Die Kräuterfrau
Erschöpft lag Rupert über dem sprudelnden Wasser. In seinem Kopf drehte sich alles und sein Magen schmerzte. Er ergab sich der bleiernen Schwere seiner Glieder und starrte auf den glitschigen Boden vor sich. Ohne etwas zu sehen, zu hören oder eine Bewegung zu vernehmen, wusste er, dass er nicht allein war. Seine Augen folgten dem Gefühl und er erblickte eine Frau. Sie stand hoch aufgerichtet zwischen den Bäumen am Ufer und schaute auf ihn herab. Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein, ihn hier liegen zu sehen. Mit flackerndem Blick registrierte er ihre frauliche Figur, die seltsame Kleidung, den breiten Gürtel mit dem spiralförmigen Gürtelschloss, ihre langen, schwarzen, durch einen schmalen Stirnreif gehaltenen Haare. Doch alles wurde in den Hintergrund gedrängt von ihren grünlich schimmernden Augen.
Mühsam versuchte Rupert sich zu erheben, doch der Versuch erstickte bereits im Keim. Ohne sich zu rühren, beobachtete die Frau ihn. Dann wurde es Nacht um ihn.
Wärme und Dunkelheit wogten um ihn herum und Wärme war auch in ihm. Er fühlte sie. Und er fühlte die Nähe eines Menschen. Er hielt die Augen geschlossen, obwohl sich der Nebel in seinem Kopf langsam lichtete. Er wusste, wenn er die Augen öffnete, würde er in die grünen Augen dieser Frau blicken.
Es irritierte ihn, dass er andere Kleidung trug. Es war ein schlichtes Leinenhemd, aber sauber. Seine Haut war gereinigt und ein wenig geniert überlegte er, ob sie ihn entkleidet und gewaschen hatte. Sie hatte, das spürte er. Seine zerrissene braune Kutte lag auf dem Boden, sie hatte sie achtlos mit dem Fuß beiseite geschoben.
Sie setzte sich auf den Rand seiner primitiven Liege und stellte die Schale mit dem Tee ab. Seine Augen wanderten ruhelos in der Hütte umher. Überall hingen Bündel von Kräutern von den Dachbalken zum Trocknen herab, in dem windschiefen Regal standen Krüge, Flaschen und Kästchen, die offensichtlich allerlei geheime Kräutermixturen und Medizin enthielten. Rupert schauderte.
»Bist du eine Hexe?«, fragte er mühsam. Er fühlte sich ihr ausgeliefert.
»Nein«, sagte sie und lächelte. Sie war schön, oh Gott, sie war wie ein seltsames Trugbild! Gleich würde sie sich in ein krummes, altes Weib verwandeln, mit einer Warze auf der Nase und einem schwarzen Raben auf ihrer Schulter. Doch ihre Nase blieb klein und ein wenig kess, ihre Figur straff und gerade, ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schulter und kringelte sich auf ihrer Brust. Er konnte die Augen nicht von ihr wenden. »Ich bin Rigana, eine Heilerin, eine weise Frau.« Sie blickte ihn jetzt direkt an und zum wiederholten Male bewunderte er die seltsamen grünen Augen.
Rupert schüttelte verwundert den Kopf. »Sind weise Frauen nicht sehr alt, mit gebleichtem Haar und Falten auf der Haut?«
Sie brach in ein helles Lachen aus, es klang wie eine Glocke, klar wie Morgenluft und leicht wie die Schwinge eines Vogels. Ihre Zähne waren makellos, sie blitzten, als sie lachte. Sie hatte nichts von dem, was er sich unter einer Kräuterfrau vorstellte, bis auf die vielen Büschel an den Balken.
»Es gibt so viele Gerüchte über die keltischen Heilerinnen, aber keines davon ist wahr«, sagte sie und ihr Gesicht wurde wieder ernst.
»Aber es ist schwarze Magie«, verteidigte sich Rupert. Er zog es vor, trotzdem vorsichtig zu sein. Vielleicht war sie dabei, ihn zu verhexen, mit ihrem Tee, ihrem Lächeln, ihrer atemberaubenden Figur. Frauen waren die Sünde selbst mit ihren Verführungskünsten und deshalb Geschöpfe des Teufels.
»Das sagen diejenigen, die es nicht verstehen«, erwiderte sie ruhig. Es schien ihr nichts auszumachen, dass er ihr misstraute. Im Augenblick blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich ihr auszuliefern. Zumindest erschien es ihm weniger schrecklich als im Kloster. Sein Körper war zu schwach, dass er noch einen Schritt gehen konnte, und abgesehen von der unheimlichen Umgebung war es in ihrer Nähe ganz angenehm. Sie bot seinen Augen einen erfreulichen Anblick, kümmerte sich mit mütterlicher Wärme um ihn. Das Essen, das sie zubereitete, schmeckte gut und der Tee bescherte ihm eine angenehme innere Wärme. Er lag auf der Pritsche, dämmerte vor sich hin und wünschte sich, dass sie ihm, wie einst seine Mutter, Geschichten über edle Ritter, holde Damen, schreckliche Drachen und die ewige Liebe erzählte.
»Möchtest du eine Geschichte hören?«, fragte sie leise, nachdem sie das Geschirr weggeräumt hatte.
Er zuckte zusammen, als hätte sie seine Gedanken geraten, und nickte schwach. Sie sollte nicht sehen, dass er sich über ihr Angebot freute.
Sie setzte sich wieder auf den Rand der Pritsche und betrachtete aufmerksam den Jungen, den sie halb verhungert und völlig verstört im Wald gefunden hatte. Er war ein Mönch, die Kutte, die geschnittene Tonsur verrieten es ihr. Doch er befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Sein Rücken war mit länglichen Narben überzogen, die von Geißelungen stammten. Er war völlig unterernährt, verschmutzt und krank. Im Fieber schrie er oder sprach wirre Phantasien.
Mit einer beruhigenden Handbewegung strich sie die Decke glatt, die sie über ihn gelegt hatte. Ihre Stimme besaß einen sanften, warmen Ton.
»Lange Zeit, bevor der Christengott auf die grüne Insel kam und die Seelen der Menschen beherrschte, gab es ein Volk, das sich Tuatha De Danann nannte. Sie hatten einen König, der Nuada hieß. Dieses Volk und sein König lebten auf der grünen Insel, doch sie wurden bedroht von den Fir Bolg, einem bösen, kriegerischen Volk, in dem dunkle Mächte walteten. König Nuada schaffte es nicht allein, gegen die Gefahr zu kämpfen, und bat um die Hilfe der Fomore. Das waren geheimnisvolle Riesen, die ungeheure und schreckliche Kräfte in sich trugen. Die Fomore halfen König Nuada, die Fir Bolg zu besiegen. Doch damit hatte sich das Volk der Tuatha De Danann nun in die Abhängigkeit der Fomore begeben. Bei diesem Kampf hatte der König einen Arm verloren, nun konnte er nicht mehr regieren. Die Fomore haben das Volk schrecklich ausgebeutet, bis sich der König einen Arm aus Silber verschafft hat und damit seine Königswürde zurückerlangen konnte.« Sie machte eine Pause, weil sie glaubte, der Junge sei eingeschlafen, doch Rupert hob die Augen und blickte sie an.
