5. Kapitel

»Autsch, verdammt!« Ich fasste mir an den Kopf. Die Stelle, wo mich die späte, herunterfallende Kastanie getroffen hatte, tat ganz schön weh. Ich war auf einem meiner einsamen Spaziergänge. Seit Vios Tod ging ich oft stundenlang raus, auch wenn meine Mutter das nicht gern sah. Immerhin hatte ich ihr versprochen, nicht alleine in den Moorwiesen herumzustreunen, was mir auch ganz recht war. Unser Hochsitz, der ab jetzt nur noch »mein« Hochsitz sein würde, machte mir Vios Tod nur umso quälender bewusst. Stattdessen durchstreifte ich die Gegend hinter unserer Wohnsiedlung. Herbstzeitlosenland. Die Wiesen waren getupft mit den zartvioletten Klecksen der letzten Blumen des Jahres. Ich musste mit niemandem reden und war nach ein paar Stunden so müde, dass Vios Fehlen mir nicht mehr als scharfe Spitze ins Herz fuhr, sondern dumpf wurde und die Stiche ins Herz wie durch Schaumstoff kamen.

Meine Füße liefen wie von selbst vorwärts und es war mir gelungen in eine Art Trancezustand zu verfallen. Bis mich die Kastanie erwischte und unsanft in die Gegenwart zurückbeförderte. Ich bückte mich und nahm die stachelige Kugel vorsichtig in die Hand. Behutsam brach ich sie auf und betrachtete die Kastanie, die sich braun glänzend und wie poliert in das schneeweiße Innere der Hülle schmiegte. Auf einmal hörte ich ein Rascheln, das schnell näherkam. Ich blickte auf – und erstarrte augenblicklich.

Ein riesiger schwarzbrauner Hund trabte direkt auf mich zu. Normalerweise habe ich keine Angst vor Hunden – aber wir reden hier von Dackeln und anderen vierbeinigen Kollegen, die deutlich unter meinem Knie enden. Dieses Exemplar reichte mit seinem vierkantigen Schädel locker bis zu meiner Hüfte. Ich stand da wie ein ausgestopftes Murmeltier und hoffte, der Köter würde mich auch für ein solches halten. Ich bewegte keinen Muskel und versuchte dem Tier telepathisch klarzumachen, dass ich nicht auf seiner Beuteliste stand und es daher ruhig weiterlaufen konnte.

»Er tut nichts«, hörte ich eine Stimme sagen.

»Na klar, und die Hölle ist auch nur ’ne Sauna«, dachte ich, ehe mir bewusst wurde, dass ich die Stimme kannte.

Ich traute mich immer noch nicht, mich zu rühren. Also drehte ich den Kopf nur minimal zur Seite und sah aus dem Augenwinkel etwas Blaues. Grover. Was machte der mit so einem Kampfköter?

»Das ist Diavolo. Ein Rottweiler-Mischling«, meinte Grover und machte eine förmliche Geste von dem Hund zu mir. »Darf ich vorstellen: Diavolo – Lila.«

Der Hund hechelte und zeigte dabei den Ansatz eines Gebisses, das jeden Hai neidisch werden ließe. Dass sein Name die italienische Bezeichnung für »Teufel« war, überraschte mich nicht im Geringsten.

Innerlich starb ich fast vor Angst, aber man soll sich vor Hunden ja nichts anmerken lassen, also versuchte ich meiner Stimme einen normalen Klang zu geben: »Ach so, Diavolo. Ich dachte schon, er hätte einen richtig gefährlichen Namen – Dieter, Horst oder so …«

Grover lachte. Der Hund saß neben ihm und machte keinen Mucks.

Ich holte tief Luft und löste mich etwas aus meiner Salzsäulen-Haltung. »Ist das deiner?«, fragte ich Grover.

Der schüttelte den Kopf. »Ich bin ein- oder zweimal die Woche im Tierheim. Käfige sauber machen, Füttern helfen … und den da Gassi führen.« Grover tätschelte Diavolo.

Ich beäugte das sabbernde Ungetüm misstrauisch. Der Schädel des Hundes war schwarz und massig und sah aus, als könnte er locker eine massive Tür aus Eichenholz durchbrechen.

»Diavolo ist der gutmütigste Hund des ganzen Tierheims«, versicherte Grover. »Sein früherer Besitzer hat ihn schlecht behandelt und dann einfach ausgesetzt. Im Tierheim ist er inzwischen Stammgast, keiner will ihn haben. Jetzt ist er schon froh, wenn er mal ein freundliches Wort hört, was Kumpel?«

Bestätigung heischend legte Diavolo sich platt auf den Boden, bettete den Kopf auf seine riesigen Pranken und sah demütig zu mir hoch. Seine traurigen braunen Hundeaugen erzählten von Schlägen, wenig Futter und harten Worten.

»Armer Kerl«, entfuhr es mir.

