Der Studiosus

 

 

 

Sie hockten auf Bänken, Hockern oder auf dem Boden und lauschten dem Gelehrten, der an seinem Pult saß und aus einem großen Buch vorlas. Durch die schmalen hohen Fenster drang der Lärm der Stadt zu ihnen herein, doch niemand achtete darauf. Dabei war es die Stadt, die reiche, quirlige, lebensbejahende, freie Stadt, der es die Studiosi zu verdanken hatten, dass sie an einer der berühmtesten Universitäten Europas studieren konnten. Handel, Handwerk und Gewerbe brachten den norditalienischen Städten nicht nur Reichtum, sie zogen auch Menschen aus aller Herren Länder an, Händler, Kaufleute – und Gelehrte.

Magister Lombardi war ein kleiner, lebhafter Mann mit schnellen Augen und wachem Geist. Er lehrte kanonisches Recht. Rupert hatte Glück, den Vorlesungen dieses berühmten Mannes beiwohnen zu dürfen. Eigentlich war er nicht reich genug, ihn bezahlen zu können. Doch Lombardi hatte Rupert gestattet, seine Vorlesungen zu besuchen, denn sonst hätte er niemals Medizin studieren können. Da es an der Universität von Bologna keine eigene medizinische Fakultät gab, musste Rupert Recht und Philosophie studieren. Zur Philosophie gehörte die Medizin.

Rupert wusste, dass es seine Bestimmung war, Arzt zu werden. Obwohl er sieben Jahre der druidischen Schule absolviert und ein immenses Wissen über das Wesen der Natur und der Göttlichkeit gesammelt hatte, fehlten ihm die praktischen Erfahrungen in der Medizin. Er beherrschte die Rituale und magischen Handlungen, die Deutung der Vorzeichen und die Wahrsagung; er kannte sich aus in Pflanzenmagie und Zaubermedizin, er beherrschte die Elemente Wasser, Wind, Erde, Feuer und Nebel, er kannte die Zaubergesänge mit ihren unzähligen Versen. Etwas aber fehlte, das blutige Handwerk des Arztes.

Nach dem Tod des alten Druiden blieb Rupert noch einige Zeit in Irland, suchte den Geist seines verstorbenen Lehrers. Doch bald schon trieb eine innere Unruhe ihn weiter. Er wollte das erworbene Wissen anwenden und er wollte noch mehr.

Die Rückkehr auf die elterliche Burg war frustrierend für beide Seiten. Seine Mutter starrte mit ungläubiger Verwunderung auf den hoch gewachsenen jungen Mann mit dem beherrschten Gesichtsausdruck und den glühenden dunklen Augen. Sie unterdrückte eine Regung, ihre Hand nach ihm auszustrecken. Er war ihr fremd, fast fürchtete sie sich vor ihm. Er war kein Priester geworden, sondern etwas Undefinierbares, Ketzerisches, Unheimliches. Er würde auch kein Ritter sein, nichts, womit man Stand und Ansehen erringen konnte.

Rupert spürte die Ablehnung, die ihm entgegenschlug. Sein Vater betrachtete ihn mit einem Ausdruck von Widerwillen und Gleichgültigkeit, seine Mutter mit nervöser Angst und verwirrtem Muttergefühl. Seine Brüder bekam Rupert nicht zu Gesicht, sie hatten ihren Weg als Ritter des Königs eingeschlagen. Und nach Alice wagte Rupert nicht zu fragen. Er wollte Geld, seinen Anteil am Erbe. Als jüngster der drei Söhne stand ihm nicht viel zu. Guy de Cazeville zahlte es ihm in barer Münze aus. Dafür musste Rupert ihm versprechen, nie wieder nach Hause zurückzukehren. Dieses Versprechen fiel Rupert leicht, würde doch die Burg mit den Ländereien an seinen Bruder John fallen. Rupert war nicht zum Burgherrn geboren, er wollte etwas anderes, etwas, das sich in all den Jahren angedeutet hatte und nun immer stärker in seinem Bewusstsein wuchs: Er wollte Herr über die menschliche Seele werden, mächtiger als jeder König, mächtiger als jeder Bischof.

Mit dem Geld aus seinem Erbe könnte er an eine Universität gehen, Medizin und Philosophie studieren, den Menschen in seiner Ganzheit. Wissen war die eigentliche Macht und nichts konnte Rupert davon abbringen, dieses Ziel zu erreichen.

Die Reise über den Kontinent war lang und beschwerlich. Obwohl er sein Geld eisern zusammenhielt, war er kein reicher Mann, als er Bologna erreichte. Der Ruhm der Universität zog ihn magisch an. Kaiser Barbarossa hatte der Rechtsfakultät ein Gründungsprivileg erteilt, das Lehrer wie Studenten von der weltlichen Gewalt befreite. Noch faszinierender war der legendäre Ruf der Bibliothek, die über fünftausend Bände enthalten sollte, darunter Schriften berühmter arabischer und jüdischer Gelehrter.

