Kapitel Neun

 

Glas ist Sand und Sand ist Glas!

Die Ameise tanzt blind, wie es blinde Ameisen tun,

an der Kante des Randes und am Rand der Kante.

 

Weiß in der Nacht und grau am Tag -

lächelnde Spinne, sie lächelt niemals, aber sie lächelt,

obwohl die Ameise es niemals sieht, blind wie sie ist -

 

und jetzt war!

 

          Geschichten, um Kinder zu erschrecken

                   Malesen, der Rachsüchtige (geb.?)

 

S

innlose Panik lässt sie leider zucken.«

Die Stimme des Domänensers über ihm sagte: »Ich glaube, es … hat in letzter Zeit geradezu übermäßig zugenommen, Heiliger.«

Die Antwort des Pannionischen Sehers war ein Kreischen: »Glaubst du, ich kann das nicht sehen? Glaubst du, ich bin blind?«

»Ihr seid allwissend«, brummte der Offizier der Domänenser. »Ich habe lediglich meiner Besorgnis Ausdruck verliehen, Heiliger. Er kann nicht mehr laufen, und sein Atem klingt so mühsam in seiner missgestalteten Brust.«

»Er« … verkrüppelt … gebrochene Rippen schließen sich enger um die Lunge, wie Skelettfinger, immer enger. Domänenser. Ich bin es, den du da beschreibst.

Aber wer bin ich?

Einst habe ich Macht gespürt. Vor langer Zeit.

Da ist ein Wolf.

Ein Wolf. In diesem Käfig gefangen – in meiner Brust, in diesen Knochen, ja, er kann nicht atmen. Es schmerzt so, zu atmen.

Das Geheul ist verstummt. Zum Schweigen gebracht. Der Wolf kann nicht rufen … rufen …

Wen?

Einst habe ich meine Hand auf ihre bepelzte Schulter gelegt. Dicht unter dem Nacken. Damals waren wir noch nicht erwacht, sie und ich. So nah beieinander, sind wir im Gleichschritt gewandert, aber noch nicht erwacht … welch tragische Unwissenheit. Doch sie hat mir ihre irdischen Visionen geschenkt, ihre einzige Geschichte – so, wie sie sie gekannt hat, während tief in ihrem Herzen …

meine Liebste geschlafen hat.

»Heiliger, sollte er wieder der Umarmung Eurer Mutter übergeben werden, wird ihn das umbringen – «

»Du wagst es, mir Anweisungen zu erteilen?«, zischte der Seher. In seiner Stimme war ein Zittern.

»Ich befehle nicht, Heiliger. Ich habe nur eine Tatsache festgestellt.«

»Ultentha! Teuerster Septarch, tritt vor! Ja, schau dir diesen Mann zu Füßen deines Domänensers an. Was denkst du?«

»Heiliger«, ließ sich eine neue, sanftere Stimme vernehmen, »mein höchst vertrauenswürdiger Diener spricht die Wahrheit. Die Knochen dieses Mannes sind so verdreht – «

»Ich kann es sehen!«, kreischte der Seher.

»Heiliger«, fuhr der Septarch fort, »erlöse ihn von seinem Grauen.«

»Nein! Das werde ich nicht tun! Er gehört mir! Er gehört meiner Mutter! Sie braucht ihn – sie braucht jemanden, den sie festhalten kann – sie braucht ihn!«

»Ihre Liebe erweist sich als tödlich«, wandte der Domänenser ruhig ein.

»Ihr bietet mir alle beide die Stirn? Soll ich meine Geflügelten zusammenrufen? Um Euch ins Vergessen zu schicken? Damit sie sich darum streiten und zanken können, was von euch noch übrig sein wird? Ja? Soll ich das tun?«

»Wie es dem Heiligen beliebt.«

»Ja, Ultentha! Ganz genau! Wie es mir beliebt!«

Der Domänenser meldete sich wieder zu Wort. »Soll ich ihn also zur Matrone zurückbringen, Heiliger?«

»Noch nicht. Lass ihn da. Sein Anblick erheitert mich. Und jetzt erstatte deinen Bericht, Ultentha.«

»Die Gräben sind fertig, Heiliger. Die Feinde werden durch die Niederungen zur Stadtmauer vorrücken. Sie werden keine Kundschafter zu dem bewaldeten Kamm zu ihrer Rechten schicken – darauf verwette ich meine Seele.«

»Das hast du schon getan, Ultentha, das hast du schon getan. Und was ist mit diesen verdammten Großen Raben? Wenn auch nur einer von ihnen etwas gesehen hat …«

»Eure Geflügelten haben sie vertrieben, Heiliger. Die Himmel sind frei, die Aufklärungsversuche des Feindes sind so vereitelt worden. Wir werden ihnen erlauben, in den Niederungen ihr Lager aufzuschlagen, dann werden wir uns aus unserer verborgenen Position erheben und uns auf ihre Flanke stürzen. Zusammen mit dem gleichzeitigen Angriff des Magierkaders von den Stadtmauern und dem der Geflügelten vom Himmel aus und zusätzlich noch Septarch Inals Ausfall aus den Stadttoren – Heiliger, der Sieg wird unser sein.«

»Ich will Caladan Bruth. Ich will seinen Hammer, will ihn in meinen Händen halten.

Ich will, dass die Malazaner ausgelöscht werden. Ich will, dass die Götter der Barghast zu meinen Füßen kriechen. Aber vor allem will ich die Grauen Schwerter! Habt ihr verstanden? Ich will diesen Mann, Itkovian – dann habe ich einen Ersatz für meine Mutter. Hört also gut zu. Wenn ihr Gnade für Toc den Jüngeren wollt. bringt mir Itkovian. Lebendig.«

»Es wird geschehen, wie es Euer Wille ist, Heiliger«, sagte Septarch Ultentha.

Es wird geschehen, wie es sein Wille ist. Er ist mein Gott. Was er will. Alles, was er will. Der Wolf kann nicht atmen. Der Wolf liegt im Sterben.

Er – wir liegen im Sterben.

»Und wo ist der Feind jetzt, Ultentha?«

»Sie haben sich wirklich aufgeteilt, vor zwei Tagen, nachdem sie den Fluss überquert haben.«

»Aber wissen sie schon, dass die Städte, auf die sie zumarschieren, tot sind?«

»Das müssten ihnen ihre Großen Raben mittlerweile berichtet haben, Heiliger.«

»Was haben sie dann vor?«

»Wir sind uns nicht sicher. Eure Geflügelten wagen es nicht, sich ihnen zu sehr zu nähern – ich glaube, ihre Anwesenheit ist noch nicht bemerkt worden, und es sollte am besten so bleiben.«

»Einverstanden. Nun, vielleicht argwöhnen sie, dass wir Fallen aufgestellt haben – verborgene Truppen oder so was –, und fürchten einen Überraschungsangriff von hinten, wenn sie die Städte einfach nicht beachten.«

»Ihre Vorsicht gewährt uns mehr Zeit, Heiliger.«

»Sie sind Narren, aufgeblasen von ihrem Sieg in Capustan.«

»In der Tat, Heiliger. Für den sie teuer bezahlen werden.«

Jeder bezahlt. Niemand kann entkommen. Ich habe gedacht, ich wäre sicher. Der Wolf war eine Macht aus sich selbst heraus, die sich streckte, erwachte. Zu ihm bin ich geflohen.

Doch der Wolf hat sich den falschen Mann, den falschen Körper ausgesucht. Als er herabgekommen ist, um mir mein Auge zu nehmen – jener graue, brennende Blitz, den ich für einen Stein gehalten hatte –, war ich unversehrt, jung, gesund.

Jetzt jedoch hat mich die Matrone. Alte Haut, die sich von ihren gewaltigen Armen ablöst, der Geruch verlassener Schlangengruben. Das Zucken ihrer Umarmung – und Knochen brechen, brechen und brechen wieder. Da war so viel Schmerz, sein Donnern nimmt in letzter Zeit kein Ende mehr. Ich habe ihre Panik gespürt, wie es der Seher gesagt hat. Das ist es, was mir den Verstand geraubt hat. Das ist es, was mich zerstört hat.

Es wäre besser, ich wäre zerstört geblieben. Es wäre besser, meine Erinnerungen wären nie zurückgekehrt. Wissen ist kein Geschenk.

Zum Bewusstsein verflucht. So liege ich hier auf diesem kalten Fußboden, die sanft über mich hinwegflutenden Wogen des Schmerzes weichen zurück – ich kann meine Beine nicht mehr spüren. Ich rieche Salz. Staub und Moder. Auf meiner linken Hand ist Gewicht. Sie ist unter mir eingeklemmt und wird allmählich taub.

Ich wünschte, ich könnte mich bewegen.

