11. Kapitel

Kommissarin Monika Held musterte streng den Jungen, der mit seinen quietschblauen Haaren und den zerrissenen Jeans vor ihrem Schreibtisch saß. »Also, Jonas, ich fasse zusammen: Sie geben zu, sich in Elina Mays schülerVZ-Account eingehackt zu haben. Daher wussten Sie, mit wem sie chattet. Sie streiten aber ab, hinter dem Pseudonym ›Blauer Reiter‹ zu stecken. Und Sie haben angeblich auch keine Ahnung, wer Elina da schreibt.«

Grover nickte heftig: »Genau. Ich bin es jedenfalls nicht. Mein einziger Fehler war, dass ich mich verquatscht habe, und Lila auf die Idee gekommen ist, dass ich ihr die Mails geschickt habe.«

In dem Moment ging die Tür auf und ein Kollege aus der Computerforensik kam rein. Sofort sprang der riesige, sabbernde Köter auf, den Monika aufs Präsidium hatte mitnehmen müssen, weil er erbärmlich zu heulen begann, als sein blauhaariges Herrchen ihn nach einer kurzen Runde im Garten wieder ins Haus sperren wollte.

»Diavolo, aus!«, rief Grover streng und mit einem schuldbewussten Blick knickte das Ungetüm alle vier Beine gleichzeitig ein und ließ sich geräuschvoll zu Boden plumpsen.

Mit angewidertem Gesichtsausdruck umrundete der Computerexperte den Hund und überreichte Monika ein paar zusammengeheftete DIN-A4-Seiten. Monika überflog sie kurz, dann wandte sie sich an Grover und zog die Brauen hoch: »Die Sache mit Elinas Mailaccount scheint nicht Ihr einziger Ausflug in fremde Datengebiete gewesen zu sein.« Dabei blätterte sie durch die Papiere. »Wir haben uns erlaubt, Ihren Laptop mal näher in Augenschein zu nehmen. Darauf befinden sich mehrere Softwareprogramme zum Knacken von Dateien und ein Hardware-Keylogger, mit dem man Passwörter und Ähnliches ausspähen kann. Ich gehe mal davon aus, dass Sie dieses Zeug für nicht ganz erlaubte Dinge benutzt haben, stimmt’s?«

Grover ließ sich die Butter nicht vom Brot nehmen: »Der Besitz einer Hardware ist nicht strafbar!«, entgegnete er wie aus der Pistole geschossen.

Monika schnaubte spöttisch. »Glauben Sie, wir leiden bei der Polizei unter chronischer Intelligenz-Allergie? Dass Sie das Teil nur als Zierde für Ihr Regal benutzt haben, nimmt Ihnen nun wirklich niemand ab!«

Grover seufzte tief auf und zuckte resigniert die Schultern. »Okay, Sie haben mich am Wickel. Aber mal ehrlich: Wenn ein Lehrer so dämlich ist und nicht mal Dateien verschlüsselt, sondern die Klausuren auch noch im EDV-Raum bei uns an der Schule bearbeitet oder ausdruckt – dann ist das doch quasi schon Anstiftung zur Informationsbeschaffung, oder?«

»Du bist ein ›Cracker‹, Freundchen: Einer, der kriminell in fremde Datensysteme eindringt. Das brauchst du uns hier gar nicht schönzureden«, schaltete sich Monikas Kollege ein und musterte Grover finster.

»Ja, aber ich bin der Beste«, gab der frech zur Antwort. »Geben Sie mir fünf Minuten – und ich hab das Passwort von eurem Kriminalpräsidiumsdingsda geknackt.«

Monikas Kollege klappte die Kinnlade runter. Er setzte zu einer heftigen Erwiderung an, doch Monika stoppte ihn mit einer Handbewegung, ehe sie sich an den Jungen wandte, wobei sie darauf achtete, seinem Köter nicht mehr zu nahe zu kommen – ein Sabberfleck auf ihren neuen Lederstiefeln reichte ihr. »Wenn du wirklich so gut bist, wie du behauptest, dann erklär mir doch mal, wie jemand über einen Proxyserver gehen kann, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen oder lokalisierbar zu sein«, forderte sie Grover heraus.

Der gab frech zurück: »Mögen Sie Zwiebeln?«

»Was hat das denn mit meiner Frage zu tun?«, antwortete sie gereizt. Sie musste den Impuls unterdrücken, dem unverschämten Bürschchen mal ordentlich seinen blauen Kopf zu waschen.