Rupert hatte das Studium generale übersprungen und bereits bei seiner Einschreibung das baccalaureat abgelegt. Nach zwei Jahren legte er die Magisterprüfung ab. Doch er wollte nicht als Magister lehren, sondern ein Fachstudium anschließen. Da es keine eigene medizinische Fakultät gab, entschied er sich für die Jurisprudenz und Philosophie.

Schnell hatte Rupert Anschluss an die hiesige Studentenschaft gefunden. Er schlief im Dormitorium eines ehemaligen Klosters, das noch unter kirchlicher Obhut stand, nun zur Burse umfunktioniert worden war und den minderbemittelten Studierenden Obdach und Kost gewährte. Zum Teil fanden auch die Vorlesungen in den Räumen des alten Klosters statt, die von der Universität übernommen worden waren. Die Studenten bezahlten die Magister für ihre Vorlesungen, die die Freiheit der Niederlassung als Lehrkräfte besaßen. Für viele reiche Kaufleute der Stadt gehörte es zum guten Ton, die weniger bemittelten Studenten finanziell zu unterstützen. Spenden flossen an die Studentengemeinschaften für Stipendien, und neben Kost und Logis fielen noch Mittel zum Kauf von Pergament, Schreibgeräten und Tinte ab.

Die wenigsten Studenten besaßen eigene Bücher, dazu waren sie viel zu kostbar. Manche Lehrer brachten ihre eigenen Bücher mit, um daraus vorzulesen. Den Magistern wie Studenten war es aber auch gestattet, aus der Bibliothek Bände auszuleihen, um sie für die Vorlesungen zu verwenden, ansonsten konnten die Bücher in den Bibliotheksräumen gelesen werden.

Die Studenten waren ein bunt zusammengewürfeltes Volk aus verschiedenen Ländern. Allen war Latein als gemeinsame Sprache vertraut, denn die Vorlesungen fanden überwiegend in Latein statt. Doch man sprach auch theodisk, provenzalisch, italienisch – und griechisch. Einer von Ruperts Kommilitonen stammte aus Byzanz und er war gern bereit, Rupert das Griechische beizubringen. Mit diesem Können eröffnete sich Rupert eine neue Welt, die Bücher der griechischen Philosophen. Saß er nicht in den Vorlesungen der Magister, hielt er sich in der Bibliothek auf oder in dem wunderschönen Garten dahinter, um sich in die geheimnisvollen Werke zu versenken.

Nicht die theologischen Schriften interessierten ihn, sondern die naturwissenschaftlichen. Und von diesen wiederum die Schriften griechischer und arabischer Gelehrter. Besonders fasziniert war er von den Büchern eines arabischen Mediziners namens Avicenna, dessen Lehren auch in den medizinischen Vorlesungen verbreitet wurden. Auch er kannte die Dreiheit der Medizin, das Gleichgewicht von Körper und Seele herzustellen, die pflanzliche, die blutige und die magische Kunst. Die pflanzliche Kunst beherrschte Rupert durch die druidische Lehre, ebenso die magische. Ihn interessierte besonders die blutige Kunst. Doch zu seiner Enttäuschung musste er vernehmen, dass es unter der Würde eines Arztes sei, mit eigenen Händen zu operieren. Die Behandlung von Wunden fiel in die Verantwortung der niederen Bader und Feldschere, innere Leiden wurden mit Kräutern und Medikamenten gemildert und ansonsten lag es in Gottes Hand, ob ein Patient seine Krankheit besiegte oder starb. Trotzdem gab es, auch auf Druck vieler Studenten, sehr interessante Vorlesungen zur Behandlung von Verletzungen, zur Diagnostik von Krankheiten und zur Wechselwirkung von Körper und Seele. In Praktika, die sie in Hospizen durchführten, lernten sie die medizinische Behandlung der Krankheitssymptome. Die Ursachen der Krankheiten jedoch lagen in Gottes Hand.

Einer, der sich wie Rupert für die medizinischen Vorlesungen brennend interessierte, war Reinaldo, der Spross eines italienischen Adeligen, zu dessen Lebensmaxime eine gute allgemeine Ausbildung in Schrift, Literatur und Naturwissenschaft gehörte und als Krönung das Studium der Philosophie. Reinaldos Familie war vermögend, sie stammte aus Venedig und handelte mit Seidenstoffen aus dem Orient. Reinaldo hatte immer Geld, gute Kleidung und eine saubere Unterkunft.

»Komm, zieh mit in meine Kammer«, lud er Rupert ein.

»Dort können wir gemeinsam studieren. Die Burse ist doch unserer nicht würdig.«

»Es ist deiner vielleicht nicht würdig«, widersprach Rupert. »Mir macht es nichts aus.« Er wollte sich nicht gern in die Abhängigkeit eines anderen begeben. Außerdem befürchtete Rupert, dass sein Interesse nicht ganz die Billigung seiner Mitstudenten finden würde. Denn im Gegensatz zu den anderen jungen Männern übte Rupert mit stupider Geduld das Sezieren und die Resektion von Schweinen. Die Nähte, die er setzte, waren der filigranen Handarbeit adliger Damen vergleichbar. Lehrer wie Studenten schüttelten darüber den Kopf und spotteten, ob er nach seinem Abschluss als Bader tätig werden wolle.

