Kapitel Zwei

 

In meinen Träumen begegne ich von Angesicht zu Angesicht unzähligen Spiegelbildern meiner selbst,

alle unbekannt und seltsam flüchtig.

Sie sprechen pausenlos

in einer Sprache, die nicht die meine ist,

und wandeln mit Gefährten,

denen ich nie begegnet bin, an Orten,

zu denen ich meine Schritte noch nie gelenkt habe.

 

In meinen Träumen durchwandere ich Welten,

wo Wälder sich um meine Knie drängen

und die Hälfte des Himmels aus einer Mauer aus Eis besteht.

Schwärzlich braune Herden fließen wie Schlamm dahin,

gewaltige Ströme, hauerbewehrt und gehörnt,

brausen über die Ebene,

und siehe, sie sind meine Erinnerungen,

die Wanderungen meiner Seele.

 

In der Zeit vor der Nacht

D’arayans von den Rhivi

 

E

lster hob sich im Sattel, als sein Pferd über die schmale Kante eines Felsbrockens am Rande der ausgedehnten Hügelkuppe sprang. Hufe donnerten, als das Tier weitergaloppierte und das flache Tafelland durchquerte, dann wieder langsamer wurde, als der Malazaner die Zügel anzog und sich im Sattel zurücklehnte. In langsamerem Galopp näherte er sich der gegenüberliegenden Seite der Kuppe, hielt dann an ihrem Rand an.

Ein unebener Hang voller Felsbrocken führte hinab in ein breites, trockenes Flussbett. An seinem Fuß saßen zwei Kundschafter der Zweiten Armee mit dem Rücken zu Elster auf ihren Pferden. Vor ihnen bewegten sich ein Dutzend Rhivi zu Fuß durch etwas, das wie ein mit Knochen übersätes Feld aussah.

Mit sehr großen Knochen übersät.

Elster schnalzte mit der Zunge und setzte sein Pferd wieder in Bewegung, lenkte es langsam den alten Erdrutsch hinab. Dabei ließ er die Knochen nicht aus den Augen. Gewaltige eiserne Klingen glitzerten zwischen ihnen, ebenso wie zerdrückte, merkwürdig geformte Rüstungen und Helme.

Er sah lange, reptilienartige Kiefer, Reihen zackiger Zähne. An einigen zerschmetterten Skeletten hingen noch ein paar Reste grauer Haut.

Elster ließ die Geröllhalde hinter sich und ritt zu dem nächsten Kundschafter hinüber.

Der Mann salutierte. »Kommandant. Die Rhivi quasseln pausenlos – ich krieg nicht so richtig mit, wovon sie eigentlich reden. Sieht aus, als wären hier zehn von diesen Dämonen gewesen. Was immer über sie hergefallen ist, muss ziemlich übel gewesen sein. Vielleicht haben die Rhivi mehr herausgefunden; schließlich krabbeln sie zwischen den Leichen herum.«

Mit einem Nicken stieg Elster ab. »Haltet die Augen offen«, sagte er, obwohl er wusste, dass die Kundschafter genau das taten, doch er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Von dem Kampfplatz ging etwas Grauenvolles aus, alt und doch neu, und außerdem – was noch erschreckender war – hing diese eigentümliche Spannung in der Luft, die immer direkt einer Schlacht folgte. Dicke Stille:, die herumwirbelt, als hätte sie sich trotz all der Laute der Gewalt noch nicht setzen können, als zittere sie irgendwie immer noch, erschauere immer noch …

Er näherte sich den Rhivi und den verstreuten Knochen.

Die Kundschafter der Stammeskrieger waren tatsächlich am Quasseln.