Zaghaft wedelte Diavolo mit seinem Stummelschwanz. Ich bekam plötzlich Mitleid mit diesem Höllenhund. Im Liegen sah er auch weniger bedrohlich aus. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und streichelte leicht über seinen schwarzen Kopf. Das Fell fühlte sich überraschend weich an, wie eine Mütze aus Samt.

»Hast du den in Weichspüler gebadet?«, fragte ich Grover, während Diavolo jetzt so heftig wedelte, dass die ganze hintere Hälfte des Hundes in Bewegung geriet. Als ich anfing ihn hinter den Ohren zu kraulen, schloss er genießerisch die Augen und rollte sich dann auf den Rücken. Den Bauch nach oben, alle Viere in die Luft gestreckt, bettelte dieses Monstertier um Streicheleinheiten. Offensichtlich war ihm wirklich nicht klar, wie furchterregend er auf den ersten Blick wirkte.

»Diavolo mag dich«, sagte Grover.

Als ich überrascht aufblickte, sah ich, wie er mich eindringlich musterte. Das war mir unangenehm, es machte mich verlegen. Ich zog die Hand hinter Diavolos samtigen Ohren hervor und klopfte sie an meiner Jeans ab. »Naja, ich muss dann auch mal wieder …«, sagte ich hastig.

Aber ehe ich mich vom Acker machen konnte, erwischte mich Grovers Frage: »Sag mal, Lila, ignorierst du generell Mails von Schüvizett – oder nur meine?«

Mist, dachte ich, denn genau das hatte ich mit meinem schnellen Abgang vermeiden wollen: dass Grover mich fragte, wieso ich ihm bisher nicht geantwortet hatte. Weder wollte ich mich rechtfertigen, noch erklären, warum mir einfach nicht danach war, mit ihm was trinken zu gehen. Und er sollte schon gar nicht erfahren, wieso ich mich eigentlich bei schülerVZ angemeldet hatte. Nicht um zu chatten oder lustige Fotos auszutauschen – ich wollte endlich wissen, was Vio dort gemacht und warum sie plötzlich ihr Profil gelöscht hatte.

Dummerweise kam ich jetzt um eine Antwort nicht herum und daher stotterte ich etwas von »keine Zeit gehabt« und »musste viel für die Schule tun«.

Grover kommentierte meine Ausflüchte nur mit einem Hochziehen seiner Augenbrauen und auch Diavolo hatte sich erhoben und saß mit fragend gespitzten Ohren da. Ich fühlte mich den beiden gegenüber sofort schuldig. Auch wenn der eine nur ein Hund war. Hastig blickte ich auf meine Uhr und zog die »Ach, du meine Güte, schon so spät und noch so viel Hausaufgaben zu erledigen«-Nummer ab.

Mit einem vagen »Man sieht sich …« ließ ich Diavolo samt seinem Hundesitter stehen.

Zu Hause blinkte in meinem schülerVZ-Account die Meldung, dass eine neue Mail eingegangen war. Ich verdrehte die Augen. Wenn das wieder so ein Schwachmat war, der mich anfunkte, damit ich mich auf seiner Pinnwand verewigte oder ihm Fotos schickte, würde ich, ohne zu zögern, von der »Ignorieren«-Funktion Gebrauch machen. Seufzend klickte ich auf »lesen«:

Von: till@schuelervz.net

An: schlehenherz@schuelervz.net

Betreff: hi

Hi, »Schlehenherz«,

weiß zwar nicht, wie du auf den Nickname gekommen bist, gefällt mir aber , genau wie dein neuer Look – sieht fast aus wie im Film »Das fünfte Element«. Kennst du nicht? Ich hab die DVD – wenn du morgen um 15 h ins »Azúcar« auf ’ne Cola kommst, leihe ich sie dir.

Till

Ich starrte auf den Computerbildschirm, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen. Till schrieb mir eine Mail? Und schlug sogar ein Treffen vor? Ärgerlich spürte ich, dass mein Herz schneller schlug und meine Wangen verdächtig heiß geworden waren. Garantiert hatte mein Gesicht die Farbe einer roten Ampel angenommen – nur gut, dass ich alleine in meinem Zimmer saß und niemand sah, wie mich Tills Zeilen aus der Fassung brachten.

Noch vor ein paar Wochen hätte ich alles darum gegeben, wenn er sich für mich interessiert hätte. Vor Vios Tod. In meiner Magengegend fühlte ich einen Stich. Warum wollte Till sich plötzlich mit mir treffen? Weil ich ihn mit meinen roten Haaren und Vios Klamotten an sie erinnerte? Oder – und dieser Gedanke verursachte mir schlagartig Gänsehaut – hatte Till am Ende doch etwas mit Vios Verschwinden zu tun und wollte nun herauskriegen, ob ich etwas darüber wusste?

