen schmerzen in der Kälte. Zu Weihnachten besucht mich Mutter. Ich halte sie im Arm. Zwischen uns beiden ist alles gut. Sie hat mir ein großes Paket gebracht. Immer wieder streichelt sie über mein Gesicht. Ich kann nicht sprechen, kann sie nur ansehen.
Mutter … wie vieles müßte ich sagen … aber es ist zu spät, wir können uns nur bei den Händen halten … zu verstehen ist da nichts mehr.
Der Weihnachtsabend … ein Gefängnisabend, nichts anderes … bei der Abendessenausgabe schlägt mich ein Beamter in den Magen, ich kippe nach vorn … er lacht, war ja nur ein Scherz, ach so, ach ja, ich rieche die Alkoholfahne sehr deutlich, später kann ich auch noch nicht über den Scherz lachen. Ich bin allein … tags darauf gibt es Schnitzel … es ist kalt, ich schlafe mit Hemd und Pullover.
Sechs Monate warte ich schon auf die Verhandlung, der Untersuchungsrichter sagt mir, daß ich noch einmal psychiatriert werde, von einem anderen Professor. Ich arbeite, manchmal springe ich auf und schlage die Hände um den Körper, bis mir warm ist; dann arbeite ich weiter.
Ich muß ein paar Tage pausieren, meine Hände sind unbrauchbar vereitert. Mutter besucht mich, sie läßt mir hundert Schillinge zum Einkaufen da. Ich kaufe Wurst und Weißbrot und Schokolade. Viele Tage vergehen, langsam wird es wärmer.
Der Beamte schickt mir hin und wieder neue Gefangene auf die Zelle, die ich anlerne und die mir helfen. Eines Tages bringt er wieder einen.
Der Junge ist knapp fünfzehn, weiches Gesicht, dünn, große, ängstliche Augen. Er spult Draht auf eine Ersatzspindel, sieht mich dabei ständig an.
»Hast du Angst, oder was ist los mit dir? Warum schaust du mich denn ständig an?« frage ich.
Er sieht fast aus wie ein Mädchen, wenn er so dasitzt, die langen Wimpern, seltsam … ob er schwul ist? Ich frage ihn dann über sein Leben. Er erzählt, seit seinem sechsten Lebensjahr im Heim, kennt kein Zuhause. Er ist aus einem Lehrlingsheim davongelaufen, hat mit einem anderen versucht, eine alte Trafikantin zu berauben.
»Das gibt zwei Jahre, Kleiner, das weißt du ja«, sage ich.
»Ja, ich weiß es«, sagt er leise.
Meistens arbeiten wir schweigend. Ich rede nicht gerne und er scheint das begriffen zu haben. Der Beamte fragt mich, wie er sich bei der Arbeit macht.
»Er ist ruhig und fleißig«, sage ich.
»Gut, dann soll er eine Weile bei dir heroben arbeiten. Wir haben nicht viel Arbeit in der Werkstätte«, sagt er.
Der Junge strahlt über das ganze Gesicht. Es ist Freitag. An diesem Tag bekommen wir den Einkauf. Er kommt, trägt einen ganzen Packen vor sich her, dann beginnt er, Wurstbrote zu machen und Schokoladestückchen zu brechen. Es ist kurz nach dem Mittagessen, doch an einem solchen Tag wird nicht viel von der Gefängniskost gegessen.
Ich liege auf dem Bett und drehe mir eine Zigarette. Ein Beamter sperrt die Türe auf. Er besieht sich aufmerksam meinen Arbeitsplatz, dann sagt er zu dem Jungen:
»Eure Arbeit ist fertig, du kommst in deine Zelle mit, los, nimm dein Zeug.«
»Wir arbeiten wie die Idioten den ganzen Tag und Sonntag dazu - manchmal wollen wir uns auch ausrasten. Und dieses Alleinsein kotzt mich langsam an, ich möchte auch hin und wieder in Ruhe mit jemandem reden, nicht bloß mit den Zellenwänden«, sage ich.
Der Beamte sieht mich groß an. Man ist nicht gewohnt, viel von mir zu hören, er brummt vor sich hin, dann geht er.
»Danke, daß ich hierbleiben darf«, sagt der Junge.
Er steht vor mir, plötzlich nimmt er meine Hand und küßt sie. Ich stoße ihn weg.
»Sag, Kleiner, bist du schwul?«
»Du kannst mich schlagen … wenn du willst, aber schick mich nicht weg … du verstehst das vielleicht nicht … du bist mir einige Male ganz leicht über den Kopf gefahren … du hast gesagt, ›Kleiner, keine Angst, ich erledige das schon‹ … du erinnerst dich vielleicht gar nicht, du hast beim Spazierengehen vor zwei Wochen einem eine Ohrfeige gegeben … seither läßt mich der in Ruhe, weil er glaubt, daß …«, sagt er und stockt.
»Was daß?« frage ich und weiß es.
»Daß ich eben dir gehöre, und deswegen quält mich auch keiner … du weißt das ja nicht, du bist ja nie in der Werkstätte, und wenn du dir Material holen kommst, dann kuschen sie ja.«
Immer dasselbe Lied, wenn ein Junge so aussah, dann versuchten sie es eben, ich kannte das von meiner ersten Haft her. Ein Spiel, sich einen Jungen wie ein Mädchen abzurichten, und gar nicht mal schwer zu erreichen. Die meisten Jungen aus den Heimen waren alle angestochen, der da vor mir ebenfalls.
Ich schaue den Jungen lange an, er weint. Große, dicke Tränen laufen über seine Wangen, seine mageren Schultern zucken. »Hör auf zu weinen und paß mal auf. Ficken werde ich dich nicht, vielleicht darfst du mir einen blasen, kannst du es gut?«
Er weint und nickt, dann bringt er mir die Brote ans Bett, später die Schokolade.
Es muß ein großer Schmerz sein, oder ein großes Glück, das er sich da herunterheult. Nach dem Essen spiele ich eine Partie Schach mit ihm.
Mutter kommt zu Besuch. ›Du sollst an Vater einen Brief schreiben, wirst du es tun?‹ sagt sie. Sie läßt mir wieder hundert Schilling da. Am Wochenende sitze ich über einem Blatt Papier. Der Brief an meinen Vater. Kein Wort, das Blatt ist auch nach Stunden noch leer. Endlich quäle ich ein paar Worte hin. Banales Gestammel, es gibt nichts, was man in diesem Fall schreiben kann. ›Es tut mir leid, daß ich versucht habe, dich umzubringen‹, oder ähnlichen Unsinn. Der Untersuchungsrichter stochert mit spitzer Nase zwischen den Zeilen.
Es ist warm. Der Frühling nur in der Sonne spürbar, es gibt kein Grün in den Höfen, klopft in meinen Schläfen. Viele Monate bin ich schon in Haft. Karin hat mir geschrieben. Eine sonderbare Welt macht sich bemerkbar – Sätze tauchen auf … wenn du wieder frei bist – Himmel, ja, was wird dann sein. Ich schiebe Kulissen davor, Gefängnistage, routiniertes Vergessen.
Ein zweiter Psychiater läßt mich holen. Dieselbe Unterhaltung, die gleichen Gesten, ähnliche Worte, ein Händedruck, zwei Stunden später kann ich gehen.
Ich werde zum allgemeinen Spaziergang zugelassen, es wird ›Abschießen‹ gespielt.
In den Schulen erschien mir dieses Spiel immer als Inbegriff des unmännlichen Spiels. Hier im Gefängnis wird es mit ungeheurer Brutalität gespielt. Wenige, aufeinander eingespielte Gefangene, werfen sich in immer schnellerer Folge den Ball zu, bis das ausgewählte Opfer unmittelbar vor dem Ball ist. Mit größtmöglicher Wucht wird diesem nun der Ball mitten in das Gesicht geworfen … dann der nächste.
Die Beamten setzen auf die Volltreffer ins Gesicht Zigarettenprämien. Verschwitzt und keuchend komme ich nach dem Spiel auf die Zelle. Der Beamte hat den Kleinen zu mir in den Haftraum gesperrt.
»Du kannst mir den Rücken waschen, los.«
Der Kleine seift mir den Rücken ein.
»Darf ich dich vorne auch einseifen?« fragt er.
»Meinetwegen, aber beweg dich«, sage ich.
Plötzlich kniet er vor mir, seine Hände umfassen behutsam mein Glied, er spitzt die Lippen und küßt die Eichel. Ich starre auf seinen Kopf, mein Schwanz wird hart, dann schließe ich die Augen. Mädchenlippen saugen an meinem Schwanz – Mädchenhände, zart, weich, spielen an meinen Eiern. Eine sengende Furche gräbt sich in mein Rückgrat – ich spritze wie ein Hydrant – ein Mädchen saugt und schluckt – und Scheiße, was soll’s, es war kein Mädchen, es war ein Junge … aber sein Mund ist eine Fut, eine wunderbare, weiche nasse heiße Fut. Sorgfältig spült er mir die Seife vom Körper, dann reibt er mich trocken.
»Graust dir vor mir?« fragt er und steht schmal und ängstlich neben der Türe.
»Warum soll mir vor dir grausen, wenn du etwas längere Haare hättest, würdest du noch mehr einem Mädchen ähnlich schauen – für mich bist du ein Mädchen«, sage ich.
»Aber ich bin kein Mädchen.«
»Hör mal zu, Kleiner, das weiß ich, aber vielleicht muß ich mir einreden, daß du eines bist, sonst würde ich für mich denken, ich sei schwul … und das bin ich nicht«, sage ich.
Tage verlaufen sich, Wochen reihen sich, werden Vergangenheit. Ich bin nun knapp ein Jahr in Haft … am 25. Juni werde ich Verhandlung haben. Aus der Anklageschrift ist nicht mehr von Mordversuch, sondern von schwerer Körperverletzung die Rede und von Morddrohung und einem halben Dutzend anderer Paragraphen.
Ich bin zuversichtlich, ich habe lange gewartet.
Zwei Beamte bringen mich nach Eisenstadt. Ich habe einen dunkelbraunen Anzug an, Krawatte und weißes Hemd. Handschellen an den Händen. Im Gerichtssaal werden mir die Spangen abgenommen, die beiden Beamten sitzen neben mir auf der Anklagebank.
Vor Betreten des Gerichtssaales habe ich kurz Mutter gesehen – ihr Gesicht war blaß und feierlich wie zu einer Beerdigung. Das Gericht betritt den Raum.
Der Vorsitzende ist ein älterer Mann mit gelangweiltem Gesichtsausdruck und schmalem Aristokratenkopf, der Beisitzende ist mein Untersuchungsrichter, die Schöffen farblose Statisten. Der Staatsanwalt, derselbe wie bei meiner ersten Verhandlung drei Jahre davor, ein scharfer, zynischer Neurotiker, immer bereit zu persönlichen Angriffen, dann ein Mädchen als Gerichtsstenografin. Und vor dem Richtertisch ein Platz für den Sachverständigen.
Der Vorsitzende eröffnet die Hauptverhandlung, die Anklage wird verlesen, dann ruft mich der Vorsitzende zur Aussage.
Ich kann nicht viel aussagen, da ich das meiste vergessen habe.
Der Staatsanwalt versucht einige Attacken gegen meine Glaubwürdigkeit, mein Rechtsanwalt, von meiner Mutter für mich engagiert, ebenfalls derselbe wie vor drei Jahren, gerät in einen hitzigen Wortwechsel mit dem Ankläger. Ich habe den Rechtsanwalt bis zu Beginn der Verhandlung nie zu Gesicht bekommen.
Ich habe mir aber darüber nie Gedanken gemacht.
Einige Gendarmeriebeamte werden dann als Zeugen vernommen, natürlich auch die drei Verhörspezialisten. Ihr Strammstehen, ihr Herumstottern zu den Fragen des Richters zeigen ein deutliches Schuldbewußtsein in dieser Sache.
Andere Zeugen werden verhört, dann betritt mein Vater den Raum. Ein Jahr habe ich ihn nicht gesehen. Er erscheint mir älter, um vieles älter, seine Haltung ist sehr aufrecht. Er sieht mich nicht an. Der Richter sagt zu ihm:
»Sie können sich der Aussage entschlagen.«
Der Vater antwortet:
»Ich möchte nicht aussagen … ich möchte nur«, alle im Gerichtssaal sehen ihn an, »… um ein mildes Urteil für meinen Sohn bitten.«
Er dreht sich um, mich hat er nicht angesehen, dann verläßt er den Raum. Er hat also gesiegt. Nichts hat sich verändert. Mutter kommt nach ihm, auch sie entschlägt sich der Aussage.
Warum hat der alte Herr das getan … er, der mir immer gepredigt hatte … ›ein Mann hat das durchzustehen, was er sich eingebrockt hat – ohne Gnade zu verlangen oder zu erwarten‹ – so hatte er es mir oftmals gesagt. War da eine Kette, die um mich gelegt werden sollte?
Unter den Zuschauern im Raum habe ich den Psychologen entdeckt, den meine Eltern immer vorausgeschickt haben, wenn sie etwas von mir wollten, sollte er mir wieder etwas mitzuteilen haben …
Nach den Zeugen spricht der Sachverständige. Er ist der Mann, der mich als zweiter im Gefängnis untersucht hat. Die Quintessenz seines endlosen, mit vielmaligem »Nächster Absatz« zur Gerichtsstenografin hingespickten Vortrages ist, Anwendung des Trunkheitsparagraphen 523, da sich der Angeklagte zur Tatzeit in einem pathologischen Rauschzustand befunden hat.
Der Staatsanwalt versucht gegen dieses Bollwerk in seinem Plädoyer Sturm zu laufen, resigniert aber und begnügt sich damit strengste Bestrafung zu fordern.
Mein Rechtsanwalt spricht ruhig und gelassen und fordert das Gericht auf, die Strafe mit der anzurechnenden Untersuchungshaft verbüßt sein zu lassen.
Das Gericht berät eine Viertelstunde – dann wird das Urteil verkündet.
Ein Jahr Arrest – verbüßt, da die U-Haft angerechnet wird. Der Staatsanwalt verläßt ohne Erklärung den Gerichtssaal – ich bin frei, Menschen reden auf mich ein –, plötzlich stehe ich allein meinem Vater gegenüber.
Er gibt mir die Hand.
»Wir wollen nie mehr darüber reden. Du bist sehr jung, du kannst ganz von vorne beginnen. Wir, Mutter und ich, werden dir dabei helfen.«
Ich würge ein »Danke« hervor, mehr ist da nicht.
Hinter uns steht der Psychologe – ganz Herr der Lage –, fettgesichtig, dünnhaarig, mit vielen Worten.
Im Gefängnis waren wenige Worte, ich war dort die meiste Zeit allein, wie soll ich nun hier mit diesen vielen Worten sein?
Später sitzen mir im Restaurant mein Vater und der Psychologe gegenüber.
»Dein Vater meint, daß es wohl das beste sein wird, wenn du sofort anschließend an die Haft die Militärdienstzeit erledigst. Ich stimmte ihm dabei voll zu«, sagt der Psychologe.
Es ist ein herrlicher Tag. Der Vater sieht an mir vorbei.
Ich lehnte mich in den Stuhl zurück, die Sonne ist ungewohnt auf meiner Haut. Wie war doch ein oftmaliges Thema zwischen Vater und mir, ›wenn du dich zum Militär verpflichtest, so kannst du trotz dem Vorgefallenen noch einen Aufstieg schaffen‹, sagte er. Der Dienst bei der Armee war für ihn Ehrensache. Er sagte es vor einem Jahr und früher. Selten hatte ich hingehört.
»Ich meine, Disziplin und Ordnung können dir jetzt nicht schaden, das wird dich bei dem Neubeginn nur unterstützen«, sagt der Vater. Der Psychologe nickt zustimmend, »sicher, und die harte Ausbildung wird ihn nicht stören. Er war doch immer sehr sportlich«, sagt er laut.
So sieht also die Starthilfe aus. Was habe ich mir erwartet?
Das Bundesheer – neun Monate. Von Schikanen habe ich genug und Disziplin, die wollen sie mir beim Heer beibringen, jetzt nach einem Jahr Gefängnis, Exerzieren, Grüßen, Strammstehen, dazwischen einen Fetzen Zeit, um Luft zu holen. Ja, das Hände an die Hosennaht – das ist es, was ich nun brauche. Keine Zeit haben dürfen für sich selber, keine Zeit. Die Knastrelikte, die im Hals stecken, nichts hinunterwürgen können, weil frische Scheiße nachkommt.
Sie sollen meinen guten Willen sehen.
»Gut, wann soll ich da hin?« frage ich. Eine Wespe torkelt um meinen Glasrand, surrt weg.
»Ich habe das so arrangiert, daß er heute gleich gemustert wird, er kann dann am ersten Juli schon einrücken«, sagt der Psychologe.
Nach dem Essen begleitet er mich in die nahe Kaserne. Ein dicker Oberstleutnantarzt begutachtet mich, reißt zwei trübe Witzchen und stellt dann fest, ich sei A-tauglich. Daneben ein Büro. Ich werde eingeteilt. Gebirgsjäger, Ausbildungskaserne Zeltweg, Steiermark. Marschbefehl zum Einrückungstermin am ersten Juli 1963.
Wieder zu Hause, bin ich fremd in den Räumen. Mutter spielt die Platte vom Jungen, der bald wiederkommen soll und weint. Vater macht ein ernstes Gesicht.
Die vier Tage bis zum ersten Juli bin ich locker, rede wenig.
Karin ist im Ort, auch ihr Vater ist da. Manchmal sitze ich im Hof unter dem alten Nußbaum und höre dem alten Mann zu. Im Bad treffe ich Robert. Wir reden, doch da ist eine Grenze. Deutlich und spürbar scharf. Er erzählt von Sylvia – ach ja, wie die Zeit vergeht – verheiratet soll sie sein – ich kann mich nicht mehr an sie erinnern.
Mit einem Mädchen liege ich auf der Decke. Gehe dann mit ihr in die Kabine, ziehe ihr Bikinihöschen herunter, sie lehnt sich gegen den Sitz. Von rückwärts ficke ich sie und starre auf die Bretterwand.
»Du bist so abwesend, du bist doch nicht krank«, sagt Mutter.
»Nein.«
Im Zug nach Zeltweg sitzt ein Mädchen im Abteil, einige ältere Männer steigen zu. »In die Kaserne fahren Sie? Sehen Sie deshalb so bedrückt aus?« fragt sie mich. Zwei der Älteren mischen sich ein. »Ja, Fräulein, wie wir eingerückt sind, das war etwas … und dann die Ausbildung, hart und brutal, aber dafür haben wir dann an der Front …« Die Geschichten kenne ich, eine Generation von Helden … was sind wir jetzt, Kanaken, weich und lätschert, und weiter, ein blasser, undeutlicher Mensch redet aus der Ecke … »kein Zund ist da heute dahinter, das war damals anders, wir waren noch stolz darauf, die Uniform zu tragen …« Wenn sie alle so waren, warum laufen dann heute so viele Mieslinge herum, oder sind die da von der Etappe, na sicher, oder eben irgendwelche Drückeberger, die gibt und gab es ja immer.
In Zeltweg warten Militärlastwagen. Als erstes gibt es Geld. Achtzig Schilling, der Sold für die ersten zehn Tage. Dann folgt der militärische Ernst. Haare schneiden. Ich bin die kurzen Haare vom Gefängnis her gewohnt, und das ›Antreten‹, das ›Ruhe in der Reihe‹, das ›Halt‹ und das ›Marsch‹ und und … alles das bin ich gewöhnt.
Tags darauf Fassen von Uniformen und Gewehr und den ganzen übrigen Ramsch, den man bekommt, um möglichst viel in Ordnung halten zu müssen. Zwischen den ›Neuen‹ schleichen die ›Alten‹ -drei Monate davor Eingerückten, klopfen Sprüche und tyrannisieren – »mal sehen ob Sie sportlich gelebt haben, machen Sie fünfundzwanzig Liegestütze« – natürlich keuchen die ›Neuen‹ und werden ausgelacht- ach ja, Liegestütze – bin ich auch gewöhnt, wenn mir abends in der Zelle langweilig war, habe ich eben gepumpt, so siebzig Stück, manchmal auch mehr. Ich bin einsneunzig und Flügelmann, die Eckstange der Kompanie.
»Machen Sie fünfundzwanzig«, sagt einer der ›Alten‹.
»Du kannst fünfundzwanzig aufs Maul haben, du arschgeficktes Russenkind«, sage ich. Er ist klein, dumm und fett, auch noch Gefreiter.
»Ich werde Sie melden«, sagt er und ist ganz rot im Gesicht.
»Du kannst mir einen blasen«, sage ich und lasse ihn stehen.
Er hat mich nicht gemeldet, aber sein mickriges Dasein hat er benutzt, um mir das Leben sauer zu machen.
›Klosettdienst-Essenholen-Klosettdienst.‹ Im Wechsel habe ich die beiden Jobs abonniert, bis wir uns zehn Tage später in der Stadt treffen, danach sind die Sonderaufträge vorbei. Exerzieren und im Dreck herumkriechen. Was rede ich, das kennt doch jeder. Immer einer von diesen Idioten da, der herumbrüllt oder befiehlt. Abends komme ich manchmal weg von dem Zirkus – in die Kantine. Ausgang gibt es erst in der zweiten Woche. Die Kantine ist dreckig und laut. Unsere Eierköpfe, Zugführer, Korporale tanzen da auch herum und machen auf wichtig. Alte Lieder orgeln aus der Box. Die Tochter des Kantiniers möchte ich ficken, aber das wollen alle. Ich saufe und troll mich dann. Um zehn ist Nachtruhe.
Vater kommt auf Besuch. Seine Augen glänzen, es gibt markige Töne: »Ach, wenn ich doch nur noch einmal« – und – »führe dich anständig, ich will stolz auf dich sein«. Ich stehe da und habe gelähmte Stimmbänder. Er gibt mir zweihundert Schilling – »ein Soldat muß hin und wieder etwas trinken«.
Abends wieder Kantine, saufen, was sonst? In meiner Kompanie sind alle aus dem südlichen Burgenland oder von der Oststeiermark. Ich verstehe die Leute kaum. Manchmal rede ich mit dem Zimmerältesten. Er war auch schon im Gefängnis – zwar nur einen Monat. Er ist mir eine Spur weniger fremd als die anderen.
Dann endlich Sonntag – Ausgang – vergewaltigt keine Weiber, sagt der Leutnant.
Zeltweg ist sexuelles Notstandsgebiet. Zu viele Soldaten, zuwenig Weiber.
Ich fahre ins nahe Judenburg, lerne eine angehende Lehrerin kennen. Sie spricht von ihrer Sendung, ich möchte ficken. Wir liegen im Bad. Ich immer auf dem Bauch. Nach zwei Stunden sagt sie, »… ich darf nur Samstag abends ausgehen, meine Eltern sind sehr streng …«
Ich nehme sie in die Arme, an der Hüfte spürt sie meinen erregten Schwanz. Sie küßt mit geschlossenen Lippen, später mit offenen.
Bis Samstag sind es sechs Tage- wie heißt das … ach ja, Erotomanie. Ich begleite sie bis zum Bus. Hinter einem Gebüsch stecke ich ihr wenigstens die Finger in die Spalte, damit ich etwas zum Riechen habe.
Abends hocke ich trübsinnig in einem Kaffeehaus. Irgend etwas tun. Egal was – irgend etwas, meinetwegen einen Mord, dann saufe ich die Stimmung weg.
Kleider putzen, Stiefel putzen, Gewehr putzen, Zimmer putzen, Koppel putzen. Ich gebe einem zehn Schilling, »los putz mir das«, sage ich. »Putz dir deinen Dreck selber«, sagt er. Ich haue ihm eine in die Fresse, nehme ihm die zehn Schillinge weg, dann putzt er umsonst.
Am Abend ins Soldatenkino. Ich gehe allein. Da sitzt ein Mädchen. Ich setze mich neben sie – wahrscheinlich die Tochter von einem Offizier oder Unteroffizier – dann rede ich sie an. Mehr, als daß mich ihr Vater vierteilt, kann mir nicht passieren – und das ist mir scheißegal. Also rede ich, Unsinn, Verzweiflung dahinter.
»Ich bin noch verschwitzt und dreckig. Ich habe in der Küche Töpfe geputzt, aber ich muß mich einfach da hersetzen …«, sie ist sauber und schön, in dieser Dreckskaserne gibt es nichts Schönes. Sie blickt vor sich hin, nach einer Weile lächelt sie. Ich möchte sie anbeten. Ihr Gesicht ist weich.
»Die gepolsterten Sitze sind nur für Unteroffiziere und Offiziere; Mannschaftsangehörige haben in den vordersten Reihen auf den Holzbänken zu sitzen … was machen Sie hier?« Ein Stabswachtmeister steht neben mir und schnauzt mich an. Das Kino ist zu vier Fünftel leer.
Wenn das Mädchen nicht dasitzen würde …
…würde ich zu den Holzbänken gehen, einfach, weil ich müde bin, aber so …
»Wollen Sie mir das nicht nach dem Film erzählen«, sage ich und bleibe sitzen. Es wird dunkel. Der Unteroffizier sagt etwas, eine Fanfare übertönt ihn mühelos.
Das Mädchen beugt sich zu mir.
»Bitte seien Sie vernünftig. Er bringt Sie zur Meldung, dann sperrt man Sie ein«, sagt sie und legt die Hand auf meinen Arm.
»Los, verschwinden Sie, oder Sie stehen beim Rapport«, faucht der UO von der anderen Seite. Ein Speicheltropfen fliegt gegen meine Wange.
»Wiedersehen – wenn ich General bin, komme ich wieder«, sage ich zu dem Mädchen, dann gehe ich aus dem Kino. Ich glaube, der Film ist nicht besonders.
Etwas tun – einem sterndekorierten Affen eine in die Schnauze schlagen – irgend etwas tun – spitze Brüste hatte sie unter dem Pulli bewegt – irgend etwas tun – nicht bloß sitzen und in sich hineinsaufen. Mit dumpfem Hirn trotte ich durch die Kaserne.
»He, Sie, können Sie nicht grüßen«, sagt einer. Ein Hauptmann. Ich salutiere.
»Na also«, sagt er und dreht mir den Rücken zu.
Später im Bett rede ich wieder mit dem Zimmerältesten. Er erzählt aus seinem Leben. Seine Verlobte ist ihm abgehauen, jetzt ist sie wiedergekommen. Er redet, ich schlafe ein.
Am Wochenende der erste Urlaub. Mutter zuliebe – ›komm bitte, es geht mir nicht gut‹, stand in ihrem Brief – verzichte ich auf die Lehrerin.
Mutter ist sehr blaß. Vater vital und aufgeräumt. Er spricht nur vom Militär. Ich schweige mich durch die zwei Tage. Beim Abschied halte ich Mutter lange umarmt.
Märsche, Nachtübungen, Sport und Instruktionen. Jeden Abend in der Kantine. Saufen. Es muß etwas geschehen. Ich lebe wie in Trance, als würde ich etwas ungeheuer Wichtiges versäumen, aber ich kann nicht sagen, was es ist – etwas Fürchterliches, Sinnloses.
Gleichgültigkeit. Wohin spült sie mich? ›Sei vorsichtig‹, etwas in mir warnt mich, aber ich höre nicht hin.
Tage später sitze ich mit Paul, dem Zimmerältesten, in einem Gasthausgarten. Wir haben einige Bier getrunken.
»Nehmen wir uns ein Taxi. Ich klopfe dem Fahrer eine über den Schädel, dann fahren wir nach Wien. Ich habe es satt hier. Wenn ich noch ein paar Tage hier bin, schnappe ich über«, sage ich vor mich hin. Einige Worte. Ein Verbrechen? – Ich denke nicht daran, nicht eine Sekunde.
»Ja aber, ich …«, sagt er. »Was? Hast du Angst …?« sage ich scharf. Wie einfach das ist. Wer ist schon gerne feige? Seine Einwände schiebe ich mit ein paar Gläsern Bier und einer umfassenden Handbewegung unter den Tisch.