Und immer wieder waren es die Lehren Avicennas und Galens aus Pergamon, die Rupert fesselten und aus denen er sich sein eigenes Bild vom menschlichen Körper und seinen Krankheiten machte. Was waren die Ursachen von Krankheiten, woher kamen sie, warum waren manche Krankheiten ansteckend, andere wiederum nicht?

Es war ein gefährliches Pflaster, auf das sich Rupert begab. Wenn die Studenten auch der weltlichen Gewalt nicht unterworfen waren, so waren sie es doch der geistlichen. Die päpstlich garantierte akademische Freiheit setzte jedoch die Einhaltung der Lehren der Heiligen Katholischen Kirche voraus, das Studium der Theologie das vornehmste Fach im Kampf gegen die Häresie.

 

 

»Credo ut intelligam«, sagte Lombardi gerade in seiner weichen, betonten Aussprache. »Ich glaube, um zu erkennen – das ist der Grundsatz der Scholastik.« Rupert lehnte sich zurück. Er war aufmerksamer Zuhörer, als Lombardi jetzt den Bogen von Anselm von Canterbury zu Avicenna schlug. »Auch Avicenna, der im Arabischen Ibn Sina heißt, hat die Philosophie des Aristoteles aufgegriffen und weiterentwickelt. Meine Herren, ich empfehle seine Bücher, die zur Philosophie wie die zur Medizin.«

Rupert schmunzelte. Er hatte sie bereits alle gelesen, seine »Gesetze der Medizin«, seine »Zehn Abhandlungen über das Auge«, er war fasziniert von der gedanklichen Freiheit dieses arabischen Gelehrten. War der Islam eine Religion, die Forschung und Experiment der Naturwissenschaften nicht behinderte und reglementierte?

»Und im Übrigen empfehle ich auch mein Werk, die ›Sentenzen über die Bedeutung der Metaphysik für die Philosophie‹, meine Herren.« Petrus Lombardus, Magister Pietro Lombardi strich sich schmeichelnd über sein Gewand, an dem er als solcher zu erkennen war.

Reinaldo gähnte verstohlen. Die lectio hatte bereits morgens um fünf Uhr begonnen. Die disputatio würde sich nun anschließen. Dabei war es am Abend zuvor spät geworden, die Diskussionen in den Weinstuben, wo die Studenten ihre Mitschriften verglichen und diskutierten, arteten meist in ein Besäufnis mit lockeren Gesängen aus. Die Vagantenlieder waren ein unbedingtes Muss für die Studenten, selbst Rupert konnte sich davon nicht ganz ausschließen. Er musste sich ebenso an die offizielle Kleiderordnung und den Regelkodex für die Studenten halten. Weitere Voraussetzung für das Studium war die Ehelosigkeit der Studenten, wie übrigens auch der Lehrer. Der heißblütige Reinaldo, dem nichts schwerer fiel, als seine Lenden im Zaum zu halten, besuchte immer wieder anrüchige Badehäuser der Stadt, die nichts weiter als feuchtfröhliche Bordelle waren.

Reinaldo seufzte in Erinnerung an den gestrigen Abend und die lebenslustige Annabella. Rupert klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern.

»Komm, gleich beginnt die disputatio, da kannst du darüber diskutieren, warum Wein, Weib und Gesang die Seele im Gleichgewicht hält. Deine Seele!«

Ehrfürchtig stand Rupert in dem hohen Raum, einen der vielen der Bibliothek. Hier befanden sich vor allem medizinische Bücher. Der Bibliothekar musterte Rupert kurz. »Nun, ich bin verantwortlich für all diese Bände«, knurrte er. »Eigentlich ist es nicht gestattet, allein hier herumzuwühlen.«

»Ihr könnt mir Fußfesseln anlegen, damit ich Euch kein Buch stehle«, erwiderte Rupert ungehalten. »Ich möchte nicht nur das lesen, was die Lehrer empfehlen, sondern alles.«

Der Bibliothekar grinste. »Na dann, viel Spaß!« Sein Arm wies auf die vielen Regale hin, die sich an den Wänden entlangzogen. Besonders schwere Bücher standen in massiven Schränken. In der Mitte des Raumes gab es mehrere Lesepulte, an die man sich setzen und die Bücher studieren konnte.

