1956

 

Alter Staub tanzt in die Lichtbalken. Schräge, ausgeleuchtete Pyramidenstümpfe fallen durch die niedrigen Fenster. Auf die Hobelbank, auf die Bretter am gestampften Lehmboden. Die Wände, ehemals weiß gekalkt, sind mattgrau. Ein alter, wurmzerfressener Kastenlehnt dagegen. Eine dunkel gebeizte Truhe steht daneben, massive, an den Kanten gerostete Beschläge sind mit einem großen Vorhängeschloß verbunden. Maiskolben, goldfarben, mit lichten, spröden Blättern hängen an Stangen von der Decke zum Trocknen. Eine Fliege summt um den rundgeschlagenen Amboß auf der Werkbank. Stemmeisen, Hobel, Feilen, Bohrer hängen an einem Werkzeugbrett zwischen den Fenstern. Eine große Marktwaage steht verstaubt in einer Ecke, Gewichtsstücke liegen am Wägebrett.

Der alte Mann sitzt auf einem geschweiften Lehnstuhl neben dem Kasten. Den linken, den steifen Fuß hat er geradegestreckt. Er liest in einem abgegriffenen Gebetbuch. Er ist achtzig und mein Großvater. Er legt das Buch auf die Truhe, greift nach seiner Pfeife. Langgeschwungen, mit großem, geräumigem Kopf, hängt sie in einer Schlaufe am Kasten, in Griffweite. Unter dem Brustlatz seiner großen blauen Schürze kramt er nach dem Tabaksbeutel, dann stopft er zwei Prisen von dem dunklen Kraut in die Pfeife und zündet sie an. Er raucht, spuckt dann zwischen die Bretter auf den Fußboden und wartet ohne Ungeduld.

»Vor zwei Monaten haben sie mich geholt, jetzt schicken sie mich wieder in ein Heim«, sage ich.

Seit einer Stunde hockte ich auf der Hobelbank, schnitze an einem Stück Rinde. Der alte Mann wußte genau, daß etwas Unangenehmes passiert war, aber er drängte mich nie zu reden. Er saß da, und ich merkte seine stille Freude über mein Kommen. Die Türe, nur angelehnt, knarrt leise. Eine von Großvaters vier Katzen, ein breitschädeliger, würdevoller Kater, erscheint, zeichnet gemessen mit dem Schwanz einen Kreis in die Luft und springt auf das rechte Knie des Großvaters. Mich beachtet er nicht, gähnt, zeigt ein rosiges, nadelspitz gezähntes Maul, schließt die Augen und beginnt laut zu schnurren.

»Hoonsi – auf an Johr geht’s schon«, sagt er mit weichen, gedehnten Worten. Er ist Ungar, spricht auch meistens Ungarisch, aber mir haben weder meine Mutter noch Großvaters zweite Tochter, Tante Gisa, diese Sprache beigebracht. Großvater und ich hatten eine eigene Sprache, ein für andere unverständliches Kauderwelsch. Ungarische und deutsche Brocken vermengt. Er sprach meinen Vornamen nie richtig aus.

Sein Bein war nach einer Kriegsverletzung im ersten Weltkrieg, als er bei den Honvedhusaren war, steif geblieben. Auch ein Auge hatte er verloren. Sein großer, an den Spitzen hochgedrehter Schnurrbart, seine graue Kutschermütze, die breiten, braunen Hände – ich liebe den alten Mann. Um ihn geschah meine Kindheit. Er hatte das Holzschwert geschnitzt und geleimt und für meinen ersten Indianerkopfschmuck hatte er dem laut protestierenden Hahn die grellsten Federn aus dem Schwanz gezogen.

Das ist viele Jahre her. Mit fünf holten mich meine Eltern zu sich, dann blieb ich drei Jahre bei ihnen, besuchte die Volksschule und kam dann ins Gymnasium und ins Schülerheim.

Vor zwei Monaten haben mich meine Eltern aus dem Internat genommen, und vor vier Tagen wurde ich aus der Schule geworfen. Wegen unsittlichen Verhaltens … mit Mädchen.

Realgymnasium Mattersburg – Herbst 1956 – was war geschehen?

Eine Professorengruppe hatte sich kriminalistisch betätigt, unzählige Verhöre waren durchgeführt worden. Dritte Klasse – zwanzig Buben und zehn Mädchen – wurden vernommen, auch das Töchterchen des Direktors … ein kleines süßes, blondes Biest, mit züchtig niedergeschlagenen Lidern und wippendem Röckchen kam sie vom Verhör … dann die nächste, eine geile Ziege mit Kulleraugen, dann die, dann der, dann ich.

Frage: »Hast du ihr auf die Brust, unter den Rock, unter das Höschen gegriffen?«

Antwort: »Ja.«

Sie war zwölf, wie ich. Ihre Brust war flach wie ein Brett, den Pullover hat sie selbst gehoben …

Frage: »Hast du ihr von rückwärts zwischen die Beine gefaßt, die nackte Haut oberhalb der Strümpfe berührt und sie unter dem Höschen gestreichelt? Wenn sie sich gewehrt hätte, hättest du sie schlagen wollen?«

Antwort: »Ja.«

Sie war ebenfalls zwölf und gut entwickelt. Sie hatte sich, wenn ich hinter ihr stand, vorgebeugt und die Beine leicht gespreizt – zu bedrohen brauchte ich sie nie.