»Also wir mieten uns das Taxi für eine Fahrt nach Judenburg. Auf freier Strecke klopfe ich ihm eine, du nimmst das Lenkrad. Ich werfe ihn aus dem Wagen und wir verschwinden … so machen wir es, klar«, sage ich bestimmt. Er nickt glasig. Wir haben keinen Groschen Geld, sind vom Heer weggelaufen, man wird sofort wissen, daß wir es waren. Ich habe in Wien nichts Bestimmtes vor.
Geschieht es, vielleicht weil nichts anderes vorher geschehen ist, vielleicht aus Zufall – der Schnittpunkt der Bezüglichkeiten ist erreicht.
Wir gehen. Ich drücke gegen die Klingel am Türpfosten, daneben ist ein Schild. N. N. Taxiunternehmen – ein Mann steckt den Kopf aus einem Fenster im ersten Stock. »Fahren Sie uns nach Judenburg«, rufe ich hinauf.
»Ja, ich komme gleich«, sagt er.
Er kommt aus der Türe. Ein mittelgroßer, älterer Mann. Der Wagen steht um die Ecke. Ein schwarzer Mercedes. Wir steigen hinten ein. Ich hinter dem Fahrer. Der Mann startet, fährt los. Ich lehne mich in die Polster zurück. Paul ist bleich, er sitzt starr und verkrampft. Ich habe keinen Gedanken. Der Wagen fährt aus der Stadt in die Dunkelheit.
Nach einer Kurve beuge ich mich vor. Ich lege dem Fahrer meine Hände um den Hals und drücke zu. Er verreißt das Lenkrad. Paul kommt zu spät nach vorn. Der Wagen schleudert, rutscht quer zur Fahrbahn. Unter meinen Händen wird der Fahrer schlaff. Ich zerre ihn über die Lehne in den Fond, da blendet von rückwärts Licht. Ich sehe Autos anhalten, jemand ruft.
»Verfluchte Scheiße, nichts wie weg hier!« sage ich zu Paul. Wir verlassen das Auto und laufen gegen die Dunkelheit. Wir hechten über eine Bodenwelle. Ich kann über die Schulter abrollen. Dann stehen wir vor einer Sträucherwand.
Paul zögert.
»Los, spring«, sage ich.
»Was ist dahinter«, stößt er hervor.
»Weiß ich nicht, los, spring. Da, die kommen nach«, sage ich. Beim Sprung verliere ich meinen rechten Schuh. Ich falle in weiches Erdreich. Der Schuh bleibt in der undurchdringlichen Finsternis unauffindbar.
»Los, weiter«, sage ich. Plötzlich ist eine schwarze Wand vor uns – der Wald. »Halt dich an mir fest, sonst schlägst du dir noch den Schädel an einem Baum auseinander«, sage ich. Er hält sich hinten an meinem Gürtel fest. Ich versuche, eine gerade Richtung einzuhalten. Der Schweiß brennt in den Augen. Unter einem dichten Baum halte ich an.
»Hau dich hin. Vielleicht haben wir Glück, und sie finden uns mit den Hunden nicht. Weitergehen ist sinnlos. Ich weiß nur sehr ungenau, wo wir sind. Wir müssen warten, bis es hell wird«, sage ich.
Er lehnt am Baum. »Hast du eine Zigarette?« fragt er.
»Habe ich, aber halt die Hand vor die Glut«, sage ich.
»Sag, sind wir verrückt?« fragt er keuchend, »was wollten wir in Wien … wie ist das passiert, wie, sag es?!«
»Ich weiß es nicht … aber das ist jetzt auch egal … die Scheiße ist passiert, versuch zu schlafen. Ich seh’ uns morgen schon in den Bergen klettern«, sage ich.
Er schweigt und dreht sich zur Seite. Ich horche in die Nacht. Da und dort knackt ein Zweig. Es beginnt zu regnen. Ich lege mich auf das Moos, hoffe, daß die Äste und Zweige die Nässe abhalten, dann schlafe ich ein.
Die Sonne zeichnet schon scharfe Schatten. Ich stoße Paul in die Seite. Mit einem kurzen Schrei fährt er hoch. Knapp vor uns ist die Bahnlinie, einige hundert Meter weiter steht ein Gendarm. Feldstecher, Maschinenpistole und Hund.
Wir kriechen zurück, zwischen die Bäume. Dann gehen wir stromauf, entlang des grünen, durchsichtigen Wassers. Nach einer weiteren Biegung schwimmen wir durch den eiskalten Fluß und steigen einen Berg hoch. Den ganzen Tag gehen wir, bergauf, bergab. Menschen weichen wir aus. Um meinen rechten Fuß habe ich ein Taschentuch gebunden. Es ist ein glühendheißer Tag.
»Wenn es dunkel ist, versuchen wir zum Bahnhof zu kommen. Aus diesen Bergen kommen wir nie heraus«, sage ich. Paul nickt nur. Er trottet erschöpft hinter mir her.
Lange nach Sonnenuntergang sind wir auf der Straße zwischen Weißkirchen und Zeltweg. Dann kann oder will Paul nicht mehr. In einem Kleefeld bleibt er liegen.
»Ich stell mich der Polizei«, sagt er leise.
»Gut, sag ihnen meinetwegen, ich bin schuld – ich hätte dich überredet. Aber warte ein paar Tage, bevor du zu reden beginnst – ich möchte noch verschwinden können«, sage ich. »Viel Glück«, sagt er. Ich gebe keine Antwort. Durch Zeltweg, immer Nebenstraßen und dunkle Wege, schleiche ich zum Bahnhof. Auf den Ladezetteln an den Waggons suche ich einen Güterzug, der Richtung Wien fährt. Vorsichtig öffne ich einen Waggon, steige hinauf und ziehe die schwere Rolltüre geräuschlos hinter mir zu. Zwei Stunden später fährt der Zug an. Gegen Mittag des nächsten Tages lasse ich mich vor Wiener Neustadt aus dem Zug fallen, auf dem steinigen Boden schlage ich hart auf. Über die Felder gehe ich die zehn Kilometer nach Sauerbrunn. Dann liege ich im Wald beim Ortseingang und warte auf den Einbruch der Nacht. Ein Zufall führt Jutta, die ihren täglichen Spaziergang macht, an meinem Warteplatz vorbei. Ich brauche nichts zu erklären. Sie weiß das Geschehene bereits aus der Zeitung. Nach mir wird überall gefahndet. Die Gendarmerie kommt häufig zum Haus meiner Eltern.
»Ich werde es deinem Vater sagen. Warte hier«, sagt sie. Spät am Abend holt mich der Vater mit dem Auto. Sein Gesicht ist verschlossen. »Warum bist du nur desertiert«, sagt er mehr zu sich selbst als zu mir. Ich schweige. Es gibt nichts zu sagen. Mutter weint und umarmt mich, dann ist sie plötzlich verschwunden.
Ich bade, wechsle die Kleider.
»Hier ist Geld und der Wagenschlüssel. Glaubst du, daß du weit kommst«, sagt Vater leise. Sein Gesicht, verkniffen, im Schatten der Lampe.
»Ich weiß es nicht«, sage ich. Er gibt mir Geld – für meine Flucht – er. Die Linien in seinen Mundwinkeln sind schärfer, sein Haar ist gerade, wie mit dem Lineal gezogen, gescheitelt.
»Danke«, sage ich. Er hebt nicht den Kopf, winkt ab.
Ich gehe ins Schlafzimmer, packe einen Koffer.
»Man hat uns gesagt, er ist hier«, sagt jemand.
Diese Stimme – das ist Gendarmerie. Ich springe zum Fenster, zwecklos, neben der Gartentüre steht einer. Auf Mutters Schreibtisch liegt eine lange Papierschere.
»Er war hier, aber … er ist weggegangen«, sagt der Vater. Der Alte lügt, lügt für mich. Oder es ist ein abgekartetes Spiel. Die Gendarmen sind im Vorraum. Schritte kommen auf das Zimmer zu.
Wie ein Stilett halte ich die Schere vor mich. Der Gendarm tritt ein. Daneben mein Vater. Er kommt auf mich zu. In der Türe taucht ein zweiter Uniformierter auf.
»Leg die Schere weg, oder wir schießen«, sagt der Gendarm und hebt die Waffe. Der Vater steht vor mir.
»Ich bitte dich, mache nicht alles noch schlimmer. Denk an Mutter, das andere ist dir doch egal«, sagt er. Ich schaue in den Pistolenlauf. Ein böses, dunkles Loch. Ich gebe dem Vater die Schere, dann strecke ich meine Hände hin. Handschellen klicken. Es ist wieder vorbei, für diesmal wieder vorbei.
Ein Mann erschießt J. F. Kennedy, an der Berliner Mauer werden drei Menschen ›auf der Flucht‹ niedergemacht. Austria verliert gegen Rapid 3:1, und ich bekomme die Anklageschrift.
Anfangs habe ich herumgeredet, Märchen erzählt. Doch da war der Schuh, Pauls Aussage.
Raub, Desertion – nach dem Gesetz ein Strafsatz von zehn bis zwanzig Jahren.
Die Mutter besucht mich, dann Jutta.
Die Verhandlung vor dem Schwurgericht dauert bis in den späten Abend.
Die Urteile: Beide vier Jahre schweren Kerker und vierteljährlich ein hartes Lager. Zwei Tage hocke ich auf der Pritsche, dann nehme ich das Urteil an. Am 20. Dezember 1963 werden Paul und ich aneinandergekettet in die Strafanstalt Graz-Karlau überstellt.
Ein kalter Tag. Gegen Mittag schließen sich Tor und Gitter der Hauptsperre hinter uns. Knirschender Schnee unter den Füßen, ein Tor. Ein langer, halbdunkler, modrig riechender Gang, eine Doppelgittersperre. Im ersten Stock betreten wir einen Raum.
»Ausziehen, alle Sachen hierher auf den Tisch«, sagt der Beamte. Nackt warten wir. Arme heben, Beine spreizen, Sack in die Höhe – umdrehen, die Arschbacken auseinanderziehen. Tabak, Zigaretten und Toilettensachen können wir behalten. Alles übrige wird bis zur Entlassung ›amtlich‹ verwahrt. Gehen, durch ein langes, schlauchartiges Zimmer. Pulte und Regale links und rechts. Drei Decken, Leintücher, Löffel, Trinkbecher – dann Unterhose, Hemd, Fußlappen, Schuhe und Hose, Jacke und Überrock. Die Gefangenen hinter dem Pult starren uns auf Glied und Arsch. Später erfahre ich, wenn ›ein hübscher Junge‹ kommt, wird das sofort an alle Interessenten gefunkt. Wir kleiden uns an. Der Beamte führt uns in das Zellenhaus.
Karlau – Männerstrafanstalt mit Jugendprovisorium.
Sechshundert Männer und etwa einhundert Jugendliche verbüßen da Strafen zwischen einem Jahr und lebenslänglich.
Der Bau des Zellenhauses ist sternförmig – drei Trakte. A – nach Norden. Im Krieg zerbombt, neu aufgebaut. Viermannzellen mit Fließwasser und WC. B-nach Westen, C-nach Süden, beide ohne fließendes Wasser und WC. Der Gemeinschaftstrakt mit Verwaltung und Spital nach Osten.
Der Beamte sperrt Paul und mich in eine Zelle im C-Trakt. Mittagessen. Zerbeultes Blechgeschirr (Schekeln – im Gefängnisjargon), Suppe und Bohnen. Nachmittag ist Rapport beim Direktor. Er redet von ›Arbeitspflicht‹, von Gehorsam und Disziplin. Dann erfolgt die Einteilung. Paul geht in einen anderen Trakt. Mich schickt man auf C, erste Etage – Tütenkleben (Sacklpickn).
Dreihundert Säcke pro Tag. Allein auf der Zelle. Am Tag darauf das Weihnachtspaket von zu Hause. Drei Kilo sind erlaubt. Ein Rollschinken, Schokolade, Kekse, Wurst und vierzig Zigaretten. Die Fußlappen halten nicht warm. Nach dem Hofgang sind meine Zehen steif.
Der Stockchef kommt manchmal zu mir in die Zelle. Er sitzt am Bett, sieht mir beim Kleben zu und erzählt – von seiner Frau und warum seine Ehe kaputt ist. Weihnachten und Silvester passieren. Es schneit. Gegen fünf, nach dem Abendessen, krieche ich in die Decken. Der Raum ist eisig. Die Fenster schließen schlecht.
Alle vier Wochen darf ich einen Brief schreiben und einen empfangen. Alle fünf Wochen ist Besuch.
Mutter kommt und spricht von Weihnachten und daß ich mich anständig führen solle.
»Du mußt immer daran denken, daß man dir bei guter Führung doch ein Drittel der Strafe bedingt erlassen wird«, sagt sie.
»Ja, ich werde mich gut führen. Vielen Dank für das Paket«, sage ich. Fünfzehn Minuten sind rasch vorbei.
»Sie sind doch erst neunzehn. Schreiben Sie doch ein Gesuch um Übernahme in Jugendstrafvollzug. Dort könnten Sie einen Beruf lernen, bei dem Säckekleben schnappen Sie doch über«, sagt der Stockchef einen Monat später. Er sagt mir auch, an wen ich da schreiben soll.
Also – ›An das Bundesministerium für Justiz‹ – ich habe so und soviel Strafzeit zu verbüßen, und ich würde gerne für mein Fortkommen nach der Entlassung einen Beruf erlernen (Tischlerei – da gibt es die große Essenszulage für Schwerarbeit), deshalb ersuche ich um Übernahme in den Jugendstrafvollzug. Hochachtungsvoll, Datum und Unterschrift.
Einen Monat später werde ich dem Leiter der Jugendabteilung vorgeführt.
»Aha, Se woinoiso an Beruf bei uns learna«, sagt er in breitestem Dialekt.
Ich wiederhole sinngemäß mein Ansuchen. Er nickt einige Male.
»Guat, muagn kummans zu uns«, sagt er. Ich kann gehen.
Ich packe meine Habseligkeiten und ziehe drei Stockwerke höher auf C4. Wieder eine Einzelzelle. Ein Bett mit einem Strohsack.
Ein Klapptisch, zwei Hocker, ein Wandkästchen. Eine Waschschüssel, ein Wasserkrug für etwa drei Liter und die Klosettanlage. Ein abgedeckter, niedriger Vorbau neben der Tür. Darin ein Kübel. Der Kübel kann mit einer Stange in die Zelle gezogen und nach Gebrauch ca. einen dreiviertel Meter in die Wand geschoben werden. Vom Gang aus ist die Öffnung mit einer Eisentüre verschlossen. Zweimal am Tag werden von den Hausarbeitern die Kübel geleert. Im Zellenhaus ist immer ein Geruch von Urin und Scheiße, besonders im Sommer.
Wenn ich auf den Hocker steige, kann ich zum Fenster hinaussehen. Man sieht über die Mauer auf Siedlungshäuser, eine Tankstelle, ein Gasthaus und auf die vorbeiführende Triester Straße. In der Tischlerei ist kein freier Platz. Ich arbeite in der Spielwarenfertigung, montiere Schaukelpferde, Arbeiten, Hofgang, Essen – die Tage sind nicht voneinander zu unterscheiden. Die Hierarchie der Jugendabteilung:
Obenan der ›Direktor‹, Leiter der Abteilung, Jurist, Karrieremensch mit breitem Slang … »dein Schmäh hob i scho gschissn«, Choleriker und Showman – bei Differenzen zwischen den Wachen und Gefangenen manchmal auch auf seiten der Gefangenen – sofern es der Karriere nicht schadet.
Der Kommandant: hält sich für wichtig – ist nur geräuschvoll, alt und schwankt mondphasenabhängig zwischen Väterlichkeit und kindischer Bosheit.
Der Sekretär: schleimig, clever, Konfidentenprotektor – Weichtier in Uniform.
Der erste Stockchef: robust, schweigsam, nicht zu täuschender Filzer, Junggeselle, Vielfraß, korrekt.
Der zweite Stockchef: verhinderter SSler, Großmaul, Radfahrer, Schnurrbartträger, weiß alles, kann alles, eine größenwahnsinnige Null.
Der Anstaltsgeistliche: katholisch, Beamter, Rektor, Förderer des Honorarchristentums (wer zur Kirche kommt, erhält zwei Zigaretten) – zwergenhaft, mit Vorliebe für Schwulis, genauer für Pädophile.
Statisten: jüngere Beamte in untergeordneten Positionen.
Im April 1964 wird ein Platz in der Tischlerei frei. Man weist mir Hobelbank und Werkzeugkasten zu. An einigen Abfallbrettern lerne ich Zinken anreißen und ausstemmen.
Mutter kommt zu Besuch.
»Du mußt dankbar sein, daß man dir das ermöglicht«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
Dann verlegt man mich in eine Gemeinschaftszelle.
»Paß auf, spritz mir nicht ins Leintuch.«
Ein Schatten flüstert es in der nachtfinsteren Zelle einem anderen zu. Ich liege im Nebenbett, richte mich auf und drehe mir eine Zigarette. Beim Anzünden sehe ich zu den beiden.
Sie wälzen sich umschlungen unter der Decke.
Ein Jahr ist vergangen, seit ich hier bin.
Die Schwulen im Nebenbett sind nun richtig aufgegeilt. Der eine ist Georg, ein kleiner, netter Bursche. Der andere ist ein großer, dunkelhaariger Kerl. Er heißt Karl und hat fünf Jahre, Karl hat Georg umgedreht. So heißt es, wenn einer der Älteren sich einen Jungen als Betthasen holt. Die Schwulenplage ist ein Alptraum. Die Zelle ist für sechs Mann. Fünf Meter breit, sieben lang. In der Mitte ein langer, rohgehobelter Tisch, zwei ebensolche Bänke. An den Breitseiten des Räumens je drei Betten. Die Längsseiten zwei große Fenster, eine Waschwanne aus Zinkblech und die massive Zellentüre. Daneben das Klosett mit Sperrholzwänden gegen den Raum zu abgedeckt.
Die Nacht dehnt sich. Die beiden sind zu laut, ich kann nicht einschlafen. Ich sage nichts. Sie sollen sich ihr kleines, beschissenes Vergnügen machen. Neunzehn Jahre bin ich alt und müßte all diese Dinge doch längst kennen. Aber manchmal spült es mich fort, das Fragen und das große, tränenlose Heulen. Daliegen und in die Scheinwerfer hinausstarren, in den grell ausgeleuchteten Gefängnishof, die schwarzen Mauern. Der Beamte geht seine Runden, die Antenne des Funkgerätes blinkt im Licht und wippt bei seinen Schritten.
Karl scheint soweit zu sein. Er stöhnt dumpf. Vor ein paar Tagen hat er mich angesprochen: »Heast den Schurl, sei klana festa Oarsch mocht mi wauhnsinnig, den muaß i fickn«, sagte er.
Georg fügt sich Karls Wünschen vollkommen. Ich habe ihn gefragt, habe Zwang, Drohungen vermutet. Georg hat verlegen gelächelt und gesagt, es macht ihm nichts aus, wenn er Karls Schwanz in den Mund und in den Hintern gesteckt bekommt.
Da ist aber noch etwas in der Zelle. Schräg mir gegenüber liegt Gianni, ein Südtiroler. Er hat drei Jahre abzubüßen. Vor einigen Tagen ist er in diese Zelle verlegt worden. Alle haben ihn beobachtet, wie das eben bei einem, der neu kommt, üblich ist. Dann erst ist er angesprochen worden. Er ist sechzehn, hat ein weiches Gesicht, keinen Bartflaum und dichtes, gelocktes Haar. Seine Bewegungen sind langsam, fast aufreizend, feminin. Wenn ich ihm eine Weile zusehe, klopft mir das Blut hinter den Augen. Und nicht nur mir, die anderen sehen ihn ebenso an. Im Dunkel liegen. Hier liegen, diese verrottete Atmosphäre zu atmen und warten und nichts tun können. Wie oft habe ich mir schon gesagt: »Nimm dir auch so ein Spielzeug ins Bett.« Da sind Buben, die sehen aus wie Engel, glatte Haut, runder Arsch … vielleicht würde dann die Aggressivität verschwinden und der Druck aus den Eiern. Scheiße – verfluchte, vermaledeite Scheiße, Geilheit und Dreck und Verzweiflung – ich habe keine Worte dafür – nicht einmal für mich.
Ich drehe mich auf die andere Seite, habe lange genug in den Hof hinausgesehen. Will nicht mehr, nichts mehr … jetzt nichts mehr wissen von Schwulen und Aufsehern und Zucht und Erziehung, möchte nur schlafen – aus den Dingen raus sein. Müdigkeit ist da, überzieht mich wie mit einem schwarzen Tuch.
Am Morgen das Klopfen des Beamten an der Türe, dann das Schreien: »Brauchts a Sondaeinlodung! Kreuts aussa aus dera Hapfn!« brüllt er. Ich krieche aus dem Bett, drehe eine Zigarette. Der erste Zug. Der Tag mit Gelblicht und grauen Gesichtern springt ins Bewußtsein. Beim Frühstück kaut jeder schweigend. Bitterer Kaffee und, wenn es gutgeht, ein Margarinebrot. Anschließend ist Hofgang. Eine Stunde stumpfsinniges Im-Kreis-Gehen nennen sie Bewegung im Freien. Ich nehme meine Jacke. Mit den anderen gehe ich an dem Beamten vorbei auf den Gang zum Antreten. In Zweierreihen geht es in den Spazierhof. Der ist so trist wie der ganze Gefängnisbau. Drei Seiten hohe Mauern gegen die Straße, die vierte Seite begrenzt der A-Trakt. Braungraue Erde, Spuren von dreckigem Grün in der Mitte. Keine Farbe, nur Braun und Grau. Enge Welt ohne Farbe.
Das Hirn ist leer. Ich trotte mit den anderen im Kreis. Die Gesprächsthemen sind immer dieselben. Thema eins bis hundert: die Frauen und alles, was davon abgewandelt werden kann. Schilderungen gehabter und noch zu habender Erlebnisse. Jeder renommiert, die Einzelheiten werden genüßlich breitgetreten. Wie er achtmal gespritzt hat, weil sie so gut blasen konnte, oder wie ihnen eine Sadistin am Höhepunkt mit eisernen Krallen das Arschloch aufgerissen hat. Ich höre nicht mehr zu, schon lange nicht mehr. Es ist der Alle-Tage-Quatsch.
Plötzlich kommt etwas in Gang.
»Ich fick sie alle nur mehr in den Arsch, da sind sie enger«, sagt einer laut. Ein blasser Sechzehnjähriger. Er geht zwei Reihen vor mir und begleitet sein Versprechen mit einer umfassenden Handbewegung.
»Wem wüllst du pudan? Du bist doch sölba a Mädl«, sagt sein Nachbar in der Reihe, ein Älterer, ca. zwanzig, der schon fünf Jahre in Haft ist. Alles lacht. Der Junge tut mir leid. Ich kenne seine Geschichte und weiß, was da kommt. Der Häckel wird beginnen, grausam und enervierend für den, der sich nicht wortgewandter und ordinärer als die anderen zur Wehr setzen kann. Dieser da kann es nicht.
Es beginnt harmlos. Es beginnt immer harmlos.
»Wos mant ear, dea klane Sexathlet? Wos hot ear gsogt?«
Einer stellt die Frage, es ist immer einer da, der die Frage stellt. Weich, fast singend im Slang, und trotzdem oder gerade der Weichheit der Sprache wegen von ungeheurer, mitschwingender Aggressivität.
»Oba goa nix hot a gsogt, dea Klane – na de Weiba wird ear in Scheißa pudan. Er is hoit a Schweindal unsa Klana a richtige Drecksau«, sagt der dahinter, oder davor. Er ist immer da, dahinter, oder davor, wenn es darum geht, sich auf Kosten eines scheinbar Unterlegenen lustig zu machen. Dann folgt der dritte, auch er wird stets auftauchen. Er hat eine wichtige Funktion in diesem vorgezeichneten Ritual.
»Geh dazöhl amoi, wia mochst’n des, host eahna scho uandlich die Gurkn in Kacker gsteckt … du bist oba a Uandlicher«, sagt er schleimig, vielleicht mit bewunderndem Kopf schütteln.
Das Opfer ahnt, wie es weitergeht, aber es ist schon zu spät, um davonzukommen. Der erste wendet sich jetzt an die Leute umher, welche eingeschüchtert, weil diesen Leuten von der Schnauze her nicht gewachsen, willig mittun.
»Hearts eich amoi den Eiaschedl an, der schwindliche Kimmla wüll austaubn (angeben). Du Sautrottel (hier wird immer die direkte Beschimpfung eingeflochten) du bist doch net amoi wert, dasd a Loch im Oarsch host. Wem wüllst’n imponieren; glaubst leicht, mia olle (Einbeziehung aller in die konstruierte Beleidigung) san so teppat wia du«, sagt er.
Der zweite wieder etwas beschwichtigend, aber doch unterschwellighetzend, »geh, loß eahm. Er tuat ma jo scho lad. Dea waß des hoit bessa wia mia, schau dafüa hot ear sie jo scho sei Hosn enga mochn lossn, wegn da Attraktivität, waßt, mit an bißl Oarschwoggln, na waßt eh wos i man«, sagt er und spielt auf homosexuelles Verhalten des Sekkierten an.
Der erste knüpft den Faden bereitwillig weiter.
»Des ist a Tuarar und an Lossa«, sagt er. Der dritte setzt fort – wie auf ein Stichwort.
»Ah, du manst ear tuat gern blosn und loßt sie in Oarsch pudan.«
Der zweite bremst wieder.
»Gehts wia benehmts’n ihr eich ana Dame genüba, tuat ma des,
schauts, es kumman eahm jo scho die Tränen unsan Supamann«, sagt er. Der erste wieder direkt gegen das Opfer: »Waunst scho die Weiba in Bobsch fickn mechst, wia mochst’n des mit dein Buamazupfal, mit den kaunst jo net amoi a Gölsn in die Kotritzn schuastan du Nudlaug, du hoibseidans.«
Ab dann werden alle Körperteile in die Beleidigungen einbezogen. Es geht weiter, wenn nicht in dieser Reihe, dann in der nächsten. Bei der Arbeit, beim Essen, wie hier beim Hofgang und abends auf der Zelle weiter. In jeder nur erdenklichen Variation, jedem nur möglichen Thema folgend. Es ist nicht zu zählen. Man sieht es nur an den verzweifelten Gesichtern der Unbeholfenen und Schwächeren. Es gibt kaum eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Man kann diese Sekkaturen auch nicht ignorieren, da der Aggressor dadurch in Wut gerät, und meistens Prügel und öffentliche Demütigung die Folgen sind. Wenn man nicht durch Körperkraft oder Bekanntenkreis abgesichert ist, gibt es keine Möglichkeit, diesen Tyranneien zu entgehen. Die Aufseher sind machtlos.
Gehäkerlt wird immer, als Dokumentierung der Überlegenheit und Macht, als Überspielung eigener Ängste. Wenn einem die Scheiße bis zum Hals steht, versucht man sie doch noch dem anderen in den Mund zu leeren.
Ich habe die Hände in den Taschen vergraben und versuche zu ignorieren. Oft schaffe ich es, alles wegzudrängen, auszulöschen. Man ist nie und doch immer allein. Gefängnisfreundschaften haben fast immer ein sexuelles Motiv. Viel seltener als angenommen entstehen hier ›Hackenbrüderschaften‹. Man trifft einander nur immer wieder im Gefängnis.
Werkstätte, Zinkenstemmen. Manchmal kommt eine Führung in die Tischlerei. Frauen, Männer – stehen herum, mit fremden Augen und dummen Fragen – »Wie gefällt es Ihnen hier?« –, ich drehe mich weg, was soll ich sagen?
Trockengemüse und Kraut und Kohl. Speckiges Brot und schwarzes, lauwarmes Wasser am Morgen. Dann habe ich vierundsechzig Kilo und bekomme vom Arzt täglich eine Portion Erdäpfelsalat zur Gewichtsaufbesserung, und dann wiege ich wieder siebenundsechzig Kilo und bin einsneunzig groß.