»Erzähl weiter«, murmelte er. »So eine Geschichte habe ich noch niemals gehört.«
»Dann hör gut zu. Der König veranstaltete ein Fest und versammelte dazu ausschließlich die klügsten, künstlerischsten und kriegerischsten Männer seines Volkes. Es waren Männer mit höchster Spezialisierung und der König wollte, dass von jeder Kunst nur ein Vertreter im Saal anwesend sei. Deshalb ließ er das Fest von einem Pförtner bewachen. Da erschien ein junger Krieger und begehrte Einlass. Er war jung, schön und liebenswürdig und sah aus wie ein König. Der Pförtner bat ihn, seinen Namen zu nennen, und der junge Krieger antwortete, er sei Lug Lonnandclech, Sohn des Cian, Enkel des Diancecht, des Gottes der Heilkunde der Tuatha De Danann. Sein Großvater mütterlicherseits aber sei Balor, der gefürchtete einäugige Riese, der Führer der Fomore. Dieser junge Krieger Lug war also sowohl ein Abkömmling der Tuatha als auch der Fomore, sein Wesen stammte aus zwei verschiedenen Welten. In ihm vereinte sich die stark ordnende und spirituelle Macht der Tuatha De Danann und die fürchterliche, instinktive und durchschlagende Kraft der Fomore.«
»Wie konnte er damit leben, dass zwei so gegensätzliche Wesen in seiner Brust wohnten?«, fragte Rupert erstaunt.
Rigana beugte sich zu ihm herab. »Jeder lebt mit diesen zwei Wesen in sich«, flüsterte sie geheimnisvoll. »Doch höre, wie es weiterging. Der Pförtner fragte nun, welche Kunst oder welches Handwerk er beherrsche. Da sagte Lug, er sei Zimmermann, doch der Pförtner wies ihn ab, im Saal sei bereits ein Zimmermann. Dann sagte Lug, er sei Schmied, doch der Pförtner entgegnete, auch ein Schmied sei schon anwesend. Da erklärte Lug nacheinander, er sei Kämpfer, Harfespieler, Held, Geschichtenschreiber, Magier, Mundschenk, Arzt und beschlagen in allen Künsten, doch jedes Mal hörte er von dem Pförtner, dass ein derartiger Mann bereits anwesend sei.
Schließlich sagte Lug, der König möge ihm den Mann zeigen, der alle diese Künste in einer Person beherrsche. Das konnte Nuada nicht und so erhielt Lug Eintritt in den Festsaal. Der König glaubte dem jungen Krieger jedoch nicht und unterzog ihn allerlei Prüfungen. Und da geschah, dass Lug in der ersten Nacht ein Schlaflied spielte, und alle, der König, seine Soldaten und Gäste fielen in einen tiefen Schlaf. Dann spielte er ein Lied der Freude und alle lachten und waren guter Dinge. Schließlich spielte er ein Lied der Trauer und alle weinten und jammerten.«
»Wie hat er das gemacht?«
»Er beherrschte die Kunst aller Künste, er war Herr über die Seelen der Menschen. Er konnte sie lachen, weinen, schlafen oder wach sein lassen. Er besaß mehr Macht als jeder König. Und so geschah es, dass König Nuada einsah, dass es einen gab, der mehr Macht besaß als der König selbst, und Lug bestieg den Königssitz, während Nuada dreizehn Tage aufrecht vor ihm stehen musste.«
»So einen Menschen gibt es gar nicht«, murmelte Rupert. »Aber die Geschichte war schön. Ich möchte auch mehr Macht haben als ein König. Dann würde ich mich für alles rächen, was man mir angetan hat.« Er schloss ermattet die Augen.
Rigana beugte sich wieder zu ihm herab und strich sanft über seine Stirn. »Wenn du es nur willst, dann wirst du diese Macht besitzen.« Doch Rupert war schon eingeschlafen.
Mit jedem Tag kehrten seine Kräfte etwas mehr zurück und bald konnte Rupert das erste Mal das Lager verlassen. Rigana lebte allein in einem Häuschen, das auf einer großen Lichtung stand. Einen Teil der Lichtung hatte sie umgebrochen und als Garten angelegt, wo sie ein wenig Getreide, Rüben, Gemüse und Kräuter anbaute. Zwei Ziegen standen in einem Verschlag, es gab einige Hühner, die ihre Eier stets irgendwo in den Wald legten und nach denen Rigana stundenlang suchen musste.
Neben dem Häuschen stand eine aus Reisig geflochtene Hütte, deren Sinn Rupert zunächst unklar war. Rigana schleppte Holz und Reisig in die Hütte und entfachte ein Feuer. Im großen Kupferkessel darüber erhitzte sie Wasser. Keuchend schöpfte sie das heiße Wasser in einen Zuber um.
»Komm her!«, rief sie ihm zu, als er vor dem Haus hockte und in die Sonne blinzelte. Er erhob sich und wankte mit kraftlosen Beinen zur Hütte hinüber. Neugierig lugte er hinein. Vor lauter Dampf konnte er kaum etwas erkennen. Das Wasser gluckerte in dem hölzernen Zuber und Rigana prüfte die Temperatur mit ihrer Hand. Dann warf sie frische Kräuter hinein und ein betörender Duft verbreitete sich in der kleinen Hütte.
»Leg deine Sachen ab«, sagte sie und rührte das Wasser um.
»Was?« Rupert zuckte zurück.
»Sei nicht albern und kleide dich aus. Du musst baden.«
Rupert entkleidete sich zögernd. Er warf einen scheelen Seitenblick auf Rigana, die ihn unverhohlen betrachtete. Rupert hatte eine schöne, schlanke Figur, noch knabenhaft, doch mit deutlich beginnender Männlichkeit. Seidiges, schwarzes Haar schmiegte sich an seine Beine, sein handlanges Glied wurde von einer Wolke dunklen Haars umkränzt, das sich zum Nabel hin verdünnte. Ein wenig verlegen wandte er sich ab.
Rigana lächelte. »Sei nicht so verschämt. Ein menschlicher Körper ist etwas ganz Natürliches und etwas sehr Schönes.« Rupert dachte an das fahle, schwabbelige Fleisch von Bruder Hieronymus und verzog angewidert das Gesicht.
»Das hat man euch im Kloster natürlich nicht gesagt«, meinte sie abfällig.
Er senkte den Kopf, um Rigana nicht in die Augen blicken zu müssen. Am liebsten hätte er ihr erzählt, was im Kloster geschehen war, doch er wagte es nicht. Sie würde es sicher nicht verstehen. Außerdem schämte er sich, dass sie sich so völlig gegensätzlich verhielt als alles, was er bislang erlebt und gelehrt bekommen hatte.
Sie deutete sein Schweigen anders. »Du musst deinen Körper lieben lernen.«
»Lieben?« Nun hob er doch den Kopf und starrte sie entsetzt an, aber Rigana schob ihn sanft zum Bottich.
»Alles zu seiner Zeit. Ich denke, du hast keine angenehmen Erinnerungen an das Kloster, nicht wahr? Du musst den Schock überwinden, das dauert eine Weile. Vergessen wirst du es wohl nie.«
Er schüttelte stumm den Kopf. Vorsichtig stieg er in das warme Wasser und ließ sich mit einem tiefen Seufzer hineingleiten.
»Wasser ist das wichtigste Element im Leben«, sagte Rigana und schöpfte den duftenden Sud mit ihren Händen unablässig über seine Schultern. Sie hockte hinter ihm, ihr Gesicht ganz nah an seinem. Er fand es angenehm, die Wärme des Wassers, die seine Muskeln lockerte, ihre sanften Hände, ihre Stimme, ihre Nähe… Er schloss die Augen.
»So ist es gut«, murmelte sie. »Lass dich treiben, entspann dich, gib dich dem Gefühl hin. Dein Körper weiß allein, was ihm gut tut. Leg den Kopf an den Rand, denk an gar nichts mehr…«
Ihre Worte perlten wie das Wasser eines klaren Baches, ihre Hände streichelten und massierten seine Schultern, seine Brust, seinen Bauch. Er zuckte zusammen, als ihre Hände weiter nach unten tasteten.
»Nein, nein, nicht erschrecken. Alles gehört zu deinem Körper und alles muss gereinigt werden vom Schmutz der Vergangenheit.«
Es war heiß, Schweiß trat auf seine Stirn, er atmete tief ein. Die Kräuter betäubten seine Sinne, gleichzeitig jedoch spürte er eine neue Kraft in sich erwachen. Er fühlte sich wohl, angenehm leicht und locker. Seine Gedanken glitten träge dahin und dann dachte er gar nicht mehr, sondern ergab sich Riganas sachkundigen Händen. Ein angenehmes Pulsieren durchzog seine Lenden und ein Lächeln verklärte sein Gesicht.
