Löwenherz

 

 

 

Die Burg von Milly lag vor ihnen und erzitterte unter dem Ansturm von Richards Truppen. Sonnenstrahlen fielen auf die Rüstungen der Ritter und ließen sie silbrig blinken. Ein ohrenbetäubender Lärm stieg zum Himmel. Stahl prallte auf Stahl, dass die Funken stoben, Männer schrien, Pferde wieherten. Richard stand in vorderster Front und organisierte den massiven Angriff. Unter dem geschlossenen Visier keuchte sein Atem. Neben ihm kämpfte William Marshai, einer seiner getreuesten Gefolgsmänner. Die Leitern lagen an den Mauern der Festung, wieder und wieder hagelte ein Pfeilregen von den Burgmauern herab. »Schilde hoch!«, brüllte Richard wie ein Löwe. Auf Richards Anweisung sollte Rupert sich zurückhalten und verwundete Kämpfer behandeln.

Mit Belustigung erinnerte Rupert sich daran, dass Onfroy von Toron ihm seine Mutter Stephanie von Milly als Frau angeboten hatte. Vielleicht wäre er jetzt der Herr von Milly gewesen! Nur sehr unwillig war er Richard auf diesen Feldzug gefolgt. Er hatte trotzdem das kleinere Übel gewählt. Denn im warmen Bett ließ er seine ihm angetraute Gemahlin, Lady Gwendolyn, zurück. Er hoffte, dass sie nach der Hochzeitsnacht ein für alle Mal von ihm genug hatte.

Richard sah mit Entsetzen, dass William Marshai spontan auf eine Leiter stieg und die Burgmauer erklomm. Einer seiner Kampfgefährten war auf der Mauer von den Verteidigern der Burg in die Klemme genommen worden. Der bereits über Fünfzigjährige ließ alle Acht beiseite, um den jungen Ritter aus seiner misslichen Lage zu befreien.

»Marshai«, schrie Richard, »ein Mann Eures Ranges und Standes sollte sich nicht in solche Unternehmungen stürzen! Lasst die jungen Ritter ihr Ansehen verdienen!«

Wütend warf er seinen Helm auf die Erde, als er zum Lager zurückritt. »So eine Unbesonnenheit in diesem Alter! Ich brauche Marshai noch.«

Rupert reichte ihm heißen Wein und grinste. »Solcher Leichtsinn dürfte Euch wohl bekannt sein, Sire.«

»Das ist etwas anderes, wenn ich das mache«, erwiderte Richard. Er sprang auf, als seine Ritter einen sich mit Händen und Füßen wehrenden Mann ins Zelt zerrten. Er trug Kettenhemd und Waffenrock, das Schwert hatte man ihm abgenommen. Richard starrte ihm ins Gesicht. »Philipp de Dreux«, staunte er.

»Lasst mich los!«, tobte der Gefangene. »Ich bin ein Mann der Kirche!«

»Ein Bischof, der in ganz Europa Lügen über mich verbreitet und schnell mal zur Waffe greift, wenn ihm danach gelüstet. Ihr seid wie ein Festbraten auf meiner Tafel. Wir nehmen ihn mit nach Rouen!«

 

 

Zufrieden mit seiner erfolgreichen Eroberung in der Normandie, zog Richard mit seinen Soldaten nach Rouen. Zu seiner Zufriedenheit trug auch der Fang seines Widersachers bei. Der Bischof von Beauvais wollte sich nicht beruhigen und tobte wie ein Wahnsinniger. Bislang wollte Richard ihn nicht in Fesseln legen lassen, es wäre eine unangemessene Demütigung für den Bischof. Doch als sie an einer Kirche vorbeizogen, sprang Philipp de Dreux wie ein Affe an die Kirchentür und krallte sich an der Klinke fest. »Ich verlange Asyl«, kreischte er. »Ich bin ein Mann der Kirche!« Mehrere Ritter versuchten, den Tobenden von der Kirchentür wegzuziehen. Philipp klammerte sich fest, während er wie am Spieß schrie. Mit einem kräftigen Hieb auf den Kopf setzte einer der Ritter den Tobenden außer Gefecht. In Rouen warf ihn Richard in den Kerker.

Das rief die Familie des Bischofs auf den Plan, die beim Papst und bei Richard die Freilassung des Gefangenen forderte. Richard eilte mit festem Schritt in die Empfangshalle, auf seinen ausdrücklichen Wunsch von Rupert begleitet. Die Kleriker und Familienangehörigen verneigten sich vor Richard. Der machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Platz auf dem Stuhl einzunehmen. Er blieb mitten im Raum stehen. »Seid Richter zwischen mir und Eurem Herrn«, tönte er. »Ich will gern alles vergessen, was er mir getan und gegen mich angezettelt hat, mit einer Ausnahme: Als ich aus dem Orient zurückkehrte und vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gefangen gehalten wurde, zollte man meiner königlichen Person eine gewisse Achtung und ich wurde mit der mir gebührenden Ehre bedient. Da erschien eines Abends Euer Herr. Was er dann in der Nacht mit dem Kaiser ausheckte, dessen bin ich am nächsten Morgen gewahr geworden. Der Kaiser nämlich erschwerte meine Lage und bald war ich so mit Ketten beladen, wie kaum ein Pferd oder ein Esel sie hätte tragen können. Und nun entscheidet darüber, welche Art von Gefangenschaft Euer Herr von mir erwarten kann, er, der solch eine Rolle bei dem spielte, der mich gefangen hielt.«

»Das ist doch nur Eure persönliche Rache«, warf einer der Kleriker ein und blickte dem König hasserfüllt ins Gesicht.

Richard lächelte liebenswürdig. »Mitnichten, Bruder Schwarzkittel. Der Bischof wurde nicht während des Predigens, sondern im Kampf ergriffen. Er tauschte Hirtenstab gegen Lanze, die Mitra gegen den Helm, das Messhemd gegen den Harnisch, die Stola gegen den Schild, das Schwert des Geistes gegen das Schwert aus Eisen. Er vergaß, dass wir uns nicht mehr auf dem Kreuzzug befinden. Es war sein eigener Kreuzzug – gegen mich!«

Damit ließ Richard die Versammelten stehen. Er packte Ruperts Arm. »Nun weißt du auch, warum mir an den Deutschen nichts liegt und warum ich die mir angetragene Kaiserkrone abgelehnt habe. Meine Erinnerung an Deutschland besteht aus Kerkerwänden!« Er atmete tief – durch, um seiner Erregung Herr zu werden. »Zum Glück ist der deutsche Kaiser gestorben, es gibt also noch so etwas wie eine himmlische Gerechtigkeit. Außerdem, mit meinem Neffen Otto hätte ich einen geeigneten Nachfolger auf den kaiserlichen Thron in Aachen.«

Sie begaben sich in Richards Privatgemach. Auf dem Tisch lagen Karten, die der König eingehend betrachte. Er tippte mit dem Finger auf eine der Karten. »Siehst du, wenn Otto den deutschen Kaiserthron besteigt, ist das Königreich meines Erzfeindes Philipp im Westen wie im Osten von den Plantagenets umgeben. Eine sehr beruhigende Vorstellung.«