Ein paar Tage später beginnen Robert und Walter, zwei von meiner Zelle, mit Gianni spielerisch herumzuraufen. Sie wollen testen, wieweit der Junge zu verwenden ist. Gianni sträubt sich, aber das nützt ihm nichts. Robert hält ihn im Schwitzkasten. Walter greift ihm am Hintern herum. Gianni wehrt sich. Er windet sich aus dem Griff und schlägt Walter ins Gesicht.
Der fängt den Schlag auf und dreht ihm die Hand auf den Rücken. Der Junge schreit auf. Ich sehe zu, warte. Macht der Junge die Demutsgeste, wird er bitten, daß ihn Walter losläßt?
Wenn er es tut, kommt das Siegerlächeln, das wissende Grinsen. Nach dem Motto: durch brutale Kraft zur Freude. Der Junge liegt still. Walter beugt sich über ihn: »Nun, wie steht’s, hast du genug, oder willst du dich weiter wehren?« sagt er.
Ich stehe vom Bett auf.
»Laßt ihn in Ruhe. Sucht euch jemand anderen zum Blödeln. Wenn ihr ficken wollt, dann steckt ihn euch gegenseitig hinein, ihr habt beide schöne, breite Ärsche«, sage ich.
Walter läßt von Gianni ab und dreht sich zu mir. Robert steht neben ihm.
»Warum mischst du dich da drein? Das geht dich einen Scheißdreck« … sagt Walter. Ich packe ihn am Hemd und ziehe das Knie hoch. Er schreit. Eine Ohrfeige wirft ihn hintenüber. Robert geht schnell zu seinem Bett.
Gianni macht Hundeaugen. Ist er doch schwul?
Ich gehe zu meinem Bett zurück und zünde mir eine Zigarette an, dann nehme ich ein Buch zur Hand, um zu lesen.
In der Zelle ist es still. So ist es immer. Jede Aggression reichert sich an, gipfelt und flacht dann ab; so wie eben. Im Knast ist es besonders deutlich. Jeder versucht, das Unangenehme der Situation zuerst ganz auf sich selbst reduziert zu bewältigen.
Dann sitzt Gianni auf meinem Bett.
»Spielst du mit, Karten«, sagt er weich, zu weich.
»Nein«, sage ich.
»Aber es stört dich nicht, wenn ich mit den anderen spiele«, sagt er.
»Nein«, sage ich.
Karl, Georg und Gianni spielen.
Zeit vergeht, es ist September. Manchmal liegt dichter Nebel im Gefängnishof. In der Werkstätte lerne ich furnieren, fräsen, nuten. Ich fertige Schemel, wochenlang, bis ich die kleinen Sitzmöbel nicht mehr sehen kann. Der Alte gibt mir keine andere Arbeit. Man ist mit meiner Führung sehr zufrieden. Die Zukunft ist milchiges Glas, die Gegenwart Arbeit, Tischtennis, hin und wieder Fernsehen, lesen und reden. Auf Grund der Tischlerlehre, welche drei Jahre dauert, werde ich sicher nicht bedingt entlassen. Vor der Gesellenprüfung lassen sie keinen raus. Manchmal rechne ich die Tage, die Wochen. November 1964. Ich bin unruhig, nervös und gereizt … Jede Kleinigkeit führt zu Raufereien. In der Direktion werde ich verwarnt, dann bestraft. Fünf Tage Absonderung im Keller. Danach werden die Drohungen – ›du kommst wieder in den Erwachsenenstrafvollzug‹ – häufiger.
Alles, was gesprochen ist, weiß am nächsten Tag der Sekretär. Jeden Tag ist mein Bett auseinandergerissen. Man sucht etwas, oder ist es nur Schikane? Ich hole mir Gianni, lasse mir von ihm einen ablutschen.
»Du willst?« fragt er erschrocken.
»Halts Maul und komm«, sage ich. Der Druck aus den Eiern verschwindet, der hinter der Stirne wird stärker. Die Gefangenen gehen mir aus dem Weg. Wegen eines Nichts schlage ich Robert zwei Tage später nieder. Ein Beamter sieht den Vorfall. Ich werde wieder abgesondert. Im Keller erfahre ich, daß ich wieder zu den Erwachsenen komme. Eine Einzelzelle mit nassen Wänden, nahezu ohne Licht. Eine Pritsche, ein Eisenkübel, sonst nichts.
Ich will weg aus dieser Anstalt.
Nach dem Keller komme ich auf B 4 in eine Einzelzelle. Arbeit -Säckekleben. Jeden Morgen holt mich ein Beamter in einen großen Arbeitssaal im Nebengebäude. Etwa vierzig Gefangene arbeiten dort. Es sind hauptsächlich oftmals Vorbestrafte mit sehr langen Haftstrafen. Ich habe beobachtet, wie die einzelnen Gefangenen am späten Nachmittag ihr vorgeschriebenes Pensum auf einem breiten Pult beim Auf Sichtsbeamten abgeben. Kommen mehr als drei Gefangene gleichzeitig, verliert dieser die Übersicht. Das ist doch eine Möglichkeit. Im Vorbeigehen nehme ich einen Stoß fertige Säcke mit, den er schon notiert hat. Ich drehe langsam einen Kreis und stelle mich in der Reihe vor ihm an, dann gebe ich das Pensum ab.
Es klappt meistens. Öfters kann ich auch zwei oder drei Pensen stehlen, selten keines.
Abends ist es kalt auf der Zelle. Ab vier Uhr wird nicht mehr geheizt.
Ich will weg aus dieser Anstalt – ich schneide mir vorsichtig die Pulsadern auf. Nicht allzu tief, nur, daß eindrucksvoll Blut zu sehen ist. Es ist Nacht, man bringt mich ins Anstaltsspital. Der Arzt stellt Fragen und heftet die Haut zusammen. Ein paar Tage danach fängt man einen Kassiber von mir ab, in dem ich dem Direktor verspreche, daß ich ihm bei nächster Gelegenheit die Ohren abschneiden werde.
Ich bekomme sieben Tage Einzelhaft und werde nach Stein, einer Strafanstalt in der Wachau – Österreichs größtem und berüchtigtstem Gefängnis –, überstellt.
Sonnenwarme Südhänge der Weinberge – alte Städte – Krems und Stein – eine Bilderbuchlandschaft, die Wachau – grünbraune Windungen der ›ewigblauen‹ Donau – malerische ›Umgebung‹ der düsteren Strafanstalt.
Ein Viertelquadratkilometer, von drei Seiten umschlossen von sechs Meter hohen Mauern, die vierte, gegen Süden, der Donau, der Straße, den Besuchern und Passanten zu, dreieinhalb Meter hoch. Das eigentliche Zuchthaus liegt tief innerhalb der hohen Mauern, ebenfalls sternförmig angelegt. Der Nord-, Ost- und Westflügel bilden das Zellenhaus. Gegen Süden liegt der Grat oder Gemeinschaftstrakt, die Verwaltung, die Direktion, Küche, Bad, Justizwachkommando, Kinosaal, Heizhaus, Kapelle, Bibliothek und einige Arbeitsbetriebe, wie Schneiderei, Buchbinderei und der zweite Kunstgewerbebetrieb, dann noch die nahe dem Eingang liegenden Räume für die Bereitschaftswache, die Beamtenkantine und, wohlgesichert, das Besuchszimmer für die Gefangenen. Als ich ankomme, ist Februar. Ein scharfer Wind treibt nadelspitze, winzige Schneeflocken gegen die Haut. Die wuchtige Gebäudefront liegt in fahlem Zwielicht. Im Gänsemarsch treiben uns Beamte durch die Hauptsperre, einer mächtigen Kombination aus Gittern und Stahltüren. Ein langer Gang dehnt sich dahinter. Links ist eine Tür geöffnet.
»Da hinein, los, los!« brüllt einer der Uniformierten.
Es ist der Vorraum zum Bad. Holztreppen am Boden, Bänke entlang der Wände; Leisten mit Metallhaken darüber. Durch eine offene Tür sieht man rechts den Duschraum. Beruhigend zu wissen, daß die Abflußöffnungen hier nicht nur Attrappen sind. An einem Tisch an der Stirnseite des Raumes sitzt ein alter Beamter mit einer Menge Silber am Revers. Neben ihm stehen zwei jüngere, weniger beängstigend berangt.
»Wer aufgerufen wird, tritt vor und beantwortet deutlich und laut die Fragen, welche ihm der Herr Gruppeninspektor stellt«, sagt der linke Beistand.
»Hörmayer, Johann«, brüllt der Alte.
»Hier«, ein schmaler, blasser Gefangener schiebt sich vor die anderen.
»Geboren am und wo?«
»Vierzehnter März 1946 in Wien«, sagt der Gefangene mit dünner, schwankender Stimme.
»Lauta, wüfü Strofzeit«, dröhnt der Sitzende und fixiert den Gefangenen lauernd.
»Zwanzig Jahre schwerer, verschärfter Kerker«, sagt der Junge. Er senkt den Kopf. Das wirre Haar klebt streifig an den Schläfen. Im Raum ist es heiß und stickig, es riecht nach Schweißfüßen.
»Woche Delikte?« sagt der Gruppeninspektor.
»Paragraph …«, setzt der Junge an.
»Nix Paragrafn, wia haßt des so«, unterbricht ihn der andere scharf.
»Mord«, sagt Hörmayer leise.
»Und das Aundare, do is jo no wos«, brüllt der Beamte. Die Adern schwellen an seinem Uniformkragen.
»Was noch, ich weiß nichts«, stammelt Hörmayer.
»Nau, waun Se des net wissn, daun wir i Ihna des sogn, do steht Mord und Homosexualität, hobns Ihn vielleicht scheniert, des zum sogn, Sie hom Ihna jo a beim Tuan net scheniert«, schreit er den Jungen an.
»Da nexte haßt«, er wendet sich aber dem rechts von ihm Stehenden zu und sagt halblaut, »olleweu des söbe mit de Woamen.«
»Hirsch, Franz«, die Befragung dauert etwa eine Stunde.
»Desertion homs a dabei«, hat er mich angebrüllt.
»Na sowieso, wer dapockt’n des Scheißbundesheer«, habe ich zurückgebrüllt.
»Schreins net a so, i bin jo net terisch«, sagte er und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Ohr.
»Jeda hot Ihna bis jetzt’z leise gredt und i red Ihna’z laut, des is scho komisch«, sagte ich und erwartete einen Wutanfall. Er holte Luft, wollte mich wahrscheinlich niederbrüllen, dann aber lachte er plötzlich schallend.
»Raubasbua, zruckredn tuast, mia wean da de Wadin viari richtn, du Pücha du«, sagt er, mich vergnügt anfunkelnd.
Nach dem Duschen erhält jeder einen Binkel mit den üblichen Utensilien (Decken, Leintücher usw.).
Tags darauf die ärztliche Untersuchung.
Wir warten in Reihen vor der Ordination, im Anstaltsspital, einem separierten Gebäude in der Nordwestecke des Areals.
Ein weißhaariger Beamter hört unserem Gespräch zu. Nach einiger Zeit winkt er mich zu sich.
»Wollen Sie hier im Spital als Wärter arbeiten?« fragt er.
»Sehr gerne, wenn es möglich ist«, sage ich überrascht.
Er notiert meinen Namen und verspricht, mich bei der Arbeitseinteilung anzufordern.
Kurz darauf erscheint der Arzt.
»Ausziehen, es gehen immer zwei hinein«, kommandiert lautstark ein junger Beamter.
Vor mir ist Hörmayer an der Reihe.
»Neunzehn Jahre ist er alt, zwanzig Jahre hat er«, der Arzt liest von einem Blatt, dann hebt er den Blick.
»Zaundürr, ein Trumm Glied, umdrehen, bücken, zieh die Arschbacken auseinander, wer hat dich entjungfert, du hast ein Riesenarschloch, da werden unsere Ficker mit den dicksten Schwänzen Freude haben.«
Der nächste. Der Arzt wendet sich zu mir. Er hat sehr laut gesprochen, vor der Tür lacht alles.
Der Junge steht mit rotem Kopf und hängenden Armen neben der Türe.
»Ich möchte für jeden von euch Eierköpfen, den sie da in den kommenden Jahren ficken werden, zehn Schachteln Zigaretten.
Ich glaube, da hätte ich sehr lange zu rauchen«, sage ich auf dem Gang.
»Geh, schau wira auf sei Mädl aufpaßt, daß net beleidicht wird«, frotzelt einer. Er grinst mich hämisch an.
Als erstes habe ich mir für zwei Pakete Tabak vom Kellerhausarbeiter ein Messer gekauft. Bedingung war: spitz und scharf geschliffen. Dieses Messer habe ich nun plötzlich in der Hand und der an der Wand hat es gegen den Kehlkopf. Er ist bleich.
»Du Scheißfigur; schau dir die Leute an, die du häkeln kannst, oder ist etwas?« frage ich und drücke etwas stärker gegen die Kehle.
»Na, na, des woar jo net so gmant«, stottert er und macht den Hals dünn unter dem Messer.
»Überlegst dir das in Zukunft«, sage ich und stecke das Messer offen in den Ärmel meiner Jacke. Ich habe ein Stück des Saumes vom Hemdärmel aufgetrennt, dort liegt das Messer, ohne zu rutschen, und ich kann es blitzschnell in der Hand haben.
Nachdem Essen eine Stunde Spaziergang im Westhof. Den Rest des Tages liegen wir auf den Betten, reden, rauchen, lesen. Tags darauf Arbeitseinteilung.
»Strammstehen, Hände an die Hosennaht, zuerst die Nummer sagen, dann erst den Namen«, schnauzt der Vorführbeamte gegen unsere Reihe. Der Raum ist überheizt. Der riesige Schreibtisch, dahinter ein Major, daneben ein Wachinspektor. Der Offizier blättert im Vollzugsakt.
»Nummer 12.547 N. N.«, melde ich und stehe gerade, wie ein Normalgewachsener eben steht. Der Goldene und der Silberne betrachten mich aufmerksam.
»Also ins Spital kann ich Sie nicht geben, der ungünstige Bericht von Graz, nein, das geht auf keinen Fall, aber was wolln’s denn sonst machen«, näselt der Offizier.
»Kann ich Hausarbeiter werden?« frage ich.
Der Offizier blickt zum Beamten auf, dieser nickt.
»Na ja, meinetwegen, und führen Sie sich ordentlich, hams verstandn«, sagt der Goldfasan. Auch das erledigt.
Vom Keller werde ich auf Ost 2 verlegt. Zelle eins. Sechs Mann außer mir. Kurt, zehn Jahre, Raub. Poldl, zwölf Jahre, Notzucht. Franz, sechs Jahre, Notzucht an einem Kind. Josef, acht Jahre, Totschlag. Fritz, fünf Jahre, Betrug. Und Johann, drei Jahre, ebenfalls ein Kinderschänder. Franz und Johann sind Fremdkörper. Man redet nur das absolut Notwendige mit ihnen. Die üblichen Fragen. Einige erkundigen sich, wie es in der Karlau ist, dann verebbt das Interesse. Man spielt Karten, spricht über Tagesereignisse im Gefängnis . Die sechs arbeiten in verschiedenen Betrieben, manche, wie Kurt, der sieben Jahre im Haus ist, sind schon lange in Haft.
Ich räume meine Sachen, Tabak usw. in das Wandkästchen, hänge meine Tafel darüber an den Haken. Das ist Vorschrift. Auf der Tafel stehen Nummer, Name, Delikt, der Termin für die bedingte Entlassung und das Strafende. Bei Lebenslänglichen steht dort: der Tod.
Meine Arbeit ist einfach. Essen ausgeben und die Etage sauberhalten. Einmal wöchentlich ist Wäschetausch, alle vierzehn Tage Büchertausch. Zum Schalenabwaschen kann man sich Helfer aus den Zellen nehmen.
Der Job hat immense Vorteile. Jeder Gefangene braucht etwas vom ›Fazi‹. Er bekommt Tabak, Zigaretten oder Geld und er erledigt Kassiber und mündliche Nachrichten. Er organisiert vom Radio bis zum Schnaps, von Gewürzen bis zu pornografischer Lektüre. Zeitungen, Kaffee, Illustrierte, Transistoren für Detektoren, Messer, Fleisch, Rasierwasser, Romanhefte, Geld, Ferngläser, Bier, einfach alles Gewünschte, wenn er wief ist und sich gute Kontakte schafft.
Die Preise sind hoch. Die Beamten, die diese Dinge ›schleppen‹, verlangen viel, da sie ständig die Entlassung riskieren.
Es zirkuliert sehr viel Geld innerhalb der Mauern. Ein Lebenslänglicher hat 48.000,- Schilling versteckt, ein anderer 30.000,-. Es sind zwar Ausnahmen, doch Geld ist genug da. Es kommt über verschiedene Kanäle ins Haus. In den Paketen, beim Besuch usw.
Die Währungseinheit in Stein ist ein Paket Landtabak, ›a Bündl Heu‹. Je nach Angebot und Nachfrage zahlt man zehn bis zwanzig Bündl für einen Hunderter, ›Kilo‹ genannt.
Einige Tage schaue ich zu, dann starte ich. Ein Ehering kostet mich neun Bündl. Ich verkaufe ihn um achtzehn. Ein guter Anfang.
Der Stockchef von Ost 2 ist ein dicker, gutmütiger, etwas älterer Beamter. Er brüllt gerne, ist aber harmlos wie ein Säugling. Die Gefangenen nennen ihn Ferdl.
»Kehrns des Dienstzimmer zam«, schreit er mich an. Ich sitze mit einem anderen Gefangenen in der Abwaschzelle und spiele Karten, als er hereinplatzt.
»Waun i Zeit hob, jetzt spü i«, sage ich, ohne die Karten wegzulegen.
Kartenspielen ist verboten.
»Heast, kea sofurt des Dienstzimma zam, du Pücha«, brüllt er und läuft rot an. Ich lege die Karten weg, stehe auf und nehme ihn beim Arm.
» Ferdl, sei vernünftig, loß mi jetzt in Ruah koartndibln, weu sunst kaunst da dei geschissanes Dienstzimma söba mochn«, sage ich.
Ferdl stemmt die kurzen Arme gegen die Hüften, schüttelt den Kopf, und vor sich hinmurmelnd geht er.
Nachmittags erzählt er mir von seinem Gemüsegarten. Wir räumen das Zimmer gemeinsam auf. Ich kehre, er gießt die Blumen.
»Stundenlaung zupf i Unkraut aus, des nutzt nix. Und der kemische Dreck, den mei Oide kauft hot, der nutzt a nix«, klagt er.
»Heans nur«, wenn er mich ärgert, duze ich ihn, »do was i a unföhbores Mittl«, sage ich. Er steigt interessiert vom Sessel und schaut mich gespannt an.
»Zubetonieren den gaunzen Goarten«, sage ich und springe durch die Türe. »Du bist ein Trottel«, brüllt er auf. Die Gießkanne fliegt an mir vorbei, »mit dia kauma ka ernst’s Wuart redn, du Off«, schreit er. Ich gehe eine Etage tiefer, lese beim Hausarbeiter eine Zeitung, bis Ferdl sich beruhigt hat.
Wenn vom Justizwachkommando ein Zellenfilz veranstaltet wird, geht der Ferdl vorher mit seiner Aktentasche rum und sammelt die verbotenen Gegenstände ein. Er legt sie in den Kasten im Dienstzimmer und sperrt ab. Dann rührt er sich nicht vom Schreibtisch weg, bis der Filz vorbei ist. Jeden, der ihm in die Nähe kommt, brüllt er derart an, daß dieser sofort das Weite sucht. Dann bringt er den Gefangenen wieder ihre Radios und Spielkarten, Kocher und Schundhefte.
So ist der Ferdl, und er ist okay.
Ein paar gibt es noch, solche wie ihn, den ›Ederl‹ von Nord Ebenerdig, den ›Ruschi‹ von West I, den ›Rudi‹ von Nord I. Alte Beamte mit ›an guaten Schmäh‹.
Tausendeinhundert Gefangene sitzen in Stein. Zweihundert Beamte bewachen sie. Davon haben etwa achtzig nachtdienstfrei, sind krank, im Urlaub oder Zeitausgleich. Es sind viele junge Beamte darunter. Die meisten versuchen Autorität hervorzukehren, mit Drohungen; nicht durch vorhandene Persönlichkeit. Das Spitzwort für die Beamten: ›Kas‹ – vielleicht abgeleitet von Kaiserlicher Arrestschließer. In unserem an Titeln so überreichen Land gab es ja auch für diese Beschäftigung einen, und der blieb in Kurzform haften. Die Frauen nennen ihre Bewacherinnen ›Käsin‹. Das Zuchthausvokabular nennt deren Kinder dann ›Quargeln‹.
Es ist sehr kalt. Ich verzichte auf den Hof gang. An Mutter einen langen Brief geschrieben. Das Neue mitgeteilt.
Manchmal lausche ich Verborgenem nach. Das Gras in den Höfen ist schmutzig braun und feuchtfaulig, schwächlich und undeutlich der Himmel darüber. Die Nächte sind rauh und still. Nervöses Klopfen gegen Tischplatte und Bettkante ist Gewohnheit. Das Auf und Ab der Schritte in der Zelle über mir stört. Dringt in die Geborgenheit, in die mich dieser seltsame Abend einhüllt. Resignieren können, vielleicht auch der immer gegenwärtige Wunsch, nicht weiter zu müssen. Eine Frühlingsahnung, die Müdigkeit am Ende anstrengender Monate. Das Hineingleiten in Selbstaufgabe und Ratlosigkeit, nunmehr angstloses Warten, ohne ein Ziel zu begehren, ohne es zu erstreben. Selten wird die Klappe am Guckloch gehoben, das Alleinsein unter vielen bedenklich zerteilt. Der Abend ist dann faltig und zahnlos und verbittert. Ein Stern blinkt im obersten linken Gitterviereck. Das kalte Licht schafft keine Resonanz. Alles Lebendige bleibt außerhalb. Ich krieche in die Decken …
Alle Vierteljahr werden die Hausarbeiter auf den verschiedenen Etagen untereinander ausgewechselt. Ich komme auf West Ebenerdig.
Die gesperrte oder Sicherheitsabteilung. Auf der linken Gegenseite sind acht Sicherheitszellen und zwei Vollbetonhafträume mit separat eingezogener Gitterwand vor dem Fenster und der Türe.
In einem liegt Bergmann. Er hat lebenslänglich Kerker und einige Verschärfungen. Er hat kurz nach seiner Verurteilung versprochen,
in Stein weiterzumorden, dann baute man ihm diesen Käfig. Er ist seit einigen Jahren in Einzelhaft und klebt Kuverts. Der zweite Superbunker wird nur fallweise belegt. Im Augenblick ist er leer.
In den übrigen Sicherheitszellen – mit zusätzlicher Gittertüre – leben gefährliche Gefangene und solche, die eine Flucht von der Anstalt versucht oder ausgeführt haben. Nach den dafür obligaten vier Wochen Keller bleiben sie ein Jahr auf West E.
Ein paar bekannte Namen lese ich auf den Türschildern.
Weinwurm – er hat die elfjährige Dagmar Fuhrich in der Oper erstochen. Rogatsch – er hat eine junge Studentin umgebracht und zerstückelt.
Essenausgabe. In schmalen Blechbechern schiebe ich das Essen zwischen den Gitterstäben durch. Die Leute sind immer von den anderen Abteilungen getrennt. Der einzige Kontakt zur Umwelt führt über den Fazi.
Manche am Stock haben Freunde, welche ihnen hin und wieder Dinge schicken. Vorsichtig öffne ich mit einem Sperrhaken die Klappe in der Türe des Adressaten und versuche die Sachen – selbstgebaute Radios mit Kopfhörer, Zeitschriften, Pornohefte, Lebensmittel, Tabak und Zigaretten – in die Zelle zu geben. Ich muß sehr aufpassen, wenn ich erwischt werde, bin ich sofort im Keller und meinen Job los.
Der zweite Superbunker ist seit heute belegt, er heißt Karlbauer, hinkt und scheint total durchgedreht. Er gibt auf Fragen keine Antwort. Ein Friseur erzählt mir, er hat vor Monaten einen Beamten attackiert. Nachher war er in einer Irrenanstalt. Ob die dort so ein Wrack aus ihm gemacht haben – wohl kaum.
Er lehnt teilnahmslos am Gitter und redet wirres Zeug. Mutter besucht mich. Ihre Augen sind lebhaft und froh. Sie erzählt von zu Hause. Vater läßt mich grüßen. Das freut mich. Die Woche vergeht schnell.
Als Hausarbeiter verdiene ich im Monat etwa sechsundfünfzig Schilling. Die Hälfte davon kann ich zum Einkauf verwenden. Bei ausgezeichneter Arbeitsleistung genehmigen sie einem die Verwendung von eigenem Geld für den Einkauf. In einem Monat mache ich ein Gesuch, vielleicht klappt es.
Schmidt, der Lebenslange auf Zelle zehn, hat mir wieder einen Brief an seine Frau gegeben, den siebenten. Sie liegen alle im Dienstzimmer im Papierkorb. Seine Frau ist tot. Er hat sie umgebracht, deshalb hat er lebenslänglich.
Der von Zelle sechs zeigt dem Beamten seinen Schwanz und deutet Onanierbewegungen an. Er wichst den ganzen Tag … wie ein Affe. Er hat traurige Augen. Orang-Utan-Augen.
Der auf achtzehn hat mitten in die Zelle geschissen. Jetzt hockt er im Türkensitz davor und … meditiert. Die Beamten meinen, er sei übergeschnappt, aber der Arzt glaubt ihm nicht. Ansonsten nichts Neues. Der Stockchef hat eine Alkoholfahne … aber das ist nichts Neues. Auf der rechten Seite der Etage werden einige Zellen freigemacht. Auf die Türen werden Schilder geklebt – Spital 2. Die Einrichtung bleibt dieselbe, nur statt des Strohsacks gibt es Schaumgummimatratzen. Die Kranken dürfen tagsüber liegen und haben generell Rauchverbot. Manchmal versuche ich es mit dem Sperrhaken … Am ersten Juni komme ich in die zweite Strafklasse. Vorteile: alle vier Wochen Besuch, alle drei Wochen ein Brief, alle zwei Wochen Einkauf um S 22,-.
Es wird bestätigt, daß die Arbeitsleistung des Strf. Gef.
Nr. 12547N. N ….
sehr gut ist.
Stein, am Datum
Der Zellenhauskommandant
Unterschrift
Nun kann ich endlich auch mein eigenes Geld zum Einkauf von Zusatznahrungs- und Genußmitteln (offizielle Bezeichnung) verwenden. Die Rechnung sieht dann so aus:
2 Monatseinkäufe a S 22,- S 44,-
4 mal Obst wöchentl. a S 5,- S 20,-
Toilettenartikel monatl. ca S 80,-
S 144,-
Davon Arbeitsverdienst, monatlich S 28,- und Eigengeld S 116,-. Es ist wichtig, im Gefängnis eigenes Geld zu haben.
Am ersten Juli Hausarbeiterwechsel. Ich werde auf Ost 3 verlegt. Von meinem Bett aus sehe ich die Weinberge, die Tabakfabrik und Beamtenhäuser. Sofort besorge ich mir ein Fernglas. Diese Ausgabe ist absolut notwendig. Man sieht durch die offenen Fenster in den Umkleideraum der Tabakfabrik. Zweimal am Tag ziehen sich die Arbeiterinnen um. Sie tun es sehr langsam, sie wissen genau, wer ihnen da mit heraushängender Zunge und hartem Schwanz zusieht. Auch die Frauen in den Häusern gegenüber der Anstalt zeigen sich sehr freizügig. Ich starre durch das Glas, bis mir die Hände brechen und ich nichts mehr sehen kann, weil die Augen da nicht mitmachen. Es ist Sommer, die Nächte … das Leintuch brennt unerträglich auf der Haut. Der Schlaf verkriecht sich in den Winkeln der Zelle. Ruhelos wälze ich mich zwischen den Laken … eine Frau … eine Frau … die Kinnmuskeln knacken, die Schläfen sieden … die Stunden dehnen sich zur Qual.