»… Leichen einsalzen. Es besteht kein Mangel. Der Skorbut hat so viele von den Tenescowri dahingerafft, dass unsere Truppen nur noch die Leichen einsammeln können, Heiliger.«

»Weltliche Krankheiten werden die Soldaten nicht befallen, Ultentha. Das habe ich in einem Traum gesehen. Die Herrin ist inmitten der Tenescowri gewandelt, und siehe, ihre Leiber sind angeschwollen, ihre Finger und Zehen verfault und schwarz geworden, ihre Zähne in Strömen von rotem Speichel ausgefallen. Doch als sie zu meinen auserwählten Kriegern kam, habe ich sie lächeln gesehen. Und sie hat sich abgewendet.«

»Heiliger«, fragte der Domänenser, »warum sollte Poliel unsere Sache segnen?«

»Ich weiß es nicht, und es kümmert mich auch nicht. Vielleicht hat sie eine eigene Vision vom Glanz unseres Triumphs gehabt, vielleicht bittet sie auch einfach nur um einen Gefallen. Unsere Soldaten werden gesund sein. Und wenn die Invasoren erst einmal vernichtet sind, können wir unseren Marsch von Neuem beginnen, zu neuen Städten, neuen Ländern, und dort von der Beute fett werden.«

Die Invasoren … darunter meine Kameraden. Ich war Toc der Jüngere, ein Malazaner. Und die Malazaner kommen.

Das Lachen, das tief in seiner Kehle aufstieg, begann sehr sanft, ein perlender Laut, der stärker wurde, als er andauerte.

Die Unterhaltung verstummte. Das Geräusch, das er von sich gab, war jetzt das einzige im Raum.

Die Stimme des Sehers erklang direkt über ihm. »Und was erheitert dich so sehr, Toc der Jüngere? Kannst du sprechen? Ach, habe ich dich das nicht schon einmal gefragt?«

Toc stieß pfeifend die Luft aus und antwortete: »Ich spreche. Aber Ihr hört mich nicht. Ihr hört mich niemals.«

»Tatsächlich?«

»Einarms Heerhaufen, Seher. Die tödlichste Armee, die das malazanische Imperium jemals hervorgebracht hat. Sie kommt, um dich zu holen.«

»Und ich sollte zittern?«

Toc lachte erneut. »Tut, was Ihr wollt. Aber Eure Mutter weiß Bescheid.«

»Du glaubst, sie fürchtet deine dummen Soldaten? Ich vergebe dir deine Unwissenheit, Toc der Jüngere. Die liebe Mutter, das sollte ich dir vielleicht erklären, leidet unter einer uralten … schrecklichen Furcht. Mondbrut. Aber lass es mich dir etwas genauer erklären, um weitere Missverständnisse zu vermeiden. Mondbrut ist jetzt das Heim der Tiste Andii und ihres schrecklichen Lords, aber sie sind wie Eidechsen in einem verlassenen Tempel. Sie hausen dort, ohne die Großartigkeit zu erkennen, die sie umgibt. Die liebe Mutter hat leider keinen Blick mehr für derartige Kleinigkeiten. Sie ist in letzter Zeit kaum noch mehr als Instinkt, das arme, hirnlose Ding.

Die Jaghut erinnern sich an Mondbrut. Ich allein bin im Besitz der entscheidenden Schriftrollen von Gothos’ Wahnsinn, die von den K’Chain Nah’rhuk flüstern – den Kurzschwänzen, den missratenen Kindern der Matronen –, die Mechanismen erschaffen haben, welche Zauberei auf eine lang vergessene Weise gebunden haben, die riesige, schwebende Festungen gebaut haben, von denen aus sie vernichtende Angriffe auf ihre langschwänzigen Verwandten unternommen haben.

Oh, am Ende haben sie verloren. Wurden vernichtet. Und nur eine einzige fliegende Festung ist übrig geblieben, beschädigt, den Winden überlassen. Gothos hat geglaubt, sie sei in den Norden getrieben, mit dem Eis eines Jaghut-Winters kollidiert und dort eingefroren, für Jahrtausende gefangen. Bis sie vom Lord der Tiste Andii gefunden wurde.

Verstehst du, Toc der Jüngere? Anomander Rake weiß nichts von Mondbruts wahren Kräften – Kräfte, auf die er nicht zurückgreifen kann, selbst wenn er von ihnen wüsste. Die liebe Mutter erinnert sich, oder zumindest ein Teil von ihr tut es. Natürlich hat sie nichts zu befürchten. Mondbrut ist nicht hier – nicht im Umkreis von zweihundert Längen – meine Geflügelten haben nach ihr gesucht, hoch über unseren Köpfen, mit Hilfe der Gewirre, überall. Der einzig mögliche Schluss ist der, dass Mondbrut geflohen ist oder schließlich seine Macht verloren hat – wurde die Festung über Fahl nicht beinahe zerstört? Zumindest hast du mir das erzählt.

Du siehst also, Toc der Jüngere, dass deine malazanische Armee – einschließlich der lieben Mutter – niemanden schreckt. Einarms Heerhaufen wird beim Angriff auf Korall zerschmettert werden. Genau wie Bruth und seine Rhivi. Und darüber hinaus werden auch die Weißgesichter zerschlagen werden – sie haben nicht die nötige Disziplin für diese Art von Krieg. Sie alle werden mein sein. Und ich werde dich mit ein paar Bissen Fleisch von Dujek Einarm füttern – du würdet doch bestimmt gerne einmal wieder ein Stück Fleisch essen, oder? Etwas, das nicht wieder ausgewürgt wurde. Ja?«

Er sagte nichts, obwohl sein Magen und seine Eingeweide sich vor Gier zusammenkrampften.

Der Seher kauerte sich tiefer hin und legte eine Fingerspitze an Tocs Schläfe. »Es ist so leicht, dich zu brechen. Alles, woran du glaubst. Eines nach dem anderen. Fast schon zu leicht. Die einzige Erlösung, auf die du hoffen kannst, Toc der Jüngere, ist die, die ich dir gewähre. Das verstehst du doch jetzt, oder?«

»Ja«, erwiderte er.

»Sehr gut. Dann bete, dass Barmherzigkeit in meiner Seele wohnt. Es stimmt, ich selbst habe dort bisher keine gefunden, wobei ich allerdings zugeben muss, dass ich nicht sehr gründlich gesucht habe. Aber vielleicht existiert sie ja. Halte dich an der Hoffnung fest, mein Freund.«

»Ja.«

Der Seher richtete sich wieder auf. »Ich höre die Schreie meiner Mutter. Bring ihn zurück, Domänenser.«

»Wie Ihr befehlt, Heiliger.«

Starke Arme umfingen Toc den Jüngeren, hoben ihn ohne Mühe vom kalten Fußboden hoch.

Er wurde aus dem Raum getragen. Im Korridor machte der Domänenser Halt.

»Toc, hör mir bitte zu. Sie ist unten angekettet, und die Ketten reichen nicht durch den ganzen Raum. Hör zu. Ich setze dich außerhalb ihrer Reichweite ab. Ich werde dir Essen, Wasser und Decken bringen. Der Seher wird ihren Schreien wenig Beachtung schenken, denn in letzter Zeit schreit sie ständig. Und er wird auch ihren Geist nicht erforschen – es gibt sehr viel wichtigere Dinge, die ihn beschäftigen.«

»Er wird Euch verschlingen lassen, Domänenser.«

»Ich bin schon vor langer Zeit verschlungen worden, Malazaner.«

»Das … das tut mir Leid.«

Der Mann, der ihn in den Armen hielt, schwieg eine Zeit lang, und als er schließlich wieder sprach, brach seine Stimme beinahe. »Ihr … ihr bietet mir Mitleid, Toc der Jüngere. Der Abgrund soll mich holen, Toc, ich werde immer übertroffen. Erlaubt mir bitte, meine kleinen Bemühungen – «

»Voller Dankbarkeit, Domänenser.«

»Danke.«

Er setzte sich wieder in Bewegung.

»Sagt mir, Domänenser, hält das Eis das Meer immer noch in seinem Griff?«

»Zumindest im Umkreis einer Länge nicht mehr, Toc. Unerwartete Veränderungen in den Strömungen haben den Hafen frei gemacht. Aber die Stürme wüten immer noch über der Bucht, und das Eis weiter draußen donnert und knirscht noch immer, als führten zehntausend Dämonen Krieg. Könnt Ihr es nicht hören?«

»Nein.«

»Nun gut, ich gebe zu, es ist hier nur noch ganz schwach zu vernehmen. Auf der Brustwehr der Festung ist es fast wie ein Angriff.«

»Ich … ich kann mich an den Wind erinnern …«

»Der erreicht uns nicht mehr. Noch eine andere unberechenbare Laune, für die ich dankbar bin.«

»In der Höhle der Matrone«, sagte Toc, »gibt es keinen Wind.«

Holz zersplitterte, ein Übelkeit erregendes Geräusch, das das ganze Bauwerk erbeben ließ. Lady Missgunst hielt in ihrem Aufstieg zu dem abgerissenen, zerborstenen Ende der Straße hin inne. Die Neigung war plötzlich steiler geworden, und der Frost machte die Pflastersteine unter ihren Sohlen schlüpfrig. Sie zischte ärgerlich, griff dann auf ein Gewirr zurück und schwebte zum äußersten Rand hinüber, wo Lanas Tog stand.