Frage: »Hast du dich vor sie hingestellt und ihr dein Glied gezeigt und sie aufgefordert, es zu berühren; als sie nicht wollte, hast du sie dazu gezwungen?«

Antwort: »Ja.«

Sie ließ die Hand auch dort und bewegte die Finger vor und zurück.

Frage: »Hast du sie auf der Mädchentoilette entkleidet, sie aufgefordert, auf die Muschel zu steigen, ihre Brust, ihre Scham geküßt? Hast du sie bedroht, wenn sie dich meldet, sie zu schlagen?«

Antwort: »Ja.«

Sie trug ihr Höschen nicht am Körper, sondern in der Schultasche. Sie stand auf der Muschel, die Augen geschlossen, und ihre Hände streichelten in meinem Haar.

Alle Beteiligten wurden strengstens gemahnt, ich relegiert. Jetzt sprechen meine Eltern wieder davon, mich in ein Internat zu geben. Ich will nicht. Mir haben die drei Jahre bisher gereicht. Große, eisige Schlafsäle, schlechtes Essen, launische Präfekten und sadistische Hilfserzieher.

Wenig Freizeit, viel Beten und noch mehr Prügel, das waren meine Erinnerungen an die letzten drei Jahre. Meinen Eltern hatte ich davon nie erzählt. Der Vater hätte mich ausgelacht und mir vorgeworfen, ich sei weich und ängstlich, und Mutter – für sie sind Professoren und Erzieher unfehlbare Autoritäten. Ich erzähle dem alten Mann stockend, was geschehen war und was kommen sollte – dann schweigen wir eine Weile. Großvater raucht, er denkt wohl nach. Ein Jahr, meint er, sollte ich wieder versuchen, ein Jahr, ihm zuliebe. Ich nehme seine verarbeitete, schwielige Hand.

»Ein Jahr lang, ich werde es versuchen.« Er nickt bedächtig.

Sorgsam greift er der Katze unter den Bauch, stellt sie zu Boden. Er erhebt sich mühsam, greift nach dem dunklen Stock, mit dem er sich beim Gehen hilft. Er geht zur Werkbank, öffnet eine Lade und gibt mir daraus ein Päckchen, umwickelt mit einer Papierserviette. Ich weiß, daß eine Bäckerei darin ist. Seit vielen Jahren hat der alte Mann die Gewohnheit, wenn meine Tante gebacken hat, mir einige Stücke davon aufzuheben. Hin und wieder vergißt er es und dann ist der Kuchen Monate alt und verdorben. Diesmal sind einige frische Anisschnitten in dem Papier. Ich bedanke mich und stecke die Kuchen in die Tasche.

Großvater hat vor vielen Jahren ein Pferdefuhrwerk besessen und ist viel in der Gegend herumgekommen, als Frachter in den Orten rund um Odenburg. Jetzt bestellt er den Garten, betreut die Hühner und Katzen. Im Sommer sitzt er gerne unter dem riesigen Nussbaum und läßt sich die Sonne auf sein schmerzendes Bein scheinen. In den letzten Wochen hatte ich erst begriffen, daß Großvater sehr einsam war. Der alte Mann ist tagsüber alleine im Garten. Abends sitzt er in der großen Küche und schaut durch das Fenster auf die Straße hinaus. Er schaltet selten das Licht an, und wenn es ganz dunkel ist, streift er die Katzen von seiner Schürze und humpelt in sein Zimmer.

Meine Tante besorgt seine Wäsche, seine Mahlzeiten, mit meinem Onkel hatte ich ihn nie sprechen hören. Der alte Mann war immer verschlossen gewesen. Bei schlechtem Wetter blieb er tagsüber in dem ehemaligen Pferdestall, der nun als Brennholzschuppen dient, in dem abgeteilten Raum, in dem wir sind, las er in seinen alten ungarischen Gebetsbüchern.

Der alte Mann sitzt nun wieder friedlich, die Katze hat es sich wieder auf seinem Schoß bequem gemacht. Er sieht mich an, und in seinem Blick ist keine Eile.

»In einem Monat sehen wir uns dann«, sage ich und gehe.

 

Das Kloster ist graugelb und mit einer hohen Mauer umgeben. Der Gasse zu schließt an die Mauer der Kirchenbau an.

Kapuzinerkirche und Kloster in einem in Wiener Neustadt. Neun Zöglinge zwischen zwölf und siebzehn Jahren, enge Zimmer, lange, dumpfe Gänge, Wecken um halb sechs Uhr früh, ministrieren in der eisigen Kirche, jede Woche zwei andere, dann Frühstück im Refektorium.