Meine Hände zerreißen das Zigarettenpapier. Ich presse die Fäuste gegen die Zähne.
Hinter den geschlossenen Augen türmen sich Bilder und Gestalten halbbekleideter, dann nackter Frauen … wachsen Geschlechtsteile … in jeder Öffnung ist dann Bereitschaft und Hingabe und Suche und Antwort und Umschlingung … sie … sie … ich springe vom Bett, taumle gegen die Wand … kauere neben dem Bett, durchdringe mühelos die Finsternis.
Schaue durch Wände auf Körper, nackt in Bewegung und Tun … im Bücken, Gehen, Hocken und Gleiten … alles ist Weib und geil und … ungreifbar … Die Gedanken verkochen, jeder Nerv ist frei und tastbar und erregt … jeder Muskel zittert gespannt und belastet und ungeduldig. Aus den Wänden fließen Formen und Körper … Haare, Augen, Brüste, Votzen, Kitzler und Ärsche … in gestochenen, gebrannten, scharfen Bildern … greifbar und spürbar und nahe und möglich … im weichen Hirn, im gepreßten Atem … nicht im Greifen der Hände … die Atemluft ist dicht und satt und kaubar. Ich krieche in die Schattengebilde. Sie glühen in meine Gier in unmittelbarstem Schmerz. Das verkrampfte, hilflose Tasten mündet im Zerhämmern der Fäuste an der Mauer, bis die Knöchel bluten, der Schmerz schwelgt in grausamem Genuß … die Eier blähen sich in riesiger Schwere … ich bin in der Mitte und nur dort, an keinem anderen Punkt meines Körpers bin ich einsamer und irrer und gequälter.
Das Weib hat eines oder jedes Gesicht … zwei oder alle Brüste … eine oder Millionen heiße, klaffende, feuchte, fette, saftige, heilige, zerfickte, geleckte, gepißte, gallertige, brodelnde, rauhe, geriefelte, appetitliche, stinkende, kleine, duftende, weiche, verlauste, fließende, entzündete, gesalbte, verschlossene, große, tiefe, endlose, verkrampfte, enge, haarige, glatte, rasierte, schleimige, schlaffe, blutige, verseuchte, umschließende, narbige, vibrierende, bewegliche, muskulöse, trichterförmige, rinnende, vorgewölbte, schnabelige, flache, runzelige, frische, triefende, lauwarme, syphilitische, gepflegte, saugende, dreckige, ranzige, ungewaschene, riesige, faltige, keusche, braune, geschuppte, rosige, glitschige, violette, trockene, lederige, bläuliche, willige, pralle, kochende, geöffnete, kühle, ablehnende, ersehnte, erflehte, verdammte, seelenvolle, verschissene, verfluchte, winzige, schmallippige, geile, breite, gefräßige, benetzte, zerfressene, nasse … Löcher, Votzen, Vaginen … eine … will ICH für mich … jetzt … jetzt.
Ich erschlaffe im Strahl, der über meine Hände spritzt. Onanieren … wichsen … mit den Fingern, mit Ringen und Schnüren, und ins Brot ficken … bis du dich nicht mehr angreifen kannst, willst, bis du es satt hast, den Schwanz durch die Gegend zu ziehen.
Leo steckt sich beim Onanieren eine Bierflasche in den Arsch und reitet darauf … und ich … einer in der Schlosserei hat mir einen Metallring angefertigt, von etwa zwei Drittel Durchmesser meines erregten Gliedes. Der Ring ist innen ganz dünn mit Leder ausgelegt und an den Kanten abgerundet. Auf der einen Seite ist eine Scharniere, auf der anderen ein Knopfdruckmechanismus. Ich schließe den Ring um das halberregte Glied und pumpe mit Druck das Blut durch die enge Öffnung zur Eichel. Nach einiger Zeit des Pumpens schwillt sie an wie eine Glühbirne. Sie wird blau und schmerzt. Doch man gewöhnt sich daran. Die Finger fette ich mit Creme und massiere den Eichelkranz. Durch die enge Abschnürung kann ich den Reiz lange dehnen. Erst wenn der Druck am Samenleiter zu groß ist, öffne ich auf Knopfdruck den Ring … dann schreie ich die verfluchte Einsamkeit hinaus in den Schwall … bin erschöpft und unbefriedigt und freudlos … schlafe irgendwann ein.
Er sieht aus wie der ältere, harmlose Herr von nebenan. Hin und wieder haben ihn die Polizeidirektoren von halb Europa fieberhaft gesucht. Loisl, der rundliche Meistereinbrecher mit dem Äußeren eines pensionierten Postsekretärs. Verliebt streichen seine sensiblen Hände über Zeichnungen … Schlösser … im Schnitt … Zuhaltungen verschiedenster Tresortypen … Schaltpläne für Alarmanlagen. Seine große Zeit ist vorüber. Er hat acht Jahre. Bei seiner Entlassung wird er weit über Sechzig sein. Für ihn war es immer selbstverständlich, ohne Pistole zu arbeiten, trotzdem sagt er: »Moch an uandlichen Raub … des Tiftln und Umanaundascheißn mit de Schleßa und Alamaunlogn rentiat sie heit nimma. Sei gscheit, Bua, foahr amoi uandlich eini und druck o … loß di net zwanzg Joahr eijankan … waunsd des Schmoiz ausmochst bis fia Oarsch, glaub ma des, kaunst eisetzn.«
Andreas, ein junger Gefangener, er hat zweieinhalb Jahre wegen Einbruchs, sitzt daneben am Tisch. Oft fragt er den Alten, und manchmal gibt ihm der Auskunft. Der Alte beugt sich über ein Blatt, notiert einige Worte. Ich habe gelesen, dann höre ich zu. Er erklärt die Funktion und das Ausschalten einer der gebräuchlichsten Alarmanlagen. Der Alte hat sein Gebiß aus dem Mund genommen, es drückt ihn manchmal. Seine Stimme ist leise. Er zischt manche Worte, »… jede Sicharungsaunlog hot a poar Bestaundteule, de olle aufanaunda ogstimmt san … do host zum Beispül de Stromquölln, de Spaunung, in Funktiaunsblock, der auslösende Moment und de Alamleitung … des Wichtigste is de Stromquölln«, sagt er. Sein gelblicher Schädel glänzt im matten Schein. Er dreht sich umständlich eine Zigarette, zündet sie an.
»… de muaßt finden. De Ölemente im Funktiaunsblock dapockn nua an Gleichstrom … deswegn san die Stromquölln bei ana Sicharungsaunlog Gleichstromquölln … vastehst«, sagt er in Fahrt gekommen. Er streift die Asche achtlos ab. Rudolf bastelt auf dem Bett hingebungsvoll an seinem Miniradio, das ständig kaputt ist. Georg steht vor dem Spiegel, und drückt an seinen Aknewimmerln im Gesicht herum. Er sieht aus wie ein Lungenkranker nach dem sechsten Blutsturz … fahl, mehlfarben, mit grellen, roten Flecken. »… de Stromquölln kennan große Batterien oda Akkus sei … oda des Telefaunnetz … und jetzt paß auf, des Telefonnetz hot a Spaunung von 37,5 Voit und a Stromsterkn zwischn ochthundat und dreizehnhundat Milliaumper … je nochdem, wia das Netz beinaunda ist … ozwikn kaunst de Leitung net … ohne das’d irgndwos mochst, oba wos …«, sagt er und Farbe ist in seinen fleischigen Wangen, »… do muaß i da oba wos dazua earklean, schau«, sagt er und zeichnet auf das Papier ein Quadrat mit Linien, kleinen Rechtecken und Querstrichen darin, die Linien versieht er mit Pfeilen.
»Da Gleichstrom fliaßt von plus zu minus … olleweu, im Funktiaussblock san Schoittransistoren, de san olleweu in Oarbeitsstöllung … a Relais oba oda an Transista scheißn sie wenich von wo da Strom kummt, Hauptsoch is, es kumt ana … und solaung a Strom do is, schoit des Ölement net und s’ gibt a ka Gschra (Alarm)«, sagt er und holt ein schmutziges Taschentuch aus der Hose. Er wischt sich einige Male über die Stirne.
»… aundas is des mit de Ölemente im Funktionsblock … des san Hoibleita, aus Germanium oda Silizium, oba des is ja wuascht, und de reagian nua waun da Strom aus da richtign, vastehst wos i man, Richtung kummt … kummt da Strom oba aus ana aundan Richtung, fia de Hoibleita in Spearichtung … daun is zwoar a Strom in da Aunlog, oba … da Funktionsblock is gstert … oiso?« sagt er und schaut in die Runde, »muaß ma de Stromrichtung endan … do gehst her und baust da sölba a Stromquölln mit 37,5 Voit und 1,2 Milliaumper … dazua nimmst Batterien, de schoitst in Serie und parallel, bis de Spaunung hast. Daun besurgst da a Voitmeta, wast eh, zum Messn von da Spaunung, oba ans mitn Nuipunkt inda Mittn von da Skala, mit den übaprüfst dei Endspaunung … wos’d die Hockn mochst, suachst da in Aunschluß, dea is meistns in da Nechn vom Telefonkastl im Eardgeschoß. Mitn Voitmeta hengst di jetzt in de Zualeitungsdreht eini und schaust, wöchana positiv und wöchana negativ is … daun hengst dei Stromquölln vakeaht, host aufpasst, vakeath dazua … in plus Poi auf de Minusleitung und in minus Pol auf de Plusleitung … und daun, oba earst daun kaunst des Kabl zua aundan Stromquölln ozwickn und zum Oabeitn aunfaungan …«, sagt er und wischt sich wieder den Schweiß von der Stirne. Es gibt viele Instruktoren, Fachleute auf allen Gebieten krimineller Erwerbsmöglichkeiten. Einige bereiten kühl und überlegt ihre künftigen ›linken‹ Karrieren vor.
Laci, zum Beispiel, der kleine, dicke Ungar, fertigt in unendlich mühevoller Kleinarbeit einen Adelsbrief für seine Heiratsschwindeleien vor. Albert, der Antiquitätendieb, studiert seit Jahren einschlägige Lektüre, und Klaus, ein passionierter Abtreiber, arbeitet medizinische Fachzeitschriften durch. Es sind seltsame Leute unter den Häftlingen. ›Der Doktor‹, ein Millionenbetrüger, liest regelmäßig die Börsennachrichten und schwelgt in imaginären Transaktionen. Nebenbei führt er eine viele hundert Seiten umfassende Korrespondenz mit der Liga für Menschenrechte in Straßburg. Er fühlt sich zu Unrecht verurteilt und versucht seit sechs Jahren eine Wiederaufnahme seines Verfahrens zu erreichen. Rudolf, der Dentist, hat fünf Jahre wegen Betruges. Er fertigt den Häftlingen aus dem gestohlenen Messing der Wasserleitungshähne wunderbare Zähne. »Oba des Sidol muaßt da vurher unandlich owischn, sunst speibst di aun«, sagt einer seiner zufriedenen Kunden und lächelt messingfarben.
Ich kaufe mir um fünfhundert Schilling ein Radio, Rudolfs Apparat streikt nach wie vor. Tagsüber trage ich die Miniaturbox in einem Stoffsäckchen neben den Eiern, dort greift beim normalen Filzen kein Beamter hin.
Mit dem Stockbeamten gehe ich in die Druckerei. Es ist etwas abzuholen. Siebzig Gefangene arbeiten an Maschinen und in der Setzerei. Die Drucksorten der Justizverwaltung werden hier gedruckt. Der Beamte bespricht etwas mit dem Druckereichef, einem knochigen Oberkontrolleur. Anschließend sollen wir in die Wäscherei. Der Beamte geht an mir vorbei zur Tür. »Woatns do … i geh auf an Sprung ins Spitoi«, sagt er. Ich rede mit einem Bekannten.
»Kennst des scho«, sagt er und holt aus einem Fach neben seiner Maschine ein abgegriffenes Heft heraus … ›Der rote Salon‹, steht am Deckblatt … eine der vielen pornografischen Eigenproduktionen, die im Haus zirkulieren. »Nein«, sage ich und blättere darin. Nach einigen Minuten stößt er mich am Arm.
»Durt, schau«, sagt er. Im rückwärtigen Teil des langen, finsteren Arbeitsraumes haben drei der Männer einen jungen, blonden Gefangenen auf einen Drucktiegel geschnallt. Die Hände sind links und rechts an den Metallhalterungen festgebunden. Die Füße links und rechts an den Metallstangen festgebunden und seitlich gefesselt. Mit Brust und Bauch liegt er über die Maschine gebeugt. Über den Mund haben sie ihm ein Handtuch gebunden. Ebenso blitzschnell wie er gebunden wurde, zieht ihm einer die Hose und die Unterhose über den Hintern. Ein anderer öffnet sich die Hose und schmiert aus einer Nivea-Dose Creme auf sein Glied. Er tritt zwischen die Beine des Jungen und steckt diesem sein Glied in den Arsch. Der Gebundene zuckt und versucht sich loszureißen. Ohne im Aus- und Einfahren innezuhalten schlägt ihm der Mann zweimal mit der Faust ins Genick. Dann ficken noch zwei andere in den Gefesselten.
»Nau und durt«, sagt der neben mir.
Ich gehe einen Schritt zur Seite. Wenige Meter neben dem Geschehen steht ein bulliger Gefangener. Er ist breit wie ein Kasten und hält einem anderen ein Messer gegen den Hals.
»Da Oide von dem Buam«, sagt derjenige neben mir.
Es ist vorbei. Der Beamte saß im Dienstzimmer. Er wurde nicht aufmerksam, wie? Er hätte nichts sehen können und auch nichts hören. Zwei gehen gleichmütig vorbei. Einer kennt mich.
»Seavas, wia gehts da denn, host gsegn des Scheißtiar, olleweu umanaundadaunzn, mit Oarschwoggln und so, na bei mia net, bei mia is a pudat«, sagt er und lacht.
»Richtig«, sage ich … warum nicht.
Manche der Jungen tragen Reizwäsche. In der Schneiderei nach Pariser Muster angefertigt. Damit tanzen sie in den Zellen auf den Tischen harten Strip, dann wandern sie von Bett zu Bett, von Schwanz zu Schwanz und genießen es. Es gibt auch Stars wie Monika, die werden vergöttert. Monika ist zwanzig und der femininste Mann, den es gibt, vollkommen haarlos, runde Hüften, Minischwanz, Mädchenschnauze, irrsinnig zärtlich und kann blasen, daß einem die Knie davonschwimmen. Er saugt einem das Mark aus dem Rücken. Er ist eine Nutte und hat Höchstpreise. Er verdient, was er will. Es gab einige Stechereien wegen ihm.
Ich besorge mir über einen Beamten eine Orchidee. Einen Tag darauf tänzelt der Puppenarsch vorüber. Ich kenne seine Vorliebe für ausgefallene Geschenke.
»Prinzessin, ich hab’ etwas für dich«, sage ich und zeige ihm die Schachtel.
Er ist wie eine Frau. Die Neugierde treibt ihn in die Abwaschzelle, dann öffnet er den Karton. Das Mädchengesicht zerfließt.
»Willst du?« fragt er.
Ich schicke ihn zu meiner Zelle, dann gehe ich ihm nach. Mein Schwanz liegt hart quer in der Hose.
Ich lasse die Hose fallen. Er kniet vor mir, kaum spürbar berührt er den Schwanz. Seine Hände kreisen, streicheln über die Arschbacken, den Anus, die Eier, die Schenkel, die Kniekehlen. Sein Mund bricht auf. Warme, dann heiß saugende Feuchte um die Eichel, hartes Reiben der Zähne an der Vorhaut, heißer Speichel um mein Glied. Vor meinen Augen ist ein Schleier. Hart ist der Druck seiner Finger gegen die Schwanzwurzel, pumpt Blut in meine zum Platzen geschwollene Eichel. Wellen kommen aus der Mitte, glühende Nadeln. Seine Hände klammern, steigern, krallen. Die Wellen erreichen das Gehirn. Sein Mund ist Feuer, und ich falle in einen heißen Schacht. Schmatzendes Saugen, und er schluckt. Wohlige Schauer laufen über mich, er saugt, weich und zärtlich. Ich bin so standsicher wie ein Pudding in der Kurve. Ich lege mich auf das Bett.
»War es schön?« fragt er dumm.
»Ja, Scheißtierchen, die Orchidee war es wert«, sage ich, dann schicke ich ihn weg.
Georg, Zuhälter und Gewalttäter, Motto: »I schlog eahm nieda«, drei Jahre Gefängnis hat er und anschließend fünf Jahre Arbeitshaus, hat es satt, ein Idiot zu sein.
»Wauns’d do zum blattln aunfaungst und nocha zum Lesn, mearkst earst wia teppat ois’d bist«, sagt er zu mir und liest zu Beginn Schopenhauer … dann Kant. Er hält mir einen Vortrag. »Rechtschreim«, sagt er geringschätzig, »auf des wiard gschissn, a Oigemeinbüdung brauchst, vastehst.« Er sitzt beim Tisch und blättert in dicken Wälzern, die er aus der Gefängnisbibliothek angeschleppt hat.
»Jetzt les i den Schopenhaua … dea is leiwaund, dea scheißt auf de Weiba genauaso wia’ri. Da Kant … najo, dea is net anfoch, dea hot Setz do brauchs an Foahrplan«, er kratzt sich gedankenvoll am Hinterkopf.
»… Viarazwanzg Zeuln a Sotz … do brauchst an dea da de Zwischensetz nochtrogt … oba guat is a trotzdem … den … woart amoi«, er blättert in einer der Schwarten, »aha … do is dea Scheißdreck … ka … te … go … ri … scha Imperativ, den hob i zehnmoi glesn, dea stimmt genau … dea Mensch woar ka Trottl net«, sagt er und nickt bedächtig.
Georg wäscht sich seit neuestem täglich fünfmal den Oberkörper, seltener die Füße. Er lernt Latein und produziert Liegestützen und Kniebeugen in Mengen.
»Mens sana in corpore sano«, trompetet er und bestraft jeden, der ihn fragt, was das heißt, mit Nichtachtung.
»Es werds olleweu Teppn bleibn«, resümiert er bündig.
Er fühlt sich wohl. Ich mache mir Sorgen um ihn.
Da ist Rudolf, ein älterer Gefangener. Er spricht fünf Sprachen. Wegen Betruges hat er sechs Jahre. Man hat ihm auch den Doktorgrad genommen. Mit seinem weißen Kinnbart sieht er aus wie ein Gelehrter. Georg kann ihn nicht riechen,
»Woart nur, in drei Monat waß i sovül wia dea«, sagt er.
Die anderen glauben, daß sich das wieder legt. Ich nicht. In einigen Monaten wird er auf dem Nordflügel in einer Einzelzelle endlose Monologe halten … aber ich habe mir ja Sorgen gemacht.
Es geschieht häufig, daß Gefangene sich einige Zeit etwas sonderbar benehmen, kein Mensch regt sich auf. Am allerwenigsten der Arzt. Wenn es zu Aggressionsausbrüchen kommt, gibt es Absonderung, Prügel, Beruhigungszelle, Gitterbett und Zwangsjacke. »Nervöse Störungen … papperlapapp … wir sind kein Kindergarten … sei ein Mann, reiß dich zusammen«, sagt der Arzt und wendet sich zum nächsten, »Magenschmerzen haben Sie … zwölf Tage Teepause (nur Tee und Zwieback), wenn es dann nicht aufhört, Rauchverbot«, sagt er zu dem. Ich gehe … wenn ich nicht schlafen kann, und nur das Bedürfnis, jedem Beamten an die Kehle springen zu müssen, bleibt, werde ich mich eben zusammenreißen …
Hausarbeiterwechsel, Ost Ebenerdig, Zelle 1.
»Bei mia brauchst goar net mit an Druckposten rechna, weil sunst tritt i di in Oarsch«, sagt der Stockchef zur Begrüßung. Abendessen, Bohnengulasch. Beim Einschluß bringe ich einige volle Töpfe als Nachschlag mit. Ich spüre sofort eine seltsame Spannung in der Zelle- Mozzl, ein in der Unterweltbekannter Totschläger, winkt mich zu seinem Tisch. Dort sitzt noch einer.
»Servaas, mir kennan uns eh, des do is da Horstl und auf de aundan do drübn«, er deutet auf die fünf anderen Gefangenen beim Tisch neben der Türe, »wird gschissn. Des san lauta Rozzn«, sagt Mozzl.
»Pass auf Mozzl, glei von Aunfang an. I bin do am Stock Fazi. Fia mi is jeda gleich. Mochst da deine Privatwickln aus, mit wem’s d’ wüllst, mi interessiert des net«, sage ich und stelle zwei volle Schalen auf den Tisch der ›Rozzn‹.
Der Bulle verzieht das Gesicht, aber er braucht mich. Er muß akzeptieren … und ich weiß das … na net waß i des.
Mozzl versucht mir die Hintergründe der Auseinandersetzung zu erklären, doch ich höre nicht zu. Ich lege mich auf das Bett und lese. Es wird kaum gesprochen, die Aggression ist zum Pflücken reif.
Nach dem Lichtabdrehen flüstert mir Janos, der Zigeuner, er hat zwanzig Jahre für Mord, zu: »I bring eahm um.« Er liegt im Bett neben mir und zeigt mir ein Messer. Er hat es unter seinem Kopfpolster liegen. Die Klinge ist breit und lang.
»Gute Nacht«, sage ich, dann schlafe ich ein.
Tags darauf. Die rechte Seite der Abteilung ist zur Gänze von einem Arbeitsbetrieb belegt. Hier heißt es hochtrabend ›Kartonage‹, gemeint ist Tütenkleben (Sacklpickn). Die Gefangenen gehen nach dem Frühstück von den Schlafzellen links über den Gang, in die Arbeitszellen. Weil nichts zu tun ist, sperrt mich der Stockchef in eine Arbeitszelle.
»Nicht zum Glaubn wos fia a scheenes Herz so a Rozz hot«, sagt Vickerl zu mir. Vickerl ist zivilberuflich Zuhälter und Totschläger. Er klebt keine Tüten. Er bekommt beim Besuch regelmäßig Geld. Er läßt andere für sich arbeiten. Er ist leidenschaftlicher Anatom. Vom Keller hat er eine Ratte bekommen. Mit vier Nägeln hat er sie am Fußboden angeheftet, lebend, dann hat er begonnen, sie aufzuschneiden, die Ratte ist inzwischen verschieden, Vickerl ist bereits bei den Innereien. Peter steht am Fenster. Er kann so etwas nicht sehen. Peter ist sensibel. Er hat elf Jahre wegen Doppeltotschlags. Vickerl setzt fort mit der Sezierung.
»Waun i hamkumm und mei Oide weist net genug Koin auf, moch is mit ihr genaua so«, sagt er.
Ich blättere in einem pornografischen Journal. Mein Schwanz steift sich. Ich vergesse die Ratte. »Ich schleich mi amoi kuarz hintan Vurhaung, i muaß mein bestn Freund durchschüttln«, sage ich und gehe zum Klosettvorhang.
»Moment, mein Freund, wo willst du hin so rasch«, Vickerl bedient sich des Theaterdeutschen, »wichsen, onanieren … das brauchst bei uns net söba mochn. Willi, mei Scheißerl«, er wendet sich zu einem jungen Gefangenen, der mit gesenktem Kopf am Tisch zwischen den Fenstern arbeitet, »schau her, du Scheißkreatur, waun i mit dir red«, der Junge wendet den Kopf zu uns. Er hat ein symphatisches, offenes Gesicht, mit großen Augen und einem weichen Mund. Vickerl dämpft seine Stimme. Böse lächelnd sagt er zu dem Jungen, »das da ist mein Freund, und weil er mein Freund ist und du mir gehörst, wirst du jetzt aufstehen und ihm einen blasen, aber mit allen Schikanen, hörst du, mein Kleiner … und wenn er nicht zufrieden ist, dann frißt den sezierten Rozzn, und mit de Darm faungst aun, kloar«, brüllt er zum Schluß.
Der Junge nickt. »Ja, Vickerl«, sagt er.
Ich blättere langsam das Heft durch, der Junge saugt. Gut, aber nicht Monika. Dann spritze ich tief in seinen Mund. Er schluckt. Vickerl sieht aufmerksam zu.
»Schön sauberlecken«, sagt er zu dem Jungen, und, »warst du zufrieden mit ihm«, gedehnt zu mir.
»Sehr«, sage ich.
»Oiso, daun brauchst den Rozzn net fressn«, sagt Vickerl und versucht dem Tier den Kopf zu zerlegen.
»Weißt du etwas wegen einer Auseinandersetzung auf der Einser?« frage ich ihn. »Nein«, sagt er.
Nach dem Mittagessen ist es totenstill auf der Zelle. Janos sitzt beim Tisch und legt eine Patience. Sigi und Ferdl, zwei ›Rozzn‹, schauen zu. Mozzl und Horst sitzen am kleinen Tisch und blättern in Zeitungen. Zwei andere und ich liegen am Bett und lesen. Ferdl hat mir vor dem Spaziergang einen großen, aus Blei gegossenen Schlagring gezeigt.
»Mit dem hau i eahna des Hirn ein«, hat er dazu gesagt.
Janos steht vom Tisch auf. Er geht zum Klosett und pinkelt. Horst steht auf und geht zum Spiegel. Er zieht einen Kamm aus der Tasche und frisiert sich. Janos betätigt die Spülung. Der Abstand zwischen den beiden ist ein Meter. Aus der Drehung schlägt Janos zu und trifft mit dem Schlagring. Horst taumelt zurück. Seine linke Gesichtshälfte ist zerfetzt. Mozzl springt auf. Im Sprung erstarrt er. Janos hält ihm das breite Messer entgegen. Die Klinge funkelt im blassen Licht. Der Zigeuner steht geduckt, mit glühenden Augen. Mozzl starrt auf das Messer, sonst seine bevorzugte Waffe, dann bückt er sich und zieht Horst hoch.
Einer betätigt das Notzeichen. Kurze Zeit später sind acht Beamte in der Zelle. Horst wird ins Spital gebracht. Janos und Ferdl werden abgesondert. Die anderen werden verlegt. Ich habe nichts gesehen.
Einige Monate später bekommt Janos ein Jahr dazu … er hat jetzt einundzwanzig Jahre.
Ich werde auf West I verlegt. Stockchef ›Ruschi‹. Groß, dünn, nervös und unscharf.
»Waunst an Bledsinn zaum drahst bis’d abgelöst«, sagt er zu mir … am Tag achtmal. Man gewöhnt sich daran.
Durch das Fenster sehe ich den Gemeinschaftstrakt. Es dunkelt rasch. Die Kälte macht die Abende lang und bitter. Vater kommt zu Besuch. Mit Jahresende geht er in Pension. Er sieht alt aus und müde. Lange schüttelt er mir beim Abschied die Hand, bis ich merke, daß er mir einen Geldschein übergibt. Ich falte meine Innenhand und habe den Schein. Fünfhundert Schilling … dafür gibts eine Menge zu trinken. Weihnachten. Das Paket von zu Hause, das Übliche. Die Stimmung ist versöhnlich. Die Beamten bremsen sichtlich, sowohl in Lautstärke als auch in Sanktionen. Zwei Flaschen Schnaps. Ich bin besoffen. Der Heilige Abend. Der letzte Tag des Jahres. Alle brüllen um Mitternacht aus dem Fenster, manche schreien »Heuer geh i ham«, ich schweige, rolle mich in meine drei Decken und die Zusatzdecke. Nein, heuer noch nicht, aber es ist das letzte volle Jahr. Ein idiotischer Trost, aber doch einer.
Im Dämmer gehen graue Schemen im Kreis. Um die große, kalt strahlende Neonleuchte in der Mitte des Hofes. Unmerklich hellt der Tag. Eine geschlossene Masse von Körpern und Gesichtern treibt vorbei.