Die T’lan Imass schwankte nicht einmal auf ihrem gefährlichen Aussichtspunkt. Der Wind riss an ihren herabhängenden Hautfetzen und den knochenweißen Haaren. Die Schwerter, die noch immer ihren Oberkörper durchbohrten, glitzerten vom Reif.

Als sie an ihre Seite trat, konnte Lady Missgunst die Ursache der schrecklichen, knackenden Geräusche genauer erkennen. Eine große Eisscholle war mit ihnen zusammengestoßen, mahlte in einem spritzenden Wirbel aus Wasser und Eis an der Basis entlang.

»Ach je«, murmelte Lady Missgunst. »Es scheint, als würden wir immer weiter nach Westen geschoben.«

»Aber wir treiben nichtsdestotrotz auf Land zu«, erwiderte Lanas Tog. »Und das reicht.«

»Zwanzig Längen von Korall, bei diesem Kurs, und alles Wildnis, vorausgesetzt dass ich mich recht an die Karte dieser Region erinnere. Leider war ich des Laufens so müde. Habt Ihr Euch unseren Wohnsitz schon einmal angeschaut? Abgesehen von den schiefen Fußböden und der beunruhigenden Aussicht durch die Fenster ist es durchaus prächtig. Ich kann Unbehagen nicht ertragen, müsst Ihr wissen.«

Die T’lan Imass antwortete nicht und starrte weiter nach Nordwesten.

»Ihr seid alle gleich«, schniefte Lady Missgunst. »Es hat Wochen gedauert, bis Tool endlich in Redelaune war.«

»Ihr habt diesen Namen schon einmal erwähnt. Wer ist Tool?«

»Onos T’oolan, das Erste Schwert. Das letzte Mal, als ich ihn zu Gesicht bekommen habe, sah er mitgenommener aus als Ihr, meine Liebe, also besteht noch Hoffnung für Euch.«

»Onos T’oolan. Ich habe ihn nur einmal gesehen.«

»Zweifellos bei der Ersten Zusammenkunft.«

»Ja. Er hat sich gegen das Ritual ausgesprochen.«

»Und deshalb hasst Ihr ihn natürlich.«

Die T’lan Imass antwortete nicht sofort. Das Gebilde unter ihnen bockte wild; es neigte sich zu ihrer Seite hin, als die Eisscholle sich losriss, und hob sich dann wieder. Lanas Tog wankte nicht einmal. »Ihn hassen?«, sagte sie jetzt. »Nein. Ich war natürlich anderer Meinung. Wir alle waren anderer Meinung, also hat er sich gefügt. Es ist eine weit verbreitete Ansicht.«

Lady Missgunst wartete einen Augenblick, dann verschränkte sie die Arme und fragte: »Was?«

»Dass Wahrheit durch die Mehrheit bewiesen wird. Das, was viele für richtig halten, muss auch richtig sein. Sollte ich Onos T’oolan noch einmal begegnen, werde ich ihm sagen, dass er derjenige war, der Recht gehabt hat.«

»Ich glaube nicht, dass er einen Groll hegt, Lanas Tog. Und wenn ich es mir recht überlege, nehme ich an, dass ihn das unter den T’lan Imass zu einer Ausnahme macht, oder nicht?«

»Er ist das Erste Schwert.«

»Ich habe eine weitere, ebenso frustrierende Unterhaltung mit Mok geführt. Ich habe mich gefragt, versteht Ihr, warum er und seine Brüder Euch noch nicht zum Kampf herausgefordert haben. Sowohl Senu als auch Thurule haben gegen Tool gekämpft – und verloren. Mok wäre der Nächste gewesen. Es hat sich herausgestellt, dass die Seguleh nicht gegen Frauen kämpfen, es sei denn, sie werden angegriffen. Also – greift sie nicht an …«

»Ich habe keinen Grund dafür, Lady Missgunst. Sollte ich allerdings einen finden – «

»In Ordnung, dann muss ich ein bisschen deutlicher werden. Tool wurde sowohl von Senu wie von Thurule hart bedrängt. Gegen Mok, nun, da wäre es wahrscheinlich unentschieden ausgegangen. Seid Ihr dem Ersten Schwert ebenbürtig, Lanas Tog? Wenn Ihr die Zweite Zusammenkunft tatsächlich an einem Stück erleben wollt, um Eure Botschaft zu überbringen, dann solltet Ihr ein wenig Zurückhaltung üben.«

Eisen knirschte gegen Knochen, als Lanas Tog die Schultern zuckte.

Lady Missgunst seufzte. »Was ist wohl bedrückender? Zu versuchen, mit Euch und den Seguleh ein zivilisiertes Gespräch zu führen oder in die leidenden Augen einer Wölfin zu starren? Über Garaths Laune kann ich überhaupt nichts sagen, denn das Biest scheint immer noch böse auf mich zu sein.«

»Die Ay ist erwacht«, sagte Lanas Tog.

»Ich weiß, ich weiß, und mein Herz weint wahrhaftig um ihretwillen, oder zumindest um der unglücklichen Göttin willen, die ihr innewohnt. Aber andererseits verdienen beide ein paar Tränen, oder nicht? Eine Ewigkeit allein – das kann für die nicht ganz sterbliche Ay schließlich nicht besonders lustig gewesen sein.«

Die T’lan Imass drehte den Kopf. »Wer hat dem Tier dieses zweischneidige Geschenk gemacht?«

Lady Missgunst zuckte die Schultern. Sie strahlte vor Freude angesichts der Gelegenheit, eine solche Geste erwidern zu können. »Mein irregeleiteter Bruder, der gedacht hat, er wäre gütig. Schon gut, das war vielleicht eine zu stark vereinfachende Antwort. Mein Bruder hatte die Göttin gefunden, schrecklich beschädigt von ihrem Sturz, und er brauchte einen warmblütigen Ort, um ihren Geist dort zu betten, damit er heilen konnte. Ein glücklicher Zufall. Die Meute der Ay war tot, während sie zu jung war, um unter normalen Umständen zu überleben. Und was noch schlimmer war, sie war die Letzte auf dem ganzen Kontinent.«

»Euer Bruder hat einen fehlgeleiteten Sinn für Barmherzigkeit, Lady Missgunst.«

»Dem stimme ich zu. Endlich haben wir etwas gemeinsam! Wie wunderbar!«

Einen Augenblick später war ihre Überschwänglichkeit schon wieder dahin, als sie die T’lan Imass an ihrer Seite musterte. »Oh«, murmelte sie, »als was für eine bedrückende Wahrheit hat sich das erwiesen.«

Lanas Tog richtete den Blick wieder auf das turbulente Panorama, das sich nordwestlich von ihnen erstreckte. »Das ist bei den meisten Wahrheiten so«, sagte sie.

»Gut!« Lady Missgunst strich sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich glaube, ich gehe wieder nach unten und starre eine Weile in die  unglücklichen Augen einer Wölfin! Nur um meine Stimmung zu heben, versteht Ihr? Ihr müsst wissen, Tool hatte wenigstens Sinn für Humor.«

»Er ist das Erste Schwert.«

Lautlos vor sich hin murmelnd, schritt Lady Missgunst wieder die Straße hinunter, wobei ihre Schuhe kaum die eisigen Pflastersteine berührten. Sie machte erst wieder Halt, als sie den Eingang des Hauses erreichte. »Oh! Das war ziemlich lustig! Auf eine eigenartige Weise. Nun ja! Wie außergewöhnlich!«

 

Scharteke hüpfte wütend auf und ab. Bruth stand da und beobachtete den Großen Raben. Ein Stück weiter neben ihm stand Korlat. Kallor lungerte eine halbes Dutzend Schritt entfernt herum. Die Armee marschierte in losen Reihen die erhöhte Straße zu ihrer Linken entlang, während zu ihrer Rechten in einer Entfernung von zweitausend Schritt die Bhederin-Herde dahinrumpelte.

Es waren weniger Tiere, bemerkte Korlat. Die Überquerung des Catlin hatte Hunderte das Leben gekostet.

Ein schrilles Zischen des Großen Raben ließ ihre abschweifende Aufmerksamkeit zurückkehren.