»Avicenna habe ich gelesen, auch Al-Rhasi über die Alchimie. Ich benötige etwas über Anatomie.«

Der Bibliothekar schob eine kleine Leiter vor sich her. »Da habe ich hier noch Isidor von Sevilla, er hat die ›Etymologiae‹ geschrieben. Und dann noch ein persischer Arzt, Haly Abbas, eine lateinische Übersetzung.«

Rupert nickte und der Bibliothekar kletterte ächzend von der Leiter. Gedankenversunken griff Rupert einen Band aus einer Reihe mit hebräischen Schriftzeichen. »Was ist denn das?«

Der Bibliothekar hob die Schultern. »Es ist in Hebräisch verfasst. Bislang hat sich noch keiner gefunden, der es übersetzt.«

»Ich kann es lesen«, murmelte Rupert und blätterte darin. Körperpflege, Hygiene im Einklang mit dem Talmud, Zusammenhang zwischen Klima und Speise… Langsam schlenderte er zum Lesepult hinüber und setzte sich. Der Bibliothekar legte ihm noch zwei Bücher auf den Tisch. »De re medica« von Celsus und »Corpus Hippocraticum« von Hippokrates.

Er blickte auf, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Es war Reinaldo. Rupert packte sein Handgelenk und zog ihn neben sich auf die Bank. »Schau mal«, flüsterte er. »Celsus beschreibt hier das Vernähen von Bauchwunden und die Behandlung innerer Bauchverletzungen. Schau dir das an! Das ist er doch, der erste Schritt ins Innere des Menschen!«

Reinaldo verzog das Gesicht. »Willst du Fleischer oder Arzt werden?«, fragte er angewidert.

»Begreifst du nicht, dass die blutige Kunst genauso dazugehört wie die pflanzliche und die…«, »magische« hätte er beinahe gesagt, aber er unterdrückte es, »… geistliche«, schloss er.

»Nein!« Reinaldo schüttelte entschieden den Kopf.

»Hier beschreibt Celsus die Operation einer vergrößerten Schilddrüse. Und hier die Amputation von Gliedern.«

Reinaldo fuhr zurück. »Das Abschlagen von Händen und Füßen ist Sache des Scharfrichters«, zischte er. »Du befasst dich mit der falschen Literatur.«

Unwillig schlug Rupert mit der flachen Hand auf den Buchdeckel, dass es klatschte. Es klang, als hätte er Reinaldo eine Ohrfeige versetzt. »Irrtum! Selbst Galen beschreibt in seiner ›methodus modendi‹, die Blutstillung durch Abpressen. So kann man amputieren, ohne dass der Patient verblutet. Es sind nicht die Ärzte, die sagen, dass man nicht amputieren darf, sondern die Kirche.«

»Mit Recht. Der menschliche Körper wird doch entweiht, wenn man sich daran vergreift.«

»Und was ist mit körperlicher Bestrafung, der Folter, Hinrichtung? Ist das nicht auch eine Entweihung?«

»Das ist doch etwas anderes. Derjenige hat sich vor Gott schuldig gemacht.«

Rupert fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Was sind wir denn für Ärzte, wenn wir den Menschen nicht helfen können bei Krankheiten oder Verletzungen?« Er blickte Reinaldo scharf an.

Der wich seinem eindringlichen Blick aus. »Wir Ärzte diagnostizieren, verordnen Medikamente, Behandlungen…«

»Pah, keine Medizin hilft, wenn im Bauchinneren eine Ader platzt, weil der Bedauernswerte vielleicht von einem Wagen überfahren wurde.«

»Dann hat er eben Pech gehabt, es war Schicksal, Gottes Wille.«

Rupert funkelte Reinaldo zornig an. »Nein, dann war es Unvermögen des Arztes. Ich denke, Gottes Wille ist etwas anders, als der Mensch ihn auslegt. Zum Beispiel, wenn Frauen über der Geburt sterben. Sie ziehen keinen Arzt hinzu. Aber häufig scheint dabei etwas schief zu gehen, sonst würden nicht so viele Frauen unter der Geburt sterben.«

»Sie ziehen keinen Arzt hinzu, weil eine Geburt keine Krankheit ist. Sie ist Frauensache, geht uns nichts an. Und wenn eine Frau darüber stirbt, dann ist es…«

»Halt den Mund oder ich reiße dir die Zunge heraus!« Rupert packte Reinaldos Hals. »Es ist nicht Gottes Wille!«

Der Italiener zuckte leichenblass zurück. Rupert ließ erst los, als er den misstrauischen Blick des Bibliothekars bemerkte. Er räusperte sich.

»Ich weiß vieles über den Körper der Frau«, flüsterte er.

»Ich auch«, grinste Reinaldo.

»Auch innen?«, fragte Rupert spöttisch. »Weißt du, wie der Mondzyklus funktioniert? Kennst du die Mechanismen der Geburt? Stimmt es wirklich, dass der Uterus frei im Bauch herumschwimmt und dass es sieben Kammern im Uterus gibt, die Mädchen, Jungen und Zwitter hervorbringen?«

»Ich habe vorige Woche eine weibliche Katze seziert. Ihr Uterus hatte zwei Hörner und darin bilden sich auf der einen Seite die weiblichen und auf der anderen Seite die männlichen Tiere«, verteidigte sich Reinaldo.