Schlüssel klirren, dumpfe Kommandos verhallen, Gitter rasten metallisch ein. Da und dort klappern Blechgeschirre. Lethargisch, mit hängenden Schultern, marschieren die Männer in die Werkstätten. Lichter flammen hinter Scheiben. Vermummte Gestalten säubern Wege und Treppen von Schnee und buckeligem Eis. Streuen Asche und Sand.
Das Zellenhaus ist ausgestorben. Die schwarzen Stahlplatten der Laufgänge schimmern matt, vereinzelt hantieren Hausarbeiter mit Besen und Eimern. Ein Beamter steht beim Eingang zum Kommando. Er trägt Reithose, Stiefel, die schwere Pistole zieht den Gürtel über die Hüfte.
Tagsüber nichts. Das Licht bleibt verkrochen hinter Wolken und Nebel. Ich lehne am Fenster. Ein bleierner Zuchthausabend. Die Kälte kriecht in die Knochen, das Fleisch, vielleicht in die Seele.
Der Wind singt und kreischt an den Mauern. Schneebahnen, waagerecht gepeitscht, silbern glitzernd im Scheinwerferlicht.
Erinnerungen sind da, mit grausamer Schärfe: die Wiese in stillem Grün, ein staubiger, sonnenübergossener Weg – ich sehe mich dort.
Sehnsucht krallt, bleibt unbestimmt, namenlos.
Die Nacht ist um mich gerollter Stacheldraht.
Arbeitsplatzwechsel Nord 3.
Ich verleihe sieben Romanhefte um ein Paket Tabak in die Zellen. Drei Wildwest-, drei Kriminal- und ein Sciencefiction-Roman. Man reißt mir die Hefte aus den Händen.
Bei einem Filz wird mir das Radio weggenommen. Der Beamte schreibt einen Rapportzettel. Tags darauf nach dem Frühstück werde ich geholt. Strafrapport.
Erster Raum links auf West ebenerdig.
Ein Major, Leiter des Strafvollzuges im Haus, fragt mich: »Wissen Sie nicht, daß der Besitz eines Radios verboten ist?«
Wenn sie einem schon jeden harmlosen Dreck wegnehmen, warum fragen sie dann noch idiotisch … erwartet der Mann, daß ich nein sage … ja, er erwartet es und außerdem vielleicht noch, daß ich sage es tut mir leid, daß ich gegen ein Verbot verstoßen habe. ›Du fettgefressener Goldbonze, du kannst mich am Arsch lecken‹, müßte ich sagen … aber nein, ich halte die Schnauze, denn ich will ja Hausarbeiter bleiben und in die dritte Strafklasse kommen, also … ›gib schon her deine Strafe‹.
»Drei Tage Einzelhaft, zwei Fasttage, zwei harte Lager«, sagt der Goldene.
Der Wachinspektor neben ihm nickt gravitätisch.
»Und seien Sie froh, daß wir keine Anzeige machen wegen Schwarzhörens, Sie wissen«, sagt der Major.
»Morgen sind Sie dran, gleich vor dem Frühstück«, sagt der Wachinspektor.
Ich übergebe meine Romangeschäfte einem Kumpel. Abends rolle ich mir Tabak und Papier und Streichholzköpfe in Nylon. Mit einer Zündholzflamme verschweiße ich das Nylon.
Am Morgen stecke ich mir das Zeug in den Arsch, dann packe ich meine Sachen und gehe in den Keller. Die Rolle im Darm ist verdammt unangenehm und drückt. Der Korrektionsbeamte wartet schon.
»Ausziehen, gemma«, sagt er. Sein Gesicht ist faltig wie ein hundertjähriger Lederapfel, stechende Augen wieseln darin. Ich steige aus den Kleidern. Der Hausarbeiter bringt mir andere. Die stinken und sind verschlissen. Der Beamte kontrolliert meine Achselhöhlen, die Haare. Umdrehen, bücken, Beine auseinander … einen Riesenfurz müßte man ihnen ins Gesicht lassen, wenn sie da herumschnüffeln.
»Anziehen«, kommandiert der Faltige. Dann sperrt er mich in eine Zelle.
Hocker, Klomuschel und ein Heizkörper mit drei Rippen sind das Inventar. Nach einer Stunde bekomme ich vierhundert Gramm Brot, das Essen für den ersten Tag. Ich gehe auf und ab, die Gedanken laufen im Kreis. Gegen vier bekomme ich eine Pritsche und drei Decken, das erste harte Lager. Irgendwie vergeht die Nacht. Ich hole die Rolle aus dem Arsch, drehe mir eine Zigarette. Tags darauf. Um sieben holen sie die Pritsche und die Decken. Es gibt schwarzes, lauwarmes Wasser. Gegen neun Uhr Brot. Um zwölf Mittagessen.
Es ist kalt. Das Essen und der Raum. Mit steifen Gelenken gehe ich auf und ab. Um vier Nachtessen, Pritsche, Strohsack, Leintücher und Decken.
Der Kerker erdrückt mich, dann vergeht die Nacht.
Ich rauche drei Gedrehte.
Um sieben wieder das Übliche.
»Fasttag heute«, sagt der Beamte. Ich gebe keine Antwort. Er erwartet auch keine.
Um neun wieder Brot. Um vier Pritsche und Decken. Dazwischen liegen Kreise, tausende Schritte, Haß, Verzweiflung und Gleichgültigkeit.
Die Pritsche ist aus Fichtenholz. Fichte ist Weichholz … mein Gehirn weiß das, der Körper glaubt es nicht. Wieder drei Gedrehte.
Der Morgen. Müdes Licht im Kellergang.
»Auf Ihrer Zelle riecht es nach Rauch«, sagt der Beamte.
Ich bin umgezogen.
»Das wird Ihre eigene Zigarette sein«, sage ich und gehe.
Mit drei Kübeln heißem Wasser schrubbe ich mir den Korrektionsgeruch weg. Dann fühle ich mich besser. Der Zuchthausalltag schluckt mich.
Einkauf und Besuch, Arbeit und Hof gang, brüllende Beamte und feuchtkalte Tage.
Seit zweieinhalb Jahren schreibe ich die gleichen Briefe nach Hause. Was sollte ich mitteilen? Diesen zähflüssigen Alltagsdreck beschreiben, was sollte man beschreiben, es gibt keine großen Ereignisse, und wie sehr die unbedeutenden, kleinen Nadelstiche zerstören, in ihrer tödlichen Gesamtheit deprimieren, wie sollten sie das verstehen, also, wie gehabt: Dein Dich liebender Sohn …
Einige versuchen, sich herauszureißen aus diesem apathischen Dahin treiben. Belegen Fernkurse, Sprach- und andere Lehrgänge. Kaum einer hält durch. Die anderen frotzeln, häkeln, stänkern, und der einzelne resigniert.
Es gibt kaum Möglichkeiten, in Einzelzellen zu kommen, das Zuchthaus ist überfüllt.
Einsperren – die Hauptsache. Was hinter den Mauern geschieht, ist euch egal. Ob da nicht eines Tages eine bittere Rechnung präsentiert wird. Die Möglichkeit zu onanieren oder knastschwul zu werden, wird eines nahen Tages nicht mehr ausreichen. Was dann, die Mauern noch höher, die Strafen noch länger? Die Einschnürung noch enger – oder ausweichen in die Möglichkeit der medikamentösen Manipulation?
An manchen Tagen ist eine allgemeine Aggressivität spürbar, zerbricht aber wie immer am täglichen Zwang. Wie lange noch?
Diesen Monat fällt die Entscheidung, ob mir das letzte Drittel der Strafe bedingt auf drei Jahre erlassen wird. Ein Richtersenat wird Ende des Monats darüber entscheiden. Ich habe zwei Vorstrafen, Einbruch und die Sache mit meinem Vater, und bin einundzwanzig Jahre alt.
Abgelehnt. Begründung: Wegen kriminellen Vorlebens ist ein Wohlverhalten in Freiheit nicht zu erwarten.
Welches Vorleben? Ich habe viereinhalb Jahre Gefängnis und war sechs Jahre in Internaten und Erziehungsheimen, wann hatte ich schon Zeit gehabt zu leben, es ist sinnlos, sie sind stärker, sie drücken dich mit der Schnauze in den Dreck, bis du nicht mehr atmen kannst, bis dir die Scheiße aus den Ohren quillt.
Viele Tage gehe ich bedrückt umher. Schweigen wird mir Gewohnheit.
Ich bin in der dritten Strafklasse, das letzte Drittel hat begonnen. Alle drei Wochen Besuch, alle zwei ein Brief, jede Woche Einkauf. Bei schönem Wetter dreimal wöchentlich eine Stunde Basketball in einem engen, staubigen Hof. Eigene Sportschuhe sind nicht gestattet. Die anstaltseigenen werden jeweils von jeder Gruppe getragen. Sind verschwitzt und … ich spiele ohne Schuhe.
Nach zwei Sportstunden sind meine großen Zehen unbrauchbar getreten. Ein Nagel tief eingerissen, der zweite hängt nur mehr an der Nagelwurzel.
Der Arzt zieht beide und verbindet. Ich spiele trotzdem. Es kämpfen meist zwei Betriebe gegeneinander. Es geht um nichts, gespielt wird mit ungeheurem Einsatz. Raufereien sind an der Tagesordnung.
Es ist ein Witz, der Staub verklebt die Lungen, man kann sich kaum waschen, aber es ist Bewegung, eine Spur von Freisein im Kerker.
In der dritten Strafklasse ist Radioerlaubnis. Man bekommt einen Kopfhörer, den man neben dem Bett in Buchsen steckt. Die Anlage wird täglich von 17 bis 21 Uhr eingeschaltet.
Der Stockchef hat wenig Interesse an den täglichen Vorgängen. Hin und wieder drückt er mir eine leere Weinflasche in die Hand. »Auswaschen«, sagt er. Er war im Krieg Seemann, die Gefangenen nennen ihn Rudi. Er nimmt niemandem etwas weg, er sekkiert keinen. Er trinkt.
»Mia gengan Brotausgebn … host gheat«, sagt er stotternd zu mir. Er geht voraus, sperrt die Zellen auf. Ich gehe hinterdrein und lege die Brotrationen in die Zellen. Dann sehe ich ihn nicht mehr. Einige Zellen weiter liegt er auf dem Boden. Er ist stockbesoffen. Ich helfe ihm auf. Er stützt sich auf mich bis zum Dienstzimmer. Im Sessel hinter dem Schreibtisch schläft er ein. Der Schlüsselbund liegt am Tisch. Im Kasten liegt die Pistole. Leise schließe ich die Tür von außen. Das restliche Brot gebe ich beim Mittagessen aus.
Ich habe mir eine Glatze schneiden lassen. Mutter ist entsetzt, als sie mich beim Besuch sieht. Einige Male rasiere ich die Kopfhaut, dann lasse ich die Haare wachsen. Neben mir auf der Zelle liegt Helmut. Er ist Zellenhausschreiber und zuständig für das Austeilen der Krankenkost. Er hat sechs Jahre wegen Heiratsschwindel. Sein Habitus ist typisch. Groß, schlank, mit gepflegtem Bärtchen auf der Oberlippe, dunkle Hornbrille und arrogant. Mich hat er gerne. Er möchte mich mit den verschiedenen Tricks der Heiratsschwindler vertraut machen. »Beginnen darfst du damit erst, wenn du über fünfunddreißig bist. Primär ist es wichtig, seriös zu erscheinen. Im Grunde ist jede Frau für dich Kapital, wenn sie etwas besitzt, und wenn sie ohne allzugroßen Verwandten- oder Bekanntenkreis ist«, Helmut hat Stil. Er zieht es vor, auch im Gefängnis auf die Bügelfalte zu achten und Filterzigaretten zu rauchen. Die Zeitungen nannten ihn ›Lord‹. Er legt Wert auf Distanz und englische Seife. Er verwendet Lanvin und spricht nur mit Auserwählten. Sein Glanzstück war eine deutsche Hotelierswitwe, der Helmut dreihundertfünfzigtausend Mark abnahm.
»Achte auf deine Kleidung. Frauen mögen elegante Männer. Es wäre von Vorteil, wenn du den Slang aus deiner Sprache ausmerzen würdest. Verhalte dich als Kavalier. Es lacht anscheinend jeder heute darüber, aber du wirst sehen, wie gerne Frauen diese Aufmerksamkeiten haben. Sieh über Kleinigkeiten hinweg. Falten und Tausendmarkscheine sind siamesische Zwillinge«, sagt er.
Helmut spricht selbstverständlich lupenreines Hochdeutsch. Manchmal aber, wenn er sich ärgert, ist sein Slang nicht minder ausdrucksvoll.
»Dieser Umgang färbt ab«, sagt Helmut dann und betupft sich die Hände mit Lanvin.
England schlägt Deutschland 4:2 und wird Weltmeister. Ich höre das Geschrei vom Nordflügel. Ich liege in einer Spitalzelle auf West E mit einer Sommergrippe. Man hat mir gute Bücher gegeben. Camus – der Fremde, die kalte, klare Sprache, die Ausweglosigkeit.
Einiges von Hemingway.
Nichts zu rauchen, das Fieber ist gesunken, ein, zwei Tage noch in dem Loch.
Ich bin teilnahmslos, faul. Die dreckigen Eßschalen. Der Beamte, der sich von meinem Tabak Zigaretten dreht, weil er seinem Sohn ein Haus bauen will. Für Zigaretten bleibt ihm kein Geld. Der betrunkene Schreihals mit der Silberplatte am Revers, der sich einen Sport daraus macht, mich andauernd zu filzen. Der glühende Sommer. Der Schwanz hart und bloß zum Pinkeln. Die Eier schwer. Helmut erzählt von seinen Damen.
»… und dann habe ich sie mit kochendheißen Erdäpfeln beworfen, die größten mitten auf die Votze, in diesem Schmerz kam sie dann endlich zum Orgasmus«, sagt er.
Es ist zwei Uhr oder drei Uhr früh. Das Hirn ist aufgepeitscht, hellwach. Irgendwann zerbricht die Glätte der gewählten Sprache, der gepflegten Fingernägel. Stück um Stück bricht in diesen Nächten die Show, blättert die Fassade ab.
»… sie ist weggegangen, einfach weggegangen, aus unserem Haus, ohne den Haufen Kleider, jedes einzelne habe ich ihr ausgesucht. Ohne den Schmuck, jedes Stück habe ich ihr zu einem Anlaß gekauft, für sie habe ich diese ganze Scheiße gemacht, daß sie alles hat, dafür habe ich betrogen, hab’ mit den alten, faltigen, häßlichen Weibern geschlafen, und jetzt hat sie die Kinder genommen und ist mit einem anderen weggegangen, mit einem anderen, verstehst du das, begreifst du das?« stammelt er.
Manche Nächte im Zuchthaus haben hundert Stunden. Diese ist eine davon. Ein hartes, trockenes Schluchzen kommt von seiner Pritsche. Seine Frau war zu Besuch. Sie fährt mit den beiden Kindern nach Südafrika. Mit einem Mann, der immer ›anständig‹ war – der keine vier Jahre Gefängnis vor sich hat. Helmut liebt seine Frau, seine Kinder. Ich glaube ihm. Er zerbricht in diesen Tagen. Sein Gesicht schrumpft, altert erschreckend deutlich. Die Augen flackern, das Bärtchen wird struppig, die Nägel brechen, die Schultern fallen nach vorn.
Ein ohnmächtiger Haß zerfrißt ihn.
»Liebe nie eine Frau, nimm ihnen alles, zerstöre ihre Persönlichkeit, ihre Sicherheit, mach sie dir hörig, isoliere sie, mach sie vollkommen abhängig von dir, dann tritt sie in den Arsch«, sagt er.
Fieberhaft wirft er die Worte in die halbdunkle Zelle.
»Du brauchst sie nie physisch zu quälen. Brich sie auf, mit Zärtlichkeit, mit Verständnis, Mitgefühl … heuchle Liebe und dann nimmst du ihnen die Selbstachtung. Laß sie deine Scheiße fressen, versprich mir das!« sagt er.
Nächtelang beschwört er mich. Tagsüber reden wir nur das Nötigste. Seine Hände zittern. Er starrt Stunden ins Leere, durch Wände und Zeiträume.
»Wähle deine Opfer sorgfältig. Beginne mit den Schwächsten. Nimm Körperbehinderte, oder ganz junge Mädchen«, sagt er und ist wie irre in dem Gedanken, daß ich seinen Haß vollstrecken werde.
Nächtelang höre ich zu, brauche nie etwas zu sagen. Als liefe ein besprochenes Band ab – voll ohnmächtiger Wut und Geifer wider alles Weibliche. Die Tage dazwischen sind kurze, heiße Entfernungen zwischen den Nächten.
Einer hängt am Fensterbalken. Das Gesicht blau, gedunsen. Er ist tot. Eine verquollene Fratze mit dicker Zunge und klebriger Scheiße an den nackten Beinen. Seine Strafzeit: zwanzig Jahre; dreizehn hatte er durchgehalten, jetzt klappte es nicht mehr. Der tägliche Kampf gegen Demütigung und Einengung. Er wollte nicht mehr.
Schurl, der kleine, weißhaarige Lebenslange mit den flatternden Händen, den riesigen, ewig erstaunten Augen und dem wöchentlichen Fasttag und hartem Lager kommt gegen Abend gelaufen. »Kann ich mehr vom Grießkoch haben«, ruft er schon von weitem. Der Beamte bei der Essenausgabe jagt ihn weg. So haben sie alle ihre kleinen Wünsche. Die mit den kurzen oder langen Strafen und die Lebenslänglichen – harmlose Wünsche.
Schurl, der den Grießbrei liebt und der seit neun Jahren Säcke klebt. Gufler, der Max, der Krebs hat, sich das Rauchen abgewöhnt hat, weil es ungesund ist, und der Spinat liebt, weil er gesund ist.
Vinzenz, der Alte, ist topfenstrudelsüchtig, und Franz, das Hausgespenst, der für seinen Ginkers kiloweise Obst, Zucker und Hefe braucht. Sie bestellen beim Hausarbeiter Fisch und Kalbfleisch von der Krankenkost, Rollmops und Mehlspeisen mit leiser, verschwörerischer Stimme und schnellen, wachsamen Blicken.
»Ich bringe dir einen Topf voll«, ruft Helmut über zwei Etagen zu Schurl, der sich auf Nord 2, dem Lebenslangenstock, über das Geländer beugt. Der Wachinspektor, der die Essenausgabe überwacht, verzieht das Gesicht.
»Bleibt denn etwas über«, fragt er den Küchengefangenen, der das Essen ausgibt.
»Es bleibt genug«, sage ich. Oft läßt dieses Schwein die Kessel mit dem übriggebliebenen Essen in die Küche zurücktragen – besonders bei Knödel und Powidltascherln. Diesmal nickt er gnädig.
Das Essen in der Strafanstalt ist gut. Viel besser als der Schweinefraß in der Karlau. Die Portionen sind aber klein. Satt essen können sich nur die an der Quelle. Dort gibt es auch Leckerbissen zu organisieren.
Wenn Paul, der Fleischhauer, Schweine schlachtet, kommt es zu sonderbaren Disputen mit dem aufsichtsführenden Beamten. Dieser geht natürlich einmal auf einen Schluck, oder pissen, oder dreht sich bloß mal um.
»Wo ist die Leba von dera Sau«, schreit er und starrt grimmig in das Innere des teilweise zerlegten Schweines.
»Des waß i net«, Paul hebt die Schultern. Seine Gebärde drückt absolutes Unwissen aus. Er schaut sich zu seinem Helfer um.
»An Augenblick net hinschaun und scho is was gstoin … oiso wo ist de Leba«, brüllt der Beamte nun beide an.
»I … waß a net … oba vielleicht hots goar kane gehobt … des sois jo gebn … hob i ghert«, stottert der Helfer. Dem Beamten verschlägt es die Sprache. Jedoch nur für einen Augenblick. Dann brüllt er los,
»du Volltrottel, du blöder, wüllst du mi eigentlich füa teppat vakaufn … entweda taucht de Leba auf oda es gehts olle zwa Sacklpickn.«
Mit rotem Kopf schießt er in dem kleinen Betonviereck auf und ab, in dem geschlachtet wird. Die beiden Gefangenen sehen einander tief an … Vielleicht taucht die Leber auf, dann verschwindet das Herz, die Nieren, der Kopf, dann die Stelzen. Die Beamten brüllen sich heiser, drohen und suchen, finden nicht das geringste. Die Gefangenen wissen von nichts …
»Heast, i muaß den blondn Buam hobn … wos valaungst«, sagt er Samstag vormittag beim Einrücken nach dem Spaziergang zu mir. Er – das ist Erwin, vierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren in Haft. Er hat lebenslänglich wegen Doppelmordes. Er möchte unbedingt einen der jungen Gefangenen ficken. Dieser liegt auf Nord 3. Unerreichbar für Erwin. Ich soll das managen. Er weiß, ich kenne den Jungen gut. »Eine Stange Zigaretten«, sagt er. Seine Hände umklammern das Geländer. Erwin ist blaß, hefenfarbig, wie ein Sack graues Mehl.
»Zwei«, sage ich. »Zwei, gut«, sagt er.
»Zwei Stangen, und schick deinen Zweiten morgen in die Messe. Um halb neun bringe ich dir den Jungen, dann hol’ ich mir auch die Zigaretten«, sage ich. Er geht murrend, aber zufrieden. Hinter diesem Jungen läuft er jetzt seit drei Monaten vergeblich her. Ich habe keine Ahnung, was er ihm schon alles geboten hat, aber an diesen Jungen kommt er nur über mich heran.
Der Junge kam vor sechs Monaten in die Anstalt. Zwanzig Jahre alt, glatt, mit rundem Hintern und fliehendem Blick. Ich holte ihn mir ein paarmal zum Helfen und beobachtete ihn. Dann ließ ich mir einen ablutschen. Er wehrte sich nur kurz. Nach zwei Ohrfeigen begann er zu weinen und zu saugen. Ich schickte ihn dann zu Leo. Der brachte ihm das Blasen anständig bei. Um ihn als erster ficken zu können, bezahlte Walter, der Kirchendiener, an einem Donnerstag zu Mittag zwei schön blanke Hunderter. Jeder achtzehn Pakete Tabak zum Tageskurs. Walter hat zehn Jahre und einen kleinen Schwanz. Er hat den engen, straffen Knabenhintern nicht verletzt. Der Junge hatte zwar ein bißchen geweint, aber inzwischen hat er sich daran gewöhnt, daß ich ihn manchmal vermiete.
Am nächsten Tag sage ich zum Hausarbeiter von Nord 3: »Der Klane von 13 bleibt auf da Zölln.« Der nickt.
Ich warte, bis die Leute zum Kirchgang aus den Zellen geholt werden. Vorsichtig schleiche ich die Treppen hoch. Vor der Zelle hole ich meinen Sperrhaken aus der Hosenschlitzleiste. Nicht den kleinen für die Speiseklappen, der steckt in den Schuhen, sondern den großen für das Türschloß. Leise schnappt die Türe auf. Der Junge sitzt am Bett. Er ist nicht angezogen, hat nur Hemd und Unterhose an. Vielleicht glaubt er, ich möchte ihn ficken. Vor einigen Tagen hat mir einer seiner Kunden so etwas angedeutet.
»Los, zieh dich an«, sage ich. Blitzschnell ist der Junge in Hose und Hausschuhen. Ich ziehe ihn mit mir auf die untere Etage.
»Bevor die Messe aus ist, hole ich dich, klar«, sage ich. Unhörbar öffne ich die Zellentüre des Lebenslangen und schiebe den Jungen durch den Spalt. Erwin hat die Zigaretten bereits gerichtet. Er drückt sie mir in die Hand. Ich stecke sie mir ins Hemd und schließe die Türe.
Nach einer dreiviertel Stunde gehe ich zur Zelle und schaue durch das Guckloch. Erwin schiebt eine endlose Nummer. Ich höre ihn keuchen.
»Heast, spritz … die Meß is aus«, sage ich durch den Türspalt. Erwin spritzt, grunzend und geräuschvoll.
»Den Arsch kannst du dir oben waschen, leg dir ein Taschentuch in die Unterhose, daß der Dreck nicht durchrinnt«, sage ich zu dem Jungen. Die Augen auf jeder Seite des Ganges, bringe ich den Jungen zu seiner Zelle. »Zigaretten kriegst du später«, sage ich und öffne ihm die Türe. Mit sanftem Schnappen fällt sie hinter ihm ins Schloß. Dem Hausarbeiter gebe ich vier Schachteln Zigaretten, »die gibst du ihm zu Mittag«, sage ich.
»Mach ich«, sagt er und steckt die Päckchen in die Jacke.
Einige Tage später habe ich mit einem anderen Hausarbeiter Streit. Um eine Arbeit, die er machen sollte und nicht getan hat. Mich zieht man dafür zur Verantwortung. Er ist ein rundwüchsiger Schwachkopf, der sich etwas darauf einbildet, früher geboxt zu haben.
Er steht auf der Etage über mir und schimpft in den kräftigsten Tönen. Einige hören zu.
»Läßt du dir das gefallen« fragt mich Helmut, »von diesem Breitschädel mit Dreckfüllung?«
Ich sehe mich um. Den Disput hören bereits zu viele. »Los, komm runter«, rufe ich zu ihm hinauf. Er kommt. In dem Augenblick taucht am Geländer das Gesicht eines Wachinspektors auf. Ich muß reagieren, obwohl ich weiß, wie das ausgehen kann. Der andere schlägt sofort zu. Ich kann den Kopf zur Seite nehmen. Dann treffe ich ihn. Voll. Mitten auf den breiten Mund. Er taumelt zurück. Fängt sich. Ich schlage nach. Plötzlich strömt über sein Gesicht Blut. Er verreibt es mit der Hand. Zuerst sehe ich nicht, wo der rote Schwall herkommt. Dann dreht er sich gegen das Licht, Helmut stützt ihn. Von der Nase bis zum Kinn sind die Lippen in schnurgerader Linie bis auf die Zähne geplatzt. Dann sind Beamte da und der Wachinspektor.
»Das war ein Messer«, sagt er und, »genau durchsuchen.« Zwei Beamte führen mich in das Dienstzimmer auf Nord ebenerdig. Ich muß meine Kleider ausziehen und auf die andere Seite des Raumes gehen. Sorgfältig filzen sie. Sie finden kein Messer. Damit ist Helmut blitzschnell verschwunden. Dann werde ich in die Korrektion in eine Einzelzelle gebracht. Das heißt – Ablösung als Hausarbeiter und Zuweisung irgendeiner Scheißarbeit.
Ich gehe lange in der Zelle auf und ab … Scheiße, Scheiße, Scheiße … das ist wohl alles, was ich denke.
Tags darauf stehe ich bei dem öligen Major. Strafrapport.
»Die Hausstrafe wird ausgesetzt, bis das Gerichtsurteil ergangen ist. Ihr Kontrahent liegt im Anstaltsspital. Der Arzt ist der Meinung, daß Sie ihm die Verletzung mit einem Messer zugefügt haben, stimmt das …«, sagt er.
»Nein«, sage ich.
»Sie sind als Hausarbeiter abgelöst und kommen in die Kuverterzeugung«, sagt er mit einem Seitenblick auf den stummen Wachinspektor neben dem Schreibtisch. Dieser nickt. Ich kann gehen.
Also Säcke kleben. Ich werde auf Ost ebenerdig 9 verlegt. Eine Sechsmannzelle. Zwei Schwule, Sigi und Alfred, sind das Pärchen in der Zelle. Sie lieben sich sehr und knutschen ständig herum. In der Nacht kriechen sie gegenseitig unter ihre Decken. Es ist nicht feststellbar, wer das Weibchen oder das Männchen ist. Vermutlich sind beide beides. Ein älterer Gefangener mit faltigem Gesicht und dummem Lächeln liegt neben mir. Er hat zwanzig Jahre wegen Mordes, und als ich ihn frage, welcher, sagt er, »heimtückischer«, und liest weiter in dem Witzblatt, das Walter, der Einbrecher im Bett gegenüber, zu Mittag gebracht hat. Er heißt Siegel.