»Wasser ist das Elixier des Lebens, das darfst du niemals vergessen. Dein Körper wird nur stark und gesund bleiben, wenn du ihn stark und gesund erhältst. Er bleibt es nicht von allein. Du musst etwas dafür tun. Wasser von innen und von außen. Du musst stets genügend trinken. Und du musst deinen Körper sauber halten. Baden ist keine Sünde, wie die Leute sagen, baden ist die Grundlage eines gesunden Körpers. Und eines schönen dazu«, ergänzte sie.
»Ein Mann muss nicht schön sein«, murmelte Rupert träge.
Rigana lachte glucksend. »Oh, doch! Auch ein Mann kann schön sein. Ein gesunder, ebenmäßiger Körper ist schön. Und damit du deinen Körper lieben kannst, musst du ihn kennen. Du musst seine Reaktionen kennen, was er will, was er nicht will.«
Er öffnete die Augen. »Hängt das nicht von meinem Willen ab?«, fragte er.
»Nicht ursächlich. Ein Neugeborenes hat noch keinen eigenen Willen, aber es spürt bereits, was sein Körper mag und was er nicht mag. Er mag Wärme, Bewegung, Wasser. Er hasst Hunger, Durst, volle Windeln. Und mit Geschrei tut er kund, wenn ihm etwas zuwider ist. Erst viel später kommt der Wille dazu und der sagt dem Körper genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich will.«
»Ach ja?« Er hatte wieder die Augen geschlossen, aber sein breites Lächeln verriet, dass seine Sinne jetzt hellwach waren.
»Der Wille sagt ihm, dass er Hunger, Durst und Schmutz klaglos zu ertragen habe, ja, dass Hunger, Durst und Schmutz gut seien und gottgefällig. Und Wärme, Bewegung, Wohlgefühl, Wasser seien Sünde.«
»Aber warum tun die Menschen das?«
»Weil sie dumm sind. Weil angeblich ihr Gott es ihnen so sagt. Aber es stimmt nicht.«
»Es ist schwer zu verstehen«, seufzte er.
Rigana nickte. »Und trotzdem tun sie es. Auch du.«
»Ich?« Rupert fuhr hoch.
Sanft drückte sie ihn wieder ins Wasser zurück. »Entspann dich«, murmelte sie wieder. »Wir machen die Probe. Sag mir, wo gefällt es dir am besten, wenn ich dich berühre?«
Rupert schwieg einen Augenblick. »Wenn du meine Schultern massierst«, sagte er dann.
Langsam knetete sie seine Schultermuskulatur und sie beugte sich nah an sein Ohr. »Siehst du, auch du belügst dich selbst.«
»Nein«, verteidigte er sich schwach. »Ich mag es wirklich.«
»Dass du es magst, streite ich nicht ab. Aber noch mehr magst du, wenn ich dich woanders berühre.«
»Hm«, brummte er verlegen. Er zog ihre Hände vor auf seine Brust. Mit kreisenden Bewegungen massierte sie die flachen Muskeln über seinen Rippen.
»Du lügst schon wieder. Dein Körper sagt dir etwas anderes.«
»Rigana…« Er stöhnte leise auf.
»Sag es!«, forderte sie eindringlich. »Du musst es sagen. Du musst es wollen!«
»Fass ihn an«, hauchte er. »Nimm ihn zwischen deine Hände.«
»Willst du es?«, flüsterte sie an seinem Ohr.
»Ja! Ich will es, mein Körper will es. Bitte!« Er hielt die Augen geschlossen, sein Gesicht war jetzt ernst und angespannt.
Ihre Hände wanderten über seinen flachen Bauch hinab und schlossen sich sanft um seine Männlichkeit. Vorsichtig, liebevoll begann sie ihn zu streicheln, ohne ihn zu sehr zu erregen.
Er seufzte leise und seine Lippen öffneten sich leicht. Rigana betrachtete den Jungen, dessen Gesicht jetzt durch die Hitze feucht und rosig aussah. Die dichten, schwarzen Wimpern beschatteten seine Unterlider, seine Haut war glatt und feinporig, seine Nase schmal und scharf geschnitten wie die Linie seiner Wangen. Die Wangenknochen waren hoch angesetzt, sodass sein Gesicht lang erschien und etwas herb. Sein Kinn war energisch, doch die schön geformten Lippen milderten den strengen Schnitt. Das dichte, dunkle Haar hing wirr in seine Stirn und klebte an der feuchten Haut. Kleine Schweißtropfen rannen von seiner Schläfe herab.
Rigana beendete ihre Massage, indem ihre Hände wieder seinen Körper aufwärts wanderten. Rupert öffnete die Augen und sie glühten wie schwarze Kohlestückchen. »Mach weiter«, stöhnte er.
»Nein«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Und hier setzt mein Wille ein. Sei nicht so voreilig. Du hast noch viel, viel Zeit.«
Seine Augen funkelten immer noch und schienen in seiner unterdrückten Lust noch schwärzer zu werden, als sie ohnehin schon waren. Sie blickte ihm fest in diese wunderschönen Augen und wusste, dass er einmal ein faszinierender Mann werden würde. Noch war er ein Jüngling, kein Knabe mehr, aber auch noch kein Mann. Sie würde sehr behutsam vorgehen müssen.
Mit einem Lächeln strich sie mit ihren feuchten Händen über sein Gesicht. »Tauch ab, jetzt werde ich dich einseifen und deinen Körper so schrubben, dass du mich anflehst, dass ich aufhören soll.«
Sie griff nach einem seltsamen Knäuel aus dünnen Birkenzweigen und fuchtelte damit vor seiner Nase herum. »Steh auf, damit ich deinen Körper mit Seife einreihen kann!«
Er erhob sich, nun gänzlich ohne Scham, und sie rieb ihn von oben bis unten mit einer Paste ein, die etwas nach Honig und etwas nach Kalk roch.
»Das kratzt so«, protestierte er.
»Gewiss, denn da ist feiner Sand und Kleie aus gebrochenen Mandeln und Hafer darin. Es schmirgelt deine Haut seidenweich. Zum Schluss bist du wieder glatt wie ein Säugling.«
»Um Himmels willen, Rigana!«
»Halt den Mund jetzt, es kommt noch schlimmer.« Sie nahm das Knäuel aus Birkenzweigen und rubbelte damit auf seiner Haut herum, bis er schmerzhaft das Gesicht verzog. »Mein Körper sagt mir, dass er das nicht mag!«, rief er.
»Und mein Wille sagt deinem Körper, dass er das, verdammt noch mal, auszuhalten hat!«
Rupert stöhnte erleichtert auf, als Rigana endlich mit dieser Tortur aufhörte und er sich wieder ins Wasser fallen ließ. Sorgfältig spülte sie ihm die Paste vom Körper.
»Und nun raus aus dem Bottich!«, kommandierte sie und er sprang freiwillig heraus. »Halt! Nicht so schnell!« Sie hielt einen Eimer in der Hand, und ehe er sich versah, hatte sie ihm das eiskalte Wasser über den Kopf gekippt.
Er rang nach Luft und verdrehte entsetzt die Augen. »So, nun kannst du dich abtrocknen, und zwar genauso gründlich, wie du gewaschen wurdest.« Schnell griff er nach dem dicken Leinentuch und rieb über seine Haut. Er sog scharf die Luft zwischen den Zähnen durch. Sein ganzer Körper war krebsrot und brannte wie Feuer.
»Abtrocknen!«, herrschte Rigana ihn an. »Auch wenn es wehtut.«
»Wozu soll das alles gut sein?«, fragte er. »Glaubst du wirklich, dass mein Körper das will?«
»Aber ja! Nicht jeden Tag, doch ab und zu gewiss. Du wirst sehen, bald schon wirst du dich danach sehnen.«
»Niemals!« Entschieden schüttelte er den Kopf.