»Eine Katze! Wieso glaubst du, dass der Mensch wie eine Katze aussieht?«

»Du hast es doch auch gelesen, das Lehrbuch der Anatomie von Konstantin, dem Afrikaner. Darin steht alles über die Anatomie.«

»Der Schweine, jawohl.«

»Es gibt keinen Grund zur Entweihung des menschlichen Körpers. In den Büchern steht alles, man kann es nachlesen und an den Tieren üben.«

Rupert beugte sich vor, seine Stimme senkte sich zu einem kaum vernehmbaren Flüstern. »Und wenn sie sich irren in ihren Büchern?«

Reinaldo schnappte nach Luft. »Sie irren sich nicht!«, erwiderte er ebenso leise.

»Woher willst du das wissen?«

Der Italiener schwieg unbehaglich. »Ich komme in die Hölle«, wisperte er nach einer geraumen Weile. »Aber verdammt, ich würde es gern wissen.«

 

 

Das Gedränge war groß, die Bürger von Bologna waren zusammengeströmt, um sich das Spektakel der Hinrichtung nicht entgehen zu lassen. Glockengeläut und Trompetenklänge hatten das Volk auf die bevorstehende Hinrichtung aufmerksam gemacht. Es wirkte fast wie ein großes Volksfest, die Menge schrie und jubelte und zahlreiche Kinder drängten sich nach vorn, um besser sehen zu können.

Reinaldo stand neben Rupert und blickte verwundert über seine Schulter. »Warum hast du ein Zeichenbrett mitgenommen?«, fragte er. »Willst du etwa die Hinrichtung zeichnen?«

Rupert knurrte unwillig. »Ja«, erwiderte er kurz angebunden.

»Großer Gott, das ist ja pervers!« Reinaldo rückte vorsichtshalber ein Stück von Rupert ab.

»Mich interessiert der Tod«, sagte Rupert. »Ich will sehen, was mit dem Körper passiert, wenn er die Schwelle übertritt.«

Reinaldo lachte. »Das kann ich dir sagen. Ich habe schon mehr als einen Menschen sterben sehen. Erst zappeln sie noch ein bisschen, dann quellen ihnen die Augen heraus und die Zunge hervor, sie röcheln und dann sind sie tot. Manchmal geht es auch schneller, dann bricht das Genick, aber das haben die Zuschauer nicht so gern. Es geht zu schnell. Schließlich wollen sie auch ihr Vergnügen haben und eine Hinrichtung ist ja nicht alle Tage.«

Rupert schwieg. Reinaldos Geplapper ging ihm auf die Nerven. Außerdem vermutete er, dass es Reinaldo brühwarm den anderen Studenten erzählte, was Rupert hier trieb. Und die setzten ihm ohnehin schon genug zu.

»Was passiert mit seinem Körper, wenn er tot ist?«, wollte Rupert wissen.

»Na, was schon? Sie lassen ihn drei Tage hängen, damit er auch richtig abschreckend wirkt. Wenn sich die Krähen dann bedienen, nehmen sie ihn ab und verscharren ihn irgendwo draußen vor der Stadt. Einen Verbrecher, der so gesündigt hat, wird man nicht in geweihter Erde bestatten.«

»Was hat er getan?«

»Er hat eine Nonne vergewaltigt.«

Ein schiefes Lächeln verzog Ruperts Gesicht. »Und sie hatte etwas dagegen?«

Reinaldo blickte ihn entsetzt an. »Na, hör mal!«

Rupert hob die Schultern. »Ich weiß da was anderes über Nonnen…«

Reinaldo presste ihm die Hand auf den Mund. »Mach dich nicht unglücklich!«

Rupert schwieg und hoffte, dass Reinaldo sich verziehen möge. Aber den Gefallen tat ihm der quirlige Italiener nicht. Er schubste und drängelte und schob Rupert vor sich her, damit sie einen besseren Platz vor der Richtstätte bekämen.

Der Verurteilte wurde in einer Prozession aus dem Gefängnis herbeigeführt. Er war am ganzen Körper übersät mit Wunden, Folgen der Folter. Zwei Büttel führten ihn auf das aus Holz gezimmerte Podest. Seine Hände waren gefesselt, seine Füße mit Ketten aneinander geschlagen.

Dem Podest gegenüber war eine Tribüne aufgebaut, mit bunten Tüchern geschmückt. Der Richter, der Bürgermeister der Stadt, hohe Beamte saßen auf den beiden Rängen. Der Richter erhob sich und las noch einmal das Verbrechen vor, dessen sich der Verurteilte schuldig gemacht hatte.

»Bekennst du dich schuldig?«, fragte der Richter den Verurteilten. »Du hast die Möglichkeit, vor Gott und allen Zeugen zu bereuen.«

Der Mann spuckte verächtlich aus. »Ihr hat’s Spaß gemacht!«, schrie er über den Platz.

Als Antwort tobte die Menschenmenge, viele lachten, andere schrien: »Hängt ihn auf, hängt ihn auf!«

Der Richter schnaufte ärgerlich, dann machte er eine ungeduldige Handbewegung zum Henker und setzte sich.

Ein Priester bestieg nun, eine Bibel in beiden Händen vor sich hertragend, das Podest und stellte sich vor den Verurteilten. »Bereust du, mein Sohn?«, fragte er.