Zehn vor acht ab in die Schule, drei Gassen weiter, ein großes, gelbes Haus, gegenüber ein Park, alte, knorrige Bäume. In der Halle hinter den Flügeltüren der Schulgeruch nach Tinte, Moder, feuchten Kleidern, Brot und Pisse. 47 Schüler in der Realschule-Klasse, ein hysterischer Klassenvorstand. Ich schlafe als zuletzt Gekommener auf dem hintersten Platz, der Eselsbank. Dann zurück in das Kloster, Mittagessen um zwei Uhr, eine mürrische Köchin, der aufsichtführende Pater rülpst und liest im Brevier. Bettelmönche mit Riesenbäuchen und wieselflinken, harten Augen, salbungsvolle Schwärmer, unfähige Erzieher. Freistunde bis halb vier. Fußball auf dem staubigen Platz zwischen den Mauern, dann Studierzeit bis sechs Uhr, dann Abendessen, eine Viertelstunde Freizeit, dann Studierzeit bis halb neun Uhr, dann Abendessen bis halb zehn Uhr, waschen. Licht aus. Ich schlafe beim Abendgebet ein, werde bestraft, Kirche reinigen während der Freizeit, ich klaue den Meßwein, schleiche mich auf den Turm über schwindelnde Holzgerüste, dort trinke ich. Eine halbe Flasche pro Tag, dann stehle ich weiter – Zigaretten und Wein – manchmal bin ich betrunken, aber ich lerne schnell, es zu verbergen, dann schleiche ich nachts auf den Turm und trinke, da bin ich sicher. Nie falle ich über die schmalen, schwankenden Bretter, die in acht Meter Höhe über der Decke des Kirchenschiffs laufen. Manchmal borgt mir ein Pater sein Luftdruckgewehr, dann schieße ich auf Tauben und Menschen gegenüber im Park, aber durch das hastige Trinken bin ich immer sehr schnell betrunken, und dann verschwimmt das Ziel, vielleicht trägt das Gewehr auch nicht so weit. Manchmal kommen Mädchen von der katholischen Jungschar ins Kloster. Ihre schrillen Stimmen hallen über die Gänge. Dann läßt sich eine von mir den Turm zeigen. Wir knutschen, ich ziehe ihr das Höschen aus, gebe ihr zu rauchen und zu trinken. Dann wird ihr übel, und sie weint. Das ärgert mich. Wenn diese idiotische Kuh davon redet, zu Hause, oder zu den anderen. Ich drücke ihr den Gewehrlauf an die Stirn.

»Nicht, das ist gefährlich, einem in der Schule ist damit ein Auge zerstört worden«, heult sie auf.

Ich bohre mit den Fingern in ihr und dann sind meine Finger blutig und sie schreit und schluchzt.

»Ich schieß dich in den Kopf, wenn du mit jemanden darüber sprichst«, sage ich und wische das Blut ins Taschentuch.

»Du hast mir weh getan«, plärrt sie und deutet auf den dünn beflaumten Schlitz: »da unten.«

Aber sie kommt wieder und schweigt. Meine Leistungen in der Schule sind bemerkenswert, im zweiten Trimesterzeugnis, vier Nichtgenügend, in Deutsch, Englisch, Mathematik und geometrischem Zeichnen. Meine Mutter kommt zur Sonntagnachmittagsmesse und ist gerührt über meine meßhelferische Tätigkeit im roten Rock und dem weißen Chorhemd. Dann zeige ich ihr das Zeugnis. Sie fällt fast in Ohnmacht.

»Der Vater erschlägt dich«, sagt sie und ringt die Hände. Ich lutsche Pfefferminzbonbons, damit man den Wein nicht riecht. Ich bin eher sorglos. Dann wachse ich acht Zentimeter in zwei Monaten, bin zwölfeinhalb und einszweiundachtzig groß, mit siebenundfünfzig Kilo.

Ich breche zusammen und liege dann zu Hause, gepflegt, gehätschelt und verwöhnt. Bin Mittelpunkt, sie sprechen leise, wenn sie ins Zimmer kommen, die Ärzte und der Vater, die Mutter und fremde Leute. Man redet vom armen Kind und Epilepsie. Kein Mensch fragt nach dem Zeugnis oder meinen nikotingelben Fin gern.

Elektroencephalogramm und monatelange Beobachtungen in der neurologischen Klinik. Kapazitäten bohren und wühlen, und ich schweige verschlossen. Psychiater und Psychologen, Heilmagnetiker und Hypnotiseure. Ich lebe in Wartezimmern von Ordinationen und Seancezimmern, sie klopfen an meinem Kopf, verschreiben Dutzende Medikamente, schreiben dicke Gutachten, kassieren Honorare und zucken bedauernd mit den Achseln. Mein Vater ist unsichtbar, Mutter und meine Tante haben das Kommando übernommen. Und als Wien fertig konsultiert ist, kommen Zürich und Frankfurt, obskure Wunderheiler und schlechtriechende Handauflegerinnen. Nach sieben Monaten bin ich kurz vor dem Überschnappen, dann spricht Großvater ein Machtwort.

»Loßts den Buam sogn wos er wüll«, sagt er und sein Schnurrbart wippt bös auf und nieder.

Ich gehe nach Laa an der Thaya ins Internat, lerne in vier Wochen den Stoff von vier Monaten nach, habe drei Freundinnen, bin Kettenraucher und bekomme das erste Geld von einer Nutte. Sie heißt Frieda, ist achtzehn und geht am Wochenende in Wien auf den Strich. Sie küßt an meinem Schwanz herum und alles wäre herrlich, doch dann verprügelt mich ihr Zuhälter.

Er war zwanzig Kilo schwerer und zehn Jahre älter. Vier Tage kann ich kaum auf den Beinen stehen.

»Dir tut etwas sehr weh«, sagt sie, Jasna, elfenhaft und lieb, vierzehn, und ich knurre.