»Tote Wölfe …«

»Doppelte Spuren, die Eindrücke schwer und doch leicht, breiter als meine Hand. Groß.«

»Große tote Wölfe.«

»Kein Blut, oder? Der Geruch nach Hügelgräbern.«

»Schwarzer Steinstaub. Scharf.«

»Es glitzert unter den Unterarmen – die Haut …«

»Stücke aus schwarzem Glas.«

»Obsidian. Tief im Süden …«

»Südwesten. Oder ganz im Norden, jenseits des Laederon-Plateaus.«

»Nein, ich kann kein braunes oder rotes sehen. Der Obsidian vom Laederon hat Adern in der Farbe des Waldes. Der hier ist aus Morn.«

»Wenn er überhaupt von dieser Welt – «

»Die Dämonen sind hier, oder? Sie sind von dieser Welt. In dieser Welt.«

»Der Geruch nach Hügelgräbern.«

»Aber in der Luft liegt der Geruch von Eis, von Tundra-Winden, von gefrorenem Torf.«

»Der Nachhall der Wölfe, der Mörder – «

»Rhivi-Kundschafter, bitte zu mir«, rief Elster mit grollender Stimme.

Köpfe zuckten hoch, ruckten herum. Stille.

»Ich würde jetzt gerne euren Bericht hören. Wer von euch hat den Befehl über diese Gruppe?«

Blicke wurden gewechselt, dann zuckte einer der Rhivi die Schultern. »Ich kann dieses Daru sprechen, das Ihr benutzt. Besser als die anderen. Also solltet Ihr mich fragen.«

»Sehr schön. Erzähl.«

Der junge Rhivi warf die zu Zöpfen geflochtenen, dick mit Fett eingeschmierten Haare zurück und deutete mit einer weit ausholenden Geste auf die Knochen, die rings um ihn verstreut waren. »Untote Dämonen. In Rüstungen. Mit Schwertern statt mit Händen. Sind aus Südosten gekommen, mehr aus Osten als aus Süden.« Er runzelte übertrieben die Stirn. »Beschädigt. Verwundet. Gejagt. Auf der Flucht. Wie Bhederin hierhin und dorthin getrieben, von schweigenden, vierbeinigen geduldigen Verfolgern – «

»Großen untoten Wölfen«, unterbrach ihn Elster.

»Doppelt so groß wie die Wölfe, die in dieser Ebene zu Hause sind, ja.« Dann erhellte sich seine Miene, als habe er eine Offenbarung erlebt. »Sie sind wie die Geisterläufer unserer Legenden. Wenn die ältesten Schultermänner oder Schulterfrauen die Träume träumen, die sie am weitesten wegführen, können sie die Wölfe sehen. Immer weit weg, immer rennend, alle geisterhaft außer dem Anführer, der aussieht, als wäre er aus Fleisch und Blut, und der lebendige Augen hat. Sie zu sehen ist ein großes Glück, ist frohe Kunde, denn in ihrem Dahinrennen liegt Freude.«

»Nur dass sie jetzt nicht mehr nur in den Träumen eurer Hexer und Hexen rennen«, sagte Elster. »Und dieser Lauf hier war weitaus tödlicher.«

»Sie haben gejagt. Ich habe gesagt, diese Wölfe sind so ähnlich wie die in den Träumen. Ich habe nicht gesagt, dass es die aus den Träumen waren.« Sein Gesicht wurde ausdruckslos, seine Augen die eines kaltblütigen Mörders. »Sie jagen. Treiben ihre Beute vor sich her, hierher, in diese Falle. Dann haben sie sie vernichtet. Ein Kampf der Untoten. Die Dämonen stammen aus Hügelgräbern weit im Süden. Die Wölfe sind aus dem Staub in den Nordwinden des Winters.«

»Ich danke dir«, sagte Elster. Dank der Art und Weise, wie die Rhivi erzählten, hatte er nun eine gute Vorstellung von den Ereignissen, die in diesem Tal stattgefunden hatten.

Mehr Reiter näherten sich vom Hauptteil der Marschkolonne, und er drehte sich um und blickte ihnen entgegen.

Sie waren zu dritt. Korlat, Silberfuchs und Kruppe, der Daru, wobei Letzterer auf seinem Maultier auf und ab hüpfte und hin und her schwankte, während es mit steifer, kurzbeiniger Dringlichkeit hinter den beiden Frauen auf ihren Pferden herjagte. Seine Schreckensschreie hallten durch das Tal.

»Ja.«

Der Kommandant drehte sich um und sah aus zusammengekniffenen Augen den Anführer der Rhivi-Kundschafter an, der gemeinsam mit seinen Kameraden die drei näher kommenden Reiter musterte. »Bitte?«

Der Rhivi zuckte mit ausdruckslosem Gesicht die Schultern, sagte jedoch nichts.