»Für Euch, Sire«, spottete Rupert. Auch er bohrte mit seinem Zeigefinger auf die Karte. »Ihr solltet die Schlinge zuziehen.«

»Du meinst Flandern? Graf Balduin hat schon mehrmals Unzufriedenheit über seine französischen Verbündeten geäußert. Meinst du, wir sollten es versuchen?«

Rupert nickte. »Aber diplomatisch.«

»Ach, de Cazeville, manchmal meine ich, einen Kirchenmann vor mir zu haben, so fürchtest du den Kampf.«

»Ich fürchte ihn nicht, Sire, ich vermeide ihn, wo es möglich ist. Das unterscheidet mich von Euch.«

»Ja, ja, das unterscheidet den Hitzkopf vom kühlen Strategen. Ich weiß, wie du über mich denkst.«

»Wirklich?« Rupert warf dem König einen schrägen Blick zu.

Der König ließ William Marshai zu sich rufen. »Damit Ihr Euch nicht wieder in jugendlichem Übermut auf gefährliches Glatteis begebt, lieber Marshai, werde ich Euch mit einer Aufgabe betrauen, die Eurem diplomatischen Geschick angemessen ist. Nehmt ein paar meiner besten Ritter, Peter von Preaux, Alain Baset und Euren Neffen John und geht nach Flandern. Bringt Graf Balduin dazu, seine Lehenspflicht gegenüber dem französischen König aufzugeben. Ich will ein Bündnis mit ihm schließen.«

Selbstzufrieden strich sich Richard über den Brustkorb. »Du hast keinen Grund zum Tadel«, meinte er launig zu Rupert. »Und ich habe auch gar kein Verlangen nach deinen schwarzen Träumen, mein Freund. Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Weil wir einmal in Rouen sind, besuchen wir meine geliebte Schwester Jeanne. Sie hat Raimond von Toulouse geheiratet und ist jetzt stolze Mutter eines kleinen Sohnes. Du kennst sie ja und sie wird sich freuen, dich wiederzusehen.«

»Was ich bezweifle, Sire.«

»Oh, willst du nach Hause zu deiner süßen kleinen Frau? Ich vergaß völlig, dass du ja frisch vermählt bist.

Lady Gwendolyn verzehrt sich sicher voll Sehnsucht nach dir.«

»Was ich ebenfalls bezweifle, Sire.« Rupert wurde das Gespräch unbehaglich. Eine Vertrautheit hatte sich zwischen ihnen entwickelt, seit sie sich zum zweiten Mal in ihrem Leben trafen, eine Vertrautheit, die für Rupert ungewöhnlich war, zumal er dem König nicht verziehen hatte, dass er ihn zu dieser Heirat überrumpelte. Der König hingegen schien sich in Ruperts Nähe ungemein wohl zu fühlen und wollte ihn in keiner Weise mehr missen.

»Wieso?«, staunte Richard. »Hast du sie nicht richtig… ich meine, habt ihr diese Ehe vollzogen?«

Rupert schwieg, in seinen Augen loderte ein Unheil verkündendes Feuer.

»Hast du?«, fragte der König eindringlich und packte Ruperts Schultern. »Ich frage dich nicht als dein Freund, sondern als dein König. Du musst mir die Wahrheit sagen!«

»Fragt sie doch selbst, wie sie die Hochzeitsnacht überstanden hat. Als wir das Château verließen, lag sie noch immer in Ohnmacht.«

»Donnerwetter!« Richard klappte der Unterkiefer herunter. »Was entgeht mir denn da?«

»Nichts, Sire. Aber Eurer Gattin entgeht etwas.«

 

 

Als Gwendolyn die heimkehrenden Reiter sah, hüpfte ihr Herz vor Freude. Doch gleich darauf beherrschte sie sich. Sie wollte niemandem ihre Freude zeigen, nicht ihm, nicht ihren Zofen, nicht ihren Rittern, nicht dem Gesinde. Aber nie wieder würde sie gegen ihn kämpfen können!

Sie blieb im Türbogen stehen, als Rupert vom Pferd stieg und die Zügel einem Knappen zuwarf. Dieser nahm den wertvollen arabischen Hengst in seine Obhut, als wäre es eine heilige Reliquie. Sie senkte nicht den Blick vor ihm, als er sich ihr näherte.

»Ich sehe, Mylady haben ausgeschlafen«, sagte er nur und zog sich die Handschuhe herunter.

»Welch eine Begrüßung für seine Gattin«, spottete Gwendolyn. »Ich habe Euch ein Bad richten lassen und kühler Wein steht bereit.«

Ein flüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ihr lernt schnell, Mylady.«

»Habt Ihr daran gezweifelt?«

»Nein!« Er deutete einen Kuss auf ihren Handrücken an und betrat die schattige Halle. Diener eilten herbei, um seinen Umhang abzunehmen. Dann geleiteten sie ihn in die Gemächer, wo ein Zuber voll heißem Wasser auf ihn wartete. Gwendolyn blieb in der Halle, richtete selbst ein kleines Mahl auf der Tafel an und wartete, bis Rupert sein Bad beendet hatte. Es dauerte eine geraume Weile. Er betrat, in frische Gewänder aus schlichtem Leinen gekleidet, die Halle und ließ sich an der Tafel nieder. Lustlos begann er zu essen und trank den kühlen Wein.

Gwendolyn betrachtete sein verschlossenes Gesicht. »Ihr seid nicht gern zurückgekehrt«, stellte sie fest.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Dann lehnte er sich zurück. »Nein«, sagte er nur.

»Habe ich Euch enttäuscht, Mylord?«

Er atmete tief ein, als ob ihm dieses Gespräch Unbehagen bereitete. Unwillig schob er den Weinkrug beiseite. »Ich will Wasser, frisches, klares Quellwasser«, raunzte er den Diener an, der sofort davoneilte, um das Gewünschte zu bringen. »Keineswegs«, sagte er, zu Gwendolyn gewandt. »Es geht nicht um Euch.«

»Um wen dann?«

Rupert erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. »Kommt mit!«, forderte er Gwendolyn auf.

Sie betraten ihr gemeinsames Gemach, das sie in der Hochzeitsnacht teilten und das ihres war, solange sie auf Château-Gaillard weilten. Er packte sie und setzte sie vor sich auf den Tisch. Ohne zu zögern schob er ihre Röcke hoch und drückte ihre Knie auseinander. »Geht es dir wieder gut?«, fragte er leise.

Sie schlang die Arme um seinen Hals und legte ihr Gesicht an seine Schulter. »Verzeih mir, dass ich so abweisend zu dir war«, flüsterte sie.

»Oh, bist du das nicht mehr?«, spottete er.