»Nein«, und verliebe mich in sie. Händchen halten und zarte Küsse. Daneben organisiere ich eine Diebesbande. Die fliegt auf, einer verpfeift mich, und mein Vater erscheint nach acht Monaten auf der Bildfläche. Er erschlägt mich beinahe, der dazwischentretende Erzieher verhütet das Ärgste. Jasna leckt meine Wunden, und ich hasse den Alten zum erstenmal so, daß ich ihn umbringen möchte.

Mein unschuldiges Verhältnis widerspricht herrschenden Moralauffassungen. Ende des Schuljahres erhalte ich ein akzeptables Zeugnis und bin mit einem Genügend in Betragen wieder relegiert.

»Du bist nichts als ein Haufen Scheiße im Körper eines Menschen«, sagt mein Vater, und Mutter weint bekümmert.

Alles trägt Blue jeans.

»Dieser amerikanische Dreck kommt mir nicht ins Haus«, tobt mein Vater, als ich den schüchternen Wunsch äußere. Bill Hailey, Eddi Cochran und Elvis Presley sind mir verboten zu hören.

Wegen eines Posters von Little Richard befiehlt mir der Vater vierhundert Kniebeugen, nach zweihundert komme ich nicht mehr hoch. »Damit du mich in Zukunft mit Niggerfratzen verschonst«, sagt er. Ich klaue fünftausend Schillinge, kaufe mir fünf Blue jeans, einen genieteten Gürtel und die erste Flasche Whisky meines Lebens.

In einem dreckigen Hotel am Ende der Wiedner Hauptstraße erwache ich zwischen zwei grellen Nutten. Sie streiten um jede Berührung, oder besser um jeden grünen Lappen. Eine säuft meine Pisse, und die andere lehrt mich sie lecken.

»Steck ihn mir in den Hintern«, sagt sie, und ich tue es. Die zweite masturbiert, und blaugeäderte Brüste quellen in mein Gesicht.

Dann ist das Geld zu Ende, die Pissoirforellen verschwunden, und ich breche bei meinem Onkel, einem pensionierten Gendarmerieoberst, ein und klaue seine Pistole, eine winzige Steyr Kal. 6.35 mit Kipplauf. Nach fünf Tagen Streunen halte ich an einem Vormittag einem Urlauberehepaar die nicht geladende Waffe unter die Nase und fordere die Urlaubskasse. Sie sind alt und haben kein Geld, ich lasse sie gehen und warte auf Lukrativeres, dann erscheint die Gendarmerie, und ich bin festgenommen.

Abends werde ich meinem Vater übergeben. Der Alte ist steinern und schweigsam. Drei Tage später sitze ich wieder in einer psychiatrischen Beobachtungsstation.

» Er ist nicht normal«, sagt mein Vater, und Mutter nickt beglückt im Kummer über diesen ehrenwerten Ausgang. Dann wandere ich unter die staatliche Erziehungsknute nach Allensteig. Die Gruppenschwester ist spätjüngferlich und versucht, verdrängte Sexualität in ungeheurem Gerede zu sublimieren.

»Stell dich in die Ecke, du Schwein, und beruhige dein Glied«, sagt sie zu mir, als ich bei der Badeschwanzkontrolle, ob der Eichel käse auch weggewaschen ist, mit einem erigierten Ast auftauche. Nach dem Abendgebet wichst mir ein kleiner, zarter Schwuler täglich einen ab. Die Nachtschwester sieht aus wie die Medusa, und ich gehe nachts nie pinkeln, ich habe Angst, sie könnte mir vielleicht begegnen. Die männlichen Erzieher machen sich einen Sport daraus, zu testen, wie viele Ohrfeigen ein Zögling aushält, bevor er umfällt. Einer bringt es bis auf neun, und das bleibt lange Rekord, weil sich die Buben vorher zusammenfallen lassen, der mit den neun hat einen Trommelfellriß, das möchte keiner riskieren.

Mit der Absolvierung der achten Klasse Volksschule beende ich meine schulische Ausbildung, dann verlasse ich Allensteig mit subtilen Kenntnissen über die Methoden staatlich gelenkter Erziehungsstätten.

Die Ferien verbringe ich bei den Eltern, sogar mein Vater spricht hin und wieder mit mir.

Der Sommer ist eine weite, sonnenbeschienene Wiese, Mädchen sind darin, weitgeöffnete, frischfarbige Blumen.

Der Alte versucht ein Aufklärungsgespräch in Gang zu bringen. Ich höre höflich zu, dann verheddert er sich. »Danke, ich weiß Bescheid«, sage ich. Er wird menschlich und schlägt mir verlegen oder erleichtert auf die Schulter.

»Das Wichtigste im Leben des Menschen ist die Schulbildung«, sagt mein Vater, und ich wandere im Herbst ins Bundeskonvikt nach Hörn zum Besuch der Aufbaumittelschule, fünfjährige Abiturvorbereitung ohne Alterslimit. Innerhalbeiner Wocheschaffe ich es, mit zwei um vier Jahre älteren Leibwächtern als Jüngster die Klasse zu beherrschen. Veronika und Lore heißen der angenehme Tribut, der an mich entrichtet wird. Tausend Schilling Taschengeld, die braunhaarigen Wesen, Tennis und Trinkgelage nachts im Schlafsaal mit Törless’schen Spielchen verbrämt, lassen mir kaum Zeit für die schulischen Anforderungen. Der Klassenvorstand benützt einen meiner aggressiven Verschleierungsversuche.