Scharteke hatte sich, die Flügel halb gespreizt, direkt vor dem Kriegsherrn aufgebaut. »Du begreifst die Bedeutung dieser Angelegenheit immer noch nicht! Narr! Ochse! Wo ist Anomander Rake? Sag es mir! Ich muss mit ihm sprechen – ihn warnen – «

»Wovor?«, fragte Bruth. »Dass ein paar hundert Kondore dich weggejagt haben?«

»Unbekannte Zauberei verbirgt sich in diesen abscheulichen Geiern! Wir werden bewusst fern gehalten, du hirnloser Schläger!«

»Von Korall und seiner Umgebung«, stellte Kallor trocken fest. »Wir sind gerade erst in Sichtweite von Lest gekommen, Scharteke. Immer eins nach dem anderen.«

»Wie dumm! Glaubt ihr etwa, die hocken einfach nur auf ihren Händen? Sie treffen Vorbereitungen – «

»Natürlich tun sie das«, sagte Kallor gedehnt und grinste höhnisch auf den Großen Raben hinab. »Na und?«

»Was ist mit Mondbrut geschehen? Wir wissen, was Rake geplant hat – hatte er Erfolg? Ich kann die Festung nicht erreichen! Ich kann ihn nicht erreichen! Wo ist Mondbrut?«

Niemand sagte etwas.

Schartekes Kopf schoss nach unten. »Ihr wisst weniger als ich! Stimmt’s? Das ist alles nur gespielte Tapferkeit! Wir sind verloren!« Sie wirbelte herum und nagelte Korlat mit einem Blick aus ihren glitzernden schwarzen Augen fest. »Dein Lord hat versagt, nicht wahr? Und er hat drei Viertel der Tiste Andii mitgenommen! Wirst du ausreichen, Korlat? Wirst du – «

»Scharteke«, grollte Bruth. »Wir wollten etwas über die Malazaner hören, keine Liste deiner Ängste.«

»Die Malazaner? Sie marschieren! Was sollten sie auch sonst tun? Unzählige Wagen auf der Straße, überall Staub. Sie nähern sich Setta, das bis auf ein paar von der Sonne ausgetrocknete Leichen leer ist.«

Kallor meldete sich zu Wort. »Dann machen sie also eine schnelle Reise daraus. Als ob sie in Eile wären. Kriegsherr, da ist Täuschung im Spiel.«

Bruth machte ein finsteres Gesicht. Er verschränkte die Arme. »Du hast gehört, was der Vogel gesagt hat, Kallor. Die Malazaner marschieren. Schneller als wir erwartet hatten, aber das ist alles.«

»Du willst dir nur nichts anmerken lassen«, knirschte Kallor.

Ohne weiter auf ihn zu achten, wandte Bruth sich wieder dem Großen Raben zu. »Sorge dafür, dass deine Verwandten sie im Auge behalten. Und über das, was um Korall herum geschieht, machen wir uns Sorgen, wenn wir Maurik erreichen und unsere Streitkräfte wieder vereinigt haben. Und schließlich, was deinen Herrn Anomander Rake angeht, hab Vertrauen, Scharteke.«

»Auf Vertrauen willst du den Erfolg gründen? Wahnsinn! Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten!«

Korlats Gedanken schweiften erneut ab. In letzter Zeit kam das häufig vor. Sie hatte vergessen, was die Liebe anrichten konnte, wie sie ihre Wurzeln durch ihre ganze Seele schlängelte, wie sie an ihren Gedanken zupfte und zerrte und eine fixe Idee in ihr reifte wie eine verführerische Frucht. Sie spürte nur, wie sie in ihr lebte, wuchs, alles, was sie war, in Beschlag nahm.

Furcht um ihren Lord und ihre Verwandten schien beinahe belanglos. Sollte es wirklich notwendig werden, konnte sie auf ihr Gewirr zurückgreifen, ihn mittels der Pfade Kurald Galains erreichen. Doch sie empfand kein dringendes Bedürfnis, so etwas zu tun. Dieser Krieg würde seinen eigenen Weg finden.

Ihre Wünsche wurden alle samt und sonders in den Augen eines Mannes gehalten. Eines Sterblichen von verwinkelter, kantiger Würde. Ein Mann, der seine Jugend hinter sich hatte, eine von Narben übersäte Seele – und doch hatte er sie ihr ausgeliefert.

Es war eigentlich kaum zu glauben.

Sie dachte daran, wie sie ihn das erste Mal aus der Nähe gesehen hatte. Sie hatte bei der Mhybe und Silberfuchs gestanden, hatte das Kind an der Hand gehalten. Er war an Dujeks Seite auf jenen Ort zugeritten, an dem damals die Verhandlungen stattgefunden hatten. Ein Soldat, dessen Namen sie bereits gekannt hatte – als einen gefürchteten Feind, dessen strategisches Können Bruth wieder und wieder getrotzt hatte, obwohl die Umstände gegen die schlecht verpflegten, zahlenmäßig geschwächten malazanischen Streitkräfte gesprochen hatten.

Schon damals hatte er ihre Blicke angezogen wie ein Magnet.

Und nicht nur ihre, wie ihr klar wurde. Ihr Lord hatte ihn Freund genannt. Etwas, das so selten geschah, dass es ihr immer noch den Atem zu verschlagen drohte. Anomander Rake hatte sich in all der Zeit, da sie ihn kannte, nur zu einem einzigen Freund bekannt, und das war Caladan Bruth. Und diese beiden Männer verbanden Jahrtausende geteilter Erfahrungen, ein Bündnis, das niemals zerbrochen war. Es hatte zahllose Auseinandersetzungen gegeben, oh, das schon, niemals jedoch eine endgültige, nicht wieder gutzumachende Trennung.

Der Schlüssel dazu lag, wie Korlat sehr wohl verstand, darin, dass sie eine ansehnliche Distanz zueinander hielten, die von gelegentlichen Zusammentreffen unterbrochen wurde.

Es war, wie sie glaubte, ein Verhältnis, das niemals zerbrechen würde. Und daraus war im Laufe von Jahrhunderten eine Freundschaft geboren worden.

Aber Rake hatte nur ein paar Abende in Elsters Gesellschaft verbracht. Sie hatten Gespräche geführt, an denen sie selbst nicht teilgenommen hatte. Und es war genug gewesen.

Irgendetwas in jedem von ihnen hat sie zu Brüdern im Geiste gemacht. Doch selbst ich kann nicht sehen, was es ist. Anomander Rake kann man nicht erreichen, kann man nicht wirklich berühren – nicht sein wahres Ich. Ich habe nie gewusst, was hinter den Augen meines Lords liegt. Ich habe nur die gewaltige Kapazität dieses Selbst gespürt – aber nicht den Geschmack all dessen, was es enthält.

Aber Elster – mein teurer, sterblicher Geliebter – wenn ich auch nicht alles sehen kann, was in ihm ist, so kann ich doch erkennen, was es ihn kostet, es im Zaum zu halten. Das Blut, aber nicht die Wunde. Und ich kann seine Stärke sehen – auch letztes Mal, als er so erschöpft war …

Genau im Süden waren die alten Mauern von Lest zu erkennen. Nichts wies darauf hin, dass seit der Eroberung durch die Pannionier Ausbesserungsarbeiten durchgeführt worden waren. Die Luft über der Stadt war frei von Rauch, und es waren keine Vögel zu sehen. Die Rhivi-Kundschafter hatten berichtet, dass es dort weiter nichts gab als ein paar verbrannte Knochen, die auf den Straßen herumlagen. Früher hatte es erhöhte Gärten gegeben, für die Lest bekannt gewesen war, doch das Wasser war schon vor Wochen versiegt, und seither war eine Feuerwalze durch die Stadt gerollt – selbst aus der Entfernung konnte Korlat dunkle Rußflecken an den Mauern erkennen.

»Verwüstung!«, jammerte Scharteke. »Das ist die Geschichte, die vor uns liegt! Den ganzen Weg bis Maurik. Während sich unser Bündnis vor unseren Augen auflöst.«

»Es tut nichts dergleichen«, polterte Bruth. Seine Stirn hatte sich noch tiefer gefurcht.

»Oh? Und wo ist Silberfuchs? Was ist mit der Mhybe passiert? Warum marschieren die Grauen Schwerter und Trakes Legion so weit hinter uns? Warum waren die Malazaner so wild darauf, unsere Seite zu verlassen? Und jetzt sind Anomander Rake und Mondbrut verschwunden! Die Tiste Andii – «

»Sind am Leben«, unterbrach sie Korlat, deren Geduld schließlich am Ende war.

Scharteke wirbelte zu ihr herum. »Bist du sicher?«

Korlat nickte. Aber … bin ich wirklich sicher? Nein. Soll ich sie dann suchen? Nein. In Korall werden wir sehen, was es zu sehen gibt. Das ist alles. Ihr Blick schweifte nach Westen. Und du, mein teurer Liebster, Dieb all meiner Gedanken, wirst du mich jemals freilassen?

Bitte. Tu es nicht. Niemals.

 

Itkovian, der neben Grantl ritt, beobachtete die beiden Vorreiter der Grauen Schwerter, die auf den Schild-Amboss und den Destriant zugaloppierten.

»Wo kommen die her?«, fragte Grantl.

»Von der flankierenden Nachhut«, erwiderte Itkovian.