»Du machst mich verlegen.« Sie lächelte und eine tiefe Röte flog über ihr Gesicht. »Du hast mir die wundervollste Erfahrung meines Lebens geschenkt. Ich werde dir das niemals vergessen. Ich danke dir dafür.«

Sie suchte seine Lippen und er erwiderte ihren Kuss, der wie Feuer durch ihren Körper schoss. Spielerisch rieb er seine Lenden gegen ihre Schenkel und wieder überkam sie dieses berauschende Kribbeln. Sie war ihm verfallen mit all ihren Sinnen und sie sehnte sich nach einer erneuten Vereinigung mit ihm. Es war das erste Mal, dass er sie küsste, und sein Kuss war ebenso überwältigend wie eine Vereinigung mit ihm. Sie hörte, wie sein Gürtel zu Boden fiel. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften und nahm ihn in sich auf.

»Küss mich noch einmal«, hauchte sie. Sie wand die Arme um seinen Hals und saugte sich an seinen Lippen fest wie eine Ertrinkende. Sie konnte nicht genug bekommen von ihm und sie war so froh, dass er wieder da war. Ihre Vereinigung war wild und lustvoll, er brauchte keine Verführungskünste, um in ihr ein Feuerwerk der Leidenschaft auszulösen. Ihr erhitztes Gesicht hatte sich gerötet, ihre grünen Augen funkelten. Sie hielt die Lippen geöffnet und keuchte. Er packte ihre Fußfesseln und drückte sie gegen ihre Schultern. Sie krallte sich an der Tischkante fest. »Willst du das so?«, keuchte er.

»Ja«, stöhnte sie. »Ich will dich, ich will dich!« Schmerz und Lust mischten sich und umnebelten ihre Sinne. »Mehr! Mehr!« Sie explodierte mit einem gellenden Schrei. Er krümmte sich auf dem Höhepunkt der Lust zusammen, es schmerzte in seinem Kopf.

Beide verharrten sie einen langen Augenblick, bis sie sich wieder gesammelt hatten. Er schob sie von sich. »Verdammt, wo bleibt dieser Kerl mit dem Wasser!« Unwillig ging er zur Tür. Verschämt schob Gwendolyn ihre Röcke herunter. Die Dienerschaft sollte sie nicht so sehen. Rupert kam mit dem Wasser zurück und trank einen tiefen Schluck. Dann blickte er auf. »Nächste Woche zieht der König wieder gegen Philipp nach Gisors. Ich werde ihn begleiten.«

»Warum? Du bist kein Ritter, hast ihm keinen Eid geschworen. Warum zwingt er dich dazu?«

»Du sollst wissen, dass ich mich nie zu etwas zwingen lasse. Wenn ich in Richards Gefolge bleibe, dann tue ich das freiwillig. Du aber wirst auf deine Burg zurückkehren.«

In Gwendolyns Augen traten Tränen, die sie tapfer wegdrückte. Doch ihre Stimme zitterte. »Es ist jetzt deine Burg. Und ich bin deine Frau.« Ihr wurde plötzlich übel vor Angst, ihn zu verlieren. Sie riss ein weißes Linnentuch vom Tisch und hielt es sich vor den Mund.

»Du solltest mich nicht immer daran erinnern«, schrie er sie an. »Und hör auf zu heulen! Du reist sofort ab. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Du hast dich in Valbourgh um vieles zu kümmern, ich erwarte es von dir.«

»Ich dachte, wir bleiben bis Weihnachten hier. So jedenfalls hat es der König gesagt.« Trotz regte sich in ihr.

»Mich interessiert nicht, was der König gesagt hat. Du machst, was ich sage!«

»Nein!«

Zornig packte er ihr Handgelenk. »Verdammt, Gwen, warum bist du so aufsässig?«

»Weil auch ich nur das tue, was ich will! Auch du wirst mich nicht zu etwas zwingen, das ich nicht will!« Ihre Augen sprühten Funken, ihr Gesicht war gerötet und ihr Atem ging heftig. »Nur weil ich deine Frau bin, werde ich nicht dein Hund sein!«

»Ich sollte dir den Hintern versohlen, du eigensinniges…«

»Wage es, ich lass dich nach meinem Schwert tanzen!«

»Und ich dich nach meinem«, rief er, zog sie an sich und riss ihr die Kleider vom Leibe. »Endlich bist du wieder die wilde Kriegerin, in die ich mich verliebt habe!«

 

 

Rupert lenkte Djinn an Richards Seite. Sein untrügliches Gespür für Richards Gemütsbewegungen ließ ihn wachsam werden. Richard sah ihn nicht an, sondern lenkte seinen Blick irgendwo in die Ferne. »Seit ich lebe, bekämpfe ich ihn, so wie Gott und Teufel miteinander kämpfen, das Gute gegen das Böse.«

»Wer ist das Gute, wer das Böse?« Leise Ironie lag in Ruperts Stimme.

Der König hob die Schultern. »Wenn ich das wüsste!«

Sie standen vor Gisors. Die kleine Ortschaft Courcelles war von französischen Truppen besetzt. »Wann hört das endlich auf?«, fragte Richard mehr sich selbst.

»Wenn einer von beiden Königen stirbt.«

Richard fuhr leichenblass herum. »Was redest du da?« Er starrte Rupert an.

Rupert senkte den Blick. »Einer wird sterben«, wiederholte er.

»Hast du das gesehen?«, schrie Richard.

Rupert nickte schwach. Dann wendete er sein Pferd und ritt vom Hügel herab.

»Unsinn, alles Unsinn!«, brüllte der König. »Wir greifen an!«

König Richards Truppen rückten vor und nahmen den Ort im Handstreich. Philipp wurde in die Flucht geschlagen. Lachend und höhnend verfolgte ihn Richard mit seinen Mannen bis Gisors. Die Flüchtenden galoppierten über eine hölzerne Brücke, die die Trosne überspannte. Es krachte fürchterlich, Balken und Bretter flogen durch die Luft, Pferde und Reiter schrien durcheinander. Philipp war samt seiner Ritter in den Fluss gestürzt.

Richard und seine Männer verhielten am Ufer und starrten auf die grausige Szene. Einige Ritter schleppten sich ans andere Ufer, viele wurden vom Strom weggerissen, die schweren Kettenhemden zogen sie unter Wasser.

»Ist Philipp dabei?«, wollte Richard wissen.

»Sire, dort ist er, am anderen Ufer. Er hat es überlebt. Es ist ein Wunder!«

»De Cazeville hatte Recht. Beinahe! O mein Gott, Rupert, ich habe dir Unrecht getan!«

 

 

Er trug nur ein schlichtes Leinenhemd über seinen braunen Wollhosen und hockte vor dem Kamin. Auf seinen angezogenen Knien hielt er einen Tonbecher mit Wein, sein Rücken lehnte an Ruperts Rücken, beide starrten sie ins knisternde Feuer. Die Stimme des Königs war leise und rau.