Meine Finger schwebten über der Computertastatur – sollte ich auf »Löschen« oder »Antworten« drücken? Doch dann wurde mir klar, dass ich keine Wahl hatte: Wenn ich Vios Tod aufklären wollte, durfte ich mich nicht feige verkriechen. Ich musste Till aus der Reserve locken und ihn dazu bringen, dass er über Vios letzten Abend auspackte. Also drückte ich energisch den »Antwort«-Button und tippte:

Von: schlehenherz@schuelervz.net

An: till@schuelervz.net

Betreff: hi

Hi Till,

Übergabe der DVD gegen Cola ist gebongt.

c u @ 3 o’clock

Lila

Ich hoffte, dass der kurze Text cool rüberkam. Blieb nur die Frage, was ich morgen anziehen sollte. Ich ging zu meinem Kleiderschrank und mein Blick fiel auf Vios Shirts. Ich zog das knatschgrüne Longsleeve mit einem aufgebügelten Bambi raus. Dann kramte ich mein Portemonnaie raus und zählte nach, ob mein Taschengeld noch für den Kauf eines Push-ups reichte. Morgen würde ich alle Register ziehen.

Um Punkt zehn nach drei betrat ich das »Azúcar«. Es war wie immer knallvoll. Stimmengewirr, das Klappern von Löffeln auf Untertassen und das Zischen der riesigen Espressomaschine mischten sich mit dem Sound von »Café del Mar« aus den Lautsprecherboxen überm Tresen und webten einen Klangteppich, auf dem ich zwischen Tischen und Stühlen hindurchsteuerte.

Ich hatte Tills Hinterkopf bereits an der Eingangstüre erspäht. Mein Herz donnerte gegen meine Rippen, aber ich versuchte, ein lässiges Gesicht aufzusetzen und alles locker zu lassen. Mit wiegenden Hüften wollte ich zu seinem Tisch schlendern, aber ich fürchtete, meine Schritte sahen eher aus wie die einer Marionette an verknäulten Schnüren. Kurz bevor ich seinen Platz erreichte, drehte Till den Kopf. Sofort machte sich das typisch-selbstbewusste Grinsen auf seinem Gesicht breit.

»Hi, Lila … oder soll ich dich ›Schlehenherz‹ nennen?«, meinte er, wobei er sich durch seine halblangen, dunkelbraunen Haare fuhr und mich schelmisch mit seinen fast schwarzen Augen anblitze.

Sein direkter Blick ließ mir den Magen Richtung Kniekehlen rutschen und meine Ohren sanft erglühen – wahrscheinlich in einem dezenten Schweinchenrosa. Meine Stimme hatte ich offenbar gerade eben vorm Eingang des Cafés verloren, denn mein Hals war wie zugeschnürt.

»’Allo«, brachte ich mühsam raus und ärgerte mich sofort über mich selbst. Ich war nur Vios wegen hier, konnte ich also vielleicht mal cool bleiben?

Ich riss meinen Blick von Till los und konzentrierte mich darauf, meine Tasche ordentlich unterm Stuhl zu verstauen und aus den Ärmeln der Jacke zu schlüpfen, ohne dabei das ganze Geschirr vom Tisch zu räumen. Sorgfältig hängte ich die Lederjacke über den Stuhl – Vios Lederjacke. Darunter trug ich ihr Shirt, in dessen Ausschnitt der Anubis-Anhänger am Kettchen baumelte. Als ich aufsah, begegnete ich erneut Tills Blick. Diesmal konnte ich ihn nicht deuten: Neugierig? Perplex? Irritiert? Wusste er, dass das Vios Klamotten waren, die ich anhatte?

»Du siehst echt ziemlich … verändert aus«, sagte Till und sah mich prüfend an.

Der Push-up!, schoss es mir durch den Kopf. Ob Till das meinte? Ich merkte, wie die Röte drohte, erneut meinen Hals hochzusteigen, deswegen atmete ich tief durch und winkte statt einer Antwort der Bedienung.

»Einen Macchiato, bitte«, sagte ich und versuchte, an nichts anderes zu denken als an meine »Mission«. Ich musste Till dazu kriegen, mir zu verraten, ob er und Vio die Schulparty tatsächlich getrennt voneinander verlassen hatten. Nur – wie sollte ich das anfangen?

»Hallo Lila, alles klar bei dir?« Tills Stimme riss mich aus meinen Detektivgedanken.

»Äh, ja logo«, beeilte ich mich zu sagen.

»Hast du die DVD dabei?«, fügte ich hinzu und versuchte mich so lässig wie möglich in dem unbequemen Holzstuhl zurückzulehnen.

Wortlos griff Till in seine Tasche und zog die DVD-Hülle raus, über deren Vorderseite quer der Schriftzug »Das fünfte Element« prangte.

Er legte sie vor sich auf den Tisch, ich griff danach, doch weil Till gar nicht daran dachte, seine Hand wegzunehmen, berührten meine Finger seine. Durch meine Fingerspitzen zuckte es, wie ein kleiner elektrischer Schlag, und jagte über meinen Arm bis zur Schulter hoch. Verlegen wollte ich meine Hand zurückziehen, doch Till hielt meine Finger fest, sanft, aber unmissverständlich.