Die überall herumliegenden Felsbrocken hatten die Neuankömmlinge gezwungen, langsamer zu reiten, außer Kruppe, der in seinem Sattel vor und zurück geworfen wurde, als das Maultier Hals über Kopf den Abhang herunterraste. Irgendwie schaffte das Tier es, weder zu stolpern noch auszurutschen und an einer überraschten Korlat und einer lachenden Silberfuchs vorbeizustürzen; als es im Talgrund angekommen war, wurde es langsamer und trottete dorthin, wo Elster wartete, den Kopf stolz in die Höhe gereckt, die Ohren aufgestellt und den Blick nach vorn gerichtet.

Kruppe dagegen umklammerte immer noch den Hals des Tieres; er hatte die Augen fest zugekniffen, sein Gesicht war knallrot, und er schwitzte furchtbar. »Welch Entsetzen!«, stöhnte er. »In diesem Kampf der Willen hat Kruppe in diesem hirnlosen, verblendeten Biest seinen Meister gefunden! Oh ja, er ist besiegt. Oh, verschone mich …«

Das Maultier blieb stehen.

»Ihr könnt jetzt absteigen«, sagte Elster.

Kruppe öffnete die Augen, schaute sich um und setzte sich dann langsam aufrecht hin. Mit zitternder Hand zog er ein Taschentuch hervor. »Natürlich. Nachdem Kruppe der Kreatur freie Hand gelassen hat, übernimmt er nun wieder die Herrschaft über seinen eigenen Kopf.« Er hielt einen Augenblick inne, um sich Stirn und Gesicht abzutupfen, und wand sich dann aus dem Sattel und ließ sich mit einem lauten Seufzer auf den Boden sinken. »Ah, hier kommen Kruppes träge Staubfresser. Ich bin hoch erfreut, dass Ihr es geschafft habt, meine Damen! Ist es nicht ein wunderschöner Nachmittag für ein kleines Rennen?«

Silberfuchs hatte aufgehört zu lachen; die Blicke ihrer verschleierten Augen waren nun auf die verstreuten Knochen gerichtet. Der Vermummte soll mich holen, dieser Pelzumhang steht ihr wirklich ausgezeichnet. Elster schüttelte sich innerlich. Er blickte auf und begegnete Korlats ruhigem, leicht ironischen Blick. Aber, oh, sie verblasst neben dieser Tiste Andii. Verdammt, alter Mann, hör auf, über die letzten Nächte nachzudenken. Klammere dich nicht so fest an dieses Wunder, dass du das Leben aus ihm herausdrückst.

»Die Kundschafter«, sagte er zu den beiden Frauen, »sind auf einen Kampfplatz gestoßen.«

»K’Chain Che’Malle«, nickte Korlat, während sie die Knochen betrachtete. »K’ell-Jäger, glücklicherweise untot und nicht aus lebendigem Fleisch. Wahrscheinlich nicht so schnell, wie sie sonst gewesen wären. Trotzdem, auf diese Weise in Stücke gerissen zu werden–«

»T’lan Ay«, sagte Silberfuchs. »Ihretwegen bin ich gekommen.«

Elster musterte sie genauer. »Wie meinst du das?«

Sie zuckte die Schultern. »Um sie mit eigenen Augen zu sehen, Kommandant. Wir kommen näher. Ihr Eurer belagerten Stadt, ich dem Schicksal, für das ich geboren bin. Konvergenz, die Geißel dieser Welt. Doch auch wenn dem so ist«, fuhr sie fort, während sie sich aus dem Sattel schwang und zwischen den Knochen herumging, »gibt es Geschenke. Und das teuerste dieser Geschenke … sind die T’lan Ay.« Sie schwieg einen Augenblick, während der Wind schmeichelnd das Fuchsfell auf ihren Schultern liebkoste, flüsterte den Namen dann noch einmal. »T’lan Ay«

»Kruppe erschauert, wenn sie sie so nennt … ach … die Götter mögen diese grimmige Schönheit in ihrem Ödland-Tableau segnen, von dem aus strahlende Träume, abgeschwächt von der Zeit, wie Regenbogenflüsse am Himmel sind!« Er machte eine Pause, blinzelte den anderen zu. »Süßer Schlaf, in dem verborgene Poesie haust – das Dahinfließen des Unverbundenen, so glatt, als wäre es miteinander verflochten. Ja?«