»Sein Buam hot a auns Bett aunbundn und hot eahm vahungan lossn. Daß eahm dabei net fad is, hot ear und sei Oide mit Kabeln und Zigarettn a bißl nochgholfn«, sagt Walter und beugt sich zu mir herüber, und »jedesmoi waun eahm aunschau, kennt i eahm ane in die Goschn haun.« Das sechste Bett ist leer.
In der Arbeitszelle zeigt mir ein Gefangener, wie ich die Säcke kleben soll. Er erklärt und falzt und zählt und klebt. Dann sieht er, daß ich weder zuhöre noch hinschaue.
»Jo, oba du muaßt des mochn, sunst krieagst am Obend ka Zubuß«, sagt er und schaut mich mit blindgearbeiteten Augen an. Er hat achtzehn Jahre, sitzt davon bereits vierzehn. Als man ihn einsperrte, war ich acht Jahre alt.
»Schon gut, aber ich scheiß’ auf die Zubuße«, sage ich.
»Daun schreibt da Chef a Mödung wegn Oarbeitsvaweigarung und du gehst in Tiafling«, sagt er erstaunt. Er hat immer gearbeitet. Abends nimmt er sich Säcke mit auf die Schlafzelle. Er arbeitet Samstag und Sonntag. Vor fünf Jahren hat er das letzte Buch gelesen. Er verdient etwa zweihundertfünfzig Schilling im Monat. Um hundertfünfzig kann er einkaufen. Sein Rücken ist krumm. Sein Magen ist kaputt, er kotzt häufig Blut. Die Augen sind leer. Seichte, gleichfarbige Gruben. Seine Bewegungen, schleichend und leise, erschöpfen sich im Notwendigen für Hofgang und Arbeit. Er ist eine wandelnde Leiche. Zum Arzt geht er nicht. Er hat Angst. Er möchte seine Entlassung erleben. »Nua ohne Auffoin üba die Rundn kumma. Ins Spitoi geh i net. Bei mia woa ana auf da Zön, der is z’Mittog ins Spitoi kumma, und auf d’Nacht hot a de Potschn aufdraht; na, na, bis zum Hamgeh dapock i des scho no«, sagt er. In seinem Gesicht stapelt sich Pore an Pore zu einem verzerrten Lächeln. Augenblicke später ist er wieder über die Arbeit gebeugt.
Abends quillt die Scheiße in mich. Gegen die Gitter gewandt,
stehe ich am Fenster. Die Zeit ist ein sattes Schwein. Eine müde Spinne. Die Landschaft zum Berg hin verfällt in schmutzigem Gelb und Grau. Hinter mir kichern die Schwulen. Walter liest. Siegel hockt in der Ecke. Ein dümmliches Grinsen um die wulstigen Lippen. Ich lege die Hände an die Augen. Später flüchte ich in ein Kartenspiel.
Matt, müde, klebrig der Morgen im gelbweißen Glühlicht der Vierzig-Watt-Birne. Helles Spüllicht zum Frühstück. Leere Gesichter am Tisch, auch die Schwulen schweigen.
Breiige Dämmerung in der Arbeitszelle. Das hohle Gesicht des Alten. Säcke, Staub und Leim.
An einem Nachmittag kommt der Untersuchungsrichter in die Anstalt. »Sie haben den Gefangenen N. mit einem Messer verletzt«, sagt er. Ein rundes, wichtiges Gesicht, laute Stimme, gepunktete Krawatte. Ein Mädchen sitzt an der Schreibmaschine. Einen Meter von mir. Schmales, braunes Gesicht, helle Augen. Sie sieht auf das Blatt Papier in der Schreibmaschine. Ein sandfarbenes Kleid, runde Brüste. Vielleicht ist sie schön. Ich weiß es nicht mehr. Ihre Hände, sie sollten mich berühren, nur berühren, nicht mehr. Scheiße, über den Tisch möchte ich sie legen und ihr die Gurke bis zum Magen hochstecken.
»Nein, ich hatte kein Messer. Es war eine alltägliche Auseinandersetzung«, sage ich. Er diktiert. Ob sie schöne Beine hat? Wäre egal, aber ich möchte es wissen.
»Haben Sie schlanke Beine?« frage ich sie. Erstaunt sieht sie zu mir.
»Werden Sie nicht frech«, bläht sich das Richterlein. Er fragt. Ich schaue auf das Mädchen.
»Ich erwarte, daß Sie ab morgen Arbeit abgeben«, sagt der Betriebschef einige Tage später. Er hat einen dicken Schweinskopf. Mit Petersilie garniert wäre er in jeder Metzgereiauslage ein Verkaufsschlager. »Ich bin für diese Arbeit zu ungeschickt. Ich kann es nicht«, sage ich. »Sie haben lange genug Zeit gehabt, es zu lernen, wenn Sie morgen nichts abgeben, schreibe ich eine Meldung wegen Arbeitsverweigerung«, sagt er und wirft die Türe zu.
Beim Hofgang sagt Vickerl zu mir, »waunds’s wüst, gib i da zehntausend. Mei Klana oabeit uandlich. Sei net so deppat, dea gibt da viazehn Tog.«
»Na, daunk da«, sage ich. Ich will einfach nicht mehr. Ich will diesem fetten Arschgesicht keine hundert, keine tausend – ich will ihm nicht einen fertigen Sack geben. Versteht ihr, ich will nicht! Natürlich schreibt er eine Meldung. Tagsüber liege ich am Tisch in der Arbeitszelle und schlafe.
Am anderen Morgen Rapport beim breitarschigen Major.
»Mir wurde hier eine Meldung vorgelegt, die besagt, daß Sie die Ihnen zugeteilte Arbeit verweigern, stimmt das?« fragt er und fuchtelt mit einem Wisch in meine Richtung.
»Ich habe bereits am zweiten Tag gesagt, daß ich für diese Kleberei zu ungeschickt bin. Und habe um eine andere Arbeit ersucht, die habe ich bis heute nicht bekommen«, sage ich. Der Betriebschef hinter mir schnauft aus seinem Rüsselgesicht.
»Das stimmt nicht, Herr Major. Er hat nie etwas dergleichen gesagt.« Wozu rede ich hier herum?
»Er«, ich wende mich zum Betriebschef, »hat beschlossen, mich in die Korrektion zu bringen«, sage ich, »und Sie werden ihn dabei unterstützen.« Also, was soll das Theater? Der Major wetzt auf seinem dicken Hintern.
»Ich verbitte mir derartige Unterstellungen. Aber Ihr Benehmen zeigt deutlich, daß keine Verständigung möglich ist. Ich bin sicher, Sie haben die Arbeit verweigert. Ich bestrafe Sie mit zehn Tagen Einzelhaft, zwei Fasttagen und zwei harten Lagern. Binnen acht Tagen können Sie dagegen beim Anstaltsleiter Beschwerde einlegen«, sagt er. Ich drehe mich um und gehe. Beim Anstaltsleiter, ich bin seit einem und einem halben Jahr in der Anstalt, den Direktor habe ich noch nie gesehen. Ich werde mich nicht beschweren und den Gottöbersten nicht kennenlernen. Ich bin nicht neugierig, mir reichen die Subalternen. Ich fülle mir den Arsch wieder mit einer Tabak-, Papier- und Streichholzladung, dann packe ich meinen Binkel und marschiere in den Arrest.
Arsch- und sonstige Beschau, die dreckigen Klamotten und ab in den Bunker. Arrest im Kerker. Versperrung in der Einengung. Absolute Reduktion von Freiheit, Bewegung und Atemluft. Einen Meter vor der Türe durchläuft eine massive Gitterwand die Zelle. Einrichtung, ein Abtritt und ein mit Metallbändern gesicherter Wasserhahn – aus.
Der erste Tag. Zweiunddreißigtausend Schritte. Essen im Stehen. Um vier Uhr Pritsche, Strohsack und Leintücher. Das Fenster in zwei Meter Höhe, klein, zwei Gitter, verdunkelte Scheiben. Abends eine Birne, vergittert, außerhalb des Käfigs, wirft hundert winzige bis breitgezogene Karos, die Gitterschatten, gegen die Wand. Automatisches Bewegen der Beine, der Füße über den glatten, kalten Boden. Nachts, eingerollt gegen die Wand, kralle ich die Hände ineinander. Die Beine sind gefühllos, ein dumpfer Block lastet im Gehirn. Vorsichtig drehe ich unter der Decke eine Zigarette, rauche. Das Auge am Guckloch, böse, wachsam, dann schlafe ich ein.
Der zweite Tag, Fasttag. Vierhundert Gramm Brot. Wasser. Schritte. Ich gehe, ohne zu zählen. Die Stunden zögern im endlosen Drall. Dann stehe ich am Gitter, die Hände um die kalten Stangen. Warte, warte. Bilder fallen ein, alte, vertraute. Ich gleite in Geschichten. Sinnlos erhoffe ich, daß etwas geschieht, dann wieder dumpfes, introvertiertes Warten. Irgendwann die Pritsche, die Decken – hartes Lager. Ich falte zwei Decken dreifach, die dritte ist zum Zudecken. Verstohlenes Rauchen. Weiter abwärts geht es nicht mehr. Das ist die niedrigste Lebensform, zu der sie einen Menschen zwingen können. Sie sperren dich in einen Käfig und spekulieren mit der Angst. Bei vielen liegen sie richtig, die grünen Hunde und ihre Auftraggeber. Ihr, da draußen, vorm Fernseher, im Kino, im Theater, der Oper, der Fabrik, im Parlament und in der Straßenbahn. Im Park, in den Restaurants und auf den Universitäten. Strafen, bestrafen. Was habt ihr außerdem zu bieten? Nichts, dann hört mal zu.
Sie liegen in den Zellen, nebeneinander auf den Strohsäcken und Pritschen, übereinander in den Stockbetten. Sie kennen alles vom anderen, jede noch so unwichtige Episode haben sie hundertmal gehört. Sie kennen sein Auto, seine Wohnung, seine Ausflüge und Reisen, seine Bekannten und seine Frau. Sie wissen, wie er sich kleidet, was er ißt und trinkt und wovon er träumt. Sie kennen seine Krankheiten, seine Ängste und sein Bankkonto. Sie wissen alles über seine Zähne, seinen Glauben und seine Verdauung. Jede Nummer, die er irgendwann, irgendwo geschoben hat, und jeden Furz, den er gelassen hat. Von der Geburt bis zum Gestern. Es gibt kein Ausweichen und zwischendurch der natürliche Drang. Sie leben im Wohnklosett, in der Scheißhausexistenz, bis sie einander nicht mehr riechen, nicht mehr sehen, nicht mehr hören können. Sie kippen aus den Pantinen, malen zarte Rosen auf die Briefe, die sie an ihre Frauen, Mütter, Kinder schicken. Sie rauchen den miesesten Tabak und arbeiten sich um einen Schilling in der Stunde den Rücken krumm. Sie hocken in Zellen, die dem Tierschutzgesetz hohnsprechen, lassen sich täglich viermal filzen, anbrüllen und demütigen. Sie gehen vor die Hunde. Einer nach dem anderen. Infantilität kommt zum Vorschein, als Mittel zum Zweck, dahinter, alles lähmend, lauert die Angst. Alle Ängste sind da. Die üblichen und die großen, die nicht zu nennenden. Die, mit sich allein zu sein, allein. An ihr scheitern sie, zerbrechen sie. Sie kommt unmerklich. Ins Alltägliche. Schleicht langsam in die Nächte. Ins Warten. Ins Hoffen. Sie ist unbestimmt. Nicht festzunageln, nicht einzukreisen, nicht zu ertragen, nicht mit Vernunft und kühler Logik, nicht mit Schmäh und Aggressivität. Sie bleibt und ist wirksam und zäh. Sie zermürbt, höhlt aus, unterminiert, zerstört.
Sie frißt die Haut von den Händen, den Füßen. Frißt die Iris, das Trommelfell, bricht in die Achselhöhlen, die Eier und die Nieren, drückt auf die Gedärme, das Großhirn und die Blase, krampft in Muskelfasern, lähmt Nervenbahnen und Gehirnwindungen. Verstopft Poren, Drüsen und Arterien, schwächt den Kreislauf, blockiert die Atmung, tötet die Spermen.
Der Schweiß, die lastende Zeit, das Schnarchen des anderen im Nebenbett. Das Furzen und Husten, die knarrende Pritsche, die Gitterkreuze vom Scheinwerfer grell an die Wand geworfen, die Gedanken an die kalte Schwärze gepreßt.
Es gibt Möglichkeiten zu entkommen. Sie vergiften sich mit Schlafmitteln. Sie hängen sich auf. Sie zerschneiden sich die Arme, den Hals und den Bauch. Sie schlucken Draht und Blei, Rasiermesser und Nägel. Sie stecken sich dutzende Nadeln in die Haut und spritzen Benzin in die Lungen.
Sie ziehen einen Zwirn durch die Scheiße und nähen sich einen Knopf ans Knie. Sie brechen sich die Knochen und laufen gegen die Wände. Dann hocken sie in Zwangsjacken und Beruhigungszellen, liegen in Gitterbetten und auf Operationstischen. Mit leeren Augen schreien sie stumm von ihrer Angst, ihrer Einsamkeit und ihrem Versagen. Sie bleiben allein und wissen es. Sie kennt man, ihr Versagen ist offensichtlich und unappetitlich. Unbrauchbare Psychopathen. Strandgut aus dem Zuchthaus.
Die anderen? Sie machen ihre Strafzeit ruhig und ohne Komplikation für das Personal. Sie, sie kommen wieder. Sie sitzen ruhig in ihren Zellen. Schweigen und warten. Warten auf Post, das Aufsperren, den anderen, bestimmten da draußen. Warten, dahinleben, weil irgendwann die Entlassung folgt, die zeitliche Fixation. Das Ziel, abstraktes Irgendwann, konkret nur das Datum.
Dann gehen sie. Vom falschen Platz, mit falschen Hoffnungen, in keine Zukunft. Von zehn kommen acht wieder.
Ihr da draußen brecht sie in Stücke und seid unangenehm überrascht, wenn die Trümmer vor euch liegen. Ihr wißt nichts von den Randgebieten, in denen wir leben. Ihr wißt es nicht, und es interessiert euch nicht, noch nicht.
Ich fühle mich klebrig, dreckig und stinkend.
Der dritte Tag. Die laue, schwarzfarbene Brühe, das Gitter klirrt ins Schloß. Ich bin allein. Ein Augenblick hockt hinter dem nächsten. Stille, Lautlosigkeit. Stinkendes, nicht Vorhandenes. Eine Zeit, eine Langeweile über die Stunden. Der Tag stirbt. Lautlos bewegt sich der Spion an der Tür. Ein Auge glotzt, verschwindet. Es ist zehn oder zwei Uhr. Ich stehe, denke, erinnere. Quäle mich durch unzählige Warum, sehe nur mein Leid, meinen Kerker. Krabbelnde Bürsten. Millionen spitze, winzige Haken in und unter der Haut. Der Dreck, die Nervosität juckt, peinigt. Sonst ist nichts, geschieht nichts. Ein Husten, ein dumpfer Laut, dann ein Seufzen. Schritte und Klammern an den Stäben. Ich lebe kaum, ohne Sinn, ohne Empfindung. Nur Lauschen ist da, das Harren in Stille, in warmer Leblosigkeit. Eine Stunde atmen, ein Schluck aus der Wasserleitung, eine weitere Stunde atmen ohne Müdigkeit. Der Geist liegt tief im Schacht des Körpers. Regloses Spüren zur Leuchte, unsichtbar hinter dem dreckverklebten Fenster. Kein Hall, nichts. Flach an das Eisen gepreßt, die Hände verschränkt. Es ist kalt. Die Hände sind naßkalt. Ein Flugzeug dröhnt außerhalb. Der Ton verfällt. Noch, und schon nicht mehr hörbar. Kein Geräusch, nichts, eine Stunde ist vergangen. Wieder das Auge im Loch in der Türe. Zurück zu den Erinnerungen, stochern im Emotionsschorf. Schmerz und Freude sind ununterscheidbar. Ich krieche in die selbstgezimmerte Höhle, den Ego-Bunker. Meine Lider senken sich, ich spüre den schwachen Schweißfilm unter den Achseln, den Atem, die Herzschläge; bin in der bewachten Einsamkeit, der letzten Zuflucht. Alle sind sie draußen. Fertige Gedanken und Fantasien laufen über den Bildschirm hinter der Stirn in eigener unfehlbarer Regie. Bloß Zeit wegschaffen, wie ist egal. Nachts schweigt die Kritik, der Traum regiert, passiv befreiend. Muskeln lockern sich, der Bauch wird weich, die Seele schläft.
Im Tageslicht aber fettet die Haut, jede Aktivität schwindet, dann verdorrt die Fantasie.
Eine Sirene heult. Dissonanz zwischen Steinen und Gängen und Gittern und Posten mit Gewehren und Pistolen.
Lautloses Sickern in das Nächstwerdende. Violette Streifen am Unterrand meiner Lider. Gelbes Licht und Tageslicht und roter Schatten des durchbluteten Lides. Ein violetter Schein, eine zerfranste Farbleiste als Gedankencolor. Farbe aus der Farblosigkeit der Umgebung. Leere Flächen zerfließen zu dunklen Landschaften. Veränderung des Bewußtseins durch Nichtgeschehen. Braune, stumpfe Ölfarbe an den Wänden, meine Fingernägel sind abgebissen, der Gestank des Atems klebt wie Plastik am Gaumen. Wieder ein Tag.
Der vierte Tag. Fasttag. Das Brot ist speckig. Ungelenk und steif schiebe ich den Strohsack durch die Öffnung im Gitter. Dann Schlüssel, klirren sperrend. Der Tag kriecht in mich. Gehen und zählen. Mit dem Fingernagel ritze ich Sätze in die Wand. Ich bin gleichgültig, stumpf. Fünf Schritte, Wand – fünf Schritte, Gitter, ein Versuch unter den Füßen, Zeit zu zertreten. Blechschalen fallen am Gang zu Boden. Undeutlich höre ich Stimmen vor der Zelle.
»Es regnet sehr stark«, sagt der Beamte, der Faltige. Ich kenne seine Stimme. Wo regnet es? In einem anderen Leben. Mit Menschen und Regenschirmen und hellem Lachen in warmen Räumen.
Meine Sprache ist vergessen, mein Mund verleimt. Ich habe nichts als das Fleisch auf den Knochen, Bartstoppeln im Gesicht, verdreckte Fetzen am Körper. Mein Gehirn ist zerquetscht. Meine Hände sind schorfige Stümpfe, mein Gehirn ein Klumpen Scheiße,
meine Seele ein Furz. Die Beine sind rastlose, selbständige Automaten.
Der fünfte Tag. Schwarzes, ekliges Wasser, der Kaffee.
In Gedanken schreibe ich einen Brief. An wen? Ich weiß es nicht: Ich bin in der Höhle. Ich lebe in dieser Höhle, atme und warte. Warte auf euch. Nun, nach langer Zeit, weiß ich, daß mein Warten vergeblich ist. Ich sitze im düsteren Licht zwischen den Steinen und schaue gegen die Wände. Manchmal ist Hoffnung in mir, es würde einer von euch zu mir finden. Wenn aber der Tag dann zur Neige geht und niemand an der Schattenlinie zur Oberwelt aufgetaucht ist, wird mir bewußt, daß ich vergessen bin. Der Weg zu mir her ist anstrengend und ermüdend, vielleicht will ihn deshalb niemand gehen. Viele Tage warte ich schon auf einen Laut, eine Bewegung, doch es scheint, dies soll nie geschehen. Ich habe zwar keine Eile, denn ich bin für viele Jahre in die Höhle verbannt, trotzdem würde ich gerne jemanden ansehen oder mit jemandem sprechen. Mein Körper gewöhnt sich nicht an die Lichtlosigkeit, mein Geist kaum an die Einsamkeit. Ich stehe auf einem Fleck im Raum, bewege mich nicht mehr, weil ich auch auf allen anderen Stellen schon lange gestanden habe. Ich versuche an die Zeit zu denken, in der ich noch nicht in der Höhle war, doch die Erinnerung bleibt leer. Belanglose Situationen wiederholen sich in meinem Kopf.
Ich sehe die Muskeln von meinen Knochen schwinden, verliere die Sprache und das Gehör, bleibe weiter im Dämmer, schmecke die faulige Luft um mich, den rauhen Stein. Mein Körper läßt mich nicht spüren, daß ich es bin, der Geist verweht in Unbestimmtheiten.
Bald bin ich nichts mehr, nicht mehr Sehnsucht nach irgend etwas hinter den Felsen, jenseits der Steine – bin ich schon Staub in den Spalten meiner Höhle, grau auf den groben Poren.
Der sechste Tag. Die grelle Klingel gräbt sich in die Schlafwärme. Gestank und Kälte springen ins Bewußtsein.
Kaffee. Ein Kübel Wasser und ein Wischtuch für den Boden. Ich stelle den Kübel wieder auf den Gang zwischen Gitter und Türe. Der Beamte schreit. Ich höre nicht zu. Er schließt ab. Gehen mit steifen Gelenken. Hinsetzen ist sinnlos. Der Boden ist zu kalt. Stille am Gang. Die Lautlosigkeit drückt mich gegen das Metall. Irgendwann Mittag und Topfenhörnchen, wäßrig und kalt. Wasser, dann hocke ich mich auf den Abtritt und scheiße mir den sechstägigen Stau aus den Därmen. Dann gehe ich und denke nichts, und später denke ich dann wieder. Eine Spinne kriecht aus einem Loch in der Mauer, läuft planlos auf und ab. Sie verschwindet unter der Metallplatte vor dem Heizkörper. Liegestützen, Kniebeugen und Keuchen in der verbrauchten Luft.
›Ich liebe Trixi‹ ist unbeholfen unter dem Fenster in die Wand gekratzt und ›Ferdl‹ darunter. Warum nicht? Warum soll er sie hier in dieser modernen Folterkammer nicht lieben, wenn es ihm hilft? Daneben trommelt einer gegen die Tür. Trommelt und trommelt. Lajos.
»Leck mich am Arsch«, sagt der Faltige, wahrscheinlich zu dem Ungarn. Er ist neben mir. Auch auf einer Gitterzelle.
Vor ein paar Wochen, als ich noch Hausarbeiter war, kam er beim Einrücken von der Arbeit zu mir, einen verschmuddelten Briefumschlag in der Hand.
»Do, les der Brief«, sagte er.
»Den Brief«, verbesserte ich automatisch und nahm das zerknitterte Blatt aus dem Umschlag, dann sah ich, daß dieser auf ungarisch geschrieben war.
»Versteh’ ich nicht, Lajos«, sagte ich. Sprudelnd und sich in der fremden Sprache vollkommen verwirrend, erzählte er mir den Inhalt. »Die Hur, zwa Johr bin i jetzt scho do und imma is brav kumma und jetzt hots an aundan, wü nimma wortn. Des klane Kind is drei Johr olt. Wos soll i mochn? Wos? I bin gonz duchananda«, sagte er. Seine Hände schwirrten, die dunklen Augen im breiten Gesicht hetzten. Ich kramte eine der üblichen Zuchthauströstungen aus.
»Genau wie bei mir, Lajos, die Frauen sind eben alle fürn Arsch«, sagte ich lahm. Trubel und Essenausgabe, ein Geschäft mit der Korbflechterei. Ich schob sein Problem zur Seite. Mit hängenden Schultern trabte er auf seine Abteilung. Am Tag darauf hatte er den Betriebschef gebeten, ihn doch einen Tag in der Zelle zu lassen, er sei so nervös und kaputt.
»Sie gehen arbeiten«, sagte der. Lajos weigerte sich. Der Beamte schrieb eine Meldung. Lajos wurde wegen Arbeitsverweigerung bestraft. Er wollte erklären, man hörte ihm nicht zu. Nicht der Major, nicht der Arzt. Sie sperrten ihn in den Keller. Lajos, der kleine, gedrungene Ungar, der von seinen fünf Jahren drei ruhig und arbeitsam heruntergebogen hatte, drehte durch. Er trennte in der Korrektionszelle seinen Strohsack auf. Er baute mit seiner eigenen Scheiße und dem Strohsack eine Hütte, in der er nackt hockte. Der Faltige sperrte am Morgen die Türe auf und kotzte auf den Gang. Dann brüllte er nach dem Hausarbeiter. Der mußte das Gekotzte aufwischen. Mit leerem Magen widerstandsfähiger, holte der Faltige nun aus seinem Dienstzimmer eine dicke Lederpeitsche – einen Ochsenziemer. Dann öffnete er die Tür zur Zelle erneut – die Peitsche hielt er auf dem Rücken.
»Lajos, komm heraus, wir gehen zum Arzt.« Sichernd, langsam, zuerst auf Händen und Füßen, dann sich aufrichtend, kam der Ungar aus dem Betonbunker. Zwei andere Beamte, üblichen Sicherheitsdienst versehend, eilten vom Kellereingang zum Schauplatz. Der Faltige warf die Türe hinter dem Ungarn ins Schloß. Dann pfiff der Ochsenziemer auf den Überraschten. Auf Gesicht und Brust und Rücken und Beine. Die Haut platzte, er fiel zu Boden. Der Beamte schlug, bis ihm ein anderer die Peitsche aus der Hand wand.
»Hör auf, du erschlägst ihn ja«, sagte der.
Sie zerrten den Bewußtlosen hoch und warfen ihn wieder in die Zelle. Sie schlugen ihn wieder und wieder mit den Fäusten ins Gesicht und mit dem schweren Zellenschlüssel auf den Kopf, bis ihm das Blut in die Augen rann und er heulend wie ein Tier in der Ecke kauerte und zitterte, wenn die Türe geöffnet wurde.
Jetzt ist er nicht mehr unruhig. Jetzt ist er verrückt. Stumpfe, teilnahmslose Augen, wirres Reden, eckiger, steifer Gang. Sie schickten ihn ins Irrenhaus, dann holten sie ihn wieder. Wenn er Zeichen von Unruhe zeigt, wie momentan, sperren sie ihn in die Beruhigungszelle, die neben mir.
Das war Lajos. Dann die Pritsche und Karotten, holzig und hart, zum Abendessen. Selbst der Rauch der Gedrehten schmeckt nach Absonderung und Einsamkeit.
Der siebente Tag.
»Sie haben geraucht«, sagt der Beamte, ein verkniffener Jüngling mit Hühnerbrust und Triefaugen, »geben Sie sofort den Tabak und die Streichhölzer her«, giftig und eifrig fuchtelt er vor dem Gitter. Ich stehe mit dem Rücken zu ihm vor der Fensterwand.
»Sie, haben Sie nicht gehört?« schreit er.
»Verschwinde, laß mich in Ruhe«, sage ich friedlich. Er schlagt murrend die Türe hinter sich zu. Zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde später. Der Faltige steht am Gitter, neben ihm ein Wachinspektor, dahinter drängen sich drei Beamte.
»Sei vernünftig, gib den Rauch her«, sagt der Faltige. Er macht auf. »Du weißt ja, das ist Vorschrift, und was können wir dafür.« Warum, ihr grünen Schweine, kommt ihr dann fünf Mann hoch? Ach ja, daß es mir leichter fällt, vernünftiger zu sein.
Ich gebe ihm den Plastiksack mit etwas Tabak, Papier und Streichhölzern.
»Ist das wirklich ollas«, fragt er mißtrauisch.
Sie sind fünf und gut genährt und im Recht, sind geachtete Bürger und akzeptierte Mitmenschen.
»Ja, das ist alles«, sage ich müde. Ein unmerkliches Nicken des Dienstführenden. Die Türe wird versperrt. Der Schweiß läuft mir in Bächen aus den Achseln. Ich schließe die Augen.
Reis und Tomatensauce und ein Stück Burenwurst zu Mittag. Der Reis klebt eklig am Löffel. Nachmittag kommt der Betriebsschreiber mit einem Beamten – Einkauf aufschreiben.