»Sieht aus, als hätten sie Neuigkeiten.«

»So scheint es, mein Herr.«

»Und? Seid Ihr nicht neugierig? Sie haben Euch gefragt, ob Ihr mit ihnen reiten wollt – wenn Ihr ja gesagt hättet, würdet Ihr jetzt den Bericht hören, statt mit Pöbel und Gesindel wie uns rumzuhängen. He, das ist eine Idee – ich könnte meine Legion in zwei Kompanien aufteilen, könnte die eine Pöbel nennen und die andere – «

»Oh, erspar uns das!«, schnappte Stonny hinter ihnen.

Grantl drehte sich im Sattel um. »Wie lange reitest du schon so dicht hinter uns her, Mädchen?«

»Ich reite dir niemals hinterher, Grantl. Weder dir noch Itkovian. Und auch keinem anderen Mann. Außerdem, mit der tief stehenden Sonne zu unserer Rechten müsste ich neben dir reiten, um in deinem Schatten zu sein, nicht dass ich das wollte, natürlich.«

»Und so bist du stattdessen die Frau hinter mir«, sagte das Todbringende Schwert grinsend.

»Und was soll das bitte bedeuten, du Schwein?«

»Ich habe nur Tatsachen festgestellt, Schätzchen.«

»Tatsächlich? Nun, du hattest Unrecht. Ich war eigentlich zu den Grauen Schwertern unterwegs, aber leider waren mir zwei Esel im Weg.«

»Stonny, das hier ist keine Straße, es ist eine Ebene. Wie können wir dir im Weg sein, im Namen des Vermummten, wenn du überall entlangreiten könntest?«

»Esel. Faule Schweine. Irgendjemand hier muss doch neugierig sein. Dieser Jemand braucht natürlich so was wie ein Gehirn, was der Grund ist, wieso ihr beide so dahintrottet und euch fragt, was diese Vorreiter wohl zu berichten haben: Ihr wundert euch – und tut verdammt noch mal überhaupt nichts. Weil ihr beide hirnlos seid. Was mich angeht – «

»Was Euch angeht«, sagte Itkovian trocken, »so scheint Ihr mit uns zu sprechen, meine Dame. In der Tat, Ihr seid in ein Gespräch vertieft – «

»Das jetzt zu Ende ist!«, schnappte sie; dann riss sie ihr Pferd nach links herum und schoss an ihnen vorbei.

Sie schauten ihr nach, als sie sich der anderen Marschkolonne näherte.

Nach einem Augenblick zuckte Grantl die Schultern und sagte: »Ich frage mich, was sie wohl hören wird.«

»Ich mich auch«, erwiderte Itkovian.

Sie ritten weiter, in gleichmäßigem, wenn auch etwas langsamem Tempo. Hinter ihnen marschierte Grantls Legion, ein Haufen Pöbel, zusammengeballt wie eine Gruppe Piraten, die auf der Suche nach einem Bauernhaus, das sie plündern können, ins Landesinnere vordringen. Itkovian hatte vor einiger Zeit angedeutet, dass sich ein bisschen Übung als vorteilhaft erweisen mochte, doch Grantl hatte bei seinen Worten nur gegrinst und geschwiegen.

Trakes Todbringendes Schwert verachtete Armeen; tatsächlich verachtete er alles, was auch nur im Geringsten mit militärischen Gepflogenheiten zu tun hatte. Disziplin war ihm gleichgültig, und er hatte nur einen einzigen Offizier – glücklicherweise einen Soldaten aus Lest –, um seine mittlerweile knapp hundertsechzig Gefolgsleute zu führen. Außenseiter mit versteinerten Augen, die er lachend Trakes Legion nannte.

Grantl war in jeglicher Hinsicht das genaue Gegenteil von Itkovian.

»Da kommt sie«, grollte das Todbringende Schwert.

»Sie reitet sehr dramatisch«, bemerkte Itkovian.

»Ja. Eine Wildheit, die sich, nach allem, was ich gehört habe, nicht auf den Sattel beschränkt.«

Itkovian warf Grantl einen Blick zu. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte angenommen, Ihr und sie – «

»Ein paar Mal«, erwiderte Grantl. »Leider immer nur, wenn wir beide betrunken waren. Sie noch mehr als ich, wie ich zugeben muss. Normalerweise reden wir beide nicht darüber. Wir sind einmal zufällig auf das Thema gekommen, und daraus wurde dann ein Streit darüber, wem von uns beiden das Ganze peinlicher war – ach, Schätzchen! Was gibt es Neues?«

Sie zügelte abrupt ihr Pferd; die Hufe des Tieres wirbelten kleine Staubwolken auf. »Warum sollte ich euch das sagen, im Namen des Vermummten?«

»Und warum im Namen des Vermummten bist du dann zu uns zurückgekommen?«

Sie machte ein finsteres Gesicht. »Ich bin einfach nur an meinen Platz zurückgekehrt, du Esel – und was Euch angeht, Itkovian, das, was ich da sehe, sollte besser kein Lächeln sein. Wenn doch, müsste ich Euch umbringen.«

»Ganz gewiss nicht, meine Dame.«

»Freut mich, das zu hören.«

»Also?«, fragte Grantl.

»Also was?«

»Die Neuigkeiten, Schätzchen!«

»Ach, die. Wundervolle Neuigkeiten, natürlich, schließlich gibt’s doch in letzter Zeit gar keine anderen, oder? Angenehme Enthüllungen. Glückliche Zeiten – «

»Stonny!«

»Alte Freunde, Grantl! Rumpeln ungefähr eine Länge hinter uns über die Ebene. Ein großer Wagen, der zum Teil aus Knochen besteht, von Zugtieren gezogen, die nicht ganz das sind, was sie scheinen. Und die außerdem noch zwei flache Wagen ziehen, die mit Plunder beladen sind – habe ich Plunder gesagt? Oh, ich habe natürlich Beute gemeint, wozu auch mehr als ein von der Sonne geschwärzter Leichnam gehört. Und auf dem Kutschbock sitzt ein alter Mann, der eine räudige Katze auf dem Schoß hat. Na so was! Tatsächlich alte Freunde, was?«

Grantls Gesicht war ausdruckslos geworden, während sie sprach, seine Augen waren kalt. »Buke ist nicht dabei?«

»Nicht einmal sein Pferd. Entweder er ist geflohen, oder – «

Das Todbringende Schwert riss sein Pferd herum und grub ihm die Fersen in die Flanken.

Itkovian zögerte. Er warf Stonny einen Blick zu und war überrascht, als er sah, dass unverhohlenes Mitgefühl ihre Gesichtszüge weicher werden ließ. Ihre grünen Augen richteten sich auf ihn. »Wollt Ihr ihm nicht folgen?«, fragte sie leise.

Er nickte und klappte das Visier seines malazanischen Helms herunter. Eine leichte Gewichtsverlagerung und ein kurzes Streichen der Zügel über den Pferdehals ließen sein Reittier wenden.

Sein Pferd war von der Gelegenheit, mal wieder die Beine zu strecken, begeistert, und da es eine geringere Last trug, hatte es Itkovian an Grantls Seite gebracht, als noch zwei Meilen vor ihnen lagen. Das Pferd des Todbringenden Schwerts keuchte bereits.

»Mein Herr!«, rief Itkovian. »Langsamer, mein Herr! Sonst müssen wir auf dem Rückweg zu zweit auf einem Pferd reiten!«

Grantl zischte einen Fluch, und einen Augenblick lang sah es aus, als wolle er sein Pferd noch mehr antreiben, doch dann gab er nach, richtete sich im Sattel auf und lockerte die Zügel, während der Galopp des Tieres langsamer wurde.

»Und jetzt einen schnellen Trab, mein Herr«, riet Itkovian. »Nach weiteren hundert Schritten lassen wir die Tiere in Schritt fallen, damit Eure Stute den Hals strecken kann und wieder Luft bekommt.«

»Tut mir Leid, Itkovian«, sagte Grantl kurze Zeit später. »Meine Wut hat in letzter Zeit keine Glut mehr, aber das scheint sie nur noch tödlicher zu machen, fürchte ich.«

»Trake würde – «

»Nein, versucht es gar nicht erst, mein Freund. Ich habe es schon öfter gesagt. Mir ist es verdammt egal, was Trake will oder von mir erwartet, und Ihr und alle anderen solltet aufhören, mich so zu sehen. Todbringendes Schwert – ich hasse Titel. Ich konnte es noch nicht einmal leiden, Karawanenführer genannt zu werden, als ich noch einer war. Ich habe den Titel nur benutzt, um mehr Sold verlangen zu können.«

»Habt Ihr vor, diesen Reisenden etwas anzutun, mein Herr?«

»Ihr wisst, um wen es sich handelt?«

»Ich weiß es.«

»Ich hatte einen Freund …«

»Ja, den Mann namens Buke. Ich erinnere mich an ihn. Ein Mann, den der Kummer gebrochen hatte. Ich habe ihm einmal angeboten, seine Last zu tragen, aber er hat mich zurückgewiesen.«

Grantls Kopf ruckte bei diesen Worten herum. »Ihr habt was? Und er …?«

Itkovian nickte. »Vielleicht hätte ich ein wenig … direkter sein sollen.«

»Ihr hättet ihn an der Kehle packen und es einfach tun sollen, ganz egal, was er wollte oder nicht. Das ist doch genau das, was der neue Schild-Amboss mit diesem einäugigen Kind des Toten Samens gemacht hat … diesem Anaster, stimmt’s? Und jetzt reitet der Kerl an ihrer Seite – «

»Er reitet, ohne zu wissen … er ist nichts weiter als eine Hülle, mein Herr. In ihm war nichts anderes als Schmerz. Ihm diesen Schmerz zu nehmen hat ihm auch das Wissen darum geraubt, wer er ist. Hättet Ihr gewollt, dass Buke ebenfalls ein solches Schicksal erleidet?«

Grantl verzog das Gesicht.