Er tauchte in eine völlig andere Welt ein. Alles, was in seinem Leben bisher Gültigkeit zu haben schien, warf Rigana über den Haufen. Er wunderte sich darüber so sehr, dass er nicht bemerkte, wie geschickt und sanft sie seine verwundete Seele heilte.
Diese Kräuterfrau, die allein mitten im Wald lebte, wurde für ihn zu einer Bezugsperson, die so vieles in einem war, Göttin, Mutter, Freundin, Geliebte… Alles, was er über Frauen bislang gehört und gesehen hatte stellte sie auf den Kopf. Er lernte, eine Frau mit anderen Augen zu sehen.
Sie betrat die kleine Hütte und er stand verlegen neben dem Bottich mit dem dampfenden Wasser. Er schaute nicht hin, als sie die Schnalle ihres Gürtels öffnete. Ihre Augen glitten prüfend über die Dinge, die er bereitgelegt hatte: trockene Tücher, den Korb mit Öl und Seife, die frischen Kräuter, neue Kleidung. Sie nickte zufrieden und lächelte. Sorgsam legte sie den Gürtel auf den Hocker.
»Komm her und entkleide mich«, sagte sie.
Rupert schluckte schwer. Er bemühte sich, seine zitternden Finger zu beherrschen, die an der Fibel nestelten, die ihr schlichtes Kleid auf der Schulter zusammenhielt. Sie stand so verdammt nah vor ihm, er spürte ihren Atem, die Wärme ihres Körpers, den Duft ihrer Haut.
Sie blieb geduldig stehen, bis er den Verschluss geöffnet hatte und vorsichtig den Stoff über ihre Schulter streifte. Er hatte sie schon oft beobachtet, wenn sie sich abends auskleidete. Dann lag er still auf seiner Pritsche, die Augen fast geschlossen. Durch seine dichten Wimpern betrachtete er ihre sanften Rundungen, die vollen Brüste, die helle Haut. Sie war unglaublich schön, so fraulich und anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Nicht so mager wie seine kleine Schwester, nicht so knabenhaft schlank wie seine Mutter, nicht so drall und derb wie die Mägde auf der Burg. Immer wieder überkam ihn ein seltsamer Schauer, wenn er sie sah, ihre geschmeidigen Bewegungen bewunderte. Er mochte es, wenn sie ihn berührte. Doch nie zuvor hatte er sie berührt, nicht ihr Haar, ihre Haut, ihren Körper. Er wünschte es sich, gleichzeitig fürchtete er sich davor. Sie war für ihn wie ein höheres Wesen, etwas Göttliches, Unantastbares. Und jetzt sollte es also geschehen.
Er ließ das Kleid los und es rutschte herunter, wo es über ihren Füßen liegen blieb. Er stand vor ihr, seine Wangen glühten und sein Atem ging schwer. Langsam glitten seine Augen an ihrem Körper herab. Ihr Hals war lang und schmal, mit zwei kleinen, ringförmigen Falten. Ihre Schultern glänzten im Zwielicht, zwei glatte Rundungen gingen in die schlanken und doch kräftigen Arme über. Er ließ seine Hände seinen Augen folgen, streichelte sanft ihren Hals entlang, über die Schultern die Arme herab. Einen kurzen Augenblick verhielt er an ihren Händen, dann strich er ebenso sanft wieder die Arme herauf über ihre Schultern.
Seine Fingerspitzen folgten den zwei kleinen Falten am Hals. John hatte einmal behauptet, Frauen, die diese Ringe um den Hals hätten, wären besonders feurig in der Liebe. Er starrte darauf und unterdrückte sein aufkeimendes Begehren. Dann ließ er seine Hände weiterwandern, vom Hals herab auf ihre vollen Brüste. Sie fühlten sich warm und fester an, als er vermutet hatte. Ihre Haut war straff und heller als seine. Vorsichtig schloss er die Hände darum, doch er konnte sie nicht vollständig umfassen. So begnügte er sich, sie sanft zu streicheln, sie etwas anzuheben und ausgiebig zu betrachten. Ihre Brustwarzen waren fest und versteiften sich unter seinen Berührungen. Er bemerkte es mit einem wonnigen Schauder und biss sich auf die Unterlippe. Es kostete ihn Beherrschung, sie nicht zwischen seine Lippen zu nehmen und sanft daran zu saugen.
Er ließ seine Hände über ihre Taille gleiten und tastete sich weiter zu ihrem sanft gewölbten Bauch vor. Er war nicht straff und flach wie seiner, aber es gefiel ihm. Ihre Hüften verliefen in einem sanften Schwung von der Taille zu den Oberschenkeln. Ihr Schamhaar war ebenso schwarz und dicht wie das Haupthaar und endete in einer scharfen, waagerechten Linie zum Bauch. Langsam ließ er sich auf die Knie nieder und streichelte diesen geheimnisvollen, verhüllten Winkel zwischen ihren Schenkeln. Ein leises Seufzen entrang sich seiner Brust. Seine Hände glitten über ihre kräftigen Oberschenkel, über die Kniekehlen und die ebenmäßigen Waden bis zu ihren schmalen Fesseln. Er zog den Stoff beiseite und Rigana schritt an ihm vorbei zum Bottich hin. Er blieb auf dem Boden hocken, um sich zu beruhigen. In seinen Ohren rauschte das Blut und sein ganzes Inneres war aufgewühlt wie ein Meer im Sturm. Er war froh, dass er vollständig bekleidet war, denn er fühlte sein erregtes Glied gegen den rauen Stoff seiner Hose drücken.
Nein, er musste sich beherrschen, sie war für ihn nicht das Ziel einer niederen Begierde. Er wusste eigentlich überhaupt nicht, was er begehrte.
Er zuckte zusammen, als er das Wasser plätschern hörte, und erhob sich. Sie lag mit zufriedenem, entspanntem Gesicht im Wasser, den Kopf an den Bottichrand gelehnt, die Augen geschlossen. Er sah ihren hellen Körper durch das Wasser schimmern und dachte im gleichen Moment an die Geschichten von Wassernixen und Seejungfrauen, von Waldfeen und Nebelgeistern, die ihm seine Mutter vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Rigana war eine Fee, eine Zauberin. Seltsam, es jagte ihm keine Angst mehr ein. Es war nicht das Schreckgespenst einer Hexe, einer bösen Kräuterfrau, einer Gottlosen. Sie war für ihn der Inbegriff der göttlichen Vollkommenheit.
Er kniete sich neben dem Bottich hinter ihrem Kopf nieder und begann, das warme Wasser mit den Händen über ihre Schultern zu schöpfen. So wie sie ihn damals mit wundervoller Sanftheit verwöhnt hatte, so streichelte er jetzt ihren Körper in dem warmen Wasser. Er spürte, wie ihre Muskeln sich lockerten, wie sie sich der Wärme, den aromatischen Dämpfen und seinen streichelnden Händen hingab.
»Du bist so schön«, flüsterte er heiser und er meinte es ehrlich.
Ihr tägliches Leben bestand aus harter Arbeit. Die schmalen Felder, die sie dem Wald abgetrotzt hatte, waren steinig und wenig ertragreich. Trotzdem hackte sie unermüdlich die Erde auf, verzog das Unkraut und hütete die zarten Pflanzen. Sorgfältig erntete sie das Gemüse und bereitete es in ihrem kleinen Häuschen zu köstlichen Speisen zu. Es waren einfache Gerichte, aber niemals verspürte Rupert Hunger. Er spürte, dass sein Körper sich erholte. Fisch und Wild waren ebenso Bestandteile ihrer Speisen wie Pilze und Beeren. Tagtäglich gingen sie in den Wald, sammelten Holz und Beeren, Pilze und Wurzeln, angelten am Fluss oder legten Schlingen aus, um kleines Wild zu fangen.