Der erklärte fast gelangweilt: »Da gibt’s ein Netzwerk namens TOR, das nach dem Zwiebelschalenprinzip funktioniert. Die Datenpakete laufen nach dem Zufallsprinzip über mehrere Proxyserver in aller Welt. Damit ermöglicht es anonymes Surfen im Netz, weil die Verbindungsstrecken im Netz alle paar Minuten gewechselt werden. Das dürfte sogar für die besten Bullen … öh, sorry, Polizisten … ein schier unlösbares Problem sein, weil man da so richtig schön im Nebel stochert.«

»So weit waren wir auch schon«, knurrte Monikas Kollege im Hintergrund.

Grover beachtete ihn nicht. Aufmerksam musterte er die Kommissarin. »Wieso wollen Sie das wissen – Lila ist doch nicht in Gefahr, oder?

* * *

Er hatte den Kofferraum geöffnet und legte nun alles sorgfältig zurecht: Das Seil, mit dem er sie fesseln würde, und den Knebel, damit niemand sie schreien hörte. Er war selbst erstaunt, wie bereitwillig die Beute auf seinen Vorschlag eingegangen war. Aber sie konnte ja nicht wissen, dass nicht nur der Biergarten, sondern auch das Café neben der Kapelle seit Wochen geschlossen war. Pleite gegangen, weil der Besitzer sein eigener bester Kunde gewesen war und alles versoffen hatte, statt seine beiden Kellner zu bezahlen. Als die schließlich wegblieben, weil sie kapiert hatten, dass sie keinen Cent von ihrem Lohn mehr sehen würden, konnte er dichtmachen. Zwar kam dieser Versager doch tatsächlich bei ihm angewinselt und wollte, dass er ihm unter die Arme griff, doch er hatte ihm klipp und klar gesagt, dass von ihm nichts zu holen war. Ungläubig schüttelte er den Kopf: Glaubte sein Vater tatsächlich, dass er sich für ihn an den Zapfhahn stellte oder Leuten ihre Getränke an den Tisch servierte? Sein eigener Job kotzte ihn schon genug an, da würde er nicht noch für seinen Alten, der ihn sowieso die meiste Zeit nur verprügelt hatte, den Handlanger spielen. Ein Gutes hat die ganze Sache aber, dachte er und ließ den Schal, den er der Beute neulich abgenommen hatte, verträumt durch die Finger gleiten: Der verlassene Ort war die perfekte Falle.

* * *

Es klingelte und Nessie stand etwas atemlos vor der Tür: »Dir ist hoffentlich klar, dass du mich mitten aus ’nem Romantik-Date mit Alex geholt hast!?«

Dann stockte sie und blickte verblüfft einmal an mir rauf und runter, ehe sie durch die Zähne pfiff. »Wow, Lila, du siehst ja cool aus. Ich wusste gar nicht, dass dir ›Lippenstift‹ ein Begriff ist, geschweige denn, dass du einen besitzt!«

Ich begnügte mich damit, ihr einen gespielt vernichtenden Blick zuzuwerfen, und sie zuckte grinsend die Schultern, ehe sie ihre Neugierde, die ihr bis unter den gebleichten Haaransatz stand, nicht mehr zügeln konnte: «Also, was gibt es so Wichtiges, das nicht warten kann?«

Möglichst sachlich erzählte ich, dass Grover offensichtlich nicht hinter »Blauer Reiter« steckte. Ich konnte es mir nicht verkneifen, mit einem Quäntchen Schadenfreude hinzuzufügen: »Es kann gar nicht ein und dieselbe Person sein. Während Grover nämlich gerade von der Polizei auseinandergenommen wird – treffe ich mich mit ›Blauer Reiter‹ – in fünfzehn Minuten!«

Nessie klappte der Mund auf vor Überraschung. »Lila, du ausgekochtes kleines Biest, du hast ein Date«, quietschte sie dann, und ich musste sie mit einem energischen Knuff zur Ordnung rufen, ehe meine Mutter wegen des Lärms noch aus Julius’ Zimmer kam, wo sie meinen kleinen Bruder mit Legobausteinen bei Laune hielt. Meine Verabredung mit »Blauer Reiter« hielt ich lieber geheim – ich hatte wahrhaftig keine Lust auf mütterliche Ratschläge.

Nessie war sofort bereit, mich zum Biergarten zu begleiten, nur vorsichtshalber. Trotz meiner Freude, »Blauer Reiter« kennenzulernen, war ich erleichtert, sie dabeizuhaben.

Vorher musste ich aber noch einen Anruf erledigen, das gebot die Fairness. Ich griff zum Handy und rief die Polizeidienststelle von Monika Held an. Ein Kollege teilte mir träge mit, die Kommissarin sei gerade beschäftigt.