Es konnte kaum noch eine Meile weit sein, wenn Stonnys Angaben richtig waren, aber das Auf und Ab der ausgewaschenen Flussufer behinderte die Sicht, und tatsächlich war es das Geräusch des Wagens – ein gedämpftes Klirren und Rasseln, das der Wind zu ihnen herantrug –, das den beiden Männern sagte, dass er in der Nähe war.

Sie ritten einen Hügelkamm hinauf – und mussten die Pferde hastig zügeln, um nicht mit einem Ochsengespann zusammenzustoßen.

Emancipor Reese trug einen breiten, schmutzigen Verband um den Kopf, der einen geschwollenen Kiefer und ein verquollenes rechtes Auge nicht ganz verbergen konnte. Die Katze in seinem Schoß fauchte schrill, als die beiden Reiter so plötzlich auftauchten, und kletterte über die Brust des Dieners und seine linke Schulter aufs Dach des gespenstischen Wagens, wo sie in einer Falte aus K’Chain-Che’Malle-Haut und -Knochen verschwand. Reese selbst fuhr auf seinem Kutschbock in die Höhe und wäre fast hinuntergestürzt; nur mühsam fing er sich wieder.

»Bafda’de! Bwa’um dud Ih’ daf? Beim Adem def Vermummden!«

»Entschuldigt, mein Herr«, sagte Itkovian, »dass wir Euch so erschreckt haben. Aber Ihr seid verletzt – «

»Ve’ledfd? Meim. Zahm. Afbro’n. Olifmkmm.«

Itkovian runzelte die Stirn, warf Grantl einen Blick zu.

Das Todbringende Schwert zuckte die Schultern. »Olivenkern vielleicht?«

»Hmm!« Reese nickte energisch, zuckte dann zusammen. »Bwaf Bwolld Ih’?«

Grantl holte tief Luft. »Die Wahrheit, Reese. Wo ist Buke?«

Der Diener zuckte die Schultern. »Bweg.«

»Haben sie ihn – «

»Meim! Bweg! Geflo’n.« Er fuchtelte mit den Armen auf und ab. »Flapflap.Ve’ftehtIh’?Ja?«

Grantl seufzte, blickte weg, und nickte dann langsam. »Gut genug«, sagte er einen Augenblick später.

Die Tür des Wagens öffnete sich, und Bauchelain beugte sich heraus. »Warum haben wir angehal – … oh, der Karawanenführer … und das Graue Schwert, glaube ich – aber wo ist Eure Uniform, mein Herr?«

»Ich sehe keine Notwendigkeit – «

»Ist nicht weiter wichtig«, unterbrach Bauchelain und kletterte aus dem Wagen. »Ich war eigentlich gar nicht an Eurer Antwort interessiert. Nun, meine Herren, wollt Ihr vielleicht etwas Wichtiges besprechen? Seid ein bisschen nachsichtig mit meiner Grobheit, aber ich bin müde und in letzter Zeit leider ein wenig gereizt. Ja, in der Tat, bevor Ihr noch ein weiteres Wort hervorbringt, möchte ich Euch raten, mich nicht zu verärgern. Bei der nächsten unangenehmen Unterbrechung wird mir wahrscheinlich der Kragen platzen, und das wäre eine ziemlich mörderische Angelegenheit, das versichere ich Euch. Und nun, was wollt Ihr von uns?«

»Nichts«, sagte Grantl.

Die dünnen schwarzen Augenbrauen des Nekromanten hoben sich ein wenig. »Nichts?«

»Ich bin gekommen, um mich nach Buke zu erkundigen.«

»Buke? Wer – ach ja, der. Nun, wenn Ihr ihn das nächste Mal seht, sagt ihm, er ist gefeuert.«

»Das werde ich tun.«

Einen Augenblick lang sagte niemand ein Wort. Dann räusperte sich Itkovian. »Mein Herr«, sagte er zu Bauchelain, »Euer Diener hat sich einen Zahn abgebrochen und scheint nicht unbeträchtliche Beschwerden zu haben. Mit Euren Künsten ist es Euch doch gewiss möglich …«

Bauchelain drehte sich um und warf Reese einen Blick zu. »Oh, das erklärt diese eigenartige Kopfbedeckung. Ich muss zugeben, ich habe mich schon gefragt, ob es sich dabei vielleicht um eine örtliche Mode handelt … Aber dem ist nicht so, wie sich nun herausstellt. Gut, Reese, mir scheint, ich muss Korbal Broach einmal mehr bitten, sich für eine Operation bereit zu machen – das ist schon der dritte Zahn, der auf diese Weise abgebrochen ist, nicht wahr? Und wieder mal Oliven, ohne Zweifel. Wenn du immer noch dem Glauben nachhängst, dass Olivensteine ein tödliches Gift sind, warum bist du dann so sorglos, wenn du die besagten Früchte isst? Ach, ist nicht weiter wichtig …«

»Meim! Keine Ope’adion! Bidde michd!«

»Was brabbelst du da, Mann? Sei still! Und wisch dir den Mund ab, du sabberst, und das ist unästhetisch. Glaubst du denn, ich sehe nicht, dass du Schmerzen hast? Dir sind gerade die Tränen in die Augen getreten, und du bist blass – totenblass. Und du zitterst! Wir dürfen keinen Augenblick verlieren! Korbal Broach! Komm heraus, bitte, und bring deine schwarze Tasche mit! Korbal!«

Der Wagen begann zur Antwort leicht zu schaukeln.

Grantl wendete sein Pferd. Itkovian tat es ihm nach.

»Dann bis später, meine Herren!«, rief Bauchelain hinter ihnen her. »Seid versichert, dass ich Euch für Euren Hinweis hinsichtlich des Gesundheitszustands meines Dieners dankbar bin. Genauso dankbar, wie er es zweifellos ist, und wenn er in der Lage wäre, verständlich zu sprechen, würde er Euch das gewiss auch sagen.«

Grantl hob die Hand und winkte brüsk.

Dann setzten sie sich in Bewegung, um sich wieder Trakes Legion anzuschließen.

Einige Zeit sagte keiner der beiden ein Wort, bis ein merkwürdig gedämpftes Geräusch von Grantl Itkovian aufblicken ließ. Und dann sah er, dass das Todbringende Schwert lachte.

»Was erheitert Euch so, mein Herr?«

»Ihr, Itkovian. Ich vermute, Reese wird Eure Fürsorge für den Rest seiner Tage verfluchen.«

»Das wäre eine merkwürdige Art, Dankbarkeit zu zeigen. Wird er denn nicht geheilt werden?«

»Oh doch, ich bin mir sicher, das wird er. Aber hier habt Ihr etwas, worüber Ihr ein bisschen nachdenken könnt, wenn Ihr wollt: Manchmal ist die Behandlung schlimmer als die Krankheit.«

»Könnt Ihr das näher erklären?«

»Fragt Emancipor Reese, wenn Ihr ihn das nächste Mal seht.«

»Sehr schön, genau das werde ich tun, mein Herr.«

 

Der Gestank von Rauch hing an den Wänden, und es gab genug alte Flecke auf den Teppichen, die bewiesen, dass in den Gängen und Vorzimmern und Anbauten ein Gemetzel unter den Akolythen stattgefunden hatte.

Coll fragte sich, ob der Vermummte wohl erfreut darüber gewesen war, dass seine eigenen Kinder zu ihm geschickt wurden, noch dazu in seinem eigenen, geheiligten Gebäude.

Es schien nicht leicht zu sein, einen Ort zu entweihen, der dem Tode geweiht war. Der Daru konnte den Atem unverminderter Macht spüren, kühl und gleichgültig, als er auf der Steinbank vor der Grabkammer saß.

Murillio schritt in dem breiten Hauptkorridor zu seiner Rechten auf und ab, geriet dabei immer wieder in Colls Blickfeld und verließ es ebenso oft wieder.