Sie trennten sich. Rigana blieb auf der Lichtung. Hier wuchsen seltene Orchideen, deren Wurzeln eine besondere Heilkraft nachgesagt wurde. Aufmerksam, in gebückter Haltung suchte sie die Wiese ab. Ihr Vorrat vom vergangenen Jahr war aufgebraucht, das Frühjahr mit seinen sonnigen Tagen ließ überall neues Leben erwachen.
Rupert suchte sich einen erhöhten Platz am Ufer des Baches und warf die Angelsehnen aus. Im klaren Wasser konnte er die Forellen sehen, wie sie zwischen den Steinen standen und sich gegen die Strömung stellten. Er mochte die Einsamkeit am Bach, die kühle Klarheit des Wassers, die Eleganz der Fische.
Er lehnte sich an einen Baumstamm, wo er die Angeln beobachten konnte. Doch bald darauf glitt sein Blick hinüber ins Geäst der Bäume am anderen Ufer. Seltsam, jeder Baum hatte einen anderen Wuchs, die Stämme waren verschieden geformt, mal mit Rissen, Moospolstern, knorrigen Verwachsungen. Fast wie ein Mensch, ging es Rupert durch den Kopf. Bäume waren Individuen wie Menschen. Jeder sah anders aus, hatte ein eigenes Leben und eine eigene Seele. Ja, Bäume waren beseelt, das spürte er, ohne dass er sagen konnte, wieso. Er spürte ihre Kraft, ihre stumme Weisheit und ihr Alter. Und er wünschte sich, ebenso unerschütterlich, weise und zeitlos wie ein Baum zu sein.
Plötzlich sah er – nein, er fühlte – eine, zwei dunkle Gestalten. Und er glaubte einen Schrei zu hören. Er hörte ihn nicht wirklich, er spürte ihn. Rigana!
Entschlossen sprang er auf, packte das Messer, mit dem er die Fische ausnehmen wollte, und rannte mit langen Schritten durch den Wald. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, Angst schnürte seine Kehle zu. Er spürte, dass Rigana in großer Gefahr war.
Inmitten des weichen Grases auf der Lichtung bemerkte er die verschlungenen Körper, einen dunklen, in Lumpen gehüllten obenauf, die sich verzweifelt wehrende Rigana darunter. Mit einem zornigen Schrei sprang Rupert auf das Knäuel menschlicher Leiber und stieß sein Messer tief in den Rücken des zerlumpten Mannes. Gurgelnd bäumte er sich auf und kippte zur Seite.
Hastig zerrte Rupert den Körper beiseite. »Rigana!«, hauchte er. »Hat er dir etwas getan?«
»Noch nicht«, keuchte sie und rieb sich ihren Hals, an dem deutliche Würgemale zu sehen waren. Sie blickte auf den Mann, der im Todeskampf zuckte.
»Wer ist das?«, fragte Rupert.
Rigana hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich sehe ihn zum ersten Mal. Aber ich mag nicht, wenn fremde Menschen in meinem Wald sind.«
Ein leichtes Lächeln flog über sein Gesicht. »Ich bin auch ein Fremder in deinem Wald«, sagte er.
»Nein«, widersprach sie ernst. »Du nicht.« Sie deutete auf den Mann. »Du hast sein Herz nicht richtig getroffen. Jetzt blutet es in die Lunge hinein.«
Interessiert hockte sich Rupert neben ihn. Mit der blutigen Messerspitze schob er die schmutzigen Lumpen beiseite und entblößte seine linke Brustseite.
»Wo liegt das Herz?«, fragte er.
Rigana legte den Zeigefinger auf eine Stelle. Rupert setzte die Spitze des Messer an die Stelle, die Rigana ihm gezeigt hatte.
»Hier?«
Sie nickte. Mit einem gezielten Stoß rammte er das Messer bis zum Heft in den Brustkorb. Der Kopf des Mannes fiel lautlos zur Seite, sein Blick brach.
Rigana hob die Augenbrauen. »Du tötest ohne Gewissensbisse?«, fragte sie erstaunt.
»Es war für ihn eine Erlösung. Außerdem wollte er dich töten.«
Sie erhob sich. »Du hast eine seltsame Art, über das Töten zu denken. Seltsam für einen Christen.«
»Ja, vielleicht. Der Tod schreckt mich nicht. Er interessiert mich.«
Sie schaute ihn nachdenklich an. »Woher wusstest du überhaupt, dass… er mich überfallen hat.«
»Ich habe es gesehen«, sagte er nur.
»Gesehen? Warst du nicht am Bach?«
»Doch. Ich habe es nicht wirklich gesehen… ich habe es gespürt.«
Sie packte seine Schultern und zog ihn zu sich heran. Dabei blickte sie ihm tief und ernst in die Augen.
»Du meinst, du hast das in dir drinnen gesehen? Wie eine Vision?«
Er nickte und hob die Schultern. Er wusste nicht, wie er es ihr hätte erklären sollen.
»Hattest du das… schon öfter?«
»Ja.«
»Mein Gott, du hast es auch!«
»Was?«
»Das Gesicht! Du bist hellsichtig. Weiß jemand davon?«
»Ich habe einmal mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie war sehr erschrocken und hat mir geraten, darüber mit niemandem zu sprechen.« Er wandte den Blick ab, als wäre es ihm peinlich.
»Ja, da hat sie Recht. Es ist gefährlich.«
Er wollte sich aus ihren Armen winden, doch sie hielt ihn fest. »In deiner Welt da draußen ist es gefährlich. Es ist eine Gabe, die dir geschenkt wurde. Es liegt an dir, was du daraus machst. Du kannst sie zum Guten wie zum Schlechten anwenden, aber du wirst sie verbergen müssen.«
»Ich will sie nicht haben«, sagte er unwillig.
Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Du kannst dich nicht dagegen wehren. Es wird immer wiederkommen. Du solltest lieber lernen, damit umzugehen.«
Er schaute sie erstaunt an. »Was weißt du darüber?«
»Alles. Ich habe sie auch.«
Sie warfen die Leiche des Mannes ins Moor, wo sie leise glucksend versank. Rupert blickte ihr versonnen nach. Das war es also, diese Visionen, diese seltsamen Träume und Bilder, diese Vorahnung, das Wissen um Dinge, die in der Zukunft geschahen. Er hatte das zweite Gesicht! Warum gerade er? Und was ließ sich damit anfangen? Man würde ihn als Zauberer brandmarken, vielleicht als Hexer auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Er schauderte. Nein, er wollte diese Gabe nicht! Er wollte ein ganz normaler Mensch sein, vielleicht wirklich ein Ritter, der irgendwo auf dem Schlachtfeld durch das Schwert des Feindes fiel, überladen mit Ruhm und Ehre.
Er blickte zu Rigana, die neben ihm stand. »Wir müssen zum Bach, die Forellen holen«, sagte er mit ruhiger Stimme. Sie senkte den Kopf und folgte ihm.
An allen Haken hingen große Forellen und Rupert zog sie vorsichtig ein. Er lachte zufrieden, als die glitzernden Fischleiber im Gras lagen. Er stach mit dem Messer hinter die Kiemen der Fische, dann schlitzte er ihre Bäuche auf und entnahm die Eingeweide. Rigana hatte sich neben ihn gehockt und beobachtete ihn. Seine Hände waren lang und schmal, seine Finger von sehenswerter Eleganz, wie er in die Bauchhöhle hineingriff und das Gekröse herausholte. Sie war fasziniert von diesen Händen und Rupert zögerte, als er ihren Blick bemerkte. Er schaute sie fragend an.
Sie schüttelte nur den Kopf und bedeutete ihm, weiterzumachen. Seltsam, sie benötigten keine Worte, um sich zu verständigen.
Er nahm die Fische aus, fädelte sie auf einen dünnen Ast auf und erhob sich. Sorgfältig spülte er seine Hände und das blutige Messer im Wasser ab.
Auf dem Heimweg schlenderten sie schweigend nebeneinander.