»Das weiß ich selber«, sagte ich ungeduldig. »Bitte richten Sie ihr Folgendes aus: Jonas Schumann verbirgt sich nicht hinter dem Pseudonym ›Blauer Reiter‹. Können Sie sich das merken?«

Seine empörte Stimme dröhnte an mein Ohr: »Junges Fräulein, du bist hier bei der Polizei, ist das klar? Wenn du dir einen schlechten Scherz erlauben willst …«

»Nein, das ist mein Ernst. Die Kommissarin weiß Bescheid, bitte richten sie ihr einfach nur aus, was ich Ihnen gesagt habe, okay? Ich muss jetzt los! Tschüss!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schaltete ich das Handy aus. Ich hatte meine Pflicht getan und Grover entlastet, jetzt konnte ich endlich zu meinem Date.

»Ich ziehe jetzt mit Nessie los«, brüllte ich anstandshalber in Richtung der geschlossenen Kinderzimmertür, ehe ich sie am Arm packte und wir uns rasch vom Acker machten.

»Darf ich mich irgendwo verstecken und gucken, wie der Typ aussieht, den du triffst? Ich bin sooo neugierig«, bettelte sie.

Ich konnte schlecht Nein sagen, wenn sie schon mitkam, also nickte ich zögernd. »Von mir aus, aber wehe, du machst irgendeinen Blödsinn«, drohte ich.

Sie lachte: »Ich werde mich hinter einem Baum unsichtbar machen. Kannst mich ja auf dem Handy anrufen, wenn sich rausstellen sollte, dass der Typ eine Nullnummer ist. Dann komme ich und rette dich«, bot sie großmütig an.

Wir beide konnten nicht ahnen, dass es dazu nicht mehr kommen sollte.

Monika wusste nicht, was sie von dem Jungen mit den blauen Haaren halten sollte. Er war nicht dumm – aber war er deswegen auch unschuldig? In diesem Moment klopfte es und der dicke Gasser steckte den Kopf ins Büro:

»Gerade hat ein Mädchen angerufen. Ich glaube zwar, dass sie einen Witz gemacht hat, aber ich soll Ihnen ausrichten: Ein gewisser Jonas ist nicht ein gewisser Blauer Reiter. Was immer das heißen soll«, leierte der dicke Polizist lustlos herunter und verschwand.

Bevor Monika noch reagieren konnte, sprang Grover auf und rief triumphierend: »Hab ich doch gesagt! Kann ich jetzt gehen?«

Monika deutete auf den Stuhl und sagte streng: »Hiergeblieben! Wir sind noch nicht fertig!« Während Grover sich seufzend auf seinen Stuhl zurückfallen ließ, versuchte sie Elina anzurufen, doch nur die Mailbox ging ran. Sie hinterließ eine Nachricht und bat um sofortigen Rückruf.

Sie verspürte ein Ziehen im Bauch, ein Anzeichen von Sorge. Da merkte sie, dass Jonas sie aufmerksam beobachtete.

»Was, wenn dieser ›Blaue Reiter‹, wie der sich affigerweise nennt, nicht ganz sauber ist?«, fragte er. Monika wollte es nicht zugeben, aber genau dasselbe hatte sie auch gerade gedacht.

Die Sonne, ockerfarben, als hätte man eine Handvoll Sand hineingeworfen, kämpfte sich durch staubgraue Wolken. Nervös und mit Lampenfieber im ganzen Körper stieg ich neben Nessie den Hügel hoch. Auf seiner Kuppe lagen die Kapelle und daneben der kleine Biergarten. Im fahlen Herbstsonnenlicht wirkten die Konturen verschwommen, als blicke man durch den Rauch einer Zigarette, der um eine Glühbirne schwebt.

Nessie blieb auf mein Geheiß ein paar Schritte zurück. Ich wollte alleine sein, wenn ich »Blauer Reiter« das erste Mal gegenübertrat. Weil ich mich dem verabredeten Treffpunkt von der Rückseite näherte, sah ich erst als ich fast davorstand, dass nicht nur sämtliche Tische und Bänke im Biergarten zusammengeklappt waren und der Ausschank mit ein paar Brettern vernagelt war. In einem der staubigen Fenster des Cafés hing außerdem ein Pappschild, auf dem mit krakeliger Schrift »Geschlossen« stand.

Der ganze Ort wirkte, als wäre er seit Langem verlassen. Von »Blauer Reiter« keine Spur. Wie ein schwerer Stein in einen Brunnen, so plumpste mein Herz Richtung Kniekehlen. Meine Enttäuschung war abgrundtief. Verzweifelt drehte ich mich zu Nessie um, die angelaufen kam, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.

»Sieht aus, als wäre ich versetzt worden«, sagte ich mit kleiner Stimme.

* * *

Da war sie. Seine Beute. Aber … da war plötzlich noch eine andere! Was sollte er tun? Was sollte er tun?