»Ich habe das Heft vergessen … na und?«

Mit einer breit angelegten Vorhaltung aller meiner Disziplinarvergehen, die in meinem Schülerbeschreibungsbogen getreulich festgehalten sind … coram publico.

Irgendwo reißt bei mir der Faden ab. Ich verschwinde aus Schule und Konvikt und besorge mir durch einen Einbruch wieder fünftausend Schilling. Wenige Tage darauf werde ich verhaftet und ins Gefängnis beim Jugendgerichtshof in Wien eingeliefert. Unter Sechzehn ist Rauchen verboten, und ich verkaufe mein Essen für Zigaretten, bis mir die Knie weich sind und vor lauter Hunger ein Darm den anderen frißt. Ich lerne, mich wirkungsvoll zur Wehr zu setzen, den Tritt in die Eier, meine oftmals vorbestraften Zellenkameraden vermitteln mir ihre Erfahrungen. Lore schreibt mir zärtliche Briefe und ich finde, im Gefängnis ist es auszuhalten.

Drei Monate später habe ich in Eisenstadt Verhandlung. Sechs Monate bedingt auf drei Jahre ist das Urteil, der Staatsanwalt, haßsprühend und geifernd: »Berufung wegen zu geringer Bestrafung.«

Bis zur Berufungsverhandlung werde ich entlassen. Ich komme nach Hause, bin für meinen Vater schlechte Luft, Mutter redet im Flüsterton mit mir. Dann stirbt Großvater. Er erkannte mich nicht mehr. Ich sitze an seinem Bett und schaue in das faltige, starre Gesicht. Nach Stunden gehe ich durch den Schnee nach Hause. Meine Schritte knirschen, ich krieche ins Bett und möchte nach langer Zeit wieder ein Kind sein. Und weinen, aber ich kann es nicht mehr.

Am ersten Januar soll ich nach Hamburg in die Seefahrtsschule, damit könnte man eine Verschärfung der Urteils verhindern. Die Richter stören nicht gerne begonnene Ausbildungen bei Jugendlichen, aber der ärztliche Befund versperrt mir den Weg. ›Leider können wir ihn nicht nehmen‹, stand in dem Brief aus Deutschland.

Dreißig Stunden später bin ich in Hamburg Blankenese am Falkensteiner Ufer und frage den entgeisterten Leiter der Schule, ob er es nicht doch versuchen möchte. Der winkt bärbeißig ab. Ohne Geld im Januar ist Hamburg für einen Fünfzehnjährigen ein unfreundliches Pflaster. Vier Tage schlafe ich zwischen Kisten im Hafen, dann folgt ein Temperatursturz, und die Polizei gabelt mich halb erfroren vor einem Heuerstall auf und schickt mich nach Österreich zurück. Dann erscheint ein Psychologe auf der Bildfläche, der großen Einfluß auf meine Eltern gewinnt.

»Bis zur Berufungsverhandlung soll er zeigen, ob er gewillt ist zu arbeiten«, sagt er und vermittelt mir einen Job beim Autobahnbau.

»Am bestn is, du tuast, wos da de aundan sogn«, sagt der Polier und läßt mich stehen. Die anderen befehlen, jeder hat pausenlos etwas für mich zu tun, bis ich einem die Schaufel über den Schädel schlage, dann sind sie plötzlich Kameraden und laden mich zum Rumtrinken ein, dann tragen sie mich bewußtlos ins Quartier. »Deswegen brauchst jo an net glei den Schädl einhaun«, sagt der Polier und lacht brüllend.

Dann schaffe ich es, ein Viertel Rum ex zu überstehen, und bin akzeptiert.

›Die Strafe wurde in neun Monate Arrest umgewandelt und ist binnen acht Tagen anzutreten‹, steht in dem Wisch vom Oberlandesgericht. »Ein Verbrecher gehört eingesperrt«, sagt mein Vater und sonst nichts. Der Psychologe ringt die Hände, und der Rechtsanwalt zuckt die Achseln. »Ich haue ab, zur Fremdenlegion«, sage ich zu Mutter. Die ist verzweifelt. »Aber du wirst doch erst in zehn Monaten sechzehn«, sagt sie dann. »Ich habe in der Zeitung gelesen, die Franzosen führen in Algerien einen Krieg, und die Legion hat hohe Verluste, bei meiner Größe schauen die nicht so genau auf das Geburtsdatum«, sage ich. Der Vater erfährt nichts davon.

Mit dreihundert Schilling, einem Koffer und der Absicht mich direkt in Marseille zu verpflichten, trampe ich los.

Udine, Vicenza, Brescia, Mailand, Turin und Susa, dann bin ich an der französischen Grenze. Auf der Porta Cesana liegen vier Meter Schnee, und ich friere wie ein Hund. Nach sieben Stunden nimmt mich ein Engländer mit bis Gap.