Ein Schauer durchrieselte mich von den Zehen bis zum Kopf, und ich hätte schwören können, dass sogar meine Haare prickelten.

Vor Jahren hatten Vio und ich mal aus Spaß bei einer dieser viereckigen Batterien unsere Zungen zwischen Plus- und Minuspol gehalten. Das Kribbeln auf der Zunge ließ uns beide kreischen – vor Begeisterung und wohligem Schrecken.

Genau dieses Gefühl hatte ich jetzt bei Tills Griff, der fest und warm meine Hand umschloss. Ich genoss es, wusste aber gleichzeitig vor Nervosität nicht, wo ich hinsehen sollte.

»Der Matschiato«, tönte plötzlich eine laute Stimme neben meinem linken Ohr und eine Tasse mit einer Milchhaube, die wie eine weiße Wolke über den oberen Rand quoll, wurde vor mir abgestellt. Noch ehe ich aus meiner Starre erwachte und »Danke« sagen konnte, war die dickliche Bedienung schon weitergeeilt.

Der Zauber war gebrochen. Till zog seine Hand weg, ich griff fahrig nach dem Zuckerstreuer und schüttete mir aus lauter Hast eine viel zu große Menge in die kleine Tasse. Jetzt würde der »Milchkaffee« schmecken wie pappsüße Kaffeeschokolade aus dem Supermarkt-Billigregal. Ich trank einen Schluck und verzog das Gesicht.

Ein leises Prusten ließ mich den Kopf heben und direkt in Tills Grinsen blicken: »Na, eine Überdosis Zucker für deinen ›Matschiato‹ erwischt?«, witzelte er und ich konnte nicht anders als mitlachen.

Till mit Nessie auf dem Rasen des Stadtparks, Till mit Vio bei der Schulparty – das alles schien auf einmal weit weg zu sein oder vielleicht hatte es ja auch nie stattgefunden.

Dass ich eigentlich nur zu dem Treffen mit Till gekommen war, weil ich etwas herausfinden wollte, hatte ich in diesem Moment irgendwie vergessen. Alles, was zählte, war, dass Till in diesem Moment mit mir hier saß und wir zusammen lachten. Plötzlich schien alles möglich, so als könnte ich auf den Tisch steigen – und einfach losfliegen. Mutig geworden grinste ich Till an.

»Und? Was machst du heute noch so?«, fragte ich mit einer etwas zu hohen Stimme, aber immerhin brachte ich einen vollständigen Satz heraus.

»Kommt ganz drauf an …«, meinte Till und heftete seine dunklen Augen wie Saugnäpfe auf mein Gesicht.

In meiner übermütigen Stimmung machte mir sein direkter Blick aber nichts mehr aus. Im Gegenteil, ich fing an, die Sache zu genießen. Plötzlich wollte ich raus hier, weg von den vielen Leuten und dem Lärm um uns herum. Ich fischte fünf Euro aus meiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Dann schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.

»Los, lass uns gehen«, sagte ich und schleuderte meine roten Haare nach hinten, während ich in meine – Vios – Jacke schlüpfte. Für den Bruchteil einer Sekunde ging ein Schatten über Tills Gesicht, als hätte ihn etwas Dunkles, Unsichtbares gestreift.

Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, denn gleich darauf sagte er mit seinem unwiderstehlichen Till-Grinsen: »Zu Befehl …!«

Durch das Leder der Jacke hindurch spürte ich seine Hand auf meinem Rücken und wie er mich im Slalom durch die eng stehenden Tische nach draußen lotste.

Schweigend liefen wir nebeneinander her durch das bunte Laub. Mein Kopf war leer gefegt, ich dachte an nichts, spürte nur Tills Nähe. Irgendwo in einer Ecke meines Bewusstseins saß der vage Gedanke, dass ich neben dem Jungen ging, der mich bisher links liegen lassen hatte. Doch ich drängte die Frage, wieso Till sich jetzt auf einmal für mich interessierte, weg und konzentrierte mich nur darauf, den Moment zu genießen und die Tatsache, dass sein Arm nur zehn Zentimeter von meinem entfernt war …

»Sag mal, wo gehen wir eigentlich hin?«

Tills Stimme beförderte mich wieder ins Hier und Jetzt. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich automatisch den Weg stadtauswärts eingeschlagen hatte – zum Moor und somit zum Hochstand. »Unserem« Hochstand.

Als hätte jemand bei mir eine Bremse gezogen, blieb ich stehen. Was machte ich da eigentlich? Wollte ich allen Ernstes mit Till dorthin gehen, wo Vios und mein Rückzugsort gewesen war? Mich auf diese Weise an Vio für ihren Flirt mit Till auf der Schulparty rächen? Indem ich ausgerechnet dem Jungen, der uns am Abend vor Vios Tod unversöhnt auseinandergehen ließ, unseren Geheimplatz preisgab? Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Hilflos blickte ich Till an. Doch ehe ich den Mund aufbekam, um irgendeine Ausrede zu fabrizieren, verzog sich sein Mund zu einem wissenden Lächeln.