* * *

Die Kommissarin hatte Mühe, ihre Anspannung zu zügeln. Ungeduldig blickte sie auf Grovers himmelblauen Schopf hinunter, während der an ihrem Tisch saß und sich an seinem Laptop zu schaffen machte, den sie ihm für die Recherchen zurückgegeben hatte.

»Geht das nicht ein bisschen schneller?«, konnte sich Monika nicht verkneifen.

»Wenn Ihr sauberer Herr Kollege meinen Computer nicht komplett auseinandergenommen und alles durcheinandergebracht hätte, schon«, knurrte Grover und hackte gereizt auf die Tastatur ein. Dann starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. »Mist«, zischte er. Monika wurde ungeduldig: »Was ist?«, drängte sie.

Grover sah sie an: »Ich bin in ihrem Account drin. Und raten Sie mal, wer sich mit Lila treffen will? ›Blauer Reiter‹!«

Monika starrte ihn eine Sekunde lang an, ehe sie nur sagte: »Wann?«

»Heute. Um 15.30 Uhr im Café an der Loisachkapelle«, knurrte Grover. Er konnte nicht verhindern, dass sich ein ärgerlicher Ton in seine Stimme schlich. Es wurmte ihn immer noch, dass Lila diesem Gedichtefuzzi den Vorzug gab. Und, als wäre das nicht genug, ihn dafür bei den Bullen anschwärzte.

Immerhin hatte die Kommissarin ihn gebeten – auch wenn es gegen jede Regel verstieß – sich ein letztes Mal in Lilas schülerVZ-Account einzuhacken. Sie wollte einfach sichergehen, dass dem Mädchen nichts passierte.

»Moment mal … der Laden hat doch zu«, schaltete sich der EDV-Forensiker ein. Und fuhr gleich darauf fort: »Da musste vor ein oder zwei Wochen ’ne Streife von uns hin, weil der Besitzer total betrunken randaliert und seinen eigenen Tresen mit der Axt zerlegt hatte. Hat mir ein Kollege in der Kantine erzählt.«

Monika stieß die angehaltene Luft mit einem Zischen aus, das durchaus als deftiger Fluch interpretiert werden konnte.

Auch Grover sah hoch und sagte mit mühsam unterdrückter Anspannung: »Lila hat das Treffen übrigens zugesagt!«

»Wir wollen mal nicht die Pferde scheu machen. Es kann ja auch eine ganz harmlose Verabredung mit einem Chatfreund sein, der denkt, das Café wäre offen«, erklärte Monika betont ruhig.

Dass sie nicht so gelassen war, wie sie tat, merkte Grover, als sie anfügte: »Nur zur Sicherheit: Kann man irgendwie rauskriegen, wer hinter diesem Nickname ›Blauer Reiter‹ steckt?«, fragte sie, und Grover vernahm einen Unterton in der Stimme der Kommissarin, der ihren Stress verriet.

»Aber nicht kucken«, kommandierte er, während er einige Befehle eingab und diverse Hackerprogramme anfingen zu laufen und seine Befehle auszuführen.

Monika stieß gereizt die Luft aus, beherrschte sich aber. Zwar hätte sie den blauhaarigen Schlaks am liebsten zur Strafe für seine unverfrorene Art in die Ausnüchterungszelle gesteckt und dort ein paar Stunden schmoren lassen, aber sie brauchte ihn.

Selbst ihr Kollege aus der Computerforensik musste zugeben, dass der Junge in puncto Computertechnik verdammt fit war. Und er konnte den Account von Elina May am schnellsten knacken – Kunststück, schließlich hatte er das schon vorher regelmäßig praktiziert. Er musste ganz schön verknallt in das Mädchen sein, dachte Monika. Wider Willen war sie von seiner Hartnäckigkeit und dem Erfindungsreichtum beeindruckt.

Dagegen bereitete ihr die Information, dass Elina sich mit einem Forumteilnehmer treffen wollte, der weder mit richtigem Namen noch mit einem Foto bei schülerVZ gelistet war, Bauchgrimmen. Obwohl sie es logisch nicht begründen konnte. Während sie noch darüber nachdachte, ob es vielleicht Intuition oder einfach nur grundlose Sorge war, sprang Grover von Monikas Schreibtisch auf.

»Shit! Der Typ ist nicht zu identifizieren. Alles, was ich kriege, ist der Hinweis auf einen Proxyserver – und der steht … in Russland!«

Grover hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da war Monika schon in ihre Jacke geschlüpft und griff sich den Autoschlüssel vom Schreibtisch.