»Mein Bruder John hat mit Philipp paktiert, hinter meinem Rücken.« Rupert spürte das Beben von Richards Schultern. »Er kann es nicht erwarten, König zu sein. Er war überzeugt, ich kehre nicht wieder aus Palästina zurück. Dass unsere Mutter das Lösegeld für mich gesammelt hat, muss für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.« Richard fuhr herum. »Während ich im Kerker des Kaisers schmachtete, wurden die beiden richtige Kumpane und wüteten gemeinsam in der Normandie. Sie nahmen Evreux ein, sie sollen dem deutschen Kaiser sogar Geld geboten haben, damit er mich nicht freilässt.«

»Warum zeigt Ihr Eurem Bruder gegenüber dann so viel Nachsicht?«, wollte Rupert wissen.

»Weil ich großzügig bin, weil ich vergeben kann, weil ich der König bin!« Richard war aufgesprungen und lief mit festen Schritten im Raum auf und ab. Doch gleich darauf ließ er sich mit einem Seufzer wieder neben Rupert auf das dicke Schaffell plumpsen.

»John ist ein Kind, er stand unter schlechter Obhut. Diejenigen, die ihn falsch beraten haben, trifft die Schuld. Ich wollte John zum Teufel jagen, das stimmt«, gab er etwas kleinmütiger zu. »Aber als ich englischen Boden betrat, als mir die Bevölkerung Londons zujubelte, als ich an Beckets Grab kniete, bei Gott, da wurde mein Herz so weit, da füllten sich meine Augen mit Tränen, ich konnte einfach nicht anders, als dankbar und großherzig zu sein.« Ruckartig fuhr er zu Rupert herum. »Das verstehst du doch?«

»Nein.« Ruperts Gesicht blieb ausdruckslos.

»Mein Gott, ich bin ihr ruhmreicher Sieger, ihr Märtyrer, sollte ich sie dafür strafen?«, ereiferte sich Richard. »Ich musste mein Augenmerk auf Philipp richten, der überall auf meinen Ländereien Zerstörungen anrichtete. Doch woher sollte ich das Geld für eine neue Armee nehmen? Die Kassen waren leer, England ausgeblutet. Ich habe eine Anleihe auf Wolle nehmen müssen.« Er senkte den Kopf.

»Ihr seid gefangen, Sire, Gefangener Eures Kampfes. Zeit Eures Lebens werdet Ihr diesen Kerker nicht verlassen können.« Rupert stellte seinen Becher ab, als er Richards Erschütterung sah. Er zog ihn in seine Arme und hielt ihn fest.

»Ich hab ein Gedicht geschrieben, als ich in Heinrichs Kerker saß«, murmelte Richard. »Ich fühlte mich so elend.« Mit leiser Stimme rezitierte er:

 

»Kein Gefangener wird von sich reden

Wie die, welche nicht leiden;

Aber zum Trost kann er ein Lied schreiben.

Viele Freunde habe ich, aber arm sind ihre Gaben.

Sie werden Scham empfinden, dass ich für mein Lösegeld

Zwei Winter gefangen war!

 

Meine Männer und Barone wissen es,

Engländer, Normannen, Poiteviner und Gascogner,

Dass ich im Gefängnis bin.

Ich sage dies nicht als Vorwurf,

Doch bin ich immer noch im Kerker!

 

Dabei weiß ich sehr wohl,

Dass der Tod mir weder Freunde noch Verwandte nimmt,

Wenn man mich für Gold und Silber freilässt.

Leid ist mir um mich, aber mehr um meine Leute,

Dass nach meinem Tod sie sich

Vorwerfen müssen,

Dass ich so lange gefangen bin!

 

Es ist nicht verwunderlich, dass mein Herz leidet,

Wenn mein Herr mein Land quält;

Wenn er sich nur an den Schwur erinnerte,

Den wir beide gemeinsam ablegten!

Wohl weiß ich, dass ich dann nicht so lange

Hier gefangen würde!

 

Das wissen die Leute aus dem Anjou und der Touraine wohl,

Ob sie nun gelehrt sind oder reich und gesund,

Dass es hart ist, so lange in jemandes Hand zu sein!

Früher liebten sie mich und heute nicht mehr.

Die schönen Waffen sind jetzt sinnlos und ungenutzt, –

Weil ich immer noch gefangen bin.

 

Meine Gefährten, die ich liebte und noch liebe,

Die aus Cahiu und Porcherain,

Sagen mir, es sei ungewiss,

Dass ich niemals zu ihnen je falsch oder böse war.

Wenn sie mich bekämpfen, tun sie mir Schlimmes an,

Solange ich gefangen bin!«

 

Der König schluchzte leise, dann hob er den Blick und in seinen Augen standen Tränen der Verzweiflung. »Verstehst du nun, warum ich Philipp nicht vergeben kann?«

 

 

Es war ein stilles und friedliches Weihnachtsfest im Jahre des Herrn 1198, das der englische König mit seinem Hofstaat in Domfront beging. Die Schlachten waren geschlagen, die letzte in Vernon. Philipp war bereit zu einem Frieden.

»Ihr könnt nur aus Eurem Gefängnis ausbrechen, wenn Ihr den Teufelskreis aus Krieg und Hass durchbrecht, Sire«, hatte Rupert ihm ins Gewissen geredet. »Das Volk ist ausgeblutet, Ihr habt zu viel Härte gezeigt. Es war nicht notwendig, dass Ihr französische Gefangene blenden ließet!«

Richard schwieg zu Ruperts Vorwürfen. Seine Schultern hingen herab, er starrte vor sich hin. Es war nicht das Bild des strahlenden Siegers und vor Rupert versuchte er gar nicht erst, als solcher sich darzustellen.

»Die Normandie ist befriedet und gehört Euch. Schließt das Kapitel Philipp ab!«

Das tat der König letztlich im Januar des darauf folgenden Jahres. Am Sankt-Hilarius-Tag wurde der Vertrag geschlossen, der einen fünfjährigen Frieden besiegelte. Zu diesem Anlass erfolgte eine Vermählung zwischen Philipps Sohn und einer Nichte Richards. Und Richards Neffe Otto sollte fortan mit Hilfe des englischen Königs das Heilige Römische Reich regieren. Philipp gab sich auf ganzer Linie geschlagen.

 

 

Lady Gwendolyn scheuchte die Dienerschaft herum, die eifrig am Packen war. So gern sie sich am Hof Richards aufhielt, freute sie sich auf die Heimkehr nach Valbourgh. Der Krieg war vorbei, sie wollte sich dem Aufbau ihres Landes widmen, gemeinsam mit Rupert.

Für Rupert ging ein Stück seines Lebens zu Ende, ohne dass er irgendwelche Wehmut empfand. Diesmal würde er sich endgültig von Richard trennen. Es gab keinen Grund mehr, an der Seite des Königs zu bleiben. Richard würde nach Aquitanien zurückkehren, er mit Gwendolyn nach Valbourgh.