»Ich möchte einmal einen Menschen aufschneiden«, sagte er unvermittelt.
Riganas Kopf fuhr herum. »So?«
»Ich möchte wissen, wie ein Mensch von innen aussieht.«
Sie antwortete nicht. Es gab eine Zeit, da hätte er es tun können, als Priester der alten Götter.
»Ich sollte dir etwas von unserem Glauben erzählen«, sagte sie.
»Du glaubst nicht an Gott, nicht wahr?«
»Doch, aber nicht in der Weise, wie es die Christen tun. Es ist alles viel… komplizierter, verwobener. Gott thront nicht im Himmel und verteilt Gnade und Ungnade nach Gutdünken. Das Göttliche ist überall, in uns, um uns, in allen Dingen, die uns umgeben.«
Er nickte wie zur Bestätigung. »Als ich vorhin am Bach saß, da glaubte ich zu spüren, dass auch die Bäume eine Seele haben.«
»Glaubtest du es zu spüren oder hast du es tatsächlich gespürt?«
»Ich bin nicht ganz sicher.« Er packte plötzlich Riganas Hand. »Hilf mir!« Jetzt sah er wieder wie der kleine, ängstliche Junge aus, den sie am Bach gefunden hatte. Sie erwiderte seinen Händedruck.
»Ja, ich werde dich lehren, alles was du wissen musst, um diese Kräfte zu beherrschen. Du gehörst hierher!«
An diesem Abend ging sie mit ihm wieder in den Wald. Sie liefen weit und es war bereits tiefe Nacht, als sie eine kleine, unheimliche Lichtung erreichten. Knorrige Eichenbäume standen hier und eine seltsame runde Hütte, deren Dach fast bis zur Erde reichte. Im Licht des Mondes erkannte er eigenartige Zeichen und Figuren.
Rigana entfachte ein Feuer und jetzt konnte Rupert die Figuren besser erkennen. Er hockte sich neben Rigana, dass er ihr Gesicht sehen konnte. Er liebte ihr Gesicht, wenn es im Schein des Feuers rot und golden leuchtete und in ihren Augen seltsame Funken sprühten. Er liebte ihre ruhige, beherrschte Art, ihre sanfte Stimme und ihre Erzählungen. Begierig hing er an ihren Lippen, um ihren Geschichten zu lauschen, und jede hatte er sich eingeprägt. Er brauchte keine Bücher, er brauchte keine Schrift, um zu lernen. Er brauchte nur seinen Geist, sein ausgezeichnetes Gedächtnis.
»Es ist an der Zeit, dass du initiiert wirst«, sagte sie leise und blickte ihm jetzt in die Augen.
Er zuckte zurück. »Nach eurer Sitte?«
»Nach meiner Sitte«, erwiderte sie lächelnd. »Du bist kein Junge mehr. Du bist ein Mann. Du hast die Geschichten der Ahnen gehört, du hast die Legenden der Götter vernommen. Du hast deinen ersten Feind getötet. Jetzt wirst du deine erste Frau nehmen.«
Rupert schluckte und fühlte, wie er errötete. Dann senkte er die Augen. Es würde Rigana sein! Wie oft hatte er daran gedacht, wie oft hatte er es sich gewünscht, aber nie hätte er es gewagt. Und jetzt überfiel ihn plötzlich Angst.
»Es ist nur natürlich, dass du davor Angst hast. Aber ich werde dir die Angst nehmen und du wirst es nie in deinem Leben vergessen.«
Sie erhob sich. Unsicher stand er ebenfalls auf. Sie ergriff seine Hand und zog ihn zu der seltsamen runden Hütte. Zögernd betrat er das unheimliche Rondell, nachdem sie die Türmatte zurückgeschlagen hatte. Er prallte zurück, als er diese seltsamen Figuren sah, nackte Männer mit Speeren, seltsame Köpfe mit drei Gesichtern, drei kleine Frauen…
Sie wies auf ein schlichtes Lager aus getrockneten Gräsern und Kräutern. Es duftete stark. Sie breitete ihren Umhang aus. Dann öffnete sie die Fibel ihres Kleides.
»Lass mich es tun«, sagte er mit heiserer Stimme und sie ließ ihn gewähren.
Wie damals, als er sie in der Schwitzhütte entkleidete, ertastete und streichelte er ihren schönen Körper, langsam und genussvoll. Das Zittern seiner Hände ließ nach. Doch diesmal blieb Rigana nicht ruhig stehen, sondern sie streifte ihm seine Kleidung vom Körper, bis beide nackt voreinander standen. Dann zog sie ihn auf das Lager herab.
»Diese Figuren schauen uns zu«, murmelte er etwas unbehaglich.
»Ja, die Götter schauen zu«, sagte sie. »Sie schauen überall zu, denn sie sind überall.«
Er seufzte nur und senkte seine Lippen in ihre Halsbeuge. Der Duft ihres Körpers raubte ihm fast den Verstand. Er hörte sie tief atmen und leise stöhnen. Sofort unterbrach er sich. Heiße Angst durchflutete ihn, er könne ihr wehtun.
»Mach weiter«, wisperte sie und ihre Hände ermunterten ihn. Es kostete ihn Überwindung, ihren Körper zu liebkosen. Es schien ihm gleichsam eine Entweihung seiner Göttin zu sein. Gleichzeitig drängte es ihn danach, sie zu umfassen, zu streicheln und zu küssen.
»Lass dir Zeit«, murmelte sie. »Es gibt für dich noch so viel zu entdecken.«
Er spürte die Erregung ihres Körpers bei seinen Berührungen und er wusste nicht, ob er darüber erschrocken oder erfreut sein sollte.
Plötzlich richtete sie sich auf. Ihre Augen waren groß und dunkel und ihre Wangen hatten sich gerötet. Ihre Hände umfassten seine Hüften, liebkosten seinen Körper. Und da spürte er noch etwas anderes als ihre fordernden, massierenden Hände: ihre Lippen! Er stöhnte auf und presste sein Gesicht in ihren Schoß. Er sog den süßen Duft ein und kämpfte gleichzeitig gegen den drängenden Druck in seinen Lenden. Der Druck ihrer Hände wurde fester, vor seinen Augen begannen bunte Kreise zu tanzen. Gleichzeitig ängstigte ihn dieses überwältigende, unbekannte Gefühl.
Rigana spürte seine Angst und ließ sofort von ihm ab. Sie beugte sich über ihn und legte ihre Stirn an seine. Und wie bei seinen Visionen verspürte er wieder diese Leere im Kopf, das leise Summen und seltsame Bilder vor seinem inneren Auge.
Er sah einen klaren, murmelnden Bach, blühende Blumen, weiches Gras an seinem Ufer. Durch die Blätter der Bäume fielen schräge Sonnenstrahlen. Eine wundersame Wärme zog durch seinen Körper, er wurde leicht, schien zu fliegen und etwas wand sich mit sanftem Druck um seine Lenden und Hüften. Erst jetzt bemerkte er, dass sie es war. Ihre Schenkel umklammerten seine Hüften. Er fühlte sich wie in einen heißen Honigtopf eintauchen und atmete tief ein. Dann verschmolzen ihre Lenden miteinander und sie verharrte eine Weile. Er legte seine Hände auf ihre Hüften und bemerkte das leise Beben ihres Körpers. Sie lächelte und im gleichen Augenblick fiel diese hässliche Kruste der Angst von ihm ab. Befreit lächelte auch er und umschlang sie mit seinen Armen. In einem wunderbaren, langsamen und harmonischen Rhythmus bewegten sich ihre Körper.
»Gefällt es dir?«, fragte sie leise und ihre Hände glitten liebkosend über seine Brust. Unter ihren zärtlichen Berührungen verhärteten sich seine Brustwarzen und er bäumte sich unwillkürlich auf.
»Es ist wundervoll!« Seine Stimme klang rau und kehlig.