»Gefahr im Verzug, ich bin bei der Loisachkapelle«, rief sie ihrem Computerkollegen zu, ehe sie aus dem Büro stürmte. »Sag Gasser Bescheid, der soll mit zwei Streifenwagen dorthinkommen.«

Sie war schon auf dem Flur, da hörte sie Schritte und ein lautes Hecheln hinter sich. Links von ihr tauchte der massige schwarze Schatten des Hundes auf und eine Stimme sagte: »He, Moment mal …!«

Eine Zehntelsekunde lang dachte Monika tatsächlich, der Hund hätte gesprochen. Doch dann sah sie Grover, der sie einholte und keuchte:

»Sie glauben ja wohl nicht, dass Sie da alleine hinfahren …!«

Nessie blickte mich strafend an: »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«

Ich hatte ihr gerade gestanden, dass ich nicht einmal eine Handynummer von »Blauer Reiter« hatte. Weswegen mein Telefon auch nach dem Anruf bei der Polizei ausgeschaltet zu Hause lag. Ich zuckte entschuldigend die Schultern. »Es ging alles so schnell. Und außerdem war ich mir sicher, dass er auftaucht«, meinte ich kleinlaut.

Sie blickte sich um. »Ist ja komisch«, meinte sie. »Alles dicht! Guck mal, auf dem Parkplatz da unten steht auch nur dieser eine Lieferwagen!«

Ich folgte ihrem Blick. Ein weißer Kombi, an dessen Seite die Aufschrift prangte »Bäcker Ecker: Mach mal Pause – mit unserer Jause«, war das einzige Auto weit und breit.

»Was für ein selten dämlicher Werbespruch«, sagte ich sauer, um meinen Frust über das verpatzte Date irgendwie abzulassen. Am liebsten hätte ich eine Dose roter Farbe genommen und wild über den Schriftzug gesprüht, um mich abzureagieren. Die Kränkung, von »Blauer Reiter« im Stich gelassen worden zu sein, fraß sich wie Säure in meine Seele.

Ein Blick in mein Gesicht, und Nessie schien zu ahnen, was in mir vorging. Tröstend legte sie mir die Hand auf den Arm. »Mann, jetzt lass dich mal nicht hängen. Außerdem: Wir sind superpünktlich. Vielleicht hat er sich ja nur verspätet!«

Durch ihre Worte etwas hoffnungsvoller gestimmt, nickte ich zögernd. »Okay, ich gebe ihm noch zehn Minuten. Danach bin ich weg.«

»Dann tauche ich lieber ab. Am Ende ist er ja schüchtern und flüchtet gleich wieder, wenn er uns beide hier sieht«, kicherte sie.

Ihr Blick fiel auf die Tür zu der kleinen Kapelle. Sie stand halb offen. Unternehmungslustig marschierte sie darauf zu.

»Nessie, warte«, zischte ich. »Du kannst da nicht einfach reingehen, das ist bestimmt verboten!«

»Wieso?«, gab sie unbekümmert zurück, »Ein bisschen himmlischen Beistand kann ja wohl jeder brauchen! Außerdem kann ich von hier drin prima beobachten, wer dein geheimnisvolles Internetdate ist!«

Ich zögerte ihr zu folgen. In diesen kleinen Kirchen und Kapellchen, die in der Umgebung so zahlreich standen, überfiel mich stets ein leichtes Unbehagen. Meist waren sie mit Heiligenfiguren vollgestopft, unter denen Blumen und Rosenkränze lagen, und so winzig, dass sich gerade mal eine Handvoll Leute darin aufhalten konnte. Ich fühlte mich in dieser heiligen Enge schnell eingesperrt. Deshalb blieb ich draußen stehen, als Nessie mir nichts, dir nichts in den kleinen Altarraum spazierte.

»Oh, hi«, hörte ich sie überrascht sagen.

Neugierig geworden, lugte ich nun doch um die Ecke.

Ein Mann kniete in einer der schmalen Bänke, nur seine dünnen blonden Haare und ein massiger Rücken, über den sich ein ausgewaschenes blaues Sweatshirt spannte, waren zu sehen. Dann drehte er den Kopf und sein blasses Mondgesicht sah uns ausdruckslos an. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Blitzartig durchschoss mich das Wissen: Ich hatte ihn schon ein paar Mal gesehen – nur wo?

»Hey, verkaufst du nicht im Kiosk bei uns an der Schule?«, fragte Nessie.

In diesem Moment klickte es auch bei mir. Natürlich! Der verdruckste Typ, der immer schweigend die Snacks rüberreichte und wortlos das Geld entgegennahm! Dann gehörte ihm wohl auch der Lieferwagen mit dem blöden Werbeslogan auf dem Parkplatz. Dass ausgerechnet einer wie er religiös war und zum Beten hierherkam, erstaunte mich zwar, ich dachte mir aber nichts dabei. Gott war schließlich kein exklusiver Designartikel.