»Leider«, sagte Elster mit grollender Stimme, »bin ich nicht der Richtige, um Eure Abstraktionen zu schätzen, Kruppe.«

»Natürlich, schlichter Soldat, ganz wie Ihr sagt! Aber halt, kann Kruppe da in Eurem Auge eine gewisse … Spannung entdecken? Die Luft knistert angesichts einer drohenden Gefahr – wollt Ihr etwa leugnen, dass Ihr das spürt, Malazaner? Nein, sagt nichts, die Wahrheit ist in Eurem harten Blick ebenso zu erkennen wie daran, wie sich Eure gepanzerte Faust näher an das Heft Eures Schwerts schiebt.«

Elster konnte nicht abstreiten, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Er sah sich um und entdeckte die gleiche Wachsamkeit bei den Rhivi und den beiden malazanischen Kundschaftern, die ununterbrochen die Hügelketten auf allen Seiten musterten.

»Was kommt?«, flüsterte Korlat.

»Das Geschenk«, murmelte Kruppe mit einem glückseligen Lächeln, während sein Blick auf Silberfuchs ruhte.

Elster folgte dem Blick des Daru.

Und sah die Frau, die ihn so sehr an Flickenseel erinnerte. Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt und die Arme hoch erhoben.

Staub begann durch die Luft zu treiben, erhob sich in wirbelnden Schwaden zu allen Seiten.

Die T’lan Ay nahmen Gestalt an, im Talgrund, an den Hängen und auf den Kuppen der umgebenden Hügel.

Zu Tausenden …

Grauer Staub wurde zu grauem, stumpfem Fell, schwarzen Schultern, Schnauzen von der Farbe von Regenwolken, buschigen Schwänzen mit silbernen und schwarzen Spitzen, während andere braun waren, die Farbe verrotteten, zu Staub zerfallenen Waldes, an der Kehle und am Bauch lohfarben verblasst. Wölfe, groß, mager, mit Augen wie schattige Abgründe. Große, lange Köpfe wandten sich alle gleichzeitig Silberfuchs zu.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Augen unter den schweren Lidern richteten sich auf Elster. Sie lächelte. »Meine Eskorte.«

Der Kommandant starrte sie sprachlos an. Sie ist Flickenseel so ähnlich. Und doch auch wieder nicht. Eskorte sagt sie, aber ich sehe da mehr – und ihr Blick sagt mir, dass sie sich dessen bewusst ist … so sehr bewusst ist.

Ihre Eskorte … und ihre Leibwache. Silberfuchs braucht uns von nun an möglicherweise nicht mehr. Und jetzt, da sie nicht mehr auf unseren Schutz angewiesen ist, steht es ihr frei, zu tunwas auch immer sie will …

Ein kalter Wind schien durch Elsters Gedanken zu streichen. Ihr Götter, was ist, wenn Kallor Recht gehabt hat? Was, wenn wir alle unsere einzige Gelegenheit verpasst haben? Mit einem leisen Brummen schüttelte er diese unwürdigen Gedanken ab. Nein, wir haben ihr gezeigt, dass wir ihr vertrauen, als es darauf angekommen ist – als sie am schwächsten war. Flickenseel würde so etwas niemals vergessen …

Sie ist ihr so ähnlich … und doch auch wieder nicht. Und was ist mit Nachtfrost, die durch Verrat zerstückelt wurde? Hassen die Überreste ihrer Seele Tayschrenn? Oder hassen sie das malazanische Imperium und alle seine Söhne und Töchter? Oder denjenigen, den zu bekämpfen sie gerufen worden war: Anomander Rake – und, etwas weiter gefasst, Caladan Bruth? Die Rhivi, die Barghast – will sie sich an ihnen rächen?