»Ich bin illegal in das Land gekommen und möchte zur Legion«, sage ich am Ortsposten der Gendarmerie Nationale. Die Beamten nicken gelassen und bringen mich – ins Gefängnis. Acht Tage später gibt mir ein Richter vierzehn Tage Arrest wegen illegalen Grenzübertritts, und dann schickt mich die Gendarmerie nach Marseille. An der Gare St. Charles holt mich ein Jeep mit Corporal Chef und einem Legionär mit Käppi blanc am Steuer ab. Es ist Ende April und glühend heiß. Über die Canabiere fährt der Jeep am alten Hafen entlang, dann sind wir in St. Jean, der großen gelben Kaserne der Legion. »Hast du Papiere?« fragt der Sergeant in der Torwache. »Das hier«, sage ich und lege einen Zettel auf den Tisch, den man mir nach der Entlassung in Gap nach meinen Angaben ausgestellt hat. Heinz Koch, geb. am 9.11.1041 in Dresden, Ostdeutschland, vor einem Jahr in die Bundesrepublik geflüchtet, dann weiter nach Österreich gezogen, keine Verwandten‹, steht da. Der Sergeant überfliegt den Zettel. »Nimm deine Klamotten, geh quer durch den Hof, dann die Treppe hoch an der Sanitätsstation links vorbei, in die Schlaf räume – hast du Zigaretten?« sagt er auf Deutsch. Er heißt Schmitz und ist aus Leipzig, erfahre ich später. Er gibt mir drei Pakete ›La Troupe‹ und einen Zehn-Franc-Bon für die Kantine. Im Schlafsaal hocken sie auf den Betten, spielen Karten und saufen. »Junge, bleib hier, setz dich nicht zu diesen dreckigen Spaghettifressern«, sagt einer zu mir, und dann bin ich in einer deutschen Runde. Um zehn wird das Licht ausgelöscht, ein Korporal steht in der Türe.

»Schlägereien sind mir scheißegal, nur Tote will ich nicht sehen«, sagt er grinsend auf Deutsch, »und haut die Schlappohren mal feste in die Schnauze.« Dann schaltet er das Licht aus.

Zehn Minuten später beginnt die Schlacht. Italiener und Spanier, Engländer, Holländer und Ungarn gegen Deutsche, Schweizer und Österreicher.

Mit vier lockeren Zähnen und zerschlagenen Knöcheln sitze ich dann mit einem Berliner auf der Terrasse. Ein riesiger Orangenmond hängt über dem Fort S. Nicolas, einen Steinwurf über dem Wasser, und wir reden über den Sieg – fünf Worte, eine Flasche Bier – immer abwechselnd …

Anderntags bekommen wir Uniformen, khakifarben und ein grünes Schiffchen mit roten Streifen. Das ersehnte Käppi blanc gibt es erst nach der Ausbildung in Siddi bei Abbes. Abends hocke ich in der Kantine und schaue auf den Film, der auf die Wand projiziert wird. Drei Tage später stehe ich mit vier anderen in einem Raum im Kommandogebäude und unterschreibe den Vertrag. Fünf Jahre Dienstzeit, Name nach Wahl usw. Als Kleingedrucktes: Die Legion behält sich drei Monate das Recht vor, den Vertrag ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Aber wer achtet schon auf das?

Drei Wochen lungern wir in der Kaserne herum, dann holt man mich zum Verhör beim Deuxieme Bureau, neben dem Sergeanten, der die Vernehmung durchführt, sitzt ein Mann aus Dresden – er stellt Fragen … ich kann nicht antworten – sie nehmen meine Fingerabdrücke … vierundzwanzig Stunden später erzählt mir der Sergeant die Geschichte eines noch nicht sechzehnjährigen Jungen, der in Österreich zur Vollziehung einer Haftstrafe polizeilich gesucht wird. Ich bekomme fünfzig Neue Franc, meine Klamotten, und dann stehe ich vor der Kaserne am Quai des Beiges. Legion und Kriegsruhm, den ich mir natürlich erwartet habe, gehören der Vergangenheit an.

Im Araberviertel um die Rue Thubaneau esse ich Kus-Kus und peile die Lage. Dann trotte ich in den Hafen. Am Pier neun liegt ein kleines, abgewracktes Schiff. Am Flohmarkt besorge ich mir eine Matratze, Decken und ein Messer gegen die Ratten, die mit vier Beinen und die anderen. Tagsüber brate ich an der Plage in der Sonne – zwischen den fast geschlossenen Lidern belauere ich die Badegäste, und wenn sie ins Wasser gehen, fehlt die Geldbörse oder eine Brieftasche nachher – manchmal knacke ich Autos, aber da ist selten was drinnen. Manchmal laden mich die Matrosen von den deutschen oder englischen Schiffen ein zum Mittrinken, dann liege ich angesäuselt in meiner Koje, und auch die Ratten, die mir über das Gesicht laufen, stören mich kaum.