»Wie heißt du gleich noch mal?«, hörte ich Nessie fragen und dann seine undeutlich gemurmelte Antwort: »Schäfer, Andreas.«

Sollte sie ruhig noch ein bisschen mit ihm schäkern, ich hatte jedenfalls keine Lust dazu. Außerdem wollte ich sehen, ob »Blauer Reiter« inzwischen im Anmarsch war. Also wandte ich mich ab und schlenderte ein paar Schritte in Richtung Biergarten, als ich plötzlich hinter mir das Zuschlagen einer Tür hörte. Ein metallisches Knirschen, als würde ein Schlüssel im Schloss gedreht. Und dann Nessies aufgebrachte Stimme: »Spinnst du? Gib mir meine Tasche! Was soll das?«

Ich fuhr herum und sah diesen Andreas Schäfer vor der geschlossenen Tür der kleinen Kirche stehen. Aus dem Inneren war heftiges Klopfen zu hören. Nessie trommelte offenbar mit aller Kraft gegen die Holztür und schrie: »Mach die verdammte Tür auf! Lass mich raus! Lila, hilf mir!«

Ich war wie betäubt, und mein Hirn weigerte sich zu begreifen, was ich da sah. Wie ein verrückter Film lief alles vor meinen Augen ab:

Andreas, der entrückt lächelte. Nessies Handtasche, die er achtlos neben sich ins Gras hatte fallen lassen. Ihre Schreie in der Kapelle. Und ich – starr und stumm wie eine Figur auf der Bühne eines Kasperletheaters, kurz bevor das böse Krokodil auftaucht.

Jetzt kam er auf mich zu und sagte: »Hallo – Schlehenherz«.

Einen Augenblick war ich wie gelähmt. Als hätte er mit diesem Wort ein Gift durch meinen Körper geschickt, wie der Biss einer Schlange, der das Opfer erst bewegungslos macht, ehe er es tötet.

Und da begriff ich plötzlich. Nichts anderes hatte Schäfer mit mir vor. Er verbarg sich hinter »Blauer Reiter«. Er war Vios Mörder. Und er würde bald meiner sein. Jetzt wollte er zu Ende bringen, was er im Moor nicht geschafft hatte.

Ohne nachzudenken, bückte ich mich und meine Finger gruben sich in das lose Erdreich. Unvermittelt warf ich ihm eine Handvoll loser Erde ins Gesicht, dann wirbelte ich auf dem Absatz herum und rannte los. Ich hörte seinen Wutschrei – und dann waren seine Schritte hinter mir, ich vernahm seinen keuchenden Atem.

Wie damals. Der Albtraum wiederholte sich, nur dass ich nicht schlief, sondern wach und in Lebensgefahr war. Obwohl ich wie ein gehetztes Tier um mein Leben rannte, kreiste in meinem Kopf die ganze Zeit der Gedanke, ob es Vio wohl genauso ergangen war. Und in diesem Augenblick, als sich entscheiden würde, ob ich entkam oder ihr Schicksal teilen würde, ging mir auf: Die schrecklichen Träume, in denen mir meine tote Freundin erschienen war, waren keine Rache Vios gewesen, sondern Warnungen. Die ganze Zeit hatte sie mir klarmachen wollen, dass ihr Mörder mir ganz nahe war. Ich hatte ihm, alias »Blauer Reiter«, nicht nur vertraut, ich hatte mir kurzzeitig sogar eingebildet, ein bisschen verliebt in ihn zu sein. Aber Vio schickte mir die Albträume nicht, weil sie eifersüchtig war oder sich von mir verraten fühlte, sie hatte mich nur vor ihrem Schicksal bewahren wollen. Zu spät.

Ich wurde an meiner Jacke gepackt und zurückgerissen. Und dann roch ich ihn wieder, diesen grauenhafte Geruch, den ich bei der Hetzjagd im Moor zum ersten Mal wahrgenommen und der mich in der Schule zum Umkippen gebracht hatte. Er ging von Schäfer aus, die klebrigsüße Moschusnote seines widerlich billigen Aftershaves, gemischt mit seinem Schweißgestank, raubte mir fast den Atem.

Ich keuchte und würgte, versuchte mich loszureißen. Doch da schlang sich plötzlich etwas Weiches um meinen Hals. Schlagartig wurde mir die Luft abgedrückt.

Grover biss sich vor Nervosität die Finger wund, während der Tacho die 80-Stundenkilometer-Marke überschritt. Die Kommissarin war erst sauer gewesen, aber er hatte sich bis zum Parkplatz des Präsidiums nicht abschütteln lassen. Als sie sich ans Steuer setzte, öffnete er einfach die hintere Tür des Polizeiautos. Diavolo, der Autofahren liebte, hüpfte fröhlich auf den Rücksitz und war nicht mehr zum Aussteigen zu bewegen gewesen. Weil die Zeit drängte, hatte Monika notgedrungen nachgegeben.

