7. Kapitel

Inzwischen war ich Zeichentrickfilm-Expertin. Ich verbarrikadierte mich zu Hause und tat keinen Schritt nach draußen. Stattdessen guckte ich mit meinem kleinen Bruder alles, was Disney, Pixar & Co so hergaben. Meine Mutter hatte es zwar nicht gern, wenn Julius zu viel vor der Glotze saß, aber unsere betagte Nachbarin hatte sich den Knöchel verstaucht und meine Mutter kaufte für die alte Dame ein und sah ab und zu nach ihr. Da kam es ihr ganz gelegen, dass ich als Zwergensitter einsprang.

Und Julius war begeistert. Bei »Küss den Frosch« quietschte er vor Vergnügen über das freche grüne Tier und er liebte Balu, den Bären aus dem »Dschungelbuch«. Als der gemütliche Grizzly mit dem Menschenjungen Mogli auf seinem dicken Bärenbauch den Fluss hinunterpaddelte, sang Julius inbrünstig Balus Lied »Probier’s mal mit Gemütlichkeit« mit. Ich beobachtete meinen kleinen Bruder und wünschte, ich wäre noch klein und arglos. Dann könnte ich mir einbilden, es gäbe auch im Leben immer ein Happy End.

Ab und zu blickte ich aus dem Fenster und sah im Nachbarhaus die alte Dame mit bandagiertem Fuß im Sessel sitzen. Wenn sie mich entdeckte, winkte sie freundlich herüber und ich winkte zurück: Zwei Gefangene, die nicht hinauskonnten. Sie wegen ihres Knöchels und ich wegen meiner Angst.

Von: vanessa@schuelervz.net

An: schlehenherz@schuelervz.net

Betreff: alles ok?

Hey Lila,

hab dein Profil in Schüvizett gefunden. Warst die letzten 2 Tage ja nicht in der Schule, alles ok mit dir?

Nessie

Von: schlehenherz@schuelervz.net

An: vanessa@schuelervz.net

Betreff: AW: alles ok?

Hallo Nessie,

danke, geht so. Hab mich krank gemeldet, muss aber Montag wieder in die Schule. Aber die Sache im Moor bleibt unter uns, wie versprochen, ok?

Lila

Von: vanessa@schuelervz.net

An: schlehenherz@schuelervz.net

Betreff: RE: AW: alles ok?

Soll ich dich abholen? Wohne ja nur paar Blocks von dir weg.

Nessie

Tatsächlich stand sie am nächsten Morgen pünktlich vor unserem Haus. Ich lächelte sie dankbar an. Der rote Streifen um meinen Hals war verschwunden und ich konnte vor meiner Mutter nicht länger eine Erkältung simulieren, um einen weiteren Tag in der Schule zu fehlen. Umso erleichterter war ich, dass Nessie mich begleitete.

Schweigend trotteten wir nebeneinander her. Nur einmal sah sie mich von der Seite an und meinte trocken: »Käseweißes Gesicht, rote Haare – du siehst aus wie Pommes Schranke!«

Ich blickte zu ihr rüber – und dann brachen wir beide in Gekicher aus. Eigentlich war mir überhaupt nicht nach Lachen zumute, aber als ich damit angefangen hatte, konnte ich fast nicht mehr aufhören. Langsam tat mir schon der Bauch weh, aber immer, wenn ich Nessies Blick erhaschte, stieg das Lachen wie ein hartnäckiger Schluckauf wieder in mir hoch. Und auch sie prustete eine ganze Weile, bis sie sich verstohlen die Lachtränen aus den Augen wischte und eine komische Grimasse in meine Richtung schnitt.

Ich war verwundert, wie nett sie auf einmal war. Vielleicht hatte ich ihr aber auch bisher unrecht getan und sie war gar nicht die superblöde Zicke, für die wir sie immer gehalten hatten. Ich – und Vio.

In der Pause verschanzte ich mich allerdings auf der Toilette, auch wenn Nessie drängelte, mit ihr und diesem Alex raus auf den Hof zu kommen. Aber ich wollte nicht. Die Angst hatte mich fest in den Klauen wie ein Raubvogel seine Beute.

Mir fiel ein Spiel ein, das wir in der Grundschule oft gespielt hatten: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann«. Einer war der »schwarze Mann« und musste versuchen, die anderen zu fangen. Der Fänger rief: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«

Alle riefen zurück: »Niemand!«

»Wenn er aber kommt?«

»Dann rennen wir davon!«

Im Moor war ich auch vorm schwarzen Mann davongerannt, nur war es kein Spiel, sondern tödlicher Ernst gewesen.

Obwohl mein Verstand mir sagte, dass auf dem belebten Schulhof nichts passieren konnte, fühlte ich mich nur in der engen Kabine der Mädchentoilette sicher: Dort war eine Tür, die ich abschließen konnte. Erst als der Gong das Ende der Pause ankündigte, wagte ich mich wieder hinaus.

Gerade wollte ich zurück in meine Klasse gehen, als mich im Flur vor den Toiletten unvermittelt ein Geruch traf: Schweiß, muffige Gewürze und fauliges Holz.

Sein Geruch.

Mein Denken setzte aus, in meinem Kopf formte sich wie ein Schrei nur ein einziges Wort: Lauf!