In dem heiligen Gemach hinter Coll bereitete der Ritter des Todes einen Platz für die Mhybe. Drei Glockenschläge waren verklungen, seit der erwählte Diener des Vermummten die Grabkammer betreten und die Türflügel sich hinter ihm geschlossen hatten.

Coll wartete, bis Murillio das nächste Mal auftauchte. »Er kann seine Schwerter nicht loslassen.«

Murillio blieb stehen, warf Coll einen Blick zu. »Und?«

»Nun«, brummte Coll, »es könnte schon sein, dass er drei Glockenschläge braucht, um ein Bett vorzubereiten.«

Sein Freund blickte ihn misstrauisch an. »Sollte das witzig sein?«

»Eigentlich nicht. Ich habe einfach nur praktisch gedacht. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie unbeholfen man ist, wenn man irgendetwas tun will, solange man noch zwei Schwerter in den Händen hat. Das ist alles.«

Murillio öffnete den Mund, um etwas zu sagen – dann änderte er leise fluchend seine Meinung, drehte sich um und begann wieder, auf und ab zu gehen.

Sie hatten die Mhybe vor fünf Tagen in den Tempel getragen, hatten sie in einem Raum untergebracht, der einst einem ranghohen Priester gehört hatte. Sie hatten den Wagen entladen und ihre Lebensmittel und ihr Wasser in den Keller gepackt, inmitten der Scherben von Hunderten von zerschmetterten Krügen; die Wände und der Fußboden waren klebrig vom Wein, und die Luft war dumpf, widerlich und stank wie die Schürze eines Schenkenwirts.

Alles hatte seither irgendwie nach Wein geschmeckt und Coll an die knapp zwei Jahre erinnert, die er als Trinker vergeudet hatte, so tief in den dunklen Wassern des Elends versunken, wie es nur ein Mann sein kann, der in sein Selbstmitleid verliebt ist. Er hätte den Mann, der er damals gewesen war, jetzt gerne als Fremden bezeichnet, doch die Welt hatte die Angewohnheit, sich irgendwie unbemerkt umzudrehen, bis er sich schließlich dem, dem er den Rücken gekehrt zu haben glaubte, wieder gegenübersah. Was noch schlimmer war, Innenschau war – zumindest für ihn – wie ein Trichter im Sand, an dessen Grund eine Spinne wartete. Und Coll wusste nur zu gut, dass er sehr wohl fähig war, sich selbst zu verzehren.

Murillio kam wieder in sein Blickfeld.

»Die Ameise hat blind getanzt«, sagte Coll.

»Was?«

»Das alte Kindermärchen – erinnerst du dich daran?«

»Du hast den Verstand verloren, stimmt’s?«

»Noch nicht. Zumindest glaube ich es nicht.«

»Aber das ist es doch gerade. Du würdest es doch gar nicht wissen, oder?«

Er sah zu, wie Murillio sich abermals umdrehte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Die Welt dreht sich ungesehen um uns. Die Blinden tanzen im Kreis. Man kann dem, was man ist, nicht entfliehen, und alle Träume glitzern des Nachts weiß, jedoch grau im Licht des Tages. Und beide sind gleichermaßen tödlich. Wer war noch mal der verdammte Dichter? Der Rachsüchtige. Ein Waise, hat er behauptet. Hat tausend Geschichten geschrieben, mit denen man Kinder erschrecken konnte. Wurde von einem Mob in Darujhistan gesteinigt, was er überlebt hat. Ich glaube – das war vor vielen Jahren. Seine Geschichten leben jetzt auf den Straßen. Als Singsang, der die Spiele der Kinder begleitet.

Verdammt unheimlich, wenn ihr mich fragt.

Er schüttelte sich, versuchte, den Kopf klarzukriegen, bevor er in eine andere Fallgrube der Erinnerung stolperte. Bevor sie ihm sein Anwesen gestohlen, bevor sie ihn vernichtet hatte, hatte Simtal ihm erzählt, sie trüge sein Kind unter dem Herzen. Er fragte sich, ob es dieses Kind jemals gegeben hatte – Simtal kämpfte mit Lügen, wo andere Messer gebrauchten. Es war nie eine Geburt verkündet worden. Obwohl es natürlich durchaus möglich war, dass er eine solche Verkündung gar nicht mitbekommen hätte, in den Tagen, die seinem Fall gefolgt waren. Aber seine Freunde hätten es gewusst. Hätten es ihm gesagt, wenn nicht damals, dann jetzt …

Murillio kam wieder in sein Blickfeld.

»Einen Augenblick«, grollte Coll.

»Was ist jetzt? Liegt der Käfer auf dem Rücken? Umkreist der Wurm das Loch?«

»Eine Frage, Murillio.«

»In Ordnung, wenn du darauf bestehst.«

»Hast du jemals etwas davon gehört, dass Simtal ein Kind geboren hat?«

Er sah, wie das Gesicht seines Freundes sich verschloss, seine Augen schmal wurden. »Das ist eine Frage, die nicht in diesem Tempel gestellt werden sollte, Coll.«

»Ich stelle sie aber trotzdem.«

»Ich glaube nicht, dass du dafür bereit bist – «

»Das hast du nicht zu beurteilen, und du solltest es eigentlich besser wissen, Murillio. Verdammt, ich habe monatelang in der Ratsversammlung gesessen! Und ich soll immer noch nicht bereit sein? Was für eine absurde Idee – «

»Schon gut, schon gut! Es ist nur so: Es gibt nur Gerüchte.«

»Lüg mich nicht an.«

»Ich lüge nicht. Es gab eine Zeitspanne von mehreren Monaten – gleich nach deinem … äh … Untertauchen –, in der sie sich nicht in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Es wurde immer damit erklärt, dass sie trauert, aber jeder hat gewusst – «

»Ja, ich weiß, was jeder gewusst hat. Also hat sie sich ein Zeit lang nirgends blicken lassen. Weiter.«

»Nun, wir haben geglaubt, sie wäre damit beschäftigt, ihre Position zu festigen. Hinter den Kulissen. Rallick hat sie im Auge behalten. Zumindest glaube ich das. Er würde mehr wissen.«

»Und ihr beide habt euch niemals über Einzelheiten unterhalten – was sie vorhaben könnte, wie sie ausgesehen hat? Murillio – «

»Nun, was wusste Rallick schon von Mutterschaft?«

»Wenn sie schwanger sind, schwillt ihr Bauch an, und ihre Brüste werden größer. Ich bin mir sicher, dein Freund, der Assassine, hat ein oder zwei Frauen in einem solchen Zustand in den Straßen von Darujhistan gesehen – hat er da einfach nur gedacht, sie hätten Melonen in einem Stück gegessen?«

»Es besteht überhaupt kein Anlass, sarkastisch zu werden, Coll. Alles, was ich sage, ist, er war sich nicht sicher.«

»Und was ist mit den Dienern und Dienerinnen auf dem Anwesen? Irgendwelche Frauen, die gerade ein Kind geboren hatten?«

»Rallick hat niemals etwas erwähnt – «

»Du meine Güte, was für ein guter Beobachter, dieser Assassine!«

»Toll!«, schnappte Murillio. »Hier ist, was ich glaube: Sie hatte ein Kind. Sie hat es weggegeben. Irgendwohin. Sie hätte es nicht ausgesetzt, denn irgendwann würde sie es benutzen wollen, als nachweisbaren Erben, als Heiratsköder, als was weiß ich. Simtal war von niedriger Geburt; welche Kontakte sie auch immer aus ihrer Vergangenheit hatte, es waren private Kontakte – von allen fern gehalten, außer jenen, die damit direkt zu tun hatten – auch von dir, wie du wohl weißt. Ich nehme an, sie hat das Kind irgendwo dorthin geschickt, irgendwohin, wo niemand nach ihm suchen würde.«

»Es muss jetzt fast drei sein«, sagte Coll, während er sich langsam zurücklehnte und den Kopf gegen die Wand sinken ließ. Er schloss die Augen. »Fast drei Jahre alt …«

»Vielleicht. Aber damals gab es keine Möglichkeit, herauszufinden, wo – «

»Ihr hättet nur mein Blut gebraucht. Dann hätte Baruk – «

»Richtig«, schnappte Murillio. »Wir hätten einfach hingehen und dir ein bisschen Blut abzapfen müssen, wenn du gerade mal wieder sinnlos betrunken warst.«

»Warum nicht?«

»Weil das damals nicht allzu viel Sinn gehabt hätte, du Ochse!«

»In Ordnung. Aber ich habe mich jetzt schon seit einigen Monaten zusammengerissen, Murillio.«

»Dann tu es, Coll. Geh zu Baruk.«

»Das mache ich auch. Jetzt, wo ich es weiß.«

»Hör zu, mein Freund. Mir sind im Laufe meines Lebens schon etliche Trinker begegnet. Du schaust dir deine vier, fünf Monate an, in denen du trocken warst, und du glaubst, das ist die Ewigkeit. Aber ich, ich sehe immer noch einen Mann, der versucht, sich die Kotze von den Kleidern zu wischen. Einen Mann, den es immer noch sofort wieder umhauen könnte. Ich hätte dich nicht gedrängt – es ist zu früh – «