Irgendwann verfolgen mich drei schwule Araber den Pier entlang bis hinaus zum Liegeplatz meines Schiffes – fast am Ende des Piers ist ein kleiner Leuchtturm – , im Schatten verkrochen warte ich, bis sie auftauchen. Der Pier ist etwa drei Meter breit und führt hundert Meter in das Hafenbecken hinaus, kein Mensch ist hier in der Nacht, der Wind heult um das Gestänge des Leuchtturms, und ich habe Angst. Dann sind sie hier. In dem rotierenden Licht sehe ich einen plötzlich dicht vor mir. Breit und riesig erscheint er mir. Ich springe und halte den Atem an. Das Wasser ist kalt und ölig schwarz. Dann brennen mir die Lungen, und ich tauche auf. Der Pier ist dreißig Meter hinter mir, und die drei stehen am Rand und gestikulieren. Ich streife unter Wasser meine Jeans ab und binde sie mir um den Hals, die Sandalen sind weg, dann schwimme ich quer durch das Becken auf einen der mächtigen Schiffsschatten zu. Über eine stark übermooste Steintreppe komme ich wieder auf den Kai. Drei große Frachter liegen hier vertäut. Meine Arme schmerzen, und mein Keuchen muß einen Kilometer weit zu hören sein. Ich wringe meine Hose und mein Hemd aus, dann hocke ich mich auf eine Orangenkiste und sehne mich nach einer Zigarette. Dann drückt mich die Müdigkeit gegen die Wand eines Lagerhauses, und ich schlafe in eine Ecke gehockt ein. Am Vormittag hole ich mir meine Klamotten von dem Wrack; obwohl niemand zu sehen ist, habe ich keine Lust mehr, dort zu bleiben. Ich kann kein Quartier auftreiben und bleibe bei den Orangenkisten. Nachts beißt mich eine Ratte in den Knöchel. Ich erschlage sie und noch einen von den ekligen, fetten Schatten um mich. Dann verschwinde ich und hocke in einer Matrosenkneipe hinter dem Quai des Rives Neuves. Dort ist Helmut, ein deutscher Matrose, der auf der ›Willem Blook‹, einem Holländer, arbeitet, und Sandra, die Absinthdirne. Vor dreizehn Jahren kam sie aus Hamburg, dann wurde ihr Zuhälter erschossen, und der nächste sitzt seit sechs Jahren wegen Mordes in Nimes im Maison Central, einem der französischen Zuchthäuser.

»Du bleibst bei mir, Junge«, sagt sie und bestellt mir ein Abendessen – das erste nach sechs Tagen.

»Halb verhungert ist er … los, trink Rotwein … oder was willst du?« sagt sie und streichelt mich mit schmutzigen Händen. Sie ist ein Fleischkoloß. Später liege ich zwischen ihren Brüsten wie ein Säugling, und sie schnarcht laut. Ich zerdrücke drei Wanzen und setze mich auf das Fensterbrett. Ich brauchte nur ihre Kohlen zu nehmen und zu verschwinden. Dann lege ich mich wieder neben sie und sie grunzt, erwacht kurz, küßt mich schallend und wirft ihren tonnenartigen Körper auf mich. »Beiß in die Titten, beiß! Sandra bringt dich schon hoch, du verhungerter Wilder.« Ich bin begraben unter Fleisch und einer ranzigen Votze, dann gewöhne ich mich an das Lecken und an das Arschficken: »Feste … ich mag’s in den Aaarsch … fest« – Ich habe Geld und genug zu trinken, und Mahmed, Sandras Freund aus der Berberkneipe gegenüber unserem Hotel, lehrt mich mit dem Messer umgehen.

Die FLN ist aktiv, und ich gerate in eine Razzia. Zwei Tage später schmeißen sie mich aus dem Gefängnis und sagen mir, ich solle mir einen Paß besorgen. Ich gehe zurück zu Sandra und de$ Wanzen, dem Absinth und der stinkenden Fleischgrube zwischen ihren Beinen.

Ich fahre nach Lyon, spaziere entlang der Rhone. Dann steh’ ich an der Straße und stoppe Autos – Richtung Paris. Spät in der Nacht hält ein Jaguar, der Fahrer winkt mir freundlich zu, und ich bin mißtrauisch – zu Recht. Er tätschelt an meinem Schenkel, dann will er mich küssen. »Willst du nicht anhalten?« frage ich und ziere mich. Er hält. Es ist kurz nach Salon-sur-Yonne – ich steche ihm das Messer in den Bauch. Es gleitet hinein wie in frische Scheiße, dann brüllt er, und ich ziehe ihm die Brieftasche aus dem Rock – siebenhundert Neue Franc sind darin –, einen Tag gehe ich durch den Wald, dann steige ich in den Zug und fahre nach Paris.

St. Germain de Pres, Algerier, lichtlose Bars, hin und wieder Essen, dann keines.

Ein paar Tage schlafe ich in einem Hotel am Boulevard Perreire, dann verlangt der Patron ein Ausweispapier, und ich verschwinde über die Hintertreppe. Es ist spät im Mai, und ich schlafe an der Seine, breche Autos auf, und jeden Morgen bin ich in ›den Hallen‹. Manchmal ist Sonntag, und ich bin allein.

Einige Tage später gerate ich in eine Razzia. Ein schmales Gäßchen, Rue Martin, hinter der Gare de l’Est. Ich bekomme einen Schlag über den Arm. »Allez, allez«, brüllen die Polizisten und treiben und prügeln die Passanten in die Wagen.

In der Ecke der Polizeiwachstube ein Gitterkäfig. Zwei mal zwei Meter im Quadrat, drei Meter hoch. Dreißig Leute sind hineingepreßt. Männer und Frauen durcheinander. Der Reihe nach werden sie durchsucht und verhört. Einige können gehen. Der Rest bleibt, Stunden vergehen, dann abends wieder in die Wagen. In die ›Surete‹.

Männer und Frauen werden getrennt. Fünfzig Frauen stopft man in die engen Zellen. Es gibt ein Stück Weißbrot und Wasser. Alles trinkt hintereinander aus demselben Becher. Am anderen Tag komme ich zu einem Dolmetscher.