Jetzt holte sie aus dem Wagen heraus, was der Motor hergab. Die Sirene hatte sie gleich wieder ausgestellt, denn der Hund, der hechelnd und anfangs noch begeistert sabbernd auf dem Rücksitz lag, hatte prompt in das Heulen des Martinshorns eingestimmt und sich auch von seinem Herrchen nicht beruhigen lassen. Ehe sie von dem zweistimmigen Gejaule noch wahnsinnig wurde, hatte sie das Martinshorn abgestellt. Wenigstens rotierte das Blaulicht auf dem Wagendach weithin sichtbar und Monika schoss mit dem Vorrecht der Polizei über sämtliche rote Ampeln, ehe sie in den Weg zum Parkplatz der Loisachkapelle einbog.

Bis zur Kirche konnte man nicht fahren, da es keinen Fahrweg gab. Mit quietschenden Reifen und einer Vollbremsung, die dem Riesenhund erneut einen Jammerlaut entlockte, kam das Polizeiauto zum Stehen. Direkt neben einem weißen Lieferwagen, an dessen Seite stand: »Bäcker Ecker: Mach mal Pause – mit unserer Jause.«

Unter dem gnadenlosen Druck um meine Kehle wurde die Luft zum Atmen immer knapper. Schwindel befiel mich und meine Gedanken wurden träge und schwer wie klebriger Honig. Vor meinen Augen tanzten purpurne Schlieren wie Öl auf Meereswellen. Verschwommen dachte ich, dass ich nun wohl sterben musste und meine Eltern und meinen kleinen Bruder nie wiedersehen würde. Dieser Gedanke machte mich traurig, gleichzeitig dachte ich jedoch, es wäre irgendwie in Ordnung. Denn ich wäre ja bald da, wo Vio schon war und auf mich wartete. Und dann würde uns nichts mehr trennen.

Ob der purpurrote Nebel, der hinter meinen geschlossenen Augenlidern waberte, schon der Eingang zu dem Tunnel aus Licht war, an dessen Ende ich Vio finden würde?

Mühsam öffnete ich die Augen. Doch was ich sah, war nicht meine beste Freundin, sondern das grünbraune Gras zu meinen Füßen. Und dort, in geradezu unnatürlicher Schärfe, erblickte ich im Herbstsonnenlicht einen Strauch mit einer letzten, wilden Rose. Ihr Rot leuchtete wie Vios Haare. Und ich meinte ihre Stimme zu hören: »Für dich ist es noch nicht Zeit, Lila!«

Und auf einmal wollte ich Vio gar nicht mehr dorthin folgen. Ich hatte noch so viel vor, wollte noch so viel sehen … da war Paris, wollte ich nicht an die Sorbonne …?

Obwohl der Druck um meinen Hals immer stärker wurde und ich nun überhaupt nicht mehr atmen konnte, verspürte ich in diesem Augenblick eine ungeheure Wut auf den Mann, der mir das alles antat. Er hatte mir schon Vio weggenommen, mich würde er nicht kriegen!

Mit letzter Kraft hob ich die Hände und streckte meine Finger aus. Blindlings stieß ich sie nach hinten, dort, wo sich das Gesicht des Mörders befinden musste. Es steckte keine Logik dahinter, es war der pure Instinkt. Der Drang, am Leben zu bleiben. Meine Fingerkuppen trafen auf etwas Weiches. Ein Schrei, dumpf wie das Brüllen eines verletzten Stiers. Plötzlich strömte klare, kühle Luft in meine Lungen. Gierig saugte ich sie ein, als wäre ich kurz vorm Ertrinken gewesen und in letzter Sekunde an die Oberfläche getaucht.

Mein Kopf wurde klarer, und ich merkte, dass sich der Druck um meine Kehle gelöst hatte. Schäfer zerrte nicht mehr an dem Schal, sondern hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen und war stöhnend ein paar Schritte zurückgetaumelt. Offenbar hatten meine Finger seine Augen getroffen. Gekrümmt stand er da, undeutliche Flüche drangen an meine Ohren.

Weg!, war mein einziger Gedanke. Und obwohl ich immer noch nach Luft rang und mein Hals trocken war und kratzte, als hätte ich mit Schmirgelpapier gegurgelt, lief ich los.

Die Kommissarin hatte einen Vorsprung, weil Grover erst den Hund aus dem Auto lassen musste.

Als er außer Atem die Loisachkapelle erreichte, hörte er von drinnen ein Mädchen schreien, während die Kommissarin vergeblich an der Klinke rüttelte: Die hölzerne Tür war versperrt, der Schlüssel fehlte.