»Ich verstehe. Ich verfluche deine Entscheidung nicht, Murillio. Du hattest Recht, vorsichtig zu sein. Aber was ich sehen kann – was ich jetzt sehen kann –, das ist ein Grund. Das ist endlich ein richtiger Grund, mich zusammenzureißen.«

»Coll, ich hoffe, du denkst jetzt nicht, du könntest einfach in den Haushalt marschieren, in dem dein Kind aufgezogen wird – egal, wo es ist, oder was es ist –, und es dort wegholen – «

»Warum nicht? Schließlich ist es mein Kind.«

»Ach ja, und auf deinem Kaminsims ist schon ein Platz dafür bereit, ja?«

»Glaubst du etwa, ich kann kein Kind großziehen?«

»Ich weiß, dass du es nicht kannst, Coll. Aber wenn du das Ganze richtig angehen willst, dann kannst du dafür bezahlen und dadurch dafür sorgen, dass es vernünftig aufgezogen wird, dass ihm Möglichkeiten offen stehen, die es sonst nicht hätte.«

»Ein verborgener Wohltäter. Hah. Das wäre … großmütig.«

»Sei ehrlich, Coll: Es wäre praktisch. Nicht großmütig, nicht heldenhaft.«

»Und du nennst dich meinen Freund.«

»Ja, das tue ich.«

Coll seufzte. »Das solltest du auch, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich getan habe, um eine solche Freundschaft zu verdienen.«

»Da ich dich nicht noch mehr deprimieren will, werden wir uns über diese Frage ein andermal unterhalten.«

Die mächtigen Steintüren der Grabkammer schwangen auf.

Ächzend erhob Coll sich von der Steinbank.

Der Ritter des Todes trat auf den Korridor hinaus und baute sich direkt vor Murillio auf. »Bringt die Frau«, sagte er. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen.«

Coll trat an den Eingang und blickte hinein. In der Mitte des Zimmers war ein großes Loch in den massiven Steinfußboden geschlagen worden. Zerschmetterte Steine türmten sich an einer Wand zu einem hohen Haufen. Den Daru überlief plötzlich ein kalter Schauer; er schob sich an dem Ritter des Todes vorbei. »Beim Atem des Vermummten!«, rief er. »Das ist ein verdammter Sarkophag!«

»Was?«, rief Murillio und eilte an Colls Seite. Er starrte die Grube an, dann wirbelte er zu dem Ritter herum. »Die Mhybe ist noch nicht tot, du verdammter Narr!«

Die leblosen Augen des Kriegers hefteten sich auf Colls Freund. »Die Vorbereitungen«, wiederholte er, »sind abgeschlossen.«

 

Knöcheltief im Staub stolperte sie durch das Ödland. Die Tundra war verschwunden und mit ihr die Jäger, die dämonischen Verfolger, die ihr so lange unwillkommene Gesellschaft geleistet hatten. Die Verwüstung, die sie nun umgab, war noch weitaus schlimmer, wie ihr allmählich klar wurde. Kein Gras unter ihren Füßen, kein süßer, kühler Wind. Das Summen der Schwarzfliegen war verstummt, jener leidenschaftlichen Gefährten, die so gierig darauf versessen gewesen waren, sich von ihrem Fleisch zu nähren – obwohl ihre Haut noch immer kribbelte, als hätten ein paar davon die Verwüstung überlebt.

Und sie wurde schwächer, ihre jugendlichen Muskeln ließen sie auf undefinierbare Weise im Stich. Es war nicht einfach nur Müdigkeit, eher eine Art chronischer Auflösung. Sie verlor ihre Stofflichkeit, und diese Erkenntnis war die schrecklichste von allen.

Der Himmel über ihr war farblos, ohne Wolken oder Sonne, aber dennoch von einer unsichtbaren Lichtquelle schwach erleuchtet. Er schien unglaublich weit entfernt – zu lange nach oben zu starren hieß Wahnsinn riskieren, wenn der Verstand angesichts seiner Unfähigkeit zu verstehen, was die Augen sahen, zu toben begann.

Darum blickte sie starr geradeaus, als sie weitertaumelte. Es gab nichts, was den Horizont in irgendeiner Richtung unterbrochen hätte. Nach allem, was sie wusste, war es auch sehr gut möglich, dass sie im Kreis lief, doch wenn dem so war, musste es ein großer Kreis sein, denn bisher war sie noch nicht wieder auf ihre eigenen Spuren gestoßen. Sie hatte kein Ziel im Sinn für diese Reise des Geistes, genauso wenig wie den Willen, sich in dieser tödlichen Traumlandschaft eins zu setzen, hätte sie gewusst, wie.

Ihre Lungen schmerzten, als versagten auch sie ihr den Dienst. In nicht allzu langer Zeit, so glaubte sie, würde sie beginnen, sich aufzulösen, würde dieser junge Körper auf eine Art und Weise besiegt werden, die genau das Gegenteil von dem war, was sie so lange gefürchtet hatte. Sie würde nicht von Wölfen in Stücke gerissen werden. Die Wölfe waren fort. Nein, sie wusste jetzt, dass nichts so gewesen war, wie es den Anschein gehabt hatte – es war alles etwas anderes gewesen, etwas Geheimnisvolles, ein Rätsel, das sie noch lösen musste. Und nun war es zu spät. Die Vergessenheit war gekommen, um sie zu holen.

Der Abgrund, den sie in ihren Albträumen vor so langer Zeit gesehen hatte, war ein Ort des Chaos gewesen, wo mit rasender Gier an Seelen gefressen wurde, wo ansteckende Erinnerungen losgerissen und in Sturmwinde geschleudert wurden. Vielleicht waren diese Visionen letzten Endes nichts anderes gewesen als Erzeugnisse ihres eigenen Verstandes. Der wahre Abgrund war das, was sie nun sah, auf allen Seiten, in jeder Richtung -

Etwas unterbrach die flache Linie des Horizonts, etwas Monströses, Hingeducktes, Tierisches, dort, zu ihrer Rechten. Eben war es noch nicht da gewesen.

Oder vielleicht doch. Vielleicht schrumpfte diese ganze Welt, und ihre wenigen, zitternden Schritte hatten enthüllt, was hinter der Krümmung des Horizonts verborgen gewesen war.

Sie stöhnte in plötzlichem Entsetzen auf, während ihre Schritte schon die Richtung änderten, sie näher an die Erscheinung herantrugen.

Sie wurde mit jedem Schritt, den sie machte, sichtlich größer, schwoll auf entsetzliche Weise an, bis sie ein Drittel des Himmels bedeckte. Rosa gestreift, rohe Knochen, aufwärts ragend, ein Brustkorb, jede Rippe zerkerbt, schief zusammengewachsen und von Kalkablagerungen, porösen Knoten, Rissen, Knicken und Spalten überzogen. Zwischen den einzelnen Knochen spannte sich Haut, umschloss das, was im Innern liegen mochte. Adern zogen sich über die Haut, pulsierten wie rote Blitze, pochten vor ihren Augen stärker und schwächer.

Für das hier ging der Sturm des Lebens vorbei. Für das hier und genauso für sie.

»Bist du mein?«, fragte sie mit krächzender Stimme, als sie bis auf zwanzig Schritt an den gespenstischen Käfig herangetaumelt war. »Liegt mein Herz in deinem Innern? Wird es mit jedem Schlag langsamer? Bist du ich?«

Gefühle schlugen plötzlich über ihr zusammen – Gefühle, die nicht die ihren waren, sondern die von dem kamen, was auch immer sich im Innern des Käfigs befand. Angst. Überwältigende Schmerzen.

Sie wollte fliehen.

Doch es spürte sie. Es verlangte, dass sie blieb.

Dass sie näher kam.

Nahe genug, um einen Arm auszustrecken.

Es zu berühren.

Die Mhybe schrie. Sie lag plötzlich auf den Knien in einer Staubwolke, die ihre Augen blind machte; ihr war, als würde sie auseinander gerissen – ihr Geist, all ihre Überlebensinstinkte bäumten sich ein letztes Mal auf. Um den Beschwörungen zu widerstehen. Um zu fliehen.

Doch sie konnte sich nicht bewegen.

Und dann griff die Macht nach ihr. Begann zu ziehen.

Und das Land unter ihr bewegte sich, neigte sich. Der Staub wurde glatter. Der Staub wurde wie Glas.

Sie kauerte auf Händen und Knien, blickte auf, mit tränenden Augen, vor denen alles tanzte.

Die Rippen waren keine Rippen mehr. Es waren Beine.

Und die Haut war auch keine Haut. Sie war zu einem Netz geworden.

Und sie rutschte.