»Wie heißen Sie«, fragt er, und »aus welchem Land kommen Sie?« Er spricht Deutsch ohne Akzent. An einem anderen Schreibtisch randaliert eine Hure. Ich gebe keine Antwort.

»Maison d’ Arret de la Sante«, sagt der Dolmetscher. Der Uniformierte daneben nickt.

Wieder in den Wagen. Blechverdeckte Einzelabteile, schmale Sehschlitze für den Wärter. Schier endlos rumpelt der Wagen durch die Straßen. Dann ist die Tür offen, ich stehe in einem Gefängnishof. Graurote Mauern und eine Postenkette. Schlagstöcke in den Händen, weiße Schulterriemen, weiße Gürtel und hohle, blaue Käppis.

»Zweite Abteilung, erste Etage, Zelle sechsundfünfzig«, sagt der Beamte in der Aufnahme.

Zwei Glasschüsseln, zwei braune, dünne Decken, ein Kopfpolster. Durch den Duschraum gehe ich in die angegebene Abteilung. Düster die hohe Halle, Laufgänge, scheinbar himmelhoch, Schatten entlang der Wände, Gefangene, im Hellen die Wärter. Dunkelblaue Uniformen, silberne Fünfzacksterne an den Kragenaufschlägen und am Vorderrand der niedrigen Tellerkappen. Irgendwo ein Schreien, es versickert in dem endlosen Gang. Ein Beamter sperrt die Zelle auf. Sechs Quadratmeter, verfliest, ein Klappbett, ebenso Tisch und Klappstuhl mit Ketten an die Wand genietet. Ein Wandkästchen, die Klosettmuschel links neben dem Eingang, das Fenster in zwei Meter Höhe.

Täglich Einzelspaziergang, links und rechts Betonwände, die beiden anderen Seiten massive Stahlgitter mit einem kleinen Einlaß. Einmal wöchentlich Bad in einer Einzelkabine. Dreimal am Tag sehe ich andere Menschen, wenn mir das Essen durch eine schmale Luke in der Türe gereicht wird. Untertags ist das Bett an die Wand hochgeklappt und versperrt. Nach einer Woche bekomme ich zwei französische Bücher. Die Zeit steht still und Wochen vergehen, dann Monate. Niemand spricht mit mir. Die Wärter haben abweisende Gesichter, ein schmaler Streifen Himmel ist zu sehen. Ich weiß nicht, was man mir vorwirft. Nach drei Monaten holt man mich erstmals vor Gericht, dort sagt man mir auch, warum ich in Haft bin.

»Zur Überprüfung der Identität und wegen Landstreicherei«, übersetzt ein Dolmetscher den Richter. Ich komme wieder auf die gleiche Zelle, dann schreibe ich an die Eltern. Einen Monat darauf bringt man mich in ein Jugendgefängnis, wieder in eine Einzelzelle. Ich werde zu fünf Monaten verurteilt, und mein Vater veranlaßt, daß mich der Psychologe abholt. Drei Tage später bin ich wieder im Gefängnis in Wien. Jugendstrafanstalt Wien – Hardtmuthgasse. Die sechs Monate vom Berufungsgericht sind fällig.

 

Schnüre in Preisschildchen einziehen, eintausendsechshundert Stück am Tag, das Pensum. Wöchentlich einmal kommt der Psychologe und führt Aufbaugespräche mit mir. Manchmal kommt Mutter, Vater nie. Später werde ich in die Anstaltsbibliothek transferiert. Ernst Zahn und Sven Hedin in hunderten Exemplaren, die Borgia-Trilogie darf nicht ausgegeben werden, ist Pornografie. Der Direktor heißt Sagl, und Hände in die Hosentaschen zu stecken während des Spaziergangs bei beißender Kälte, bringt drei Tage Absonderung in einer Einzelzelle im Keller mit Betonfußboden und sonst nichts darin. Die Beamten schlagen die Häftlinge mit dem Gummiknüppel und manchmal mit der Faust. Dann kommt Herr Ellmayr und lehrt die Häftlinge gutes Benehmen und aus welchen Gläsern Rotwein und aus welchen Sekt getrunken wird. Streitereien und Prügel, selten Samstagnachmittag dreißig Minuten Tischtennis vor der Gitterwand am schmalen Plateau neben dem Dienstzimmer der Etagen.

»Moch des, oda du kriagst ane in die Goschn«, sagen die Beamten, und dann werde ich entlassen und sehe den Vater wieder und Mutter … und den Psychologen, es ist Frühjahr 1961.

Gerede zu Hause, dann fahre ich in die Schweiz. Zürich, ein verregnetes Frühjahr, Akkordarbeit und Ly, das Mädchen vom Stadtrand, mit puritanischen Eltern und voll kindlicher Gier nach meinen Händen. Alle Tage weißer Rum und Whisky, dann habe ich sie soweit. Sie spreizt die Schenkel für einen anderen. Ich kassiere achtzig Franken. Sie ist verzweifelt, aber sie bleibt dabei. Mein Vater taucht auf, spielt wild, und etwas später habe ich eine Auseinandersetzung mit der Polizei. Ausweisung und Einreiseverbot für zehn Jahre. Ich lebe wieder zu Hause, dann anderswo, in Hotels, bei Bekannten. Mein Vater ist mein Feind. Mutter geht dabei kaputt. Das Frühjahr 1962 vergeht, nichts verändert sich.