»Bin ich dein Sohn?«, fragte der Verurteilte. »Hast du es auch mit der Nonne getrieben?« Die Zuschauer kreischten vor Vergnügen.

Der Priester wich zurück und murmelte etwas, das eher wie ein Fluch klang. Er wandte sich um und hielt der versammelten Menge eine lange Predigt über die Verderbtheit des Verbrechers.

»Scher dich runter, du Schwarzkittel!«, brüllten die Zuschauer. »Wir wollen ihn hängen sehen und nicht dein Geschwafel hören!« Vergeblich versuchte der Priester gegen die tobende Menschenmenge anzuschreien. Dann verließ er entnervt das Podest, stellte sich abseits und bekreuzigte sich. »In nomine patris et filii et spiritu sanctu.« Das Amen verschluckte er.

Der Henker führte den Verurteilten unter den Galgen und legte ihm die Schlinge um den Hals. Er prüfte den festen Sitz, dann trat er einen Schritt zurück. Chorknaben setzten zu einem lauten Choral an, der das Schreien der Zuschauer zu übertönen versuchte, als der Henker die Leiter wegstieß, auf der der Verurteilte stand. Er pendelte am Strick hin und her, zappelte mit den Beinen. Sein ganzer Körper zuckte und wand sich. Das Gesicht verzerrte sich, wurde dunkelrot, die Zunge quoll heraus. Die Augen traten aus den Höhlen und er machte unter sich. So kämpfte er einige Augenblicke, bis er sich nicht mehr rührte.

Der Mann war tot, er hing schwer wie ein Mehlsack am Galgen, den Kopf unnatürlich verrenkt. Die Menge zerstreute sich langsam.

Reinaldo zog Rupert am Ärmel. »Komm, lass uns auch gehen.«

Rupert warf einen Blick auf den Gehängten. »Was für eine Verschwendung«, murmelte er.

Reinaldo hatte es trotzdem gehört. »Was meinst du damit?«

»Dass er drei Tage hier hängen muss, bis er zum Himmel stinkt. Mich würde interessieren, wie er von innen aussieht, solange er noch nicht verfault ist.«

Reinaldo wurde bleich und bekreuzigte sich. »Du versündigst dich«, hauchte er entsetzt.

Rupert blickte ihn scharf an. »Wieso? Sagtest du nicht, er wird nicht mal in geweihter Erde bestattet? Er ist ein Verbrecher, ein Sünder. Gott will ihn nicht haben. Also kann man doch mit seiner Leiche machen, was man will.«

»Aufschneiden darf man ihn nur, wenn er gevierteilt wird. Aber das entscheidet der Richter, wie er zu Tode kommen muss. Und der Henker vollstreckt es.«

»Das ist kein Aufschneiden, wie ich es meine«, entgegnete Rupert. »Ich meine, man müsste ihn sezieren. Einen richtigen Menschen, nicht nur tote Schweine wie in der Universität.«

Reinaldo schluckte schwer. »Wie kommst du auf so eine abartige Idee?«

»Weil ich glaube, dass der Mensch anders aufgebaut ist als ein Schwein. Sonst hätte Gott die Menschen doch den Schweinen gleichmachen können.«

»Nein, natürlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen und Schweinen!« Reinaldo rollte nervös mit den Augen. »Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen.«

»Na also! Und innen muss Gott demzufolge so aussehen wie ein Mensch und nicht wie ein Schwein.«

»Ich glaube schon. Deswegen ist es auch Sünde, einen toten Menschen aufzuschneiden. Schließlich würde das doch das Seelenheil verletzen.«

»Auch bei einem Verbrecher? Seine Seele ist doch sowieso verdammt.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus mit deinen seltsamen Diskussionen?«

Rupert schwieg und warf Reinaldo einen warnenden Blick zu. »Stell diese Frage nie wieder, sonst fühlst du dich eines Tages genauso schwer und leblos wie der da!« Er wies mit dem Griffel auf den Gehängten, der leise am Galgen im Wind schaukelte. Als sich Reinaldo schaudernd wieder umwandte, war Rupert verschwunden. Und am anderen Morgen fehlte die Leiche des Verbrechers am Galgen.

Sie standen im Hospiz in der Krankenabteilung. Die Patienten lagen auf Pritschen, manche am Boden, andere saßen auf Hockern. Ein unerträglicher Gestank lag in der Luft. Ein Pulk Studenten folgte dem Arzt bei der Harnschau. Demonstrativ hielt er ein Glas mit einer Urinprobe hoch und forderte einen der Studenten auf, die Probe zu beschreiben und dann auf die Krankheit zu schließen. Der junge Mann ließ sich ausführlich über Farbe, Trübung und Ablagerung des Harns aus, dann schloss er: »Der Kranke leidet an einem Ungleichgewicht der Säfte. Es ist zu viel schwarze Galle und Schleim vorhanden. Er sollte Diät halten und getreu der Lehre ›Gleiches mit Gleichem‹ mit Haferschleim und schwarzer Grütze behandelt werden.«

Der Arzt nickte und gab die Anweisung zur Behandlung an einen Mönch weiter, der die Pflege des kranken Pilgers übernommen hatte.