Lange hatte er über sein Verhältnis zu Gwendolyn nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass er wohl noch eine Weile mit ihr auskommen würde. Er fühlte sich nicht an das Eheversprechen vor dem Altar gebunden, aber sie gab ihm den Widerstand, den er brauchte, um nach seinen Vorstellungen leben zu können. Das Frühjahr war angebrochen, es roch nach frisch aufgebrochener Erde. Er sehnte sich nach weiten Wäldern, frischem Grün, Einsamkeit und Gwendolyns Körper.

 

 

Rupert erwachte mitten in der Nacht. Draußen war es ruhig. Die Nacht war windstill und der Himmel bedeckt. Die Schwärze schien nach ihm zu greifen. Sein Körper war schweißnass und sein Herz raste. Neben ihm schlief Gwendolyn mit ruhigen Atemzügen in dem breiten Bett. Ein entspannter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Er erhob sich und tastete sich zur Tür. Die Mauern des Raumes schienen ihn zu erdrücken, er bekam keine Luft. Lautlos lief er durch die Gänge und blieb schwer atmend an der offenen Balustrade zum Innenhof stehen. Der Traum war deutlich. Ein goldener Pfeil durchschnitt die Luft mit einem leisen Sirren. Dann war Blut. Eine kleine Ameise suchte hastig das Weite. Im Sand lag ein toter Löwe!

»Ich werde nicht nach Valbourgh zurückkehren, du wirst allein reisen«, teilte er am nächsten Morgen der entgeisterten Gwendolyn mit.

»Was ist los? Was ist geschehen?«, fragte sie angstvoll.

Ruperts Gesicht war blass und hart, seine Augen blickten durch sie hindurch. »Nichts. Ich werde den König nach Aquitanien begleiten.«

»Aber warum? Ist es wegen mir? Bist du nicht zufrieden mit mir?« Sie flehte, sank auf die Knie, weinte. Angewidert schob er sie weg.

»Lass mich in Ruhe«, keuchte er. Ihn würgte, ihm war übel. Er lief zum Stall und sattelte sein Pferd.

»Nanu, de Cazeville, was macht Ihr hier?«, fragte Richard erstaunt, als er seine Ritter um sich versammelte, um gen Süden aufzubrechen.

»Ich bitte Euch, Sire, lasst davon ab. Bleibt hier. Im Süden droht Euch Gefahr.«

Richard hob lachend die Hände. »Welche Gefahr soll mir denn drohen? Ich kehre zurück in mein geliebtes Aquitanien. Nach Hause!« Die umstehenden Ritter lächelten, andere spotteten.

»Dann werde ich Euch begleiten, Sire«, erwiderte Rupert fest.

»Wenn’s denn sein muss. Ich habe Euch lange in Anspruch genommen, weil es einfach notwendig war. Aber nun habt Ihr Euch Eure Ruhe verdient. Es ist Frieden, ich habe meinen Erzfeind besiegt, die Normandie ist befriedet, in England läuft alles seinen geregelten Gang und meine geliebte Mutter hat sich ins Kloster Fontevrault zurückgezogen. Friedlicher als jetzt ging es in meinem ganzen Leben nicht zu.« Der König riss ungeduldig am Zügel seines Pferdes. Dann beugte er sich zu Rupert herüber und sagte leise: »Ich habe nicht einmal Verlangen nach deinen schwarzen Träumen, mein Freund. Du brauchst dir also keine Gedanken um mich zu machen.«

»Ich weiche nicht von Eurer Seite, Sire.« Rupert blieb unerschütterlich.

Wortlos wandte Richard sich ab und gab mit erhobenem Arm das Zeichen zum Aufbruch.

 

 

Während die meisten seiner Ritter Anfang März auf ihre Lehen und Domänen oder an den Hof von Poitiers zurückkehrten, weilte Richard mit einer Hand voll Getreuer, unter ihnen sein Bruder John, William Marshai und Rupert, an der Loire. Er wollte seine Präsenz demonstrieren. Aquitanien lag in seltener Friedfertigkeit zu seinen Füßen. Der Frühlingswind hatte den Schnee weggeschmolzen, die Bauern brachen die nasse, duftende Erde auf.

Die Reiter hielten auf dem Hügel in der Nähe von Château-du-Loir. Vor ihnen erstreckte sich das Land unter der ersten warmen Frühlingssonne.

»Man sieht es meinem mütterlichen Erbe auf den ersten Blick nicht an, dass es mir so viel Sorge bereitet hat«, sagte Richard und beschattete seine Augen mit der Hand. »Aber mein Herz hängt an diesem Land, hier bin ich aufgewachsen. Ich spüre den Pulsschlag dieses Landes in meinen Adern. Es sind andere Menschen, die hier leben. England brauche ich nur zur Erhebung von Steuern. Hier aber lebe ich!« Er atmete tief die würzige Luft ein. Dann blickte er auf seinen Bruder John, der neben ihm auf dem Pferd saß und Richards Blicken folgte. »Das kannst du mir natürlich nicht nachfühlen, nicht wahr, Bruderherz? Wie solltest du auch! Ziel deines ganzen Strebens ist England. Weißt du, ich halte es für besser, wenn du dahin zurückkehrst. William Marshai wird dich begleiten.«

Marshai senkte ergeben den Kopf, während der spitznasige John seinem älteren Bruder einen bösen Blick zuwarf. »Willst du mich loswerden?«

Versöhnlich lächelte der König. »Nein, ich übertrage dir die Verantwortung für England. Ich sagte doch, ich brauche England, meine Kassen sind leer.«

Er wurde unterbrochen, als ein Bote ihm gemeldet wurde. Er kam von Aymar, einem der Barone aus der Gegend von Poitiers. Mit diesem hatte er früher oft Zwistigkeiten, doch diese Botschaft ließ den König aufhorchen. »Herr, einer der Vasallen Aymars, der Graf von Chalus, hat auf dem Acker eines seiner Bauern einen prächtigen Goldschatz entdeckt.«

»Wie das?«, fragte Richard verblüfft.

»Beim Pflügen, Herr. Der Bauer hat den Schatz gefunden und seinen Herrn benachrichtigt. Darunter war eine goldene Tafel mit einem Relief wunderschöner Figuren, außerdem ein geschmückter Silberschild sowie viele alte Münzen. Mein Herr Aymar lässt Euch hiermit Euren Anteil überbringen, den silbernen Schild.«

Der Bote reichte ihm ein großes, in Tuch eingeschlagenes Paket. Als er die Hülle zurückschlug, offenbarte sich ein wunderschöner, silberbeschlagener Schild, den die Zeit im Boden hatte schwarz werden lassen. Trotzdem war die Pracht noch zu erkennen, vor allem goldene Figuren, die den Schild schmückten. Mit Entsetzen bemerkte Rupert einen kleinen goldenen Löwen, der den Schild zierte.

»Nach dem Recht der Normandie gehört mir der Schatz allein«, erwiderte Richard, nachdem er den Schild ausgiebig betrachtet hatte. »Wo ist der Rest?«

»Ich… ich weiß nicht, Sire«, stammelte der Bote. »Wahrscheinlich noch im Besitz des Grafen von Chalus.«

Richard straffte sich. »Das sehe ich mir selbst an«, beschloss er.