Gleichzeitig nahm er den Rhythmus der Bewegung wieder auf. Sie kam ihm entgegen und beide vereinigten sich in sinnlicher Harmonie. Wie die Wellen eines Sees schaukelte ihre Leidenschaft, immer höher schlugen die Wogen, immer schneller wurden ihre Bewegungen, immer heftiger ihre Atemstöße.
Er spürte, wie sich seine Lust an einer Stelle seines Körpers unterhalb des Nabels konzentrierte. Mit aller Macht zog sich in ihm etwas zusammen und schien seine Lenden sprengen zu wollen.
Und plötzlich konnte er sich gegen diesen drängenden Druck nicht mehr wehren. Er verspürte gleichzeitig Schmerz und eine unbändige Lust. Mit einem Aufschrei sank er auf sie herab und blieb so liegen, erschüttert, erstaunt, glücklich, bis eine tiefe Befriedigung durch seinen Körper glitt, gleich einer warmen, wohligen Entspannung. Erst jetzt hörte er seinen keuchenden Atem, spürte seine schweißnasse Haut. Und erst jetzt nahm er Rigana wieder wahr, die unter ihm lag, die Schenkel gegen seine Hüften gepresst, mit einem zärtlichen, liebevollen Lächeln auf dem Gesicht. Sie strich wieder durch sein Haar und über seine feuchte Stirn.
Er ließ sich aufstöhnend neben sie fallen. Sie drehte sich zu ihm herum und nahm ihn wie ein kleines Kind in die Arme.
»Von nun an wirst du dich danach sehnen wie nach Essen und Trinken, nach Luft und nach Wasser. Es ist das Leben!«
Er konnte nicht antworten, aber er spürte es. Es war, als wenn sich plötzlich sein Bewusstsein um eine neue Welt erweitert hatte. Erstaunt blickte er auf diese neue Welt, dieses neue Leben, und er musste zugeben, dass es ihm gefiel.
Rupert spürte, dass er sich wandelte, dass sich alles an ihm wandelte, sein Körper ebenso wie seine Seele. Und trotzdem gab es so unendlich viel zu entdecken, zu erfahren, zu lernen. Der uralte Glaube, dem Rigana anhing, faszinierte und fesselte ihn. Er war so völlig anders als der Glaube der Christen, er war so menschenbezogen, so freiheitsliebend und doch gewaltig. Er würde noch lange brauchen, um all die Geheimnisse in sich aufzunehmen, die mit diesem Glauben zusammenhingen.
Sinnend blickte er zur Schwitzhütte hinüber. Dünner Rauch kräuselte aus der Dachöffnung und er lächelte. Sie badete. Er hätte nie für möglich gehalten, wie sehr er das Baden lieben würde. Er liebte es, sich selbst zu baden, und er liebte es, Rigana dabei behilflich zu sein. Manchmal alberten sie wie Kinder herum, spritzten sich mit Wasser voll und tobten, bis der Bottich umkippte, manchmal tauchten sie beide ganz still in das duftende Wasser ein, streichelten sich gegenseitig oder liebten sich in einer heißen Erfüllung im Wasser.
Er erhob sich und brachte ihr ein frisches Tuch herüber. Sie war fertig mit dem Bad und stand neben dem Bottich. Das Wasser war blutrot und dünne, rote Rinnsale liefen an ihren Schenkeln herab, die sie mit einem Schwamm aus getrockneten Blättern abwischte. Entsetzt blieb Rupert an der Tür stehen und starrte auf das Blut.
»Bist du krank? Hast du dich verletzt?«
Sie hob erstaunt den Blick. »Nein«, sagte sie gedehnt. »Wieso?«
»Das Blut!« Er konnte sich von dem Anblick nicht losreißen und erwartete, dass sie gleich zusammenbrechen würde. Sie nahm ihm das Tuch aus der Hand.
»Kümmere dich um das Essen«, sagte sie nur. »Und heute Abend sprechen wir… darüber.« Sie senkte wieder den Blick und wandte sich ab.
Verstört verließ Rupert die Hütte und schürte das Feuer an. Ihm wurde plötzlich übel. Nicht der Anblick des Blutes war es, sondern dass es ihr Blut war. Es verwirrte ihn, dass sie so ruhig dabei blieb.
Die Nacht breitete ihren samtschwarzen Mantel über sie aus und das Feuer glimmte nur noch, ohne dass Rigana ein Wort zu ihm gesprochen hatte. Schweigend hatten sie gegessen, das Geschirr abgespült und die Schlafstätten aufgeschüttelt. Doch plötzlich erhob sie sich und ergriff seine Hand. Sie zog ihn mit hinaus in die Dunkelheit. Sie liefen Hand in Hand bis zum Ende der Lichtung, wo sich Rigana unter einem hohen Baum niederließ. Rupert setzte sich neben sie.
»Du weißt jetzt alles über den Körper einer Frau. Zumindest äußerlich. Jetzt sollst du etwas über das Innere des weiblichen Körpers erfahren.«
»Wozu?«
»Du musst es wissen. Es ist wichtig.« Er schwieg. Alles, was Rigana ihm erklärte, war irgendwie wichtig. Vielleicht sah er es im Augenblick noch nicht, aber er ahnte, dass ihr Wissen um vieles mehr wert war als das, was er in den Büchern daheim auf der Burg oder im Kloster gelesen hatte. Vieles war ihm neu, das meiste unverständlich. Doch mit der Zeit erfuhr er, dass sich die Dinge, die sie ihm erklärte, einmal als wichtig erweisen sollten. So war es mit der Wirkung der Kräuter, so war es mit dem lustvollen Erleben seines Körpers, so war es mit den seltsamen Naturkräften, derer sie sich bediente.
Sie deutete hinauf zum Himmel, wo der Vollmond seine lautlose Bahn zog. Er strahlte ein milchig weißes Licht aus, das die Lichtung verzauberte.
»Der Mond wandert in verschiedenen Gestalten. Er beginnt als dünne Sichel, wächst und bläht sich auf, bis er rund und voll ist wie heute. Nach zwei, drei Tagen nimmt sein Licht ab, bis er gänzlich dunkel ist. Und trotzdem ist er vorhanden. Er beeinflusst mit seiner Kraft alles, was auf der Erde lebt, sogar die Erde selbst und das Wasser. Ebbe und Flut des Meeres folgen seinem Rhythmus, das Wachstum der Pflanzen, die Paarung der Tiere.«
Er warf einen unruhigen Blick auf Rigana. »Und was hat das mit dem Inneren der Frau zu tun?«, fragte er verständnislos.
»Weil auch der Körper einer Frau sich nach dem Mond richtet. Er atmet die Kraft des Mondes ein und reift, bis er fruchtbar wird. Erfolgt keine Befruchtung, so atmet er wieder aus und stößt das Bett ab, das er für das keimende Leben vorbereitet hat. Ein Bett aus weichem Blut. Dieser Rhythmus ist der gleiche wie der Rhythmus der Mondwanderung.«
Atemlos lauschte Rupert ihrer Stimme. Ihr dunkles Haar verschmolz mit der Dunkelheit des Waldes, während ihre helle Haut im gleichen silbrigen Licht wie der Mond schimmerte. Fasziniert betrachtete er sie und ahnte endlich, was sie mit der Göttlichkeit in den alltäglichen Dingen meinte. Alle und alles war durchdrungen von der allumfassenden göttlichen Kraft, man konnte sich ihr nicht entziehen, nicht außerhalb davon leben. Sie waren eins mit ihr! Und jede Frau war eine Mondgöttin, weil die Kraft des silbernen Mondes in ihr pulsierte!
Er warf sich vor ihre Füße, ohne sie zu berühren. Eine tiefe Demut durchströmte ihn, gleichzeitig verspürte er eine seltsame Kraft in sich. Es war die aufkeimende Kraft der Erkenntnis.
Der Traum quälte ihn und er fuhr entsetzt hoch. »Nein, das darfst du nicht!«, stöhnte er. Seine Hand fuhr über die Stirn und er fühlte den kalten Schweiß. Sein Blick wanderte durch den dunklen Raum zu Riganas Lager. Sie lag bewegungslos, aber ihre Augen waren geöffnet.