Kruppe räusperte sich. »Und was für eine liebliche Eskorte sie sind, mein teures Kind. Sie werden deine Feinde ängstigen und deine loyalen Freunde beruhigen. Wir sind entzückt, denn wir können sehen, dass auch du überaus entzückt bist von diesen stummen, reglosen T’lan Ay. Was für wohlerzogene Hündchen … Kruppe ist so beeindruckt, dass ihm nichts einfällt – keine Worte, keine Gesten, ach, absolut nichts, was einer angemessenen Antwort gleichkäme!«

»Schön wär’s«, murmelte Korlat. Sie sah Elster an, ihre Miene verschlossen und nüchtern. »Kommandant, ich gehe jetzt und erstatte unseren Anführern Bericht–«

»Korlat«, wurde sie von Silberfuchs unterbrochen, »verzeih mir, dass ich dich nicht eher gefragt habe, aber wann hast du das letzte Mal nach meiner Mutter gesehen?«

»Heute Morgen«, antwortete die Tiste Andii. »Sie kann nicht mehr gehen, und dieser Zustand hält seit fast einer Woche an. Sie wird von Tag zu Tag schwächer, Silberfuchs. Wenn du vielleicht mitkommen und sie besuchen würdest …«

»Das ist nicht nötig«, wehrte die Frau im Pelzumhang ab. »Wer kümmert sich im Augenblick um sie?«

»Ratsherr Coll und Murillio, der Daru.«

»Kruppes loyalste Freunde, wie Kruppe euch allen versichert. Bei ihnen ist sie sicher.«

»Die Umstände«, sagte Silberfuchs, und ihr Gesicht wirkte angespannt, »werden schon bald … problematisch werden.«

Und was waren sie bis jetzt, Mädchen? Kallor jagt wie ein Geier deinem Schatten nach – ich bin überrascht, dass er sich gerade jetzt nicht an dich gehängt hat … aber vielleicht hockt er ja hinter der nächsten Hügelkuppe …

»Möchtest du etwas von mir, Silberfuchs?«, fragte Korlat.

Sie riss sich sichtlich zusammen. »Ja, ein paar von deinen Verwandten, um meine Mutter zu beschützen.«

Die Tiste Andii runzelte die Stirn. »Angesichts einer solchen Menge von neuen Beschützern müsstest du doch eigentlich ein paar übrig haben – «

»Ich fürchte, sie würde sie nicht in ihre Nähe lassen. Sie hat … Albträume. Es tut mir Leid, aber ich muss dafür sorgen, dass meine T’lan Ay außerhalb ihrer Sichtweite oder ihrer sonstigen Sinne bleiben. Sie mag zerbrechlich aussehen und machtlos erscheinen, aber in ihr ist etwas, das in der Lage wäre, die T’lan Ay zu vertreiben. Wirst du tun, worum ich dich bitte?«

»Natürlich, Silberfuchs.«

Die Frau im Pelzumhang nickte und wandte ihre Aufmerksamkeit einmal mehr Elster zu, während Korlat ihr Reittier wendete und den Hang wieder hinaufritt. Sie musterte ihn einen Augenblick lang schweigend, blickte dann Kruppe an. »Nun, Daru? Bist du so weit zufrieden?«

»Das bin ich, Teuerste.« Das klang so gar nicht nach Kruppe, war leise und wohlüberlegt.

Zufrieden. Womit zufrieden?

»Was glaubst du – wird sie durchhalten?«

Kruppe zuckte die Schultern. »Wir werden sehen, oder? Kruppe hat Vertrauen.«

»Genug für uns beide?«

Der Daru lächelte. »Aber natürlich.«

Silberfuchs seufzte. »Sehr gut. Ich stütze mich in dieser Angelegenheit voll und ganz auf dich, wie du weißt.«

»Kruppes Beine sind wie steinerne Säulen. Deine Berührung ist so leicht, dass sie fast schon unbemerkt für dieses würdige Selbst bleibt. Meine Liebe, das Geräusch weiterer Reiter macht eine Entscheidung notwendig – was willst du jene, die sich jetzt nähern, sehen lassen?«

»Nichts Widriges«, erwiderte die Frau. Sie hob erneut die Arme.

Die T’lan Ay wurden wieder zu dem Staub, aus dem sie erstanden waren.