Wie ein gehetztes Tier rannte ich los, blind für alles, was um mich herum geschah. Unvermittelt prallte ich gegen ein Hindernis. Ich strauchelte und wäre beinahe hingefallen, als ich an den Armen gepackt und festgehalten wurde. Ich schrie und wand mich panisch aus der Umklammerung. Er durfte mich nicht kriegen, denn dann würde Er mich umbringen …

»Elina, jetzt beruhige dich doch! Was ist denn los?«

Ich war zwei Schritte zurückgewichen und blickte keuchend auf – direkt in die verwunderte Miene unseres jungen Spanischreferendars. Ich musste mit voller Wucht in ihn hineingelaufen sein, denn er rieb sich seine offenbar schmerzende Schulter.

Einige Schüler waren stehen geblieben und starrten zu mir herüber. Unter ihnen erkannte ich schemenhaft Grovers blauen Schopf. Ich wollte etwas sagen, erklären, dass Vios Mörder hier war, dass ich ihn am Geruch erkannt hatte – doch ich brachte kein Wort heraus. Übelkeit schwappte wie eine heiße Welle in mir hoch. Vios Kette schien sich zuzuziehen, immer enger zu werden und der Anubis-Anhänger drückte auf einmal schwer und heiß auf meine Kehle. Krampfhaft rang ich nach Luft.

»Elina. Ist dir nicht gut?«

Die Stimme des jungen Lehrers drang wie durch Nebel in mein Bewusstsein. Doch plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke wie ein greller Blitz: Was, wenn er der Maskenmann aus dem Moor war? Schließlich hatte er im Gang gestanden – vor den Toiletten, wo mich der Geruch überwältigt hatte. Erneut stieg Panik in mir hoch, meine Beine zitterten und mir war eiskalt. Da spürte ich seine Hand auf meinem Arm: »Ich glaube, wir rufen deine Mutter an, in Ordnung?«

Er stand nun direkt vor mir und ich roch sein Rasierwasser: ein frischer, herber Duft wie blauer Himmel und ein Tag am Meer. Ich wollte ihn beruhigen, dass ich okay war und er sich keine Sorgen machen sollte. Doch da schlich sich, leise wie eine Katze an das Mauseloch, der Gedanke in mein Bewusstsein: Wenn ich den Geruch des Maskenmanns wahrgenommen hatte, bedeutete das, er war in der Schule – und damit in meiner unmittelbaren Nähe.

Alles begann sich um mich zu drehen und hinter meinen Augenlidern explodierten rote Funken. Im nächsten Augenblick versank ich in samtschwarze Dunkelheit.

Als ich im Krankenzimmer unserer Schule wieder zu mir kam, lag die kühle Hand einer älteren Lehrerin auf meiner Stirn. Mir war immer noch schwummrig. Trotzdem sah ich, wie besorgt sie guckte, als ich mühsam »Hallo« krächzte wie eine angeschossene Krähe.

»Wir haben deine Mutter angerufen, damit sie dich abholt«, sagte die Lehrerin, deren Name mir partout nicht einfallen wollte. Vage erinnerte ich mich, sie mal in der fünften Klasse als Vertretung in Englisch gehabt zu haben.

Ehe ich noch weiter darüber grübeln konnte, hörte ich das Klappern von Absätzen auf dem Gang, die sich rasch näherten und dann stand auch schon meine Mutter im Zimmer. Sie war blass und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Daher beeilte ich mich zu versichern: »Kein Panik, mir geht’s gut!«

Meine Mutter trat ans Kopfteil der Liege, auf die man mich gelegt hatte. Sie musterte mich so eindringlich, als wolle sie ein Röntgenbild von mir machen. Prompt fühlte ich mich bis auf die Knochen durchschaut.

»Am Telefon hat man mir gesagt, du bist in der Pause umgekippt. Was ist denn passiert, war dir schlecht?«, fragte sie, aber ich spürte hinter dem sachlichen Ton ihre Sorge.

Wahrheitsgemäß nickte ich. Was der Auslöser für meine Übelkeit war, sagte ich natürlich nicht.

Auf wackelpuddingweichen Beinen eierte ich auf sie gestützt zum Auto und ließ mich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. Ich war in Sicherheit.

Während der Fahrt blickte meine Mutter immer wieder angespannt zu mir rüber. Ich versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen, aber es wurde wohl eher ein Zähnefletschen, denn ihre Miene wurde noch ernster. Also schloss ich lieber die Augen. Am liebsten wäre ich nie mehr ausgestiegen, sondern immer weitergefahren, geschützt wie in einem Kokon, während der Wagen monoton brummte und meine Anspannung langsam nachließ. Doch da wurde der Motor abgestellt. Wir waren zu Hause.

Meine Mutter packte mich sofort ins Bett. Sie machte mir eine Tasse heiße Milch und setzte sich auf den Rand meiner Matratze, während ich vorsichtig an der heißen Flüssigkeit nippte, um mir nicht den Mund zu verbrennen.

Meine Mutter schien nach Worten zu suchen. Als sie anfing zu sprechen, klang sie wie eine Krankenschwester, die einem Patienten eine schlechte Nachricht überbringen muss: »Lila, wenn es irgendwas gibt, worüber du mit mir reden willst …«, fing sie an.

Ich zuckte unmerklich zusammen. Wusste sie etwa von der Sache im Moor? Hatte sie vielleicht in der Schule Nessie getroffen und die hatte ausgepackt?

Ich musste meine Mutter wohl angestarrt haben wie eine erschrockene Eule, denn sie verzog gequält das Gesicht: »Oh Gott, ich hab’s befürchtet. Verflixt, Lila, ich dachte, du wärst verantwortungsvoller. Du bist fünfzehn! Das ist doch viel zu jung …!«

Ich wurde sauer. Natürlich war ich noch zu jung zum Sterben. Was dachte meine Mutter? Dass ich mich gerne von einem Verrückten abmurksen ließ? Aber sie fuhr unbeirrt fort: »Wir haben doch darüber geredet. Du weißt, wie man verhütet. Also warum …« Sie brach ab und machte eine hilflose Geste.

Da fiel bei mir der Groschen und mir klappte der Unterkiefer herunter. Ich konnte nur stottern: »Wie jetzt – du denkst, ich bin schwanger

Meine Mutter guckte irritiert: »Naja, ich bin nicht blind, weißt du. So aufgebrezelt, wie du neulich aus dem Haus gegangen bist … Da hast du dich doch garantiert mit einem Jungen getroffen. Und jetzt wird dir aus heiterem Himmel schlecht und du kippst um. Da hab ich natürlich angenommen, dass …«

Sie verstummte kurz und setzte dann vorsichtig nach: »Also hab ich mich geirrt?«

Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Meine Mutter machte sich Sorgen um meine Unschuld, dabei war ich drauf und dran mein Leben zu verlieren. Das war derart absurd, dass ich lachen musste. Meine Mutter blickte mich besorgt an, und ich merkte, dass es wohl eher wie ein Schluchzen klang.

Daher riss ich mich zusammen und murmelte was von »Pubertät« und »war wohl alles ein bisschen viel heute«.

Beruhigend strich sie mir übers Haar und verordnete mir mütterlich streng jetzt erst mal zu schlafen, danach ginge es mir bestimmt besser. Ich war völlig erschöpft und hatte nicht die Kraft, zu widersprechen. Also nickte ich nur und dachte: Wenn du wüsstest …

Als sie rausgegangen war, schloss ich die Augen. Zu gerne wäre ich wie Dornröschen einfach eingeschlafen – beschützt von einer hohen Dornenhecke, die niemand durchdringen konnte – und erst in hundert Jahren wieder aufgewacht.

Es war dunkel um mich herum. Und still. Nein, nicht ganz. Ich konnte meinen Atem hören. Laut. Zu laut. Er dröhnte in meinen Ohren. Ich wollte nach dem Lichtschalter meiner Nachttischlampe greifen, doch meine Hand stieß an etwas Hartes. Ich tastete herum, doch keine zwei Zentimeter neben meinen Schultern waren Wände. Genau wie über mir. Rundherum stießen meine Finger an glatte Flächen. Aus Holz. Als läge ich in einem Kasten. Und da begriff ich: Es war ein Sarg. Mein Puls galoppierte los, mein Herzschlag dröhnte wie eine Trommel.

Offenbar dachten meine Eltern, ich wäre tot. Aber das stimmte nicht, ich war am Leben! Ich beschloss zu kämpfen. Mit den Fingerknöcheln klopfte ich gegen den geschlossenen Deckel, der sich knapp über meinem Gesicht wölbte, doch das Pochen klang dumpf und leise in der absoluten Schwärze. Ich rief nach Hilfe, doch meine Stimme war selbst für mich kaum hörbar. Ein dünner Schrei, kläglich wie der eines neugeborenen Kätzchens.

Ich versuchte den Deckel zu öffnen. Auf dem Rücken liegend stemmte ich meine Arme mit aller Kraft nach oben, doch die schwere Platte rührte sich keinen Millimeter. Da begann ich zu kratzen. Mit den Fingernägeln schabte ich über die glatte Fläche. Ich war nicht bereit aufzugeben, bis ich wenigstens ein kleines Loch in den Deckel geschabt hätte, damit mich jemand schreien hörte … Meine Finger arbeiteten sich durch faseriges Holz. Und dann durchstieß meine Faust den Sargdeckel. Ein Gefühl des Triumphes und der Erleichterung durchströmte meinen Körper wie frisches, klares Wasser. Nun würde ich hier herauskommen, bestimmt wäre ich bald frei … In dem Moment begann etwas auf meinen Brustkorb zu drücken. Durch das Loch im Deckel rieselten schwere, dunkle Erdbrocken herein. Friedhofserde. Ich lag bereits im Grab, tief unten, wo nur Schwärze war – und Tod. Das Gewicht auf meiner Brust wurde immer erdrückender, ich schwitzte und bekam keine Luft mehr. Ich würde sterben – lebendig begraben …

Schreiend fuhr ich hoch. Wie durch Watte hörte ich einen Plumps. Das Gewicht auf meinem Brustkorb und damit auch das panische Gefühl zu ersticken ließen nach. Dafür ertönte jämmerliches Geheul: Julius saß vor meinem Bett auf seinem Hinterteil und weinte, dass ihm die Tränen beinahe waagrecht aus den Augen spritzten. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass es offenbar mein kleiner Bruder gewesen war, der auf mir gehockt hatte. Ehe ich reagieren konnte, wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen und meine Mutter stürmte herein.

»Was zum Kuckuck ist hier los?«, rief sie und hob den brüllenden Julius vom Boden auf. »Ist dir was passiert, mein Schatz?«, fragte sie und drückte ihn an sich.

Er war jedoch nicht zu beruhigen. Er heulte wie eine Feuersirene und ich hörte zwischen lauten Schluchzern nur die Worte »Lila«, »Balu machen« und »Aua« heraus.

Meine Mutter verstand natürlich nur Bahnhof, aber ich reimte mir zusammen, dass mein kleiner Bruder wohl in mein Zimmer geschlichen war, um mit mir das »Dschungelbuch« nachzuspielen: Ich sollte offenbar Balu der Bär sein und er Mogli, der auf Balus Bauch saß. Doch statt »probier’s mal mit Gemütlichkeit« gab es einen hysterischen Anfall der großen Schwester. Armer Julius.

Glücklicherweise war er noch »ein Auslaufmodell«, wie mein Vater immer scherzte, und trug daher eine Windel. Damit war wenigstens sein Po gut gepolstert, sodass er sich beim Fallen kaum wehgetan haben dürfte. Trotzdem hatte ich ihn bestimmt fast zu Tode erschreckt, als ich schreiend wie eine Furie hochgefahren war.

»Tut mir leid, Hase«, sagte ich zerknirscht, doch er ließ sich nicht beruhigen.

Meine Mutter sprach leise auf ihn ein und trug das knallrote, heulende Bündel aus meinem Zimmer, wobei sie mir über die Schulter einen strafenden Blick zuwarf.

Kommissarin Monika Held war müde und hatte schlechte Laune. Zu allem Überfluss hatte die Kaffeemaschine im Präsidium gerade beschlossen röchelnd den Geist aufzugeben. Am liebsten wäre Monika wieder ins Bett gekrochen und hätte sich für den Rest des Tages die Decke über den Kopf gezogen. Sie war frustriert: Da arbeitete sie alle Unterlagen zweimal durch, machte Überstunden ohne Ende – und wofür? Im Mordfall Viktoria Neubauer war sie keinen Schritt vorangekommen.

Halt, das stimmt nicht, ermahnte sie sich selbst. Einige neue Erkenntnisse gab es, aber keine heiße Spur.

Um nicht in einer Depression zu versinken, die so grau und schwer war wie die Herbstregenwolken, die draußen über einen bleiernen Himmel fegten, rief Monika sich ins Gedächtnis, was sie bisher herausgefunden hatte: Viktoria hatte sich unbemerkt von ihrer Mutter aus dem Staub gemacht. Der war am nächsten Morgen aufgefallen, dass ihr Zimmerfenster offen stand. Das Mädchen war zuletzt bei der Schulparty gesehen worden, wo sie danach hingegangen war, wusste angeblich niemand. Allerdings hatte sich der Hausmeister der Schule kurz darauf bei der Polizei gemeldet. Das Türschloss des Aufenthaltsraums der Oberstufe wies Kratzer auf und war offensichtlich beschädigt. Jemand hatte sich demnach mit einem spitzen Gegenstand – Nagelfeile oder Taschenmesser – gewaltsam Zutritt zu dem normalerweise versperrten Raum verschafft. Außerdem lagen laut Aussage des Hausmeisters auf dem Sofa und dem Fußboden zerknautschte Kissen und eine zerwühlte Decke. Da er jeden Abend die Räume kontrollierte und zusperrte, deutete alles darauf hin, dass am Abend der Party jemand das Schloss geknackt und dort übernachtet hatte. Viktoria Neubauer?

Die Spurensicherung hatte alles durchkämmt und tatsächlich ein rotes Haar auf einem der Kissen sichergestellt. Eine DNA-Analyse brachte die Gewissheit, dass es von Viktoria stammte. Da der Aufenthaltsraum während der Schulzeit allerdings regelmäßig von der gesamten Oberstufe genutzt wurde, konnte das Haar auch schon vorher dorthin gekommen sein. Zudem würde es Wochen dauern, die zahlreichen Fingerabdrücke und möglichen DNA-Spuren in dem Raum zu sichern und auszuwerten. Die Nadel im Heuhaufen zu suchen war die reinste Ostereiersuche dagegen, dachte Monika und seufzte. Der Knackpunkt war und blieb der verschwundene Laptop. Die Freundin, Elina May, hatte bezeugt, dass Viktoria ihn nicht bei sich hatte, als sie kurz vor der Schulparty bei ihr vorbeigekommen war. Folglich hatte sie ihn entweder vorher bereits irgendwo deponiert, was unwahrscheinlich war, oder sie musste doch noch einmal zu Hause gewesen sein. Vielleicht mitten in der Nacht, vielleicht auch ganz früh am nächsten Morgen. Ihre Mutter hatte bei der Befragung angegeben, manchmal ein leichtes Schlafmittel zu nehmen. Das könnte erklären, wieso sie ihre Tochter nicht gehört hatte.

Monika rieb sich die Augen. Wie so oft hatte sie das Gesicht der Mutter vor sich: voller Verzweiflung und Schuldgefühle. Die Frau schlief seit dem Mord wahrscheinlich trotz Schlafmittel keine Nacht mehr durch. Ungeduldig schlug Monika mit der flachen Hand auf ihren Schreibtisch. Das gibt es doch nicht, dachte sie, irgendeine Spur muss doch zu finden sein! Sie beschloss, alles noch mal durchzugehen. Aber erst brauchte sie einen Kaffee. Doch der Geruch nach verbranntem Kaffeepulver zerstörte Monikas Hoffnung auf eine spontane Wunderheilung der Maschine. Seufzend zog sie ein leeres Blatt Papier heran und begann zu kritzeln:

Wozu brauchte V. ihren Laptop?«

  • Hausaufgaben
  • Referate
  • Recherchen für Schule
  • Mails verschicken/empfangen
  • Im Internet surfen
  • Chatten? Facebook? Stayfriends? Friendscout?

Der Kuli schwebte über dem Blatt. Monika spürte ein Kribbeln im Bauch. Natürlich – die Kids waren doch alle in irgendwelchen Onlineforen unterwegs. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Sie schrieb sofort eine Mail an die Abteilung Computerforensik. Die sollten alle einschlägigen Internetforen nach Viktorias Namen durchsuchen.

Nachdem sie das erledigt hatte, überlegte sie weiter und kaute dabei unbewusst auf ihrem Kuli herum. Ein flüchtiger Gedanke zog vorbei und setzte sich fest. Ihr Kopf sagte Monika, dass sie sich in etwas verrannte, aber ihr Bauchgefühl ließ sie zu einer ganz bestimmten Akte vom Frühsommer dieses Jahres greifen …

Hastig räumte ich Teller und Besteck zusammen und wollte aufstehen.

»Lila, warte mal kurz. Ich würde gern mit dir über die Sache heute Vormittag sprechen«, hielt meine Mutter mich zurück.

Ich seufzte: »Ich hab doch schon gesagt, das mit Julius tut mir leid. Ich hatte eben einen Albtraum!«

»Siehst du, das meine ich«, hakte meine Mutter sofort ein. »Seit Tagen bist du irgendwie durch den Wind. Und so abweisend. Früher hast du mir immer alles erzählt …«

»Früher, früher«, unterbrach ich meine Mutter gereizt. »Jetzt hat sich eben was geändert – ich hab mich verändert. Ich bin kein Kind mehr, das dauernd zu Mama rennt«, sagte ich und fügte hinzu: »Dafür hast du jetzt Julius.«

Als ich das Gesicht meiner Mutter sah, taten mir meine Worte fast wieder leid. Ich sah, dass ich sie getroffen hatte. Aber sie musste einfach mal kapieren, dass ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, jede Sekunde meines Lebens mit ihr durchzuquatschen. Und die jüngsten Ereignisse schon gar nicht. Ich wollte sie da raushalten. Was ich machte, war vielleicht leichtsinnig, aber ich war Vio was schuldig. Ich hatte sie damals vor der Schulparty im Stich gelassen, das musste ich wiedergutmachen – obwohl oder gerade weil sie nicht mehr am Leben war.

Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich ab jetzt nie wieder in der Gegenwartsform von Vio sprechen könnte. Alles, was ich ab jetzt über sie erzählte, würde unweigerlich mit den Worten »damals« oder »früher« beginnen. Ihr Tod hatte eine unsichtbare Linie gezogen und mein Leben in ein »Davor« und ein »Danach« geteilt, so präzise wie ein Schnitt mit einem Skalpell.

Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. »Ich mache mir Sorgen um dich, Lila. Seit Vios Tod …«

»Ich will nicht darüber reden, okay?«, fiel ich meiner Mutter ins Wort. Ich merkte, dass meine Stimme laut geworden war. »Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden, ist das so schwer zu verstehen?«

Mit einem lauten Klappern stapelte ich die Teller aufeinander und trug sie in die Küche. Ich wollte nicht mehr diskutieren, ich wollte einfach raus hier, weg von meiner Mutter und ihren Fragen, ich wollte keine Angst mehr haben müssen, ich wollte … Vio wiederhaben. Das war es. So einfach – und doch unmöglich.

Mir schossen die Tränen in die Augen, aber das sollte meine Mutter nicht sehen. Also knallte ich die Teller auf die Ablage der Spüle und stürzte aus der Küche in mein Zimmer. Aufatmend schloss ich die Tür und lehnte mich einen Moment mit dem Rücken dagegen. Nicht nachdenken, nicht an Vio denken, sonst würden die Tränen gar nicht mehr aufhören zu fließen. Ich wusste nicht, wohin mit mir, also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. In meinem schülerVZ-Account war eine neue Nachricht eingegangen.

Von: skunkpunk-jo@schuelervz.net

An: schlehenherz@schuelervz.net

Betreff: wieder besser?

Hi Lila,

hab mitgekriegt, wie du umgekippt bist und mir Sorgen gemacht. R u okay?

Grover

Ich schnaubte, musste aber über Grovers Hartnäckigkeit schmunzeln. Er gab wohl nie auf, obwohl ich ihn oft genug hatte abblitzen lassen. Auch jetzt war ich drauf und dran, seine Mail einfach zu löschen, als mir mein heimlicher Schwur Vio gegenüber einfiel. Also schmiss ich meinen Vorsatz, Grover zu ignorieren, über Bord.

Von: schlehenherz@schuelervz.net

An: skunkpunk-jo@schuelervz.net

Betreff: AW: wieder besser?

Hallo Grover,

nett, dass du fragst, ich bin ok. Sag mal, hast du eigentlich gewusst, dass Vio auch bei Schüvizett war? Hast du mal mit ihr gechattet?

Lila

Ja. Nein.

Von: schlehenherz@schuelervz.net

An: skunkpunk-jo@schuelervz.net

Betreff: AW: RE: AW: wieder besser?

???

Von: skunkpunk-jo@schuelervz.net

An: schlehenherz@schuelervz.net

Betreff: RE: AW: RE: AW: wieder besser?

Übersetzt: Yep, ich hab Vios Profil mal gesehen. Aber ihr geschrieben? Nope. Ich chatte nur mit Leuten, die mich interessieren :-D auch wenn einige von ihnen meine Mails bisher stur ignoriert haben …!

P.S.: Diavolo richtet dir schöne Grüße aus, wuff!

Grover

Ich wurde ärgerlich. Grover nahm mich überhaupt nicht ernst, sondern versuchte offenbar immer noch zu baggern. Und war sich nicht mal zu schade, den armen Hund als Mitleidsbonus einzusetzen. Für seine Art von Humor hatte ich aber nun keinen Nerv und sparte mir daher eine Antwort. Es dürfte ihn kaum wundern. Oder – und dieser blitzartige Einfall verursachte mir Gänsehaut – hatte er etwas zu verbergen? Vielleicht hatte er doch mit Vio gechattet und gab es einfach nicht zu?

Gleich darauf nannte ich mich selbst eine hysterische Kuh. Dachte ich überhaupt noch realistisch oder begann ich langsam an Verfolgungswahn zu leiden?

Ich vergrub den Kopf in den Händen, frustriert – und voller Angst. Ich musste Vios Mörder ausfindig machen. Nicht nur, um mein Versprechen einzulösen, sondern auch um meinetwillen. Irgendetwas sagte mir, dass er nicht aufgeben würde. Im Moor war ich ihm entkommen, aber er lauerte irgendwo da draußen wie eine Spinne im Netz auf ihre Beute.

Das Mädchen in Monika Helds Büro starrte auf den Boden. Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr Gesicht war fast vollständig hinter ihren langen, hellbraunen Haaren verborgen. Mit rundem Rücken, die Schultern wie zum Schutz nach vorne gezogen, hockte sie in einem viel zu großen Pulli auf dem Stuhl im Präsidium und beantwortete mit leiser Stimme Monikas Fragen. Sie sah der Kommissarin kein einziges Mal ins Gesicht. Die überlangen Ärmel des Pullovers verbargen ihre Hände. Trotzdem sah Monika bei einem flüchtigen Blick, dass die Fingernägel bis aufs Fleisch abgekaut waren.

Kein Wunder, dachte Monika, es ist gerade mal dreieinhalb Monate her. Aber vergessen wird sie den Tag, an dem sie vom Klavierunterricht mit dem Rad nach Hause gefahren und für die Abkürzung in den Hohlweg eingebogen war, in ihrem ganzen Leben wohl nicht mehr.

Vierzehn, dachte Monika, die Kleine ist erst vierzehn, verdammt noch mal! Wer macht so was? Sofort gab sie sich im Geiste selbst die Antwort: Vielleicht derselbe Täter, der Viktoria Neubauer ermordet hat. Monika versuchte gleich zum Punkt zu kommen, um dem Mädchen eine weitere, quälende Befragung zu ersparen. Das hatte sie seit der Vergewaltigung oft genug über sich ergehen lassen müssen und trotzdem war der Täter bis heute nicht gefasst.

Nach einem Becher Tee und zwanzig Minuten war das Mädchen wieder draußen und mit der Mutter, die auf dem Flur gewartet hatte, auf dem Nachhauseweg.

Monika hatte erfahren, was sie wissen wollte. Ihr Bauchgefühl hatte sie nicht getrogen: Das Mädchen war ein paar Wochen vor der Tat in drei verschiedenen Foren online gegangen, darunter schülerVZ. Ihren Eltern allerdings hatte sie das bis jetzt verschwiegen. Aus Angst, weil die ihr verboten hatten, am Computer zu chatten. Zu groß waren ihre Bedenken, wer sich dort alles herumtrieb.

Monika musste die Mutter des Mädchens nach der Befragung also behutsam von den Onlineaktivitäten ihrer Tochter in Kenntnis setzen. Und von der Angst des Mädchens, dass ihre Eltern böse auf sie sein würden, wenn sie erfuhren, dass sie sich über das Verbot hinweggesetzt hatte. Monika kostete es einige Zeit, die Kleine davon zu überzeugen, dass sie nicht schuld an dem war, was ihr passiert war. Zum Glück erklärte sich die Mutter sofort bereit, den Computer, der von allen Familienmitgliedern genutzt wurde, morgen ins Präsidium zu bringen. Monika würde ein paar Spezialisten darauf ansetzen. Auch wenn jemand versucht hatte, alle Spuren zu verwischen – die Computerexperten hatten bisher immer etwas gefunden. Jeder machte Fehler.

»Ich krieg dich«, dachte Monika mit grimmiger Genugtuung. »Die Schlinge zieht sich zu und dann krieg ich dich, du Mistkerl!«

Ich kauerte in meinem abgeschabten Lieblingssessel und hatte mich in einen Pulli von Vio gekuschelt, der unter den vielen Klamotten war, die ihre Mutter mir geschenkt hatte. Er kratzte ein bisschen im Nacken, aber das störte mich nicht, denn er roch immer noch nach Vio. Das machte mich zwar traurig, weil ich ihren Verlust wie ein großes, dunkles Loch in meinem Herzen spürte, aber es war auch tröstlich. Ich fühlte mich ihr in diesem Moment sehr nahe und es war, als würde mich ihre Aura umgeben. Für wenige Momente fühlte ich mich beschützt.

Da klingelte es an der Tür. Ehe mein Verstand die Bewegung überhaupt wahrnahm, war ich schon aus dem Sessel raus und schloss meine Zimmertüre ab. Schwer atmend starrte ich auf den Schlüssel in meiner zitternden Hand. Ich hatte instinktiv gehandelt, wie ein Tier, das beim leisesten Geräusch den Tod fürchtet und flieht.

Leise hörte ich die Stimme meiner Mutter. Dann fiel die Haustür wieder ins Schloss. Schritte, dann Stille. Ich stieß die Luft, die ich ein paar angespannte Sekunden angehalten hatte, mit einem tiefen Seufzer aus. Wahrscheinlich hatte lediglich einer dieser Zeitungsverkäufer, die Zeugen Jehovas oder der Briefträger geklingelt. Und ich machte mir ins Hemd.

Dachte ich allen Ernstes, er würde klingeln, ehe er mich umbrachte? Vielleicht meiner Mutter noch einen Strauß Blumen mitbringen? Es musste der Galgenhumor sein, denn mir entschlüpfte ein schrilles Kichern, doch als ich mir den Pulloverärmel vors Gesicht hielt, um es zu dämpfen, stieg mir Vios Duft in die Nase – und ich brach in Tränen aus. Ich vermisste sie schrecklich, aber ich wollte nicht dort sein, wo sie jetzt war – ich wollte leben.

Eine halbe Stunde später hatte ich mich wieder gefangen und auch meine vom Weinen geschwollenen Augen waren nur noch leicht gerötet. Nicht dass meine Mutter noch annahm, ich wäre unter die Kiffer gegangen. Ich wollte zu ihr und mit ihr reden.

Nach vielem Hin- und Herüberlegen hatte ich beschlossen, nichts mehr zu verschweigen. Weder den Maskenmann im Moor noch meine Angst, er würde mich so lange verfolgen, bis er mich kriegte. Zwar würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit erst mal ausflippen und mir Vorwürfe machen, aber letztlich wusste sie bestimmt, was zu tun war.

Durch die geschlossene Wohnzimmertür drang das leise Gemurmel einer Männerstimme. Hörte sie also wieder ihren Intellektuellen-Radiosender, der stundenlang Diskussionen und Beiträge brachte, bei denen sogar mein Vater regelmäßig einen Gähnkrampf kriegte? Sie stand allerdings voll auf diese Gesprächsrunden, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich riss die Tür auf – und starrte in das Gesicht eines fremden Mannes, der auf unserem Sofa saß. Starr wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos blieb ich in der Tür stehen: Wer war das und was tat er hier?

»Komm ruhig rein, Lila. Das ist Herr Friedrichs«, hörte ich die Stimme meiner Mutter.

Erst jetzt sah ich, dass sie im Durchgang zur Küche stand und ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Tee balancierte. Offenbar hatte sie den Besuch erwartet. Ich entspannte mich etwas, auch wenn ich vorsichtshalber nicht näherkam.

»Hallo Elina, freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte der Fremde.

Ich betrachtete ihn misstrauisch: Mitte Fünfzig, grauer Vollbart – ich konnte Bärte nicht leiden –, Halbglatze und eine kleine, runde Harry-Potter-Brille, die bei dem Mann eher albern als klug aussah. Dazu trug er beigefarbene Breitcordhosen, die mein Vater wahrscheinlich nicht mal unter Folter anziehen würde, und einen grauen Wollpullover, dessen bloßer Anblick mir Juckreiz verursachte. Der ganze Typ strahlte etwas von »Mitglied-bei-Greenpeace-und-im-Tierschutzverein« samt »Einkauf nur im ökologisch korrekten Bioladen« aus. Ich fragte mich, ob meine Mutter neuerdings bei den Grünen mitmachte.

»Sorry, ich komme später nochmal«, murmelte ich und wollte mich umdrehen, doch meine Mutter stellte hastig das Teetablett ab und hielt mich zurück: »Warte, Lila. Herr Friedrichs ist eigentlich … wegen dir hier«, sagte sie und warf einen nervösen Seitenblick zu dem Ökostrickpullover auf unserer Couch.

Och nee, bitte nicht, dachte ich genervt. Ich interessierte mich null für Politik und hatte keine Lust, mich in einer alternativ angehauchten Gruppe für Jungpolitiker zu engagieren. Ich hatte momentan wahrlich andere Probleme als die globale Erwärmung und ein immer größer werdendes Ozonloch.

Trotzdem riss ich mich zusammen und murmelte: »Ich hab im Moment ziemlich viel für die Schule zu tun. Vielleicht guck ich mir nach dem Halbjahreszeugnis mal Ihren Prospekt an …«

Meine Mutter und der Grünen-Politiker tauschten ein Nicken, wie ein geheimes Zeichen, das ich nicht verstand. Dann räusperte sich der Vollbart: »Elina … Ich darf Sie doch so nennen? Also, Ihre Mutter hat mich angerufen, weil sie sich Sorgen macht«, sagte er mit sonorer Stimme und lächelte so gütig, als hätte er gerade an der Küste Kanadas ein Robbenbaby vor dem Knüppel eines Pelzjägers bewahrt.

Ich kapierte immer noch nicht. Wenn meine Mutter sich Sorgen um die Umwelt machte, sollte sie spenden oder selber dem Verein von diesem Friedrichs beitreten. Mein Fall war der nicht. Er hatte so was im Blick, etwas Penetrantes, wie Saugnäpfe, die an einer Scheibe kleben bleiben und die man nicht mehr abkriegt. Ich konnte ihn spontan nicht leiden, aber das war nicht mein Problem – dachte ich. Bis er den Mund aufmachte und ansetzte: »Ich bin Psychologe mit Schwerpunkt Jugendpsychologie …«

Den Rest kriegte ich nicht mehr mit. In meinen Ohren begann es zu rauschen. Meine Mutter hatte einen Seelenklempner auf mich angesetzt? Ohne mein Wissen? Warum tat sie so was?

Diese Fragen schossen mir durch den Kopf wie kleine, schnelle Fische durchs Aquarium. Währenddessen redete er weiter, aber ich hörte nicht zu. Meine Hände wurden klamm, als mir aufging, dass meine Mutter mich offenbar für verrückt hielt. Sonst hätte sie nicht diesen Psychofritzen zu Hilfe gerufen – ihn sogar hierher, nach Hause, bestellt.

Schlagartig wurde mir übel: Nicht nur wegen des Verrats, den sie beging, sondern auch wegen der Meinung, die sie von mir hatte. Nicht auszudenken, wie ihre Reaktion gewesen wäre, wenn ich ihr von dem Maskenmann im Moor erzählt hätte. Wahrscheinlich wäre ich mit Zwangsjacke und Blaulicht in die nächste Klapse eingefahren, dachte ich bitter. Ich funkelte meine Mutter an: »Sag mal, geht’s noch? «

»Lila, jetzt beruhige dich. Ich mache mir einfach Gedanken. Du bist nervös, überreizt – und du hast Albträume. Da dachte ich, wir fragen mal jemanden, der sich auskennt …«, sagte meine Mutter, aber ich konnte ihrer Stimme anhören, dass sie nun doch ein schlechtes Gewissen hatte.

»Ich. Bin. Okay. Ist das angekommen?«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen raus.

Ich war so wütend, dass ich am liebsten dem Vollbartträger den Teebecher an den Kopf geworfen hätte. Der saß völlig relaxt auf dem Sofa und lächelte wie der Nikolaus, nachdem ihm Klein-Doofi ein stümperhaftes Gedicht vorgetragen hat.

»Niemand zweifelt daran, dass Sie okay sind, Elina«, sagte er und bemühte sich, möglichst kumpelhaft zu klingen, ehe er im Plauderton, als würden wir uns schon ewig kennen und mal eben zusammen im Eiscafé sitzen, fortfuhr: »Ihre Mutter hat mir erzählt, dass sie in der Schule ohnmächtig geworden sind. Wir denken, dass irgendetwas Sie vielleicht belastet …«

Ich starrte ihn an. »Wir denken?« Wer war »wir«? Er und meine Mutter? Vielleicht auch mein Vater? Hatten sich alle hinter meinem Rücken gegen mich verschworen?

»Ich habe erfahren, dass vor Kurzem Ihre Freundin umgekommen ist …«, bohrte Dr. Strickpulli weiter.

Jetzt reichte es. Niemand, auch kein Psychologe, hatte das Recht, mich wegen Vios Tod auszuquetschen. Ich schenkte ihm einen – wie ich hoffte – vernichtenden Blick: »Das hat nichts damit zu tun, dass ich in der Schule umgekippt bin. Ich habe mich mit Vios Tod abgefunden, in Ordnung?«

»Aber Lila, das stimmt doch nicht! Erst neulich hat diese Kommissarin angerufen und mir erzählt, dass du grundlos einen Mitschüler verdächtigst …«, rutschte meiner Mutter heraus, ehe sie ihren Fehler bemerkte und hastig abbrach.

Wie von einem Peitschenhieb getroffen fuhr ich herum und starrte sie an. Jetzt war mir alles klar: Ich war der Kommissarin mit meinen hartnäckigen Fragen und Verdächtigungen lästig geworden. Weil ich die Einzige war, die bemerkte, dass die Kripo nicht genügend unternahm, um Vios Tod aufzuklären. Also hatte diese Monika Held meiner Mutter eingeredet, dass ich langsam durchdrehte. Und für die war mein Verhalten in den vergangenen Tagen natürlich eine Bestätigung.

Und jetzt wollten meine Eltern mich ruhigstellen, indem sie einen Psychologen auf mich ansetzten. Das hatten sie sich wirklich schlau ausgedacht.

Trotz meiner Wut und Enttäuschung spürte ich aber auch Erleichterung: Nämlich, dass ich den Mund gehalten und keinem Erwachsenen etwas über die Sache im Moor erzählt hatte. Sie hielten mich ja jetzt schon für »überreizt« – auf Deutsch: durchgeknallt. Dann noch die Geschichte von einem Maskierten, der mich durchs Moor jagt – und der Psychologe wäre imstande, mich sofort in die Geschlossene einzuweisen, dessen war ich mir sicher. Er musterte mich mit seinem Saugnapf-Blick wie einen besonders dicken Fisch, den er an der Angel hatte und so schnell nicht mehr vom Haken lassen würde.

»Elina, meine Aufgabe ist es, jungen Menschen zu helfen«, setzte er salbungsvoll an, doch ich ließ mich nicht einlullen, sondern unterbrach ihn rüde: »Prima, dann fangen Sie am besten gleich damit an – draußen. Ich verzichte nämlich auf Ihre Hilfe. Wiedersehen.«

Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer, obwohl mir meine Mutter nachrief, ich sollte bleiben. Aber ich dachte nicht daran. Ich knallte meine Zimmertür zu und drehte den Schlüssel um. Zweimal.

Dann ließ ich mich mit dem Rücken dagegenfallen und rutschte an dem glatten Holz entlang langsam nach unten, bis ich in der Hocke saß. Endstation. Wie in meinem Traum, als ich im Sarg lag. Genauso fühlte ich mich – lebendig begraben. Denn jetzt hatte ich Gewissheit: Meine Eltern, die Polizei, alle hielten mich für durchgeknallt, Verzeihung »überreizt«. Doch das Resultat war dasselbe: Ich konnte niemandem mehr vertrauen. Ab jetzt war ich auf mich allein gestellt.

Und irgendwo war er und wartete nur auf die nächste Gelegenheit …