»Sie sind in die zweite Strafklasse zurückversetzt«, sagt der.
Also, Arbeitsverdienst habe ich keinen; Eigengeldbewilligung auch nicht. So kann ich nur Toilettenartikel notieren. Seife und Zahnpaste usw.
»Ruhig da herunten«, lacht der Beamte.
»Ja, sehr«, sage ich. Sie gehen. Ob Mutter diesmal umsonst gekommen ist? Gestern wäre mein Besuchstermin gewesen.
Dann schütte ich mir den Tabak aus den Socken und ziehe die Streichhölzer aus den Schlapfen und lege alles zwischen Blätter des Klopapiers. Sie kommen.
»Gemma, eini den Dreck. Schnö, i wü hamgeh«, sagt der Faltige. Onanieren, verzweifeltes Festhalten von Fantasiefetzen …
Der achte Tag.
Der neunte Tag.
Der zehnte Tag.
»Sie kommen wieder auf Ihre Zelle zurück«, sagt der Faltige förmlich.
Tief ziehe ich den Rauch in die Lungen, hocke auf meinem Packen. Die Wände und Heizungsrohre schwanken unmerklich. Rasieren, waschen – ich reibe die Haut brennend. Dann ab in die Arbeitszelle, niemand hat etwas von Arbeitswechsel gesagt.
»Jetzt werden Sie hoffentlich anständig arbeiten«, sagt das Rüsselgesicht jovial und läßt einen Packen Säcke für mich auf den Tisch legen.
»Ich habe Ihnen doch oft schon gesagt, ich kann das nicht, oder denken Sie, ich habe da unten geklebt«, sage ich.
»In zwei Tagen hole ich mir die fertigen Säcke «, sagt er und geht.
Wenn ich ihm eine in sein Schweinemaul schlage, bekomme ich ein Jahr Haft dazu. Ein Jahr, habe ich so viele Jahre zum Wegwerfen?
Und doch … »I hob da jo gsogt, de schickn di in Tiafling«, sagt der alte Gefangene, nickt befriedigt und wühlt in seinen Säcken; zählen, falzen, kleben.
Ein junger Gefangener sitzt beim Tisch neben der Türe. Er arbeitet tief über die Säcke gebeugt. Manchmal sieht er scheu auf. Er ist neu in der Zelle, war vorher in der Wäscherei, dort habe ich ihn häufig gesehen.
Nachmittag reden wir. Stockend, leise spricht er. Geschlagen haben sie ihn auf der Zelle, gehäkerlt bis aufs Blut. Dann haben sie ihn gefickt, mit Gewalt, wie er beteuert.
»Grod nur a Stickl hot man da Peda einigsteckt, de aundan hom mi ghoitn. Wiari gwant hob, homs ma a poa Watschn gehm«, sagt er. – Wieder einer, zwei Vorstrafen – einen Vierhundert-Schilling-Ratenbetrug und eine Rauferei – für den Paradeerstvollzug nicht mehr geeignet. Hierher paßt er besser. Jetzt will er etwas tun, muß etwas tun. Sich aufschneiden oder aufhängen.
Der Alte raschelt mit dem Papier. Er hat wieder tausend fertig. Nach zwei Tagen. »Ist etwas lieferfertig«, sagt der Beamte, und sein Schweinegesicht läuft rot an, »Sie haben ja wieder nichts gearbeitet«, brüllt er. Die andere, leichtere, besser bezahlte Arbeit kriegen die, die dir in den fetten Arsch kriechen … scharwenzeln und buckeln …
»Kniara« … »Herr Oberkontrolleur hin und Herr Oberkontrolleur her, und sollen wir noch tausend mehr machen …«, …nein, mein Bester … und wenn ich da unten verfaule … ich habe nur mehr acht Monate … und wenn ihr mich einen Monat in den Keller sperrt, müßt ihr mich wieder einen Monat hochlassen … steht im Gesetz, müßt ihr ja besser wissen …
»Morgen stehen Sie beim Rapport«, sagt er und stampft aus der Zelle. »Zwölf Tage Einzelhaft, vier Fasttage, vier harte Lager, wegen Arbeitsverweigerung. Was erwarten Sie sich von Ihrer Sturheit«, sagt der breitarschige Goldene und zeichnet Strichmännchen auf ein Blatt Papier.
»Nichts«, sage ich.
Zwölf Tage warten am Gitter und gehen.
Zweihundertachtundzwanzig Stunden …
gleich viele Unendlichkeiten … und erstarren, atmen, Kälte und … zersplitterte Wörter …
»Werden Sie jetzt arbeiten?« fragt der Faltige und zeigt mir den Belagzettel – Ost E … Kartonage …
Der Binkel liegt mir schwer auf der Schulter, und die Knie sind nachgiebig. Ich steige die Stufen ins Zellenhaus hinauf. Geschrei und Geklapper … Der Zuchthaustag …
Nebelfetzen an der Flanke der Weinberge. Ein dämmeriger, feuchter Novembertag. Die Luft schneidet gegen das Gesicht. Sprechen und Stimmen … gehen wie in einem schalldichten Raum.
»Der mant dich«, sagt einer daneben. Ich hebe den Kopf.
»Wia gehts da … di sieht man übahaupt nimma … bis du olleweu auf da Oim«, schreit Karl aus dem Fenster der Wäscherei. Karl, er hat fünf Jahre wegen Totschlags. Acht Blechtöpfe voll Beuscherl hat er einmal gegessen. Sein riesiger Körper füllt das Holzviereck.
»Brauchst wos?« fragt er. Ich schüttle den Kopf. Ich brauche nichts … und Im-Kreis-Gehen und kalte Hände …
»Sie machen jetzt Kuverts«, sagt der Schweinekopf.
»Nein«, sage ich.
»Beim nächsten Mal kriegen Sie drei Wochen«, sagt er und geht. Er schreibt keine Meldung. Ich sitze oder liege am Arbeitstisch, lese, schlafe.
Ein Bekannter vermittelt mich in die Schuhmacherei. Ich repariere Absätze. Neben mir sitzt Gerhard. Er ist immer fröhlich und gut gelaunt. Er hat zwanzig Jahre, noch sechzehn vor sich. Er trinkt Spiritus … der ist mit Holzapfel versetzt … er zuckert ihn, gibt Kakao dazu und Zucker … dann säuft er die Brühe … wenn er sich keinen Spiritus besorgen kann, säuft er Nitroverdünnung und Politur aus der Tischlerei … er ist eine Frohnatur …
Der Betriebschef ist ruhig und arbeitet selbst mit. Der junge Beamte, der als zweiter Beamter Dienst macht, ist eine Laus. Er nörgelt und stichelt und treibt. Er ist sekkant und laut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich ihm querliege.
»Schneiden Sie die Absätze genauer, das kann man mit dem Schleifen nicht ausgleichen … halten Sie den Schuh so, nicht so … gehen Sie schon wieder rauchen? … Sie waren heute schon dreimal … reden Sie nicht zurück …«, tagelang, zwei Wochen … dann sage ich ihm, daß er mich kann … oft und tief ins Loch … ins Arschloch lecken. »Ich schreibe eine Meldung«, schreit er triumphierend. Der Betriebschef stimmt ihm bei.
»Sie taugen nichts, wo man Sie hingibt, nur Schwierigkeiten«, sagt der Major vorwurfsvoll und, »sieben Tage Einzelhaft, drei Fasttage, drei harte Lager.« Der Faltige begrüßt mich wie einen Verwandten.
»Host wos zum Rauchn mit«, fragt er und kneift ein Auge zu.
»Ja«, sage ich. Er verzichtet auf die Durchsuchung, dann führt er mich wie immer zum Arzt.
»Sie machen wohl eine Abmagerungskur«, sagt der und schreibt mich arresttauglich.
Graue Wände, mit grünlichem Schimmer … braune, dreckige Ölfarbe, zerkratzt, verblichen. Graue Gitter mit schwarzen Schabstellen, mit dunkleren Ringen. Spuren hunderter Hände, eine Assel kriecht aus dem Abtritt, läuft mir um die Füße. Schwarzverbrannte Rinde am Brot, einhundertachtundsechzig genormte Zeitschwellen.
Kälte von den Fensterritzen, von den Wänden, aus dem Boden. Gewohnheit schon … das Vorsichhinwarten … zeitloses Lehnen und Gehen … in das Nichts integriert …
Irgendwann war mein Geburtstag, war ich zweiundzwanzig geworden, wieder ein Jahr verschwunden, als hätte ich siebenhundert, nimm dich zusammen, es sind doch nur mehr lächerliche acht Monate, dann bist du frei. Der letzte Brief von Mutter, vier Seiten Aufmunterung. Sie weiß nichts von diesen unterirdischen Rastplätzen; das hätte nicht in die Briefe gepaßt, und sie würde sich doch bloß ›über meine schlechte Führung‹ aufregen. Dieses Wort ist bei ihr haften geblieben. Bei jedem Besuch betont sie es immer sehr … Mutter … wenn ich aus diesem Loch heraus bin, muß ich ihr sofort einen schönen, runden Adventsbrief schreiben.
Glattes Gleichmaß und keine Wellen im Teich des Bewußtseins. Linke Seite und Rücken und rechte Seite und Bauch … ein nächtlicher Kreisel auf der Suche nach Schlaf und Wärme.
»Ost E, Sacklpickn. Was mochst jetzt«, sagt der Hausarbeiter. Ich nehme meinen Binkel und gehe. Der Schweinegesichtige ignoriert mich. Er gibt mir keine Arbeit.
Tage später habe ich Verhandlung wegen der Rauferei. Ein schmales, junges, penetrantes Richterlein gibt mir vierzehn Tage Arrest wegen leichter Körperverletzung. Vom Messer ist nicht mehr die Rede. Zwei Tage später Rapport.
»Das Strafverfahren ist nun abgeschlossen … wegen Verstoß gegen die Hausordnung, Paragraph so und so bestrafe ich Sie mit vier Fasttagen«, sagt der Major. Aus schwammigem Gesicht sieht er mich nachdenklich an.
»Ich verstehe das nicht. Ich habe Ihren Akt durchgeblättert, Sie sind doch aus einer anständigen Familie, Ihr Vater ist Bankbeamter, ein geachteter Mann, und Ihre Mutter war schon einmal bei mir, soweit ich mich erinnere, eine sehr nette Frau, wie soll denn das mit Ihnen weitergehen?« sagt er und schüttelt mißbilligend den schlaffwangigen Kopf.
… wenn dich das wirklich interessieren würde, du Breitarsch, würdest du mich dann ständig in dieses eisige, dreckige Loch verbannen … du heuchlerische Mißgeburt, du impotenter Schwachkopf … vier Tage, sechzehnhundert Gramm speckiges Schwarzbrot und ›zum Trinken wird Wasser verabreicht‹, heißt die Zeile in der Hausordnung … spiel keinen Seelensanitäter, ich scheiß auf dein schleimiges Gequatsche. Drei Fasttage in der Woche erlaubt das Gesetz, mit einem normalen Tag dazwischen. Also begrüßt mich der Faltige Montag, Mittwoch und Freitag und am Montag darauf.
»Steigen Sie einmal auf die Waage«, sagt der Arzt beim Arresttauglichschreiben. 69 Kilo.
»Für einsneunzig etwas wenig«, sagt er, dann schreibt er etwas auf meine Karte.
»Nach Weihnachten nehme ich Sie ins Spital auf«, sagt er. Ich gehe … in den Arrest … die vier Fasttage machen.
Vater kommt zu Besuch, nach langer Zeit. Tiefe Säcke unter den Augen. Ruhig reden wir eine halbe Stunde. Er hat auch das Paket gebracht.
Beim Abschied habe ich den Eindruck, er ist weicher als früher. Weihnachten – der Tag, ein Name, ein Abend. Für einige ein heiliger, für die meisten ein bedeutungsloser. Ich erlebe ihn wie den Haufen aller Tage. Vielleicht ist die Anhäufung von Gestank und Dreck, von Lärm, Brutalität und Sinnlosigkeit gemildert, die Gesten der anderen Gefangenen vertrauter, die Konturen der Gitter ferner, undeutlicher … oder ist es nur eine Laune meiner Gedanken …
Ich bin versucht, dieser Scheiße andere, neu zu erfindende Namen zu geben … aber dann ist es zu spät, die Decke über dem Kopf, liege ich zur Wand gedreht. Ins Dunkel horchend, fließt Ruhe aus dem Gehirn zu den Fingerspitzen …
Am 27. Dezember packe ich den Binkel, ziehe in das Spital in eine Einzelzelle. Alles blendend weiß, warm. Ich liege auf dem Bett, lese. Das Rauchen wird toleriert. Zwei Tage später holt man mich am späten Abend. Mutter steht blaß im Besuchszimmer. Sie streckt mir die Hand entgegen.
»Vater ist tot«, sagt sie und klammert die Arme um mich.
Vor wenigen Tagen saß er mir da im selben Raum gegenüber.
»Wie ich damals in Rußland gehört habe, daß ich einen Sohn habe … habe ich mir gedacht, ich müßte sein Freund werden, aber wir waren nie Freunde … nie … seltsam wie sehr man sich doch daran klammert, vielleicht habe ich noch Zeit … ich hab’ eine Menge falsch gemacht … du hattest ja nicht einmal einen Vater … manchmal weiß ich nicht, ob mir noch genug Zeit bleibt …«, das sagte er.
Ich war erstaunt, war der Alte einsam, alt, weich geworden, aber seine Stimme war sehr ruhig und seine Augen waren klar und fest gewesen. Er hatte nicht mehr genug Zeit gehabt, hatte den Weg zu mir also doch gehen wollen. Weiß Gott, ich hatte ihn gehaßt, aber da war nichts mehr von dieser Abneigung, etwas ganz Bestimmtes fehlte plötzlich, etwas sehr Wichtiges.
»… er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, aber der Anfall war zu stark, seine Kranzgefäße sind geplatzt, er ist an seinem Blut erstickt, das Nikotin … ich habe es ja immer gesagt«, sagt Mutter. Sie weint leise. Sinnlos streicht ihr Arm über meinen weißblau gestreiften Spitalskittel. »Jetzt habe ich nur noch dich, du mußt immer daran denken, wie sehr ich auf dich warte«, sagt sie.
Durch das nächtliche leere Zuchthaus gehe ich den langen Weg durch das gesamte Zuchthaus. Die Absätze des Beamten an meiner Seite knallen auf den Fliesen. Er ist tot … jetzt ist er tot …
Die Riegel an meiner Zellentüre werden zugeschoben. Ich gehe zum Fenster. Es hat vor wenigen Tagen geschneit. Die Schritte des Nachtpostens knirschen auf der bleichen Fläche. Die Nacht ist klar und kalt. Sterne glimmen, winzige Lichtscherben.
Er ist tot. Ich setze mich auf das Bett, drehe eine Zigarette. Rauchend schaue ich gegen das sterile Weiß der Wand. Die Hände am Gesicht, erwarte ich den Tag.
Auf die Ausführung zum Begräbnis – mit Handschellen und zwei uniformierten Beamten – verzichte ich.
Milch, Eier, Weißbrot, Fleisch, Salate, Zucker und Ruhe, Liegen und Nichtstun, keiner ist da, treibt an, fordert, befiehlt, schreit. Die Mastkur schlägt an. In drei Wochen nehme ich sieben Kilo zu.
»Jetzt haben Sie noch sieben Monate, die schaffen Sie spielend«, sagt der Arzt bei der Entlassung aus dem Spital.
»Ost E 9«, sagt der Beamte beim Überqueren des Hofes.
»Ich möchte aufs Kommando geführt werden«, sage ich zu ihm.
»Des mochns ihna daun mitn Stockchef aus«, sagt er ablehnend.
»Ich möchte am Kommando ersuchen, daß ich auf eine Einzelzelle komme. Auf das Schwulengekuder und das blöde Lachen vom Siegel habe ich kein Bedürfnis«, sage ich. Er ist jung und bestrebt, mir klarzumachen, daß ich, außer auf die mir zugewiesene Zelle zu kommen, gar nichts zu wollen habe. Er geht Richtung Ostflügel. Ich bleibe stehen. »Na los, kommen Sie, ich hab’s eilig«, sagt er und schüttelt den Schlüsselbund.
Ich biege nach rechts ab, gehe die Stiegen zum Keller hinunter. Es ist zwecklos zu reden, sie begreifen nicht …
Der Faltige schüttelt stumm den Kopf. Umziehen, dann sperrt er hinter mir ab. Ich lehne am Gitter, als wäre ich nie fortgewesen. Dann Schlüssel an der Türe. Ein Wachinspektor mit riesigen Ohren und bösen, schmalen Augen, »sind Sie verrückt … Sie ziehen sich jetzt wieder um und gehen auf Ihre Zelle … wenn da jeder in den Keller gehen würde, wie er wollte, wo kämen wir denn da hin«, schreit er.
Wohin? … Ihr würdet aufhören, diese Drecklöcher als ständiges Droh- und Druckmittel zu gebrauchen … wieder ein Quentchen Willkür weniger … ihr müßtet euch vermenschlichen, aber … die Angst … nur dürft ihr das Werk nicht überdrehen … sonst ist es kaputt und funktioniert nicht mehr …
»Ich will auf eine Einzelzelle, und das hier ist eine«, sage ich. Er streicht sich über das Kinn. Er braucht einen Grund, um mich in der Absonderung zu lassen, dann leuchten seine Augen plötzlich auf, Heureka.
»Belagsverweigerung, das ist Belagsverweigerung, das gibt eine Meldung, haben Sie immer noch nicht genug«, fragt er. Ich gebe keine Antwort.
»Drei Tage Einzelhaft«, sagt der Major am anderen Tag. Ich kann gehen.
»Am Belagszettel ist wieder dieselbe Zelle«, sagt der Beamte, der mich drei Tage später holt. Ich greife zu den dreckigen Klamotten. Der Faltige starrt finster auf mich, den Belagszettel, wieder auf mich. Ich gehe wieder in die Gitterzelle.
Dann holt man mich. West E die nächste Station. Einzelhaft. Ein mürrischer, schweigsamer Stockchef durchsucht täglich meine Zelle. Keine Arbeit. Ich liege, lese. Die Sonne ist matt und rötlich, eisig, dämmrig streichen die Tage vorüber. Ich habe nichts zu rauchen, bin isoliert. Wochen vergehen. Besuch. Mutter plant und redet und hat Vaters Tod, glaube ich, noch nicht begriffen. Jedes dritte Wort ist von ihm, was er dazu sagte und … Sie umklammert meine Hände, redet wieder von guter Führung, daß man ihr gesagt hat, daß ich angeblich jemanden verprügelt hätte …
»Kannst du nicht den Mund halten und einfach weggehen«, sagt sie. Doch Mutter, ich könnte weggehen … drei, vielleicht auch vier Meter … und dann, was sollte ich dann tun …
»Ja, das werde ich tun«, sage ich, und sie lächelt. Und dieses verzweifelte mich Aufmunternwollen, tut mir weh. Wie mutig sie doch ist, die kleine Frau.
Jutta schreibt. Ich habe sie vergessen … weiß vieles nicht mehr … in einem grauen Schlamm alter Tage liegt das versunken … lange, lange her.
Eines meiner drei Hemden ist so fadenscheinig, daß ich es nicht mehr anziehen kann. Es würde in Streifen zerfallen. Ich melde es dem Stockchef. »Des homs obsichtlich zrissn«, sagt er. Ich zeige ihm den brüchigen Stoff. Er schüttelt den Kopf.
»Des is Wuarscht, do wird a Mödung gschriebn«, knurrt er. Vier Fasttage gibt mir der Major dafür.
»Geben Sie mir einen Bogen, ich werde mich beschweren«, sage ich zu ihm.
»Meinetwegen«, sagt er achselzuckend.
Vorerst gehe ich einmal in den Keller, um den ersten Fasttag zu machen. Wieder auf West E setze ich mich zum Tisch und schreibe an den Anstaltsleiter.
N. N.
Nr. 12.547 Stein, am … Februar 1967
West E 25
Sehr geehrter Herr Regierungsrat!
Ich wurde am … 1967 wegen Verstoßung gegen Paragraph yy der Hausordnung, böswillige, vorsätzliche Beschädigung von Anstaltseigentum von Herrn Major N. zu 4 (vier) Tagen Fasten bei Wasser und Brot verurteilt. Ich erhebe gegen diese Verurteilung
BESCHWERDE
Begründung: Bei dem inkriminierten Gegenstand handelt es sich um ein Hemd, welches mir mit zwei anderen wechselweise während meines Aufenthaltes in der Anstalt zur Verfügung gestellt ist und mit meiner Wäschenummer 503 gekennzeichnet ist. Am … 1967 erstattete ich bei dem Abteilungsleiter Herrn JWOK N. Meldung, daß besagtes Hemd in einem zerschlissenen Zustand sei und ich, würde ich dieses Hemd anziehen, den Stoff zerreißen würde. Der Stockchef besichtigte das Hemd und befahl mir dieses anzuziehen. Das Hemd zerriß an sechs Stellen. Sowohl der Abteilungsleiter, Herr JWOK N. als auch der Herr Major behaupten nun, ich hätte das Hemd vorsätzlich beschädigt und müsse dafür bestraft werden. Ich ersuche nun
1. um Sicherstellung des inkriminierten Gegenstandes aus der Wäscherei,
2. um Aufhebung der zu Unrecht über mich verhängten Hausarreststrafe von 4 (vier) Fasttagen
Hochachtungsvoll
N. N.
Strafgefangener
Tags darauf begrüßt mich der Faltige strahlend zum zweiten Fasttag. Auch den dritten und vierten Tag bei vierhundert Gramm Brot verbringe ich im Keller. Nach einer Woche holt man mich am Nachmittag.
»Chefrapport«, sagt der Beamte. Ehrfurcht klingt in der Stimme. Ich stehe am Gang neben dem Kommando und warte. Nach einer halben Stunde werde ich durch die gepolsterte Türe geführt.
Zehn Schritte, ein riesiger Schreibtisch, dahinter ein Männchen, ein Stimmchen, Eierkopf, dünne Haare, goldgefaßtes Brillchen, ein Miniaturmensch. Kalte Augen, rosiges Gesichtchen, der Gottöberste ist ein Zwerg, jetzt versteh’ ich, warum unlängst ein Gefangener in die Zellenecke sah und sagte:
»Hearst, schau, durt kriacht wos«, und der andere gab zur Antwort: »Des wiard unsa Direkta sei, paß auf, daß’d net draufsteigst.«
Ein Wachinspektor lehnt hinter dem Thronsessel, mustert mich böse. »Sie beschweren sich also über eine Hausstrafe«, tönt das Stimmchen.
»Ja«, sage ich.
»Ich habe mich über den Vorfall genau unterrichten lassen. Die Strafe wurde zu Recht verhängt«, sagt das Stimmchen.
»Herr Regierungsrat, haben Sie das Hemd gesehen«, sage ich. Ein schlanker Gummibaum spreizt sattgrüne Blattlanzen gegen das Fenster.
»Das Hemd? Sie haben uns nichts als Schwierigkeiten gemacht, wenn ich auf Ihrer Rapportkarte so lese«, säuselt das Stimmchen.
»Sie sollen aber nicht lesen, Herr Direktor, sondern sich das Hemd ansehen, dann würden Sie verstehen, warum ich hier bin, weil hier ein oberfaules Ding gedreht worden ist«, sage ich ihn unterbrechend. Das Männchen ist starr. Es äugt betroffen zu dem Großohrigen hinter sich.
»Werden Sie nicht frech«, brüllt mich der an.
»Machen Sie den Chefrapport?« frage ich weich.
»Also, wenn das Hemd unbedingt notwendig ist, lassen Sie es holen«, sagt das Stimmchen energisch zu dem rotangelaufenen Wachinspektor. Dieser geht.
Der Beamte hinter mir zieht mich an der Jacke aus dem Raum.
»Wir müssen draußen warten«, flüstert er.
Ihr Arschgesichter, den ganzen Tag dröhnt eure Schnauze durch die Gänge, und bei diesem Minimenschen steht ihr bis zu den Knien im eigenen Dreck.
Ich warte auf dem Gang. Zeit vergeht. Uniformierte aus der Verwaltung eilen vorbei, dämpfen vor der Polstertür die Stimme.
Der Wäschereibeamte und der Wachinspektor verschwinden hinter der Polstertüre, dann flammt neben dem Eingang das Leuchtschild auf, ›eintreten‹.
»Das Hemd ist nicht auffindbar«, näselt das Stimmchen.
»Das habe ich mir gedacht«, sage ich.
»Was Sie denken, darauf ist hier niemand neugierig«, schnauzt mich der Stehende an.
»Der Wäschereibeamte hat mir versichert, daß die Beschädigung in einem Ausmaß geschehen ist, die es wahrscheinlich macht …«, genußvoll wälzt sich das Stimmchen über die Worte, »… daß die Beschädigung vorsätzlich geschehen ist, die Strafe wurde daher zu Recht verhängt … a.b.f.ü.h.r.e.n!!!«, kreischt das Stimmchen im Diskant. Der Wäschereibeamte und mein Eskortemensch treten sich beinahe über den Haufen, aber ich bin noch nicht fertig.
»Ich möchte einen Bogen für eine Beschwerde an den Hauskommissär«, sage ich zu dem Zwerg. Der ist jetzt ernstlich böse.
»Hinaus, hinaus mit ihm«, das Stimmchen piepst im Falsett. Ich gehe.
Auf der Zelle schreibe ich einen Bittrapportzettel um einen Bogen DIN A4, zwecks Beschwerde, mit Kuvert.
Dann schicke ich den Bogen, beschrieben, im verklebten Kuvert, an den Hauskommissär. Der ist hauptberuflich Staatsanwalt am Kreisgericht in Krems.
»Diese Beschwerde, die Sie da geschrieben haben, ist eine Bagatellsache«, sagt der händereibend und eilig.
»Für mich ist vier Tage nichts essen absolut keine Bagatellsache«, sage ich. Er reibt weiter die Hände, dann flüstert er mit dem Major, der mir die Strafe gegeben hat.
»Sie können gehen. Sie erhalten schriftlich Bescheid«, sagt er. Vorführung zum Major. Ich krame in meiner Erinnerung, ob ich eine Scheiße gebaut habe – nichts, ich weiß von nichts.
»Die letzten Monate, die Sie noch im Haus sind, könnten für Sie ganz angenehm verlaufen. Sie sind in den Hof eingeteilt, frische Luft, mehr zu essen«, der Breitarschige ist öliges Entgegenkommen, »nun, ich glaube, es ist das beste, Sie stimmen meinem Vorschlag zu«, sagt er. Ich drehe mich um. Hinter mir steht nur der Begleitbeamte. Der Goldbonze hat zu mir gesagt, ›ob … ich zustimmen will‹ … war eine Revolution … wurden die Menschenrechte verkündet?
»Ja«, sage ich verwirrt. Der Goldene nickt, wohlwollend, fettig.
»Grat Ebenerdig vierzehn«, sagt der Mürrische. Ich nehme meinen Binkel und wandere in den Gemeinschaftstrakt. Eine Zwölfmannzelle. Ich suche mir ein freies Bett, dann sitze ich beim Tisch und warte. Die Gefangenen kommen nach vier Uhr von der Arbeit.
Der erste, der zur Tür hereinstürmt, ist Bernd. Ich kenne ihn seit langer Zeit. Aus dem Jugendgefängnis, wie viele andere auch.
»Wia host des draht, dauand im Kölla und daun in Hof«, fragt er mich.
»Du, i waß net, woahrscheinlich hom sie de girrt«, sage ich.
Gesichter, die meisten fremd, sehen mich an.
»Du, jössasnau, fia di hob i wos. Gerti, kumm her«, sagt er zu einem großgewachsenen, sehr schlanken, wuschelhaarigen, jungen Gefangenen. Er setzt sich zu Bernd und mir.