Mit einem leisen Knurren ging Elster zurück zu seinem Pferd. In den beiden Armeen gab es zu viele Geheimnisse, die das Versprechen explosiver Enthüllungen bargen. Und wahrscheinlich gewaltsame Enthüllungen. Er fühlte sich unbehaglich. Wenn wenigstens der Schnelle Ben hier wäre … Beim Vermummten, ich wüsste zu gerne, wie es bei ihm und Paran und den Brückenverbrennern gelaufen ist. Haben sie Erfolg gehabt? Oder sind sie schon längst alle tot? Vielleicht sind ihre Schädel ja alle auf Stangen rund um das Barghast-Lager aufgespießt?

Ein erheblicher Teil der Vorhut der Marschkolonne hatte mittlerweile diese Seite der Hügelkuppe erreicht, wo sie in einer ungleichmäßigen Linie Halt machten.

Elster schwang sich in den Sattel und machte sich auf den Weg zu den Neuankömmlingen.

Kallor hatte sein mageres graues Pferd bewusst in deutlichem Abstand zu den anderen gezügelt. Sein verblichener grauer Umhang spannte sich eng um seine breiten Schultern. Schatten vertieften die Linien in seinem uralten, verwitterten Gesicht. Ein paar lange, graue Haarsträhnen wehten im Wind.

Elster musterte ihn etwas länger, versuchte ihn einzuschätzen, bevor er seinen Blick zu den anderen weiterwandern ließ, die dort oben am Rand der Hügelkuppe warteten. Bruth und Dujek standen Seite an Seite. Zur Rechten des Kriegsherrn befand sich Hurlochel, der Vorreiter; zur Linken des Malazaners der Standartenträger Artanthos. Haradas, die Händlerin und Magierin der Trygalle-Handelsgilde, war ebenfalls dabei – und natürlich Korlat.

Niemand sprach, als Elsters Pferd die Kuppe erreichte. Dann nickte Dujek und grollte: »Korlat hat uns beschrieben, was die Kundschafter gefunden haben. Hast du noch etwas hinzuzufügen?«

Elster warf der Tiste Andii einen Blick zu, doch ihr Gesicht verriet nichts. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Hohefaust. Korlat und ihre Verwandten scheinen mehr über diese K’Chain Che’Malle zu wissen als wir übrigen – da unten liegt ein Haufen zerschmetterter Knochen sowie ein paar Waffen und Rüstungen. Ich hätte niemals sagen können, von wem sie stammen. Die Rhivi-Kundschafter glauben, sie waren untot – «

»Zum Glück für uns«, murmelte Kallor. »Was diese Kreaturen angeht, bin ich nicht so unwissend wie der Rest von Euch – mit Ausnahme von Korlat. Darüber hinaus fühle ich mich heute ungewöhnlich … redselig. Also. Überreste der Zivilisation der K’Chain Che’Malle können im Prinzip auf allen Kontinenten dieser Welt gefunden werden. Tatsächlich gab es in Jacuruku, wo mein altes Reich war, Gruben und Höhlen in der Erde, die voll von ihren merkwürdigen mechanischen Geräten waren. Wann immer meine Leute in der Erde gegraben haben, haben sie solche Konstrukte entdeckt. Außerdem haben wir auch Grabkammern gefunden, deren Inhalt von unseren Gelehrten überaus sorgfältig untersucht wurde. Wollt Ihr eine Zusammenfassung ihrer Schlüsse hören, oder langweile ich Euch?«

»Fahrt fort«, sagte Caladan Bruth schleppend.

»Nun denn. Vielleicht ist hier ja doch mehr Weisheit vorhanden, als ich Euch ursprünglich zugetraut hätte. Die Biester scheinen Reptilien zu sein, und sie sind anscheinend in der Lage, aus ihrer eigenen Art Sonderformen mit speziellen Fähigkeiten zu züchten. So wurden zum Beispiel diejenigen, die die Tiste Andii K’ell-Jäger genannt haben, als Krieger geboren. Untote Versionen davon sind in dem Tal da unten, ja? Sie hatten keine Hände, sondern stattdessen Schwerter, die irgendwie direkt mit den Knochen ihrer Unterarme verschmolzen wurden. Die K’Chain Che’Malle waren matriarchalisch und matrilinear. So wie ein Bienenvolk seine Königin hat, hatten auch sie ihre Königin. Sie war die Urmutter, von der alle anderen geboren wurden. Und diese Matrone verfügte über die magische Macht ihrer ganzen Familie. Eine Macht, die die Götter von heute wie Zwerge erscheinen lässt. Eine Macht, die die Älteren Götter davon abgehalten hat, diese Welt zu besuchen, und wenn die K’Chain Che’Malle sich nicht selbst vernichtet hätten, würden sie auch heute noch unangefochten herrschen.«