»Ah, verstehe – du wolltest einfach ungestört sein«, meinte er. Hörte ich da einen selbstgefälligen Unterton in seiner Stimme?

»Nein, ich …«, fing ich an, doch Till beugte sich zu mir und nahm mein Gesicht in beide Hände.

Als seine Lippen meine berührten, schloss ich die Augen. Till schmeckte nach Kaffee und Zimt und einen Moment lang vergaß ich alles um mich herum. Es war, als schwebte ich durchs All, alles drehte sich und vor meinen geschlossenen Augen tanzten kleine goldene Funken. Am liebsten wäre ich für immer hier stehen geblieben: Mit Till im Kuss versunken, den ganzen Herbst hindurch, bis es schneite, sodass die Welt um uns herum in stillem Weiß versank und nicht einmal mehr ein Laut uns störte …

Wie durch Watte hörte ich das Geräusch eines Reißverschlusses. Ehe ich noch recht realisieren konnte, dass es sich dabei um den Reißverschluss meiner Jacke handelte, fühlte ich auch schon Tills Hände unter meinem Shirt. Unter Vios Shirt. Überhaupt: Was sollte das? Hastig machte ich mich von ihm los.

»He, was ist?«, fragte Till etwas atemlos.

Ich verschränkte die Arme vor dem Bauch und wich einen Schritt zurück. »Das geht mir zu schnell«, sagte ich leise.

Wir waren gerade mal beim ersten Kuss angelangt und Till fing sofort an zu fummeln? Noch dazu mitten auf der Straße – na gut, mitten auf dem Feldweg, aber trotzdem.

»Ach komm schon, Lila«, warf Till lässig ein. Grinsend musterte er mich von oben bis unten.

»Ich meine, du kommst in dem Aufzug zu ’nem Date und lotst mich nach fünf Minuten aus dem ›Azúcar‹ – welche Schlussfolgerung sollte ich daraus wohl ziehen?«

Jetzt wurde ich sauer. »Kann ich ahnen, dass du einen harmlosen Spaziergang gleich als Lizenz zum Grapschen auffasst?«, gab ich scharf zurück.

»Na, so harmlos ist der Spaziergang ja nicht«, lächelte Till und versuchte mich wieder an sich zu ziehen.

Aber etwas hatte sich bei mir geändert. Als hätte jemand einen Stein in die Mitte eines glatten, stillen Sees geworfen, machte sich in mir ein stärker werdendes Unbehagen breit. Heftig wand ich mich aus Tills Griff.

Er verdrehte die Augen: »Mann, deine Freundin war aber nicht so prüde«, rutschte es ihm heraus.

Seine Worte waren wie ein Schlag in den Solarplexus. Mir drückte es die Luft aus dem Brustkorb und ich starrte Till zwei Sekunden nur fassungslos an. Alles, was ich vorher für ihn gefühlt hatte, wurde mit einem ziehenden Schmerz wie an einer unsichtbaren Schnur aus meinem Herzen gerissen. Dafür wurde mein Kopf schlagartig klar, als hätte ich ihn in ein Becken mit Eiswasser getaucht.

»Also warst du nach der Schulfete doch noch mit Vio zusammen, stimmt’s?! Was ist passiert? Wollte sie nicht mehr – und dann hast du sie umgebracht?«, schleuderte ich Till entgegen.

Der wurde blass und seine Augen weiteten sich. »Spinnst du?«, brachte er nur heraus.

Ich musterte Till. Traute ich ihm das wirklich zu? Wäre Till tatsächlich fähig gewesen Vio zu töten?

»Ich hab doch nicht … Ich könnte nie … Ich bin doch kein Mörder!« Den letzten Satz schrie er beinahe.

»Ach nee – und woher soll ich das wissen?«

Ich war total ruhig. Im Gegensatz zu Till. Der sah völlig aufgelöst aus. Seine Haare hingen ihm in die Augen und er strich sie mit einer fahrigen Bewegung nach hinten, sodass sie jetzt nach allen Seiten abstanden und irgendwie uncool aussahen. Sein lässiges Grinsen war verschwunden, sein Gesicht verzerrt.

»Bist du irre, wieso sollte ich Vio umbringen, häh? Und außerdem: Ich hab ein Alibi!«

»Und was, wenn deine Kumpels vor der Polizei für dich gelogen haben?«, ließ ich nicht locker.

»Sag mal, was willst du eigentlich von mir, eh? Mich hinhängen oder was? Nur weil ich dich vorhin angefasst habe? Bist du so ’ne verklemmte Kuh, die sofort die Bullen holt, wenn mal einer ’n bisschen Interesse an dir hat?«, zischte Till und kam einen Schritt näher. Drohend.

Doch das beeindruckte mich nicht. Nichts an Till beeindruckte mich mehr. Auf einmal war es, als stünde eine Schaufensterpuppe vor mir. Außen hübsch und innen leer. Ich hatte in diesem Augenblick nicht mal Angst.