»Lila«, schrie Grover und Diavolo begann zu bellen. Da hörte er von innen eine helle Stimme rufen: »Der Verkäufer vom Schulkiosk ist hinter ihr her! Er will sie umbringen! Und mich auch!«

Das Atmen fiel mir immer noch schwer und mein Laufen war eher ein Vorwärtstaumeln. Doch ich wusste, ich musste dem Mörder entkommen, sonst war ich tot. Ich hörte nur mein eigenes Keuchen und hoffte schon, ich wäre ihn los – als mich etwas Schweres von hinten traf. Ich strauchelte und fiel auf die Knie. Und dann war er da. Andreas Schäfer stand über mir und grinste verzerrt zu mir herab. Meine Kehle war wund und brannte. Ich konnte nicht einmal mehr schreien.

Grover sah sich hektisch um und hörte die Kommissarin rufen: »Wo ist Elina?«

Die hügelige Landschaft und die vielen Büsche erschwerten die Sicht. Doch dann sah er eine Bewegung zwischen den Sträuchern: Eine schlanke Gestalt tauchte auf: Lila. Doch sie kam nur stolpernd voran – und dann erschien hinter ihr eine zweite Silhouette: größer, massiger und schneller. Noch ein paar Sekunden und ihr Verfolger würde Lila erreicht haben.

»Verdammt«, schrie die Kommissarin und sprintete los. Doch schon warf der Mann sich über Lila. Sie stürzte zu Boden. Bis Grover und die Kommissarin die beiden erreicht hätten, war es vielleicht zu spät.

Da fegte ein schwarzer Schatten heran. Diavolo war losgerannt und hielt direkt auf die beiden Gestalten, die jetzt am Boden miteinander rangen, zu.

»Diavolo, lauf!«, feuerte Grover ihn an und rannte mit Monika zusammen hinter dem Hund her.

Meine Kräfte waren erschöpft. Ich wusste, ich hatte verloren. Der Mörder riss mich hoch und ich sah – zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal – seine Augen. Es waren zwei schwarze Teiche. Kein Mitleid, kein Gefühl war darin, ich blickte in einen dunklen Abgrund aus Hass und Unbarmherzigkeit.

Da ertönte ein dumpfes Knurren, es kam allerdings nicht aus Schäfers Mund. Ehe ich mich darüber wundern konnte, verschwand sein verzerrtes Gesicht plötzlich aus meinem Blickfeld. Ein dumpfer Schlag, als er zu Boden stürzte, dann war etwas Großes, Schwarzbraunes über ihm. Ich sah scharfe Zähne blitzen und hörte erneut das Knurren. Ein Wolf, dachte ich zuerst. Doch dann erkannte ich, dass es sich um einen mächtigen schwarzen Hund handelte, der mir bekannt vorkam.

»Diavolo, fass!«, sagte eine mir ebenfalls bekannte Stimme und dann war wie durch ein Wunder die Polizeikommissarin an meiner Seite und half mir auf die Beine. Jetzt sah ich auch Grover, der zu seinem Hund trat. Diavolo stand mit drohend zurückgezogenen Lefzen grollend und geifernd über meinem Angreifer: Andreas Schäfer, der Kioskverkäufer unserer Schule, der immer so harmlos ausgesehen hatte. Der Vio den Tod gebracht hatte und auch beinahe auch zu meinem Mörder geworden wäre. Und wer weiß, ob nicht Nessie als drittes Opfer vorgesehen war, schließlich hätte er sicher keine Zeugin gebrauchen können.

Doch jetzt war nichts mehr von dem eiskalten Verbrecher übrig. Wimmernd lag er auf dem Boden, die Arme schützend um den Kopf geschlungen: Ein feiges Häufchen Elend, der ein Mädchen auf dem Gewissen, aber Angst vor einem Hund hatte.

Bei dem Gedanken, dass Vio nicht das Glück gehabt hatte wie ich und sie Schäfer ausgeliefert gewesen war, hätte ich am liebsten einen dicken Ast gepackt und so lange auf ihn eingeprügelt, bis ich nicht mehr konnte.

Doch da zog Grover seinen Hund weg und sofort war die Kommissarin zur Stelle. Handschellen klickten, dann blickte sie mich an. »Es ist vorbei, Elina.«

Endlich löste sich meine Anspannung. Ich sank auf die Knie und die Tränen strömten mir nur so aus den Augen. Da hörte ich ein leises Winseln: Diavolos warmer, pelziger Körper drückte sich an mich und seine nasse Hundezunge fuhr mir quer über die Wange. Ich vergrub mein Gesicht an seinem borstigen Hals und weinte die ausgestandene Angst, meinen Kummer, aber auch meine Dankbarkeit in Diavolos Fell.