Rupert blieb am Bett des Kranken stehen, als sich alle bereits zum nächsten Krankenlager begaben. Er hielt Reinaldo am Ärmel fest. »Die Niere ist ein Organ, das den Harn aus dem Körper sammelt und über die Blase ausscheidet«, sinnierte er.

»Das kann dir jeder Metzger erzählen«, grinste Reinaldo. »Was ist daran so umwerfend?«

»Wenn im Harn aber das drin ist, was die Krankheit verursacht, dann bedeutet es, dass die Niere den Körper reinigt. Und der Urin ist voll von krankmachendem Unrat. Weißt du, ich glaube, in den Ausscheidungen befindet sich etwas, was Krankheiten verursacht. Und wenn man damit leichtfertig umgeht, es auf die Straße kippt, jeder es berührt… ob nicht daher die Seuchen kommen?«

»So ein Unsinn!« Ärgerlich riss sich Reinaldo aus Ruperts Griff los. »Was soll denn darin sein? Das bedeutete ja, dass jeder Mensch Verursacher von Krankheiten wäre. Und warum sind dann manche Menschen krank und andere nicht? Und warum stecken sich manche Menschen mit Fieber an und andere nicht?«

Rupert blieb stehen, während die anderen längst weitergegangen waren. Hilflos hob er die Hände, aber innerlich war er zornig. »Was wissen wir denn eigentlich? Gar nichts!«

Reinaldos Lippen waren bleich, als er durch die schmale Gasse hastete. Doch in seinen Augen glühte es von unterdrücktem Feuer. Es war ein Feuer der Hölle, das wusste er, aber Rupert hatte ihn mit diesem Fieber angesteckt.

Er fand Rupert im Garten hinter der Bibliothek. Hier fühlte er sich wohl. Der Gesang der Vögel, das sanfte Säuseln des Windes im dunkelgrünen Laub der Bäume begleitete seine Studien, er las die Werke Euklids zur Mathematik, Aristoteles’ zur Philosophie, Ptolemäus’ zur Astronomie, Hippokrates’ zur Medizin…

»Ich habe etwas für uns gefunden, ein geeignetes… Objekt«, keuchte Reinaldo. Unwillig blickte Rupert auf. »Ich meine eine Schwangere.«

Ruperts abweisendes Gesicht hellte sich auf. Zugleich blickte er sich vorsichtig um. Unliebsame Lauscher konnten sich hinter den Büschen verborgen halten. »Wo?«

»In der Gruft des Friedhofes. Ich habe beobachtet, wie die Leichenträger sie hineingebracht haben. Sie ist unter der Geburt gestorben, das Kind ist noch im Leib.«

»Bist du dir sicher?«

Reinaldo nickte heftig. »Sie war nur mit einem Tuch zugedeckt. Eine der leibeigenen Bediensteten, um die sich niemand kümmert. Sie war nicht einmal verheiratet.« Reinaldos Stimme senkte sich zum kaum hörbaren Flüstern. »Heute Nacht?«

»Ja. Wir brauchen Leuchtfässer.«

»Ich habe Kerzen organisiert.«

Ruperts Mundwinkel zuckten. »Woher?«

»Woher wohl? Mein Gott, ich komme sowieso in die Hölle und du hast mich verleitet. Ich schände Leichen, stehle Kerzen vom Altar und habe sündige Gedanken. Das Schlimmste ist, dass ich nicht einmal zur Beichte gehen kann.«

»Untersteh dich! Und denk daran, es gibt keine Hölle. Stell dir lieber vor, du hättest dieser Frau helfen können, wenn du gewusst hättest, wie das mit der Geburt funktioniert.«

»Helfen? Du träumst ja! Niemand kann da helfen, es ist gottgewollt. Außerdem willst du doch damit nicht andeuten, dass du eine Frau bei lebendigem Leibe das Kind herausschneiden würdest?« Reinaldo schüttelte sich wie ein nasser Hund.

»Warum nicht?« Ruperts Gesicht blieb ernst.

Reinaldo starrte ihn an. »Na, hör mal… Du bist doch noch abartiger, als ich dachte.«

»Cäsar soll auf diese Weise auf die Welt gekommen sein. Wenn man die Gebärende mit einem starken Betäubungsmittel behandelt, dass sie den Schmerz nicht verspürt, müsste es möglich sein.«

»Du irrst dich. Wenn du den Bauch aufschneidest, tötest du dabei das Kind.«

»Eben nicht, wenn man weiß, wie man schneiden muss.«

»Und wenn schon. Dann verblutet sie eben dabei. Ich sage dir, es geht nicht.«

Rupert erhob sich und strich seinen schwarzen Umhang glatt. »Wir werden es heute Nacht sehen. Und du wirst mich begleiten, klar?«