»Bleib steh und loss di amoi aunschaun von eahm«, sagt Bernd streng, »wüllst eahm hobn«, er wendet sich zu mir, »ear kaun ollas, guat blosn, Schuach putzn, Brote belegn, Fiaß woschn … na ollas, wos’d eahm aunschoffst«, setzt er die Anpreisung fort.
»Marschier und moch eahms Bett, gemma«, sagt er zu dem Jungen. Der schaut mich an, dann zuckt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Gern«, sagt Gerti. So komme ich in den Besitz eines Sklaven. Gerti putzt nicht nur die Schuhe, sondern er trocknet mich nach dem Waschen von Kopf bis Fuß ab, streicht mir Zahnpasta auf die Zahnbürste, zuckert den Kaffee, streicht die Brote, hilft mir beim Anziehen, massiert mich abends, von den Schultern bis in den Waden, empfindliche Stellen mit der Zunge und den Lippen, er dreht meine Zigaretten und hält beim Spielen meine Karten. Manchmal jage ich ihn unter den Tisch, dann inhaliert er der Reihe nach die Schwänze der Spieler. »I hob a Quaaaaaaaaart«, schreit dann Vickerl, der Kartenhai, und rutscht und zittert und verliert die Übersicht.
»Heast, puda eahm do endlich«, sagt Bernd nach zwei Wochen, »siehst du net, wia den des Oarschloch juckt … wirst segn, daun spurt er no bessa«, sagt er. Einige hören das, und abends, nach dem Lichtabdrehen, ist plötzlich jeder müde und dreht sich unter die Decken. »Host das Oarschloch gwoschn«, frage ich den nackten Schatten, der neben meinen Knien kauert.
»Ja … ich hab die Creme mitgebracht … darf ich dich einschmieren«, sagt er leise. Er küßt mein Glied, die Eier, die Innenseite der Schenkel … dann fettet er den Schwanz. Er hat einen weibisch runden, haarlosen Körper. Mit den Händen spielt er an meinem Steifen. Mit dem Rücken zu mir gleitet er auf meinen Bauch. Er führt sich das Glied selbst ein. Ein warmer, enger Schlauch, Erregung schießt in mir hoch. Sein runder Hintern tanzt auf meiner Gurke … es schmatzt leise … es schüttelt seinen Körper … er stöhnt … dann schwemmt die Welle in seinen Darm … Ich trete gegen seinen Hintern … ich muß ihm weh tun … er kniet neben dem Bett, wimmert. Dann holt er einen Topf mit warmem Wasser von der Heizung und wäscht mir mit zarten Bewegungen den Schwanz. Dann deckt er mich zu.
»Möchtest du eine Zigarette«, fragt er.
»Los, dreh«, sage ich. Er dreht, gibt sie mir, dann zündet er ein Streichholz an.
»Nau, wi woars«, fragt Harry vom Nebenbett.
»Frog net so teppat, du host ja eh zuagschaut«, sage ich und, »verschwinde«, zu dem Jungen, »ich bin müde.«
Tags darauf brauche ich mir nicht einmal beim Pinkeln den Schwanz selbst zu halten und auszuschütteln. Es ist bequem – vorgewärmte Handtücher – Zucker, Schokolade, Kekse, Wurst, Löskaffee, amerikanische Zigaretten – ich habe keine Ahnung, wo der Junge das auftreibt, vielleicht läßt er sich ficken, höchstwahrscheinlich.
Ich fühle mich wohl, nehme zu, denke nicht, die Tage sind durchsichtig, undeutlich, rasch folgen sie einander.
Der Betriebschef, groß, straff, preußisch, laut, Chef der Prügelgarde der Anstalt, ein größenwahnsinniges Schwein.
Mein Gesicht gefällt ihm nicht. Oder mein Renommee. Oder meine Größe. Oder irgendwas … auf einmal, aus heiterem Himmel.
»Sie gehen Saustall ausmisten«, sagt er zu mir. Mit drei anderen schickt er mich zum Schweinestall. Die Mistgrube ist sieben Meter lang, drei Meter breit und drei Meter tief. Jetzt ist sie einen Meter über den Rand voll. Der Dreck ist festgetreten. Man gibt uns andere Kleidung, dann los. Bis zu Mittag haben wir die Hälfte geschafft. Neben mir keucht ein Zuhälter. Er wußte nicht einmal, wie man den Dreck lockerte. Ich auch nicht. Wir haben Blasen an den Händen und die lästerlichsten Flüche im Mund.
Schweinescheiße stinkt wie Katzendreck, nur noch intensiver. Gegen vier sind wir fertig. Alles stinkt. Die Zigarette, das Wasser beim Duschen, die anderen Klamotten.
Gerti wäscht mich noch einmal mit lauwarmem Wasser. Dann massiert er mir die schmerzenden Muskeln, als er mir das Glied küßt, trete ich ihm ins Gesicht.
»Schleich dich, i bring net amoi an Finga hoch«, sage ich matt. Vickerl sitzt am Tisch und jongliert mit den Karten. Er ist klein, schwarz und hat unglaublich schnelle und gewandte Finger. Er zaubert mit den Karten. Sein psychologisches Ablenkungsrepertoire ist eindrucksvoll. Selten, daß seine Hände ohne ein Paket Karten sind. Er läßt die glänzenden Kartonrechtecke durch die Luft schwirren, Brücken schlagen, verschwinden, zieht sie aus dem Kragen, den Ärmeln, den Schuhen oder aus der Jackentasche des Zuschauers.
Er streicht mit den sensitiven Fingerkuppen über die Blätter, als würde er sie beschwören oder könnte ihnen befehlen oder mit ihnen sprechen. Er ist Berufsspieler und Einbrecher aus Leidenschaft.
»Waun i in da Fruah mit da Toschn volla Göd aus ana Hittn kumm, razt’smi, ob i des Schloß aufmochn kaun … EWE Schlesser hob i jeds gesperrt mit mein Zeigl … no jo, di guadn Freind«, sagt er. Ein Freund hat ihn anonym beim Sicherheitsbüro angezeigt, aus Neid wahrscheinlich oder weil ihn Vickerl nicht ›einglodn‹ hat.
Tommy, der Zuhälter, redet aus der Schule, »mit an Zwarahoiba homs mi aufagschickt noch Stan, sechs Monat hot di Oide ghoitn, daun is beule gaunga, vuriche Wochn hot ma da Fritzl gschribn, si is in Lübeck auftaucht, im Puff, er hot ihr glei a fest’s Deputat gebn, waun a moi ohoin kummt, zaat’as mit owa«, sagt er. Er hat noch vier Zähne, kaum Haare, sieht aus wie das Rumpelstilzchen, ein Satz ist ordinärer als der andere ~ trotzdem kann ich ihn gut leiden.
»Du muaßt di ois Strizzi einidrahn, Oida, de anzig krisnsichare Hockn, ollas aundare is Oarsch … foar ma mitanaunda noch Deitschland … host scho mitn Jancsi gredt … der foahrt a ummi … do roit a aundara Rubl ois wie bei uns … kaunst ma glaum«, sagt er und nickt bekräftigend in die Runde.
Sie räkeln sich auf den Betten, Rauchschwaden treiben unter den Lampen. Sie renommieren und essen, lachen und furzen … dreihundert Worte, damit kommt man aus, mehr sticht grell aus dem Alltäglichen, verlangt Aufmerksamkeit, Denktätigkeit. Ist abzulehnen.
G. F. Unger ist der Topautor, dicht gefolgt von Allan Wilton und Asterix, sie reden von Pistolen, wie Blinde von der Farbe, jeder hat schon … und nicht einmal, nein vielmal … denn hier ist das wichtig … und wer darüber nichts weiß … sitzt auf der Dauerschaufel … hängt im Häkerl …
»Wos, du kennst ka Puffn, nau wos mochst’n du, schiaßt mit Roßknedln«, sagen die anderen, und deshalb hat auch er, jeder, eine Waffe. Gerti schneidet mir die Zehennägel und schält mir die harte Haut von den Fersen.
»Wenn du nicht mehr da bist, lasse ich mich von keinem mehr ficken«, sagt er leise.
»Du, mir ist das egal«, sage ich abwesend. Was Reaktionen wie Frauen – oder lege ich alles nur deshalb für weiblich aus, weil ich irgendwo unsicher bin. Homosexualität – Homo und Juden, sagte mein Vater immer, sind der Auswurf der Menschheit … Blödsinn, aber wenn man es so oft hört, wie ich es gehört habe, bleibt ein leises Scharren, so eine undeutbare Befremdung, die manchmal hochkommt … ich drücke den Kopf des Jungen gegen meinen Schwanz.
Leck mich am Arsch, alter Herr, wenn die kleinen Homos nicht wären, hätte ich mich vielleicht schon kastrieren lassen, oder selbst kastriert, wie der Weinwurm, der sich eine Scheibe runtergeschnitten hat und fast verblutet ist.
»Du hast mir das Lebenslang eingebracht … weg mit dir«, hat er seinen Schwanz angebrüllt und darauflosgeschnitten.
Harry erzählt mir von einer Dirne, die ihm die Syphilis angehängt hat, und wie er sich gerächt hat.
»Eine Zigarette auf jeder Brustwarze ausgedrückt und drei auf der Stirn«, sagt er und drückt langsam genußvoll seine Gedrehte am Bettrand aus.
»Achtzehn Monate hab ich dafür bekommen, aber die waren es mir wert«, setzt er hinzu. Ich schüttle den Kopf, ganz verstehe ich diese Rechnung nicht.
»Kohlenschaufeln, die drei da«, sagt der Betriebschef, als zerbeiße er Glassplitter. Ich gehöre natürlich dazu. Das Kreuz schmerzt und der Mund vom Fluchen. Die Hände, die Arme. Der Beamte steht daneben, treibt an. Ich sehe unten Bernd vorbeigehen, er winkt zu mir. Er geht in den Raum, wo die Strohsäcke gestopft werden. Er läßt sich einen blasen, der dort beschäftigte Gefangene ist Spezialist. Er übt diese Tätigkeit hauptberuflich in Freiheit aus, als etwas ältlicher Strichjunge.
»Auf’d Nocht kemma uns die Ferschn mit de Haundflechn doppeln«, stöhnt Vickerl neben mir.
»Waun meine Baana draussn net aunzahn, schick is zum Bauan und ins Beagwerk, zum Ausmisten und Koingrom«, knirscht er etwas später. Altpapier auf Ballen von hundert Kilo gepreßt, wird am Tag darauf verladen. Vickerl und ich sind selbstverständlich dabei. Er schleppt mit verbissenem Gesicht.
»Wos is mit ana Saundaratiaun – dea Sterzprigl steht do und schaut teppat, bei eichan Fressn san ma di Zend ausg’foin, de Hoar und jetzt werm ma de Jad ofoin … schau da’sd wos zum Fressn bringst, sunst kummst ins Heim.«
Vickerl läßt seinen sechzehnten Ballen von der Schulter rollen und redet zu dem jungen Beamten hin, der neben der Tür steht und sich den Mantelkragen zum Schutz vor dem schneidenden Wind hochgestellt hat. Der Grüne zieht es vor, sich taub zu stellen.
»Steh und die Hand im Sock hom, und stinkfeu sei, des anzige, wos de Kas kenna, am liabstn lossatn’sa si no scheißn trogn … do soin mia oarbeitn lerna … i scheiß auf eich Vegln«, hetzt Vickerl weiter. Andere lachen. Der Beamte geht. Er beschwert sich beim Chef. Der schickt eine halbe Stunde später den Schreiber mit vier Stück Wurst. Fingerdick und eine Spanne lang. Vickerl murrt unzufrieden. Gerti bringt mir Semmeln. Er hat sie in der Bäckerei geklaut. Von frischer Luft war bis dato bei dieser Beschäftigung nur wenig zu merken … außer das Antreten zum Zählen …. bis die Ohren in der Kälte singen, mit blauroten Händen …
Abendessen – stinkende Kohlrüben.
»Los, gemma, hoits eich des Essn«, schreit der Beamte von der Türe. »Dieser Dreck ist nicht zu essen, riechen Sie das nicht«, sage ich. Ein Silberspiegel kommt von der Nebenzelle.
»Nehmans de Schoin und schauns, daß vaschwindn, hetzn’s de Leit net auf«, brüllt er.
Achtung, Junge. Ein Gefangener darf immer nur für sich sprechen, sonst ist es Aufwiegelung zur Meuterei … da gibt es verdammt harte Zusatzstrafen – also vorsichtig.
»Ich spreche für mich. Dieses Nachtmahl ist ungenießbar. Zufällig sind die anderen auf der Zelle meiner Meinung, dafür kann ich nichts«, sage ich sanft. Wenn sie brüllen, schreien, toben – leise sein, höflich – dagegen wissen sie keinen Rat – dieser auch nicht. »Na jo, mia wem des hoit mödn«, sagt er puterrot und wirft die Türe zu. Der Abend schleicht. Gerti liest mir vor – ein eingeschmuggeltes Buch – ›mich wundert, daß ich so fröhlich bin‹.
»Sie bleiben auf der Zelle«, sagt der Beamte am anderen Morgen. Er gibt keine Erklärung dazu. Ich begreife. Packe meinen Binkel. Gerti weint. Ich gebe ihm eine Ohrfeige. Dann marschieren sie ab. Ich gehe in der ruhigen Zelle auf und ab.
»Ich will Sie nicht wegen einer Anstiftung zur Aufwiegelung bestrafen«, sagt der Major, »nachdem Sie sich einsichtsvoll gezeigt haben … das letzte Mal«, er zögert. Ich hatte meine Beschwerde wegen des Hemdes einfach nicht mehr verfolgt … einen schriftlichen Bescheid hatte ich nie bekommen.
»Nun, ich verurteile Sie zu sieben Tagen Einzelhaft«, sagt er dann.
Damit diese Mißgeburt einen Namen hat … damit ich bestraft werde … damit der Macht Genüge getan ist, dem Recht …
Ich stehe am Gitter. Sieben Tage … ein bißchen warten, gehen … dann ist es vorüber.
Ost 2 Zelle 9 Bürstenbinderei. Neue Gesichter, neue Geschichten. Georg erzählt, wie er seine Frau vom dritten Kind entbunden hat, ein kurzer Druck, ein Paket in Nylonpapier in einer Praterallee weggeworfen … jemand hat ihn beobachtet … fünf Jahre, seine Frau hat eines … die Kinder … er weiß nicht, wo sie sind.
»Was hätte ich denn tun sollen … die Schulden …«, er ist sehr still und bedrückt. Er ist erst wenige Wochen hier.
Dann werde ich überraschend nach Wien überstellt. Am 28. Mai 1967.
Mittersteig – Sonderanstalt im Strafvollzug – eine weißlackierte Eisentür und Panzerglas – psychiatrisches Gefängnis für potentielle Selbstmörder, Marodeure mit Stehvermögen, Neurotiker und Simulanten, Psychopathen und Irre … Sanfte und Aggressive, Gleichgültige und Nervöse … Einzelzellen und weiße Wände, Radio und Fernsehen, Superessen und psychologische Betreuung, Gruppendynamik für Mörder und Räuber, Diebe und Betrüger – nebeneinander, und Welten zwischen ihnen. Ihr verbogenes, wehrloses, zertretenes, manipuliertes, gärendes, verzweifeltes Selbst – der Selbstbeschädiger und der Querulant, der Idiot und der Dichter, der Süchtige und der Pädophile – geschultes Personal und ärztliche Betreuung, Gitter und fünfzig Quadratmeter Steinplatten, der Spazierhof mit etwas Grün in der Mitte – Führungen und Pingpong-Raum, Schwule, Milch und Einsicht in die Damentoilette am Gericht nebenan.
Zwanzig Häftlinge, Patienten im Strafvollzugsreglement, penetrante Toleranz und abends, nach dem Einschluß, der Bauchladen mit den bunten pharmazeutischen Herrlichkeiten, grün, gelb, blau – Valium, Truxal, Mocadon und dem geheimnisvollen, nicht etikettierten ›Hofftrankl‹, ein Arzneiglas – nach fünf Schritten kippst du aus den Schuhen. Chemische Planierspachteln für Tobende, das ›surfing‹ für die Süchtigen, Gleichgültigkeitsmedizin für die übrigen. Symptome werden aktiviert, produziert – Kopfschmerzen von der Stirn bis zur Basis, Depressionen und Schlafstörungen, Alpträume und Halluzinationen, Aggressions- und Potenzstau, niedriger Blutdruck und Schmerzen aller Art. Die Motive liegen nah – die halbnackten Mädchen gegenüber am Fenster des Pensionats, die mit Feldstechern die Gefangenen beobachten und Gegenleistungen bieten – sentimentale Musik, Onanie und Homosexualität, Perversion und in die Unendlichkeit gestaffelte Zeiträume, knallende Autotüren und johlende Betrunkene aus dem Beisl an der nahen Straßenecke, Klaustrophobie und nickende Blumen am Fenster im Nachtwind, Jodscheinwerfer, die die Dunkelheit zerpflügen, ein starres Lichtkorsett um das schwarze Gebäude legen. Vakuumstunden nach Koffein und Tranquilizerorgien. Zittern der Hände, der Nerven, der Sekunden und des Lichtes – multipliziert mit der Angst, potenziert mit der Einsamkeit, komprimiert durch Unsicherheit und sexuellen Drang. Stochern der aufgescheuchten Reflexe im nächtlichen Brei, Blockierung, Sehnsucht und keine Sprache für die Vielfalt des nicht zu Sagenden …
Willi, der brüllende Dickwanst mit den wandernden Nadeln im Körper. »Huuuuu, ich bin ein Vogerl«, schreit er und läuft mit ausgebreiteten Armen über den Gang – im Truxalrausch.
Roland, der blasse, aggressive Meistereinbrecher, zeitweise tobsüchtig, großmäulig und clever.
» Rot wüll i de Wand segn, ausmoin wer ma«, brüllt er beim Brausebad, schneidet sich mit der Rasierklinge in den Oberarm.
Horst, ausgemergelt, uninteressiert, von zeitweilig schwelender Unruhe zerrissen, vierzehn Magenoperationen, um verschluckte Gegenstände zu entfernen. »Amoi muaß i sowiso okrotzn«, sagt er und spielt – mit einem Drahtstück.
Hermann, zart, feminin, scheu, er arbeitet an einem Buch, schreibt daneben Lyrik. »Es dem Gehirn begreiflich machen, das hier, täglich«, versonnen lächelt er zu mir, weichmundig, verschlossen, von der Schreibmaschine.
Helmut, wachsam, forsch, verschlagen, spielt Mann, fickt die kleinen und großen Schwulen.
Gerhard, lieb, dumm, schwul.
Franz, rundarschig, tablettensüchtig, ängstlich, schwul.
Harald, gepflegt, distanziert in normaler Phase, Schachspieler, Ingenieur. »Ich bezahle dir zweihunderttausend Schilling, wenn du mich hier herausholst«, sagt er mit flackernden Augen, zu jedem –ein Paranoiker.
Fritz, dünn, endlos, gespenstisch, triefäugig und vergeßlich. »A Schuß dräust, und dea Scheißdreck schwimmt weg«, sagt er, der Drogensüchtige.
Pepi I, zwergwüchsig, komplexzerfressen, rauflustig und ergeben, in den Anstaltsbetrieb integriert.
Pepi II, vibrierend, brutal, voll Haß und Unruhe.
»Hülfst ma beim Aussisageln«, sagt er zu mir.
Roman, weibisch, affektiert, mit Neigung zur Geschlechtsumwandlung, intrigant, liebt zarte Gerüche, zarte Wäsche und einen kräftigen Schwanz im Hintern, mit Hermann verfeindet – Hauptautor und Akteur im wöchentlichen Psychodrama.
Turl, mein Zellennachbar, Attraktion der Anstalt.
»Krieg ich den Brief?« hat er den Direktor einer Strafanstalt gefragt, als man ihm wegen eines Disziplinarvergehens seine Post vorenthielt. »Nein«, sagt der. Turl zog einen geköpften Nagel aus der Tasche, knöpfte sein Hemd auf und drückte sich den Nagel unter dem Schlüsselbein in die Brust, auf solche und ähnliche Arten kam er zu dreizehn Nägeln in der Brust, er schnitt sich die Arterien an den Armen auf, er schluckte ganze Bestecke, aß Rasierklingen und Glasscherben, spritzte sich das Sputum von Lungenkranken in die Lunge, Benzin in die Kniegelenke – braucht ständig jemanden, der ihm zuhört, klopft nachts um drei Uhr gegen die Wand.
»Hast du Hunger, ich habe Butter und Semmeln und Kaffee«, sagt er und möchte nur reden; haßt und liebt den Arzt, bei dem er in Therapie ist, mit gleicher, ständig wechselnder Inbrunst, muß überall Mittelpunkt sein, onaniert sechsmal am Tag, zeigt sein nacktes, monströses Glied zu den Mädchen im Nebenhaus hinüber, weint und schreit, rechthaberisch und durchtrieben, einsam und flehend, stiehlt und schenkt in einer Bewegung, lügt und redet, fantasiert in Hingabe und Selbstbetrug, bohrt Löcher in die dicken Milchglasscheiben der Gangfenster, steht stundenlang am Hocker, beobachtet die Frauen über den Hof auf der Rückseite der Anstalt beim Umziehen, beim Kochen und beim Pinkeln, weiß die Farben der Unterwäsche der Gerichtssekretärinnen, öffnet sich mit den Fingern die Operationswunde am Bauch, wird bewußtlos, die Gedärme schlängeln glitschig über die Decke. Er überlebt und träumt von einem Mädchen mit langem schwarzen Haar und blauen Augen, dann eitern die Nähte, Rippenresektion, Drains, Todesangst und feuchte Hände. Tage später wirft er Scheißdreckklumpen hinter Ärzten und Pflegerinnen her, schreit und brüllt, tobt und geifert, landet im Irrenhaus, wird niedergespritzt, schläft aus der Zeit, dem Unerträglichen.
Jetzt ist er hier. Er klopft. Es ist acht Uhr abends, die Stunde des Schneidens und Schluckens und Fickens und Stehens am Fenster und Träumens in die Samtluft.
»Kommst du zu mir auf eine Partie Schach«, fragt er, »ich läute an, daß dich der Beamte herüber läßt.«
»Ja«, sage ich.
Kurze Zeit später öffnet ein Beamter mit Fuchsgesicht meine Zellentüre.
»Der braucht wieder einen Gesprächspartner, hast du Lust«, sagt er. Turl hockt am Bett im Türkensitz und rührt einen Kaffeebrei, zwei gehäufte Eßlöffel auf ein Glas – eine der üblichen Bomben. Bringt Euphorie und gerauhte Aggression. Ist Elixier und Stimulanz, magenmordende Fantasiepeitsche und Illusionsgenerator, unentbehrlich, notwendig, erschlichen, ertrotzt, eine Anleihe von draußen, der Sprung über die Mauer, die Traummaschine, ein Teilchen Leben, direkt und unmittelbar, im Gehirn, im Schwanz.
Kleine Schlucke, warten und schweigen, bis die Wirkung kommt, einströmt, sich ausbreitet, die Dimensionen biegt, die Pupillen einengt.
»Er weiß, daß ich dabei kaputtgehe«, sagt er.
»Wer«, sage ich.
»Der Arzt«, sagt er.
»Du gehst kaputt?« sage ich.
»Ja, ich schaff die Therapie nicht, ich will aufspringen, ihm ins Gesicht springen, dann sitz’ ich wieder und heule mit ihm, dann ist er alles für mich, alles, verstehst du, und ich lüge ihn an und sage ihm, daß ich ihn angelogen habe, und er lacht nur, er hat so wenig Zeit. Was ich jetzt sagen könnte, jetzt, wo die Mühlen hinter der Stirn mahlen. Angst, verstehst du, Angst habe ich, ganz verschissene Angst«, sagt er.
Lichtfunken und flimmernde Sterne, Abend im Frühling, weiches, helles Lachen von der Straße und ›Yesterday‹ aus dem Radio.
»… ich kann es nicht angreifen … es ist da, daß ich morgen nicht mehr den Mut habe, ein Besteck zu schlucken oder dem Roland eine aufs Maul zu klopfen, daß ich umfalle, hilflos bin …«, sagt er.
»Und was bist du jetzt?« sage ich.
»Aber verstehst du denn nicht … jetzt ist doch er da, aber die Scheißanderen drängen sich dazwischen, die vergönnen mir die Vertrautheit nicht, daß ich der Wichtigste bin … aber du weißt es ja, ich kann ihn in der Nacht rufen lassen, bei mir kommt er immer … du weißt es ja, ja? … du hast es ja das letzte Mal selbst gehört, wie er gesagt hat, der Turl, mein Sorgenkind … ich kann ja machen, was ich will … nur wie ich auf der Augenklinik die Linsen für einen Gucker gestohlen hab, hat er sie mir weggenommen, aber sonst kann ich alles tun …«, sagt er. Wie ein Schwall strömt es aus seinem Mund, zwischendurch trinkt er, raucht, fahrig und hastig, dann weiter, Monologe, konstruierte Dialoge mit dem Therapeuten. Haßtiraden gegen die übrigen, Stunden um Stunden. Ich brauche nicht zu antworten. Er genügt sich im Gespräch, braucht nur meine Anwesenheit.
Ich liege in meiner Zelle auf dem Bett. Es ist zwei Uhr. Noch einunddreißig Tage bis zur Entlassung. Juli, glühende Luft. Heiße Haut, Sehnsucht bis in rote Kreise, zerteilt von zitternden Brüsten, glatten, feuchten, weichen Körpern, gewölbten Lippen, müdgeschaute Augen, Duft und verschwommener Großstadtlärm, Lichtblasen im schwarzen Darüber.
»Was möchtest du tun, nachher«, sagt sie, die Mutter.
»Irgendeinen Job, ich weiß es nicht. Ich habe keine Beziehung zu da draußen, ich muß mir das erst ansehen, brauche ein paar Tage Zeit«, sage ich.
»Sollen wir Ihnen eine Arbeit besorgen? Allerdings, es käme nur eine Hilfsarbeiterbeschäftigung in Frage«, sagt die Fürsorgerin.
»Ich weiß nicht«, sage ich.
Arbeit … habe ich mir denn vorgestellt, ich werde arbeiten … ja, in diesen Jahren habe ich sicher oft überlegt … aber was … ich weiß es nicht … na, erst mal draußen sein …
»Ich habe einen Job in einer Offsetdruckerei für dich«, sagt Mutter beim letzten Besuch.
»Gut, ich werde es eben versuchen«, sage ich. Ich weiß nicht einmal, was Offsetdruck ist.
Turls TBC ist positiv, er wird auf eine Lungenheilstätte transferiert. Beim Abschied laufen ihm die Tränen über das Gesicht.
»Kannst du mich nicht besuchen kommen«, sagt er.
»Nein«, sage ich. Die grüne Stahltür schließt sich hinter ihm – ein Jahr später stirbt er – nach einer Bauchoperation läßt er sich mit Wasser vollaufen, getreu seinem Grundsatz – alles kann man mit seinem Körper machen, wenn man nur stark genug ist, ihn mit dem Willen zu beschützen …
Dann beginnen die vierzehn Tage Arrest für die Körperverletzung, das endgültig letzte Teilstück.
Untertags arbeiten einige der Patienten im Erdgeschoß in einem großen Arbeitssaal. Sie fertigen Einlegearbeiten, um vierzig Groschen in der Stunde. Manchmal setze ich mich zu ihnen, zum Plaudern und Rauchen.
»Mia woin in Oarsch gehn«, sagt Pepi zu mir. Er und Roland wollen ausbrechen. Im Erdgeschoß am Ende des Ganges, vorbei an Arbeitssaal und Duschraum, kommt man zur Korrektion. Dort macht der Gang eine Biegung. In dieser Ecke ist ein Fenster. In Kopfhöhe und vergittert. Roland und Pepi sägen abwechselnd mit einem Besteckmesser mit Wellenschliff.
»Hüfst uns sagln?« sagt Pepi.
»Ja«, sage ich. Zwei Stunden säge ich, dann Roland.