»Nein!« Alle Köpfe drehten sich zu Rupert herum. »Dort droht Euch Gefahr! Es könnte eine Falle sein.«

»Ach, bitte, de Cazeville, fangt nicht schon wieder damit an. Außerdem geht es hier doch nur um ein paar Münzen aus dem Ackerboden. Diesen Schatz kann ich mir nicht entgehen lassen, wo meine Kassen leer sind. Es wird ein vergnüglicher Ausritt.«

»Es ist keine Frage des Geldes, Sire. Es ist eine Frage von Leben und Tod.«

»Ich habe immer den Tod gesucht, mein Freund. Gott war mir gnädig. Ich habe alle Abenteuer heil überstanden.«

»Ihr wart schon immer leichtsinnig, Sire. Und Ihr habt das Schicksal herausgefordert.«

»Ach, kommt schon, de Cazeville, wie viele Schlachten haben wir gemeinsam geschlagen, wie viel Unbill ertragen! Ich saß in Heinrichs Kerker, Ihr lagt in den Ketten der Ungläubigen. Wir überstanden Wüstenstürme, sarazenische Schwerter und das Sumpffieber. Vom Teufel kommen wir und zum Teufel werden wir gehen. Was kann uns denn schon aus dem Sattel werfen?«

»Eine kleine Unachtsamkeit, Sire!«

»Lasst diese dunklen Prophezeiungen, de Cazeville. Fast glaube ich, Ihr wollt mich tatsächlich zur Umkehr bewegen.« Er lachte. »Aber Ihr werdet umkehren, Mylord. Eine schöne Frau wartet auf Euch. Liebende soll man nicht trennen.«

»Ich bitte Euch, Sire«, widersprach Rupert unwillig. »Eine Frau hat mich noch niemals davon abgehalten, meinen Weg zu gehen.«

»Das will ich Euch gern glauben. Aber das hier ist nicht Euer Weg. Ihr seid kein Ritter, kein Krieger. Ihr seid ein Gelehrter, ein Philosoph. Kehrt mit Lady Gwendolyn auf ihre Burg zurück und macht ihr ein paar schöne Kinder. Doch wenn ich in die Normandie zurückkehre, würde ich gern mit Euch an der Tafel sitzen, einen Becher Wein leeren und Eure Kinder auf meinen Knien wiegen,«

Rupert runzelte unwillig die Stirn. »Ist das Euer letztes Wort, Sire?«

Richard nickte. »Mein letztes. Es ist mein königlicher Befehl, dass Ihr unverzüglich zurückkehrt.«

Rupert warf Richard einen langen Blick zu, als müsse er sich sein Bild für die Ewigkeit einprägen. Dann senkte er den Kopf. »Mein König!« Er riss sein Pferd herum und galoppierte John und William Marshai hinterher.

 

 

Gwendolyn erkannte Rupert nicht wieder, als er nach Valbourgh zurückkehrte. Sein ohnehin schmales Gesicht war ausgemergelt, seine Wangen unrasiert, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Ein unheilvolles Glimmen lag darin. Entsetzt wich sie vor ihm zurück. Er ließ sich kraftlos auf die Bank in der Halle fallen und starrte in den erkalteten Kamin.

»Wolltest du nicht den König nach Aquitanien begleiten? Was ist geschehen?« Unwillig knurrte er und schob den Weinbecher beiseite, den sie ihm hingestellt hatte. Ihre Fragerei ging ihm auf die Nerven. »Du warst schon so eigenartig, als wir Château-Gaillard verließen. Hängt es mit deinen Visionen zusammen? So sprich doch! Warum kehrst du allein zurück? Wo ist Richard?«

Rupert schüttelte den Kopf. »Er wird nicht zurückkehren.«

Gwendolyn starrte ihn an. »Aber…« Dann ahnte sie, warum er so sicher war. »Oh, mein Gott!« Sie sank auf einen Stuhl. Es gab eine Zeit, da hatte sie diesen Mann um seine Gabe beneidet. Jetzt ahnte sie, was für eine unmenschliche Bürde es sein musste. Sie wollte nach seiner Hand greifen, aber sie war wie gelähmt. Er würde es auch nicht wollen, dass sie ihm Trost gab. Er brauchte ihn nicht. Er brauchte auch sie nicht. Sie blieb sitzen, als er die Halle wieder verließ. Er wollte jetzt allein sein und sie respektierte es.

Das Land lag in lähmendem Entsetzen, als der Tod des Königs bekannt wurde. Es war ein so sinnloser Tod eines so außergewöhnlichen Mannes. Er starb im Alter von einundvierzig Jahren im Vollbesitz seiner Kräfte. Der Bolzen aus einer Armbrust, die vom Schloss Chalus auf den Ankömmling abgefeuert wurde, hatte ihn an der Schulter verletzt. Nicht tödlich, aber schmerzhaft. Der Feldscher hebelte den Bolzen aus dem Fleisch, wusch die Wunde mit Wein aus und legte Speck darauf. Es war Routine. Richard gratulierte dem Schützen noch zu seinem gezielten Schuss. Zwei Tage später lag der König im Fieber, weitere neun Tage später schloss er für immer seine Augen.

Bis zum letzten Atemzug saß seine Mutter Eleonore an seinem Bett, die man eilends aus Fontevrault geholt hatte. Am 6. April im Jahre des Herrn 1199 schloss sich im Kloster von Fontevrault der Deckel auf seinen steinernen Sarkophag.

Am gleichen Tag kniete ein gebrochener Mann unter der mächtigen Krone eines Baumes und krallte verzweifelt seine Hände in die rissige Borke. Über ihm sangen die Vögel ihr Frühlingslied, die Sonnenstrahlen wärmten den Waldboden. Die Natur erwachte zum Leben. Das übergroße Reich des Richard Löwenherz starb.

 

 

»Warum machst du dich für den Tod des Königs verantwortlich? Du hättest es nicht verhindern können!«, warf Gwendolyn ihm vor.

»Doch! Ich hätte ihn davon abhalten müssen, nach Limoges zu reiten. Zumindest hätte ich ihn nicht verlassen dürfen. Bei mir hätte er keinen Wundbrand bekommen.«

»Hör auf mit deinen Selbstvorwürfen. Es gibt noch etwas anderes als dich und einen toten König. Nämlich mich! Aber so können wir nicht weiter zusammenleben. Es gibt Zeiten, da bin ich einfach Luft für dich. Du bist so anders, wenn du dich zurückziehst, und dann fürchte ich mich vor dir. Ich habe mir geschworen, dich so zu akzeptieren und zu respektieren, wie du bist. Warum kannst du nicht auch so zu mir sein?«

»Erwartest du das von mir?«

»Rupert, ich bin deine Frau«, sagte sie mit belegter Stimme.