Reinaldos Blick wurde unsicher. »Ich weiß nicht…«

Mit zwei Schritten war Rupert bei ihm und packte ihn am Hals. »Du kommst, verstanden?«, zischte er. »Und zu niemandem ein Wort, sonst liegst du morgen früh neben ihr auf der Steinplatte!«

Sie lehnten sich aneinander und schaukelten im Takt der Musik. Reinaldo hob schwer die Lider und griff nach dem Weinkrug. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich es schaffe«, sagte er schleppend, als wolle ihm die Zunge nicht gehorchen. »Aber jetzt ist es vorbei. Ich werde zurück nach Venedig gehen, mich dort als doctor medicinae niederlassen…«

»… und deine Lehr buch Weisheiten verbreiten, ohne dir die Finger schmutzig zu machen. Du wirst ein angesehener und reicher Mann sein, eine liebe Frau heiraten und viele Kinder haben. Und vielleicht schaffst du es sogar, dass deine Frau dir nicht unter der Geburt stirbt.« Rupert schob den Weinkrug beiseite, den Reinaldo ihm hinhielt.

»Dein Spott ist ungebrochen, doctor. Weißt du, eigentlich ist es schade, es war eine schöne Zeit.« Er nahm einen tiefen Schluck und rülpste laut. »Wie werde ich das alles vermissen, die Vorlesungen, die Diskussionen, die Abende in den Schenken, die Mädchen…« Er seufzte. »Und dich. Ich glaube, so einem Menschen wie dir werde ich in meinem Leben nie wieder begegnen. Du bist das Schwärzeste, was auf dieser Erde herumläuft, aber, bei Gott, das war es wert. Ich habe Dinge gesehen, ich habe Dinge getan…« Er schüttelte sich entsetzt und griff wieder zum Krug. Den anderen Arm legte er um Ruperts Schultern. »Was wirst du nun tun?«

Rupert senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall gehe ich fort von hier, nach dem Süden. Irgendwo werde ich mich als Arzt niederlassen…«

»… und anderen Menschen die Bäuche aufschneiden oder sonst etwas. Darin hast du es ja zur Meisterschaft gebracht. Aber man muss schon deinen seltsamen Glauben haben, um das ungerührt praktizieren zu können.«

»Es hängt nicht mit meinem Glauben zusammen. Ich bin davon überzeugt, dass man die Operationstechniken vervollkommnen kann. Und ich weiß, wo so etwas möglich ist. Im Orient!«

»Bei den Heiden? Puh, willst du damit sagen, du willst dorthin, um anderen Menschen die Bäuche aufzuschlitzen?«

Rupert nahm Reinaldo den Weinkrug aus der Hand. »Der Wein lockert deine Zunge auf ungebührliche Weise. Du solltest alles vergessen, was mit mir zusammenhängt.«

»Wie könnte ich!« Reinaldo schnaufte entrüstet. »Ich habe sogar ein Abschiedsgeschenk für dich.« Er griff unter seinen Wams und zog ein kleines Päckchen hervor. Plötzlich schien er wieder nüchtern zu sein, als er es Rupert feierlich überreichte.

»Was ist das? Ein Buch?« Erstaunt hielt Rupert eine kleine Broschüre in der Hand, in dunkles Leder gebunden.

Reinaldo nickte. »Es ist von Pierre Abelard. Ein sehr ungewöhnlicher Mensch, ein Gelehrter. Das Werk heißt Sie et non – ja und nein. Verstehst du, Gegensätze sind für ihn keine Gegensätze, wenn man sie im Zusammenhang sieht. Sagtest du das nicht auch?«

Rupert schwieg und er schien tatsächlich ein wenig überrascht und gerührt. Reinaldo grinste. »Dieser Abelard ist tatsächlich sehr gegensätzlich. Einerseits wettert er gegen die Frau als Sünderin und meint, Gott hätte einen anderen Teil des weiblichen Körpers für seine Empfängnis und Geburt wählen können, anstelle jenes verabscheuungswürdigen Teiles, dem die Menschensöhne entstammen.« Er kicherte. »Und dann hat er ein Verhältnis mit der keuschen Tochter eines Geistlichen, die er schwängert und heimlich heiratet. Nun frage ich mich, wie hat der es gemacht? Mit dem Finger in ihrem Ohr? Und damit nicht genug, er wird von einem erzürnten Verwandten dieses Mädchens entmannt. Und obwohl diese Heloise ins Kloster ging, liebten sich beide immer noch über Jahre bis zu ihrem Tod. Wenn das keine Gegensätze sind!« Reinaldo ließ sich nach hinten fallen und knallte mit dem Kopf gegen die Bretterwand der Taverne. »Und was macht man, wenn man kein Weib zur Verfügung hat? Man ertränkt seinen Kummer im Wein. Los, Rupert, trinken wir! Musik!« Die anderen Studenten am Tisch, die der Abschlussfeier beiwohnten, fielen in das bekannte Vagantenlied ein:

»Mein Begehr und Willen ist in der Schenke sterben,

wo mir Wein die Lippen netzt, eh sie sich entfärben.«