»Warum?«, fragte er leise. Langsam wandte sie ihm den Kopf zu.
»Weil es Zeit ist«, sagte sie.
Er kroch zu ihr herüber und legte sich an ihre Seite. Seine Arme umschlangen sie und klammerten sich an ihr fest.
»Du darfst mich nicht verlassen«, keuchte er und seine Glieder zitterten.
»Ich verlasse dich nicht. Du wirst mich verlassen.«
»Ich kann ohne dich nicht leben!« Schmerzhaft bohrten sich seine Finger in ihr Fleisch.
»Doch, du kannst«, erwiderte sie nur und schob ihn sanft von sich.
»Rigana!« Es war fast ein Aufschrei.
»Schlaf jetzt.«
Mit zusammengebissenen Lippen beobachtete er sie. Wie immer stand sie mit gebeugtem Rücken und pflückte Kräuter, legte sie sorgsam in den flachen Korb, nachdem sie einige welke Blätter abgezupft hatte. Ihr Gesicht war konzentriert, mit den Augen suchte sie die Wiese sorgfältig ab, bis sie weitere Stängel des seltenen Krautes entdeckte.
Rupert hasste sie plötzlich dafür, dass sie diesen Pflanzen mehr Aufmerksamkeit widmete als ihm. Dabei verspürte er einen unbändigen Schmerz in sich, der ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Bemerkte sie denn nicht, dass sie im Begriff war, ihn zu töten?
Er erhob sich und ging zu ihr hinüber. Etwas unwillig hob sie den Blick, sie fühlte sich gestört. Er fasste sie an den Schultern. In diesem Jahr war er sehr gewachsen und überragte sie nun um mehr als eine Haupteslänge. Er blickte auf sie herab.
»Du wirst mich nicht fortschicken, nicht wahr?« Seine Augen blickten durchdringend, als wollten sie sie hypnotisieren. Rigana verspürte seinen unbändigen Willen und sie wusste, dass es höchste Zeit war.
»Das Rad deines Lebens dreht sich weiter. Du kannst es nicht aufhalten und ich auch nicht. Du wirst dich mit ihm drehen müssen und es wird dich fortführen von mir. Ich war ein Teil deines Lebens, ein wichtiger Teil. Doch von nun an werde ich es nicht mehr sein.«
Sie sprach ruhig und sachlich und ihre Stimme verriet nicht ihre innere Unruhe. Doch Rupert spürte sie. Verzweifelt begehrte er dagegen auf.
»Wie kannst du wissen, was meine Bestimmung ist?«
»Ich weiß es und du weißt es auch. Du willst es nur nicht wahrhaben.«
»Ich weiß es nicht. Nein!«
»Doch! Du hast es auch, wie ich. Das Gesicht!«
Er erstarrte und seine Augen waren immer noch in ihre versenkt. Plötzlich warf er sie rücklings ins Gras und ließ sich vor ihr auf die Knie fallen. Mit den Händen drückte er ihre Schenkel auseinander. Mit glühenden Augen starrte er auf ihren Schoß, der einer leicht geöffneten Muschel glich. Sie war so verlockend, so köstlich, so feucht und warm. Mit einem erstickten Laut warf er sich dazwischen und drang rau und heftig in sie ein. Während er sich rücksichtslos in ihr bewegte, zerriss er mit den Händen ihr Kleid. Unter seinen harten Stößen erzitterten ihre Brüste und bebten im gleichen, heftigen Rhythmus. Es bereitete ihm eine schmerzhafte Genugtuung, als sich ihr Körper unter ihm wand und sie sich auf die Unterlippe biss. Sie hielt die Augen geöffnet und starrte ihn unverwandt an. So plötzlich, wie er begonnen hatte, hielt er inne, ohne sich aus ihrem Schoß zurückzuziehen. Er beugte sich ganz langsam zu ihr herunter und senkte seine Lippen auf ihre, erst vorsichtig tastend, dann lustvoll saugend, danach fordernd und hart.
Bereits unzählige Male hatten sich ihre Körper vereinigt in allen erdenklichen Variationen der Lust, aber noch nie hatten sie sich geküsst. Mit grenzenlosem Erstaunen verspürten beide diese seltsame Verwandlung, die mit ihnen geschah. Rigana war bis ins Mark erschüttert und sie registrierte die Gänsehaut auf ihren Armen. Ohne ihre Lippen zu lösen, begann er sich wieder zu bewegen, diesmal langsam und harmonisch. Ihr Körper wogte unter ihm, sie waren eine Einheit wie zwei Wassertropfen in einer Welle. Er hatte ihre Handgelenke losgelassen und ihren Körper umfasst. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, verspürte seine drängende Zunge, den keuchenden Atem, doch ihr Kuss steigerte sich wie ihre unbändige Lust. Wie entfesselte Elemente vereinigten sich ihre Leiber, wie brodelnde Lava kochte das Blut in ihren Adern. Der Himmel stürzte über beiden zusammen. Ein heftiges Zucken hatte sie erfasst und erschrocken bemerkte Rupert, dass Rigana nicht mehr bei Bewusstsein war. In ihrem Schoß glühte es wie Feuer, dann ergoss sich eine seltsame Flüssigkeit, die ihn fast aus ihr herausschwemmte. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf sie herab, unfähig, darauf zu reagieren. Er bewegte sich immer noch in ihr, aber er fand keinen Halt, alles war nass und heiß und so grenzenlos. Und dann kam eine neue Kraft in seine Lenden zurück. Der Höhepunkt war ungemein schmerzhaft und er brüllte wie ein verwundetes Tier auf.
Rigana lag zusammengekrümmt unter ihm. Es dauerte lange, bis er eine Erleichterung verspürte, und es dauerte noch länger, bis Rigana wieder zu sich kam. Ein wenig verwirrt blickte sie um sich. Ihre Augen waren groß und dunkel, als hätte sie einen Blick in eine andere Welt geworfen.
»Was war das?«, fragte er leise und ängstlich. »Habe ich dir wehgetan?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie blieb liegen wie sie lag, auf ihrem zerrissenen Kleid, inmitten einer nassen Lache zwischen ihren Beinen. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen, und starrte nur irgendwo hinauf in den Himmel.
Eine schreckliche Angst durchfuhr ihn und er stützte sich auf seine Arme. »Sag doch was«, bat er mit zitternden Lippen. Irgendwann schloss sie die Augen und die Erstarrung wich aus ihrem Körper. Er legte seinen Kopf in ihre Halsbeuge und blieb neben ihr liegen, bis die Dunkelheit sich über den Wald senkte.
»Es tut mir Leid«, stammelte er, doch er wagte nicht, sich zu erheben.
»Es muss dir nicht Leid tun«, sagte sie mit erstaunlich fester Stimme und strich durch sein Haar. »Du hast mich etwas erleben lassen, was den wenigsten Frauen vergönnt ist. Es war ein Blick ins Paradies.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie lächelte mild. »Du bist ein wunderbarer Mann. Und jetzt lass uns nach Hause gehen.«
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Schweigend kleidete sie sich um, während er das Feuer entfachte und im Kessel Wasser erwärmte. Er kochte eine einfache Suppe aus Gemüse und Kräutern und war froh, dass seine Hände Arbeit hatten. Rigana hockte sich neben ihn und starrte ins Feuer. Er wagte nicht mehr zu fragen. Sie erhob sich und rührte mit einem Stock in der Suppe herum. Er bemerkte, wie kraftlos sie war. Er wollte beschützend den Arm um sie legen, aber er blieb sitzen und betrachtete ihren gebeugten Rücken.
»Ich liebe dich, Rigana«, flüsterte er.
Sie wandte sich zu ihm um und unendlicher Schmerz lag in ihrem Blick. »Ja«, sagte sie nur. »Ich weiß.«
Am nächsten Morgen brachen sie auf.