»Was willst du machen, hm? Mich auch umbringen? Hier?«, fragte ich laut und sah ihm direkt ins Gesicht.

Als wäre er gegen eine Mauer gelaufen, blieb Till ruckartig stehen. Er starrte mich an.

»Du hast sie ja wohl nicht mehr alle! Du hast echt ein Problem, weißt du das?« Er wandte sich ab und stapfte davon. Doch dann drehte er sich noch einmal um und rief über die Schulter: »Wieso bist du an der Fete eigentlich nicht mit deiner Freundin nach Hause gegangen, hä? Ihr beide habt doch sonst immer aneinandergeklebt …!«

Mit brennenden Augen sah ich Till nach. Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert. Doch wer die Ohrfeige eigentlich verdiente, war ich. Denn Till hatte ins Schwarze getroffen: Ich hatte Vio tatsächlich im Stich gelassen.

Von: lila@schlehenherz.net

An: vio@anubis.de

Betreff: verrat …

liebe vio,

ich hab’s versaut. ich habe mir eingeredet, ich würde mich mit till treffen, um rauszukriegen, ob er mehr weiß, als er der polizei gesagt hat. aber ich bin eine versagerin – und eine verräterin. denn in wirklichkeit bin ich ins café gegangen, weil ich immer noch in till verknallt war und gehofft habe, dass er jetzt endlich auf mich aufmerksam geworden war. als er mich geküsst hat, da habe ich einen moment geglaubt, dass es so ist.

»und – war’s das wenigstens wert?«, höre ich dich sagen. nein, vio, das war es nicht. ich habe mich gehasst, weil ich auf till reingefallen bin. aber till hab ich auch gehasst, weil er mich dazu gebracht hatte, mich in ihn zu verlieben. seinetwegen hatte ich streit mit dir.

ich wünschte, du würdest mir ein zeichen geben, wie in diesen filmen, in denen die toten aus dem jenseits mit ihren liebsten kommunizieren. aber vielleicht willst du ja gar keinen kontakt zu mir aufnehmen. bestimmt bist du böse auf mich. weil ich till geküsst und dich damit verraten habe …

deine lila

Erst auf dem Heimweg fiel mir auf, dass mir irgendetwas fehlte. Etwas, das ich vorhin noch dabei gehabt hatte … Meine Tasche! Ich hatte sie im »Azúcar« liegen lassen. Hoffentlich hatte inzwischen keiner meine Geldbörse ausgeräumt. Nicht nur meine restliche Kohle für diesen Monat, sondern auch die Busfahrkarte und mein Ausweis wären sonst flöten gegangen. Was meine Eltern dazu sagen würden, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Seit meiner Haarfärbe-Aktion war das Gute-Laune-Thermometer zu Hause sowieso um einige Grad gefallen.

Als ich außer Atem durch die Schwingtür ins Café stürmte, lächelte mich der junge Typ mit der schief gebundenen Kellnerschürze hinterm Tresen beruhigend an. »Keine Panik, deine Tasche ist hier in Verwahrung.«

»Woher wusstest du …«, fing ich an.

»Wer mit so ’ner Panik in den Augen ins Café stürmt, hat entweder lebensbedrohlichen Koffeinmangel – oder was Wichtiges liegen lassen«, sagte er zwinkernd. »Bei dir tippe ich auf Letzteres.«

Damit bückte er sich und zog mein kostbares Stück aus den Tiefen der langen Bartheke hervor.

Ich seufzte erleichtert: »Danke, dafür werde ich dich in mein Nachtgebet einschließen.«

»Ich hätte da einen besseren Vorschlag: Wie wär’s mit deiner Handynummer – oder ’ner E-Mail-Adresse?«, gab der Kellner zur Antwort.

Ich konnte ihn nur perplex anstarren. Meinte der wirklich mich? Doch scheinbar war es ihm ernst, denn er stand abwartend da und hatte schon einen Kuli gezückt. Was sollte ich tun? Es war das erste Mal, dass mich ein Typ, den ich überhaupt nicht kannte, ansprach. Beziehungsweise anbaggerte. Noch dazu einer, der um einiges älter war als ich. Erst Till, jetzt der Kellner. Lag das an meinen neuen Haaren? War das Rot so eine Art Signal? Hatte das bei Vio auch funktioniert?

Und da durchzuckte mich ein Gedanke. Ich sah den Kellner an: »Sag mal, machst du das öfter? Ich meine, Mädchen nach ihrer Telefonnummer zu fragen?«, tastete ich mich vor.

Er grinste und meinte lässig: »Nur bei denen, die so schöne rote Haare haben und mich interessieren – so wie du.«

Prompt fühlte ich meinen Verdacht bestätigt und platzte raus: »Du hast meine Freundin Vio gekannt, stimmt’s? Hat sie dir ihre Nummer gegeben? Habt ihr euch vor zwei Wochen getroffen?«, sprudelte ich raus.