Er fuhr herum und schwarze Blitze schossen aus seinen Augen. »Hast du Grund, dich zu beklagen?«, fragte er bissig. »Ich beschlafe dich regelmäßig, bis du vor Lust ohnmächtig wirst, ich habe dir die modernsten Maschinen des Morgenlandes bauen lassen, deine Vasallen haben die beste Ausrüstung der ganzen Normandie, was willst du noch?«

Sie kämpfte gegen ihre Tränen an. »Dass du mich liebst.«

Er schnaufte wie ein unwilliges Pferd. »Liebe?«, höhnte er. »Diese Schwäche soll ich zugeben?«

Sie nickte schwach. »Ich will wissen, ob du mich liebst.«

Er maß sie mit einem abschätzenden Blick. »Oh, du hast mich einmal fasziniert, weil du anders bist als alle anderen Frauen. Du hast Geist, du hast Mut, du bist eine Kämpferin. Und du warst bereits in Liebesdingen erfahren. Zum ersten Mal war mir eine Frau ebenbürtig, geistig wie körperlich. Ich habe dich geachtet für deine Stärke, jetzt zeigst du mir freiwillig deine Schwäche. Sprich nie wieder von Liebe, hörst du?« Er hatte sie derb an den Oberarmen gepackt und schüttelte sie heftig. Sein durchdringender Blick bereitete ihr mehr Schmerzen als sein brutaler Griff und sie wandte die Augen von ihm ab.

»Hältst du Liebe für eine Schwäche?«, fragte sie tonlos.

Angewidert stieß er sie von sich. »Ich halte sie für das Verderben.«

Anklagend hob sie die Augen. »Aber wieso? Sie ist doch etwas Wunderbares! Das Wunderbarste auf der Welt überhaupt!«

Er nickte. »Eben deshalb.«

Sie wand sich aus seinem Griff. »Hast du Richard geliebt?«

Er drehte sich um und starrte die Wand an. Eine Weile legte er den Kopf in den Nacken. »Nein, es war keine Liebe. Er hat mich fasziniert wie kein anderer Mensch zuvor. Aber er – er hat mich erstickt mit seiner Liebe!« Er schüttelte sich, als ekele er sich.

»Hast du überhaupt schon einmal die Liebe erfahren?« Als er schwieg, sagte sie: »Du warst schon einmal verliebt, nicht wahr? Und es schmerzt noch immer, weil sie dich zurückgewiesen hat!«

Seine Kiefermuskeln mahlten und Gwendolyn befürchtete, dass er seine Hände gleich um ihren Hals legen würde.

Stattdessen wich er vor ihr zurück. »Manchmal hasse ich auch deinen Scharfsinn.«

 

 

Es gab viel zu tun auf der Festung Valbourgh. Gwendolyn ließ die Mauern verstärken, die Gräben reinigen, den Mechanismus für das Tor in Ordnung bringen und die Burg selbst modernisieren. Sie richtete ein Badehaus ein, ein zweiter Brunnen wurde gegraben und eine Wasserleitung vom Bach her verlegt. Das alles tat sie ohne Rupert. Der war verschwunden. Tagelang verkroch er sich in den Wäldern. Wenn er zurückkam, sah er aus wie ein Gespenst. Er vermied es, Gwendolyn in die Augen zu schauen, ebenso vermied er es, sie zu berühren. Er fragte sich, was er noch in Valbourgh zu suchen hatte. Er wollte fort, nur fort…

 

 

Der Reiter mit seinen beiden Begleitern schonte sein Pferd nicht, als er auf die Festung Valbourgh zupreschte. Mit großem Erstaunen bemerkte er die seltsame Konstruktion, die das schwere Eisengitter des Burgtores bewegte, doch er hatte keine Zeit, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Gwendolyn trat dem Gast im Burghof entgegen.

»Sir William Marshai!«, rief sie überrascht aus.

Der Ritter vollführte eine angemessene Verbeugung. »Ich grüße Euch, Lady Gwendolyn. Ich komme geradewegs aus Rouen mit einer Botschaft von Königin Eleonore für Euren Gatten.«

»Mein Gatte?« Gwendolyn schnaufte verächtlich. »Ich habe keinen Gatten mehr.«

»Bitte, Mylady, es ist sehr dringend. Wo steckt er?«

Gwendolyn hob die Schultern. »Irgendwo im Wald, wohin er sich immer verkriecht, seit der König tot ist. Ich glaube, mein Gatte ist auch gestorben.«

»Sucht ihn!«, herrschte Marshai seine Begleiter an. Die beiden Reiter stürmten zum Burghof hinaus. Vor dem Tor stießen sie mit Rupert de Cazeville zusammen.

Marshai erschrak bei Ruperts Anblick. Der sonst so selbstsichere, ironische und geheimnisvolle Magier war nur noch ein Schatten seiner selbst. Wenn er auch nie große Sympathien für ihn hegte, so sah er ihm an, dass er unsäglich unter Richards Tod litt. Marshai reichte ihm das versiegelte Pergament. »Königin Eleonore bittet Euch, unverzüglich nach Rouen zu kommen. Jeanne ist schwer erkrankt.«

Rupert hob abwehrend die Arme. »Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Menschen zu heilen – oder heilen zu wollen!« Anklagend streckte er die Hände aus. »Mit diesen Händen hätte ich ihn retten können!«

»Sire, ich achte Eure Trauer um König Richard, aber bitte gebt Euch nicht die Schuld für seinen Tod. Es war ein grausames Schicksal, ein Schicksal, das er selbst heraufbeschworen hat.«

»Das Studium der Medizin hat mir nichts weiter gebracht als das Bewusstsein der ständigen Allmacht des Todes.«

Unwillig warf Rupert den Kopf herum, doch Marshai packte ihn an den Schultern und blickte ihn eindringlich an. »Die Königinmutter leidet mindestens ebenso wie Ihr, de Cazeville.«

Ohne eine Antwort packte Rupert seine Sachen auf sein Pferd, und ohne sich nach Gwendolyn umzusehen, verließ er in Begleitung von William Marshai die Festung Valbourgh.

 

 

»Er hat John zu seinem Nachfolger bestimmt«, sagte Marshai nachdenklich, nachdem sie lange Zeit schweigend nebeneinander hergeritten waren.

»Was habt Ihr nun vor?«, wollte Rupert wissen.

»Es war Richards ausdrücklicher Wunsch und ich werde ihn erfüllen. John braucht Unterstützung.«

»Damit werdet Ihr Euch viele Feinde machen.«

»Das ist mir bewusst. Der Erste, der dagegen sprach, war Gautier. Er hält Arthur von Bretagne für den besseren Kandidaten. Doch Arthur hängt am Rockzipfel des französischen Königs.«

»Und John?«, fragte Rupert zynisch. »Seid Ihr Euch seiner Loyalität sicher?«

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um England zu dienen.« Der alte Haudegen blickte nach vorn.

»Ich kenne Euch als einen Mann, der einen ausgeprägten Sinn für Ehre und Verantwortlichkeit besitzt. Hoffentlich bereut Ihr Eure Entscheidung nicht.«

Marshai warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Das meinte Gautier auch. Doch ich werde Richards letzten Willen beherzigen. Mit meinem Leben«, fügte er leise hinzu.