»Wenn sie sich nicht selbst vernichtet hätten«, wiederholte Korlat und musterte Kallor mit einem scharfen Blick. »Ein interessanter Ansatz. Kannst du das ein bisschen näher erklären?«

»Aber natürlich. Aus den Berichten, die wir gefunden haben … zuerst musste die Sprache entziffert werden, wobei diese Anstrengung allein schon einen längeren Monolog wert wäre, aber da ich sehe, wie Ihr alle unruhig wie ungeduldige Kinder in Euren Sätteln herumrutscht, spare ich mir eine genauere Schilderung. Aus den Berichten also, die wir gefunden haben, geht hervor, dass die Matronen, von denen jede über etwas geherrscht hat, was in etwa einer modernen Stadt entspricht, sich versammelt hatten, um ihre unterschiedlichen Bestrebungen zu vereinen. Was sie über die gewaltige Macht hinaus gesucht haben, die sie bereits hatten, ist nicht ganz klar. Doch andererseits – warum sollte man Gründe brauchen, wenn es um so etwas wie Ehrgeiz geht? Es genügt zu sagen, dass die Matronen eine alte Brut wieder … zum Leben erweckt haben, sie zurückgeholt haben, obwohl sie bereits ausgelöscht war. So etwas wie eine primitivere Version der K’Chain Che’Malle. Da ihnen kein besserer Name eingefallen ist, haben die Gelehrten meiner Zeit sie Kurzschwänze genannt.«

Elster, der den Blick auf Korlat gerichtet hatte, war der Einzige, der sah, wie sie sich bei diesem Wort versteifte. Hinter sich konnte er hören, wie Silberfuchs und Kruppe den Hang heraufkamen.

»Und zwar einzig und allein deshalb«, fuhr Kallor in seinem trockenen, monotonen Tonfall fort, »weil sie sich körperlich von den anderen K’Chain Che’Malle dahingehend unterschieden haben, dass sie kurze Stummelschwänze hatten – im Gegensatz zu den normalen, langen, spitz zulaufenden. Dadurch waren sie nicht ganz so schnell – sie gingen aufrechter, doch es muss zu der Welt oder Zivilisation gepasst haben, zu der sie ursprünglich gehört hatten. Leider waren diese neuen Kinder nicht so fügsam, wie es die Matronen von ihrer eigenen Brut gewohnt waren – genauer gesagt, die Kurzschwänze wollten ihre magischen Talente ihren Müttern weder einfach überlassen noch sie mit den ihren vermischen. Das Ergebnis war ein Bürgerkrieg, und die magischen Energien, die in diesem Zusammenhang entfesselt wurden, waren apokalyptisch. Um die Verzweiflung einschätzen zu können, die unter den Matronen geherrscht haben muss, braucht man auf diesem Kontinent nur nach Süden zu reisen, zu einem Ort namens Morn.«

»Der Riss«, murmelte Korlat und nickte.

Kallors Lächeln war kalt. »Sie haben versucht, sich die Macht eines Tores nutzbar zu machen. Aber nicht eines Tores in ein gewöhnliches Gewirr. Oh nein, sie haben sich entschlossen, das Portal zu öffnen, das in die Sphäre des Chaos führt. Welch eine Hybris, zu glauben, sie könnten ein solches Ding kontrollieren – könnten ihm eine Art von Ordnung auferlegen.« Er verstummte, als denke er über seine eigenen Worte nach, dann lachte er. »Oh, in dieser Geschichte sind ein, zwei bittere Lektionen enthalten, findet Ihr nicht auch?«

Caladan Bruth gab ein unwilliges Brummen von sich. »Kehren wir wieder in die Gegenwart zurück, ja? In dem Tal da unter uns sind untote K’ell-Jäger. Die Frage, die sich unweigerlich aufdrängt, ist doch die: Was tun sie da?«

»Sie