Plötzlich war ich überzeugt, Vios Verschwinden auf der Spur zu sein. Ja, ich war mir fast sicher. Der Kellner stand auf rothaarige Mädchen, das hatte er selbst gesagt. Das »Azúcar« war ein beliebter Schülertreff. Garantiert hatte er Vio hier im Café angesprochen, genau wie mich und …

Der Kellner hatte inzwischen seinen Kuli wieder eingesteckt und musterte mich kopfschüttelnd.

»Ein einfaches ›Nein‹ hätte auch gereicht, wenn du mir deine Nummer nicht geben willst. Wieso müsst ihr Frauen alles immer so kompliziert machen?«, fragte er, doch er sah nicht belustigt aus, sondern genervt.

»Aber …«, fing ich an, doch er unterbrach mich kurz angebunden: »Ich habe deine angebliche Freundin nie gesehen – ich bin erst vor einer Woche von Braunschweig hierher gezogen und jobbe hier seit vorgestern – zufrieden?!«

Damit wandte er mir ohne ein weiteres Wort den Rücken zu und machte sich an der Espressomaschine zu schaffen.

Was war ich für eine Idiotin. Erst Till und jetzt der Kellner. Wenn ich mich beim Detektiv-Spielen weiter so blöd anstellte, konnte ich gleich in der Regionalzeitung eine Anzeige aufgeben: »ICH SUCHE VIOS MÖRDER!«

Ich kam mir unsagbar dumm vor. Künftig musste ich vorsichtiger sein, die Sache raffinierter angehen.

Ich packte meine Tasche fester und steuerte auf den Ausgang zu, als ich sah, dass in der Computerecke – »Free WLAN come, sit and surf for free!« – ein PC frei war. Ich zögerte nur eine Sekunde, dann steuerte ich den freien Platz an und loggte mich bei schülerVZ ein. Je schneller ich die Sache hinter mich brachte, desto besser: Ich rief Tills Profil auf und klickte dann auf »ignorieren«. Damit hatte er keine Möglichkeit mehr, mich zu kontaktieren. Wahrscheinlich hätte er mich sowieso nie wieder angemailt, aber das würde ich nun nicht mehr erfahren. Ich hatte auch nicht das geringste Bedürfnis danach.

Ich schloss die schülerVZ-Seite und machte, dass ich aus dem Café rauskam. Den Blick starr auf den Boden gerichtet stakste ich am Tresen vorbei. Ich wollte dem Kellner nicht in die Augen sehen, denn ich ahnte, dass er von mir das Gleiche dachte wie Till, nämlich dass ich, Elina May, total durchgeknallt war.

Grover sah Lila nach, wie sie aus dem Café hastete. Ihre roten Haare wippten bei jedem Schritt. Sie hatte ihn an seinem Fenstertisch nicht entdeckt. Eigentlich hatte sie sich gar nicht umgesehen, war nur ins Café gestürmt, hatte sich ihre Tasche – die sie offenbar hier vergessen hatte – von dem Typ am Tresen geben lassen, ein paar Worte mit ihm gewechselt und sich dann sofort in die PC-Ecke verzogen.

Grover, der mit seinem eigenen Laptop an einem Tisch saß, war aufmerksam geworden. Er probierte gerade aus Spaß eine neu installierte – wenn auch nicht unbedingt politisch korrekte – Software aus, mit der man angeblich WLAN-Signale auffangen konnte. Als würde man sein Ohr an eine dünne Wand legen und alles mithören, was jemand im Nebenzimmer redete. Nur, dass der »Lauschangriff« in diesem Falle über Computer lief. »Sniffen« nannte man das und Grover wollte rein interessehalber wissen, ob es funktionierte.

Als er aber Lila an einem der Laptops sitzen sah, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, »rein zufällig« die Signale ihres Rechners zu sniffen. Zu seiner Verblüffung funktionierte es tatsächlich und er bekam mit, dass sie sich unter dem Passwort »anubis« in ihren schülerVZ-Account einloggte.

Nun kriegte Grover doch ein schlechtes Gewissen, dass er einfach so in Lilas Daten herumschnüffelte. Um sich abzulenken, schlenderte er zu den Zeitungsständern im hinteren Teil des Cafés. Doch die Schlagzeilen interessierten ihn nicht die Bohne. Als er zurückkam, sah er gerade noch, dass Lila genauso eilig, wie sie gekommen war, wieder aus dem »Azúcar« verschwand. Warum sie wohl bei »schülerVZ« unterwegs gewesen war? Ihm hatte sie auf seine Mail immer noch nicht geantwortet …

Einen Moment zögerte er, doch der Reiz, nachzusehen, wem Lila alles schrieb, war zu groß. Seine Neugierde hatte Grover schon zu einigen Handlungen verleitet, die vom legalen Standpunkt her nicht ganz korrekt waren.