 

 

Die greise Dame, die am Bett der Kranken saß, verkörperte eine wahrlich königliche Würde. Ihr Rücken war erstaunlich gerade, obwohl auf ihren Schultern eine unmenschliche Last lag. Als sie ihren Kopf den Eintretenden zuwandte, erkannte Rupert sie wieder. Er neigte den Kopf vor der außergewöhnlichen Frau, in deren Augen tiefer Schmerz stand. Das Krankenzimmer im Hospital des Klosters Fontevrault war kahl und muffig, nur ein schwarzes Kreuz prangte an der Wand. Wie ein Todeszeichen, dachte Rupert schaudernd. Seine Augen glitten über die Kranke. Es war eine Nonne in ihrem Gewand und mit dem stark gewölbten Leib einer Hochschwangeren. Erst auf den zweiten Blick erkannte er Jeanne. Ihre Schönheit war verflogen, ihr Gesicht vom Tod gezeichnet.

Er richtete sich wieder auf und wandte sich zu Königin Eleonore um. Ganz sacht schüttelte er den Kopf. Ein Priester kam herein, um Jeanne die Letzte Ölung zu geben. Rupert sah Zorn in Eleonores Augen aufblitzen, als wolle sie nicht wahrhaben, dass der Tod wiederum so unbarmherzig zuschlug. Er sah das Leben aus dem Körper der jungen Frau weichen und wandte sich ab, um still die Kammer zu verlassen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung unter der dünnen Decke, die über den geschwollenen Leib der Toten gebreitet war. Auch Eleonore hatte es bemerkt und hob mit aufgerissenen Augen den Kopf von ihrem Gebet. Nur für einen kurzen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, ein stummes, geheimes Einverständnis und ein kurzes, kaum sichtbares Nicken der Königin ließ Rupert herumwirbeln.

»Raus!«, rief er. »Alle raus!« Der Priester wollte protestieren, doch Rupert warf ihn eigenhändig aus dem Raum. Hastig öffnete er den Lederbeutel mit seinen Instrumenten, zerschnitt das Gewand der Toten und setzte einen sauberen Längsschnitt über ihren Bauch. »Heißes Wasser!«, brüllte er über die Schulter. »Tücher!« Wenige Augenblicke später lag ein wimmerndes rotes Wesen vor ihm. Es war ein Junge.

Er legte es in Eleonores Arme. »Er ist sehr klein und schwach. Betet für ein Wunder«, sagte er leise. Er blickte der alten Dame in die Augen, die gerade das achte ihrer zehn Kinder verloren hatte. Dann neigte er den Kopf, um zu gehen.

»Wartet«, versuchte Eleonore ihn zurückzuhalten. »Ich bin Euch etwas schuldig.« Rupert schüttelte den Kopf, ohne sie anzuschauen. »Er liegt hier im Kloster begraben, neben seinem Vater«, sagte sie leise. »Und sein Herz befindet sich in der Kathedrale von Rouen.«

 

 

Rupert kniete auf den harten Steinfliesen der Kathedrale, in tiefem Gebet versunken. Er betete zu keinem Gott, sondern zu Richard. »Ich werde dich Wiedersehen, Richard«, flüsterte er unhörbar. »Dort drüben, in der Anderswelt. Unsere Seelen sind gemeinsam gewandert, ich werde dich finden. Wir waren zwei verschiedene Menschen, aber unsere Seelen sind sich ähnlich. Wir fürchten weder Tod noch Teufel. Ich weiß, du hast vor deinem Tod noch gebeichtet. Du hattest viel zu beichten, weil du es jahrelang versäumt hast. Aus gutem Grund, die Liste deiner Sünden ist lang. Deine Schuldbekenntnisse zeugen von Reue über deine Verfehlungen und du hoffst auf Vergebung für den Tag des Jüngsten Gerichtes. Aber du brauchst nichts zu bereuen, alles hatte letztlich einen Sinn. Es wird keinen Ritter wieder geben auf Erden, der dir gleichen wird, weder in deiner Kühnheit, in deiner Maßlosigkeit, in deiner Leidenschaft, in deinem Leichtsinn, in deinem Edelmut, in deiner Großzügigkeit, in deinem Jähzorn, deinem Wissensdurst, in deiner Triebhaftigkeit, deinem Todesmut, in deiner Genialität, in deiner Worttreue, in deiner Ehre, in der Größe deines Herzens. Die Welt hat deiner Weite nicht gereicht.« Er schreckte zusammen, als er eine Gestalt neben sich knien sah, die Hände zum Gebet gefaltet, den Kopf in tiefer Ehrfurcht gesenkt. Es war Geoffrey of Mandeville!

Der Ritter erhob sich und legte eine Hand auf Ruperts Schulter. Mit dem Kopf deutete er an, ihm zu folgen. Sie verließen die Kathedrale. Rupert blinzelte in die Sonne.

»Ihr habt für ihn gebetet?«, fragte Mandeville. Rupert warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Zu oft hatte der Earl of Essex ihn angefeindet und offen bei Richard gegen ihn interveniert. »Es ist ein ungerechter Tod«, sagte er, ohne Ruperts Antwort abzuwarten. »Er hätte noch so viel Großes leisten können.«

»Oh, wen Gott liebt, den nimmt er beizeiten zu sich. Sagt man nicht so?« Es klang beißender Spott in Ruperts Stimme. »Nun steht ihm der Weg offen, zur Legende zu werden.«

»John ist kein würdiger Nachfolger für Richard«, sagte Mandeville, während sie beide über das grobe Pflaster des Platzes vor der Kathedrale schlenderten.

Rupert senkte den Kopf. »Das wissen alle, selbst seine Mutter. Aber es war Richards Wille.«

Mandeville fuhr erregt herum. »Weil er auf diesem Auge blind war! Seine Großherzigkeit konnte auch zerstörerisch sein. Mit Richard wird sein Reich untergehen. John kann es nicht halten!« Ein wenig unwirsch zuckte Rupert mit den Schultern. Was ging ihn an, wie der neue König sein Reich verwaltete! »Es wird wieder Krieg geben, Philipp wird sich nicht an den Friedensvertrag halten. Bis vor kurzem haben John und Philipp noch gemeinsame Sache gemacht, solange es gegen Richard ging. Die englischen Barone werden John nicht unterstützen. Dafür werde ich sorgen.«

Rupert blickte ihn lange an. »Ein Aufruhr?«

Mandeville blieb plötzlich stehen und legte seine Hände auf Ruperts Schultern. »Kommt mit mir nach England. Ich brauche einen Menschen wie Euch.«

Unwillig schüttelte Rupert Mandevilles Hände ab. »Ich lasse mich vor keinen Karren spannen«, knurrte er. »Nicht einmal vor Richards. Dadurch wird er auch nicht wieder lebendig.« Er schaute sich um. Eine seltsame Unrast hatte ihn ergriffen. »Aber ich werde auch nach England zurückkehren. Wo steht Euer Pferd?«