Manchmal wunderte er sich aber ernsthaft, wie leicht es einem einige Lehrer machten: Druckten die doch glatt im Computerraum ihre Klausuren für die nächsten Tage aus! Zwar nahmen sie die Blätter aus dem Drucker, dass aber die Druckaufträge auch auf dem Server Spuren hinterließen, daran dachten sie offenbar nicht. Die meisten glaubten wohl, weil sie die Dokumente auf ihren USB-Sticks gespeichert hatten, wäre das sicher. Aber Grover hatte längst mit ein paar Tricks und Kniffen den Druckerserver geknackt und konnte über ein sogenanntes Printing-System nicht nur die gelaufenen Druckaufträge sehen, sondern diese auch wiederherstellen und damit ohne Wissen der Lehrer in ihre geplanten Arbeiten einsehen. Ein Mausklick auf »Drucken« – und die Klausurvorbereitung war für Grover ein Kinderspiel.

Bei schülerVZ wollte er eigentlich nur mal kurz gucken, doch als er sich mit Lilas Passwort in ihren Account einloggte und den Namen »Till« entdeckte, konnte Grover sich nicht zügeln, schnell mal die entsprechende E-Mail anzuklicken.

Auf diese Weise erfuhr er, dass er das Date von Till und Lila vorhin im Café wohl nur um ein paar Minuten verpasst hatte. Aber warum war Lila alleine zurückgekommen? Ein Mausklick – und Grover wusste Bescheid: Lila hatte Till aus ihrer schülerVZ-Freundesliste gestrichen. Er konnte sich ein kurzes schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen – offenbar war das Date nicht besonders gut gelaufen. Fragte sich nur, für wen – Till oder Lila?

Ehe Grover sich ausloggte, verwischte er sorgfältig seine Spuren in der virtuellen Welt. Er nahm sich vor, demnächst bei Lila noch einen Versuch zu starten. Vielleicht hatte er ja eine Chance, nachdem sie Till gekickt hatte …

Aufgebracht stapfte ich durch das dürre Laub. Meine Schuhspitzen wirbelten die abgeworfenen Blätter der Bäume bis zu meinen Knien auf. Wütend trat ich nach einer am Boden liegenden Kastanie, die einen Meter weit durch die Luft flog und zweimal aufprallte, ehe sie am Rand des Gehwegs zum Liegen kam. Gerade eben hatte ich mit der Kommissarin telefoniert, die Vios Fall bearbeitete.

Bei meiner ersten Aussage auf dem Präsidium hatte sie mir ihre Visitenkarte förmlich aufgedrängt. Ich hatte das Stück Pappe in mein Portemonnaie gesteckt und vergessen.

Jetzt aber ließ mir Tills Verhalten keine Ruhe. Ich war mir sicher, dass er mehr wusste, als er zugab. Deswegen hatte ich die Visitenkarte herausgefischt und bei der Polizei angerufen.

Ich wurde auch sofort zu dieser Frau Held durchgestellt. Als ich jedoch versuchte ihr klarzumachen, dass Till in dem Mordfall wahrscheinlich mit drinhing, wehrte sie mich freundlich, aber bestimmt ab. »Elina, Sie können sich sicher sein, dass wir alle Alibis genau geprüft haben. Das von Till Knauer ist wasserdicht.«

»Aber …«, hatte ich noch einen Versuch gestartet, doch die kühle Stimme der Kommissarin unterbrach mich:

»Sie können uns vertrauen, Elina: Wir wissen, wie wir unseren Job zu machen haben.«

»Ach ja?«, platzte ich raus, »sitzt Vios Mörder etwa schon hinter Gittern?«

Und als ich nur ein Schweigen zur Antwort bekam, sagte ich nur: »Eben«.

Dann drückte ich auf »Auflegen«. Sauer stopfte ich das Handy in meine Tasche. Von wegen »sie wissen, wie sie ihren Job machen müssen«! Die Polizei saß untätig herum und fischte im Trüben. War ja auch kein Wunder, wenn sie wichtige Zeugenhinweise wie von mir eben einfach abtaten!

Wenn die Polizei schon nichts unternahm, denjenigen dingfest zu machen, der Vio das angetan hatte, würde ich eben alles dransetzen, ihren Tod aufzuklären. Jetzt erst recht.

* * *

Er beobachtete sie. Du merkst es nicht, aber ich bin da, dachte er. Er war ihr in gebührendem Abstand gefolgt, seit sie das Café verlassen hatte. So, wie er ihr schon mehrmals gefolgt war. Und nie hatte sie etwas bemerkt. Natürlich hatte er auch gehört, wie sie mit der Polizei telefonierte. Aber es machte ihm nichts aus. Als sie das Handy mit wütendem Gesicht wegsteckte, lachte er tonlos in sich hinein. Die Polizei! Die würden ihn nie kriegen. Denn er war nicht der Gejagte – er war der Jäger. Er beobachtete, wie sie im Haus verschwand. Als die Türe hinter ihr zufiel, wandte er sich ab. Aber bald, schon sehr bald, würde der Wolf sich seine Beute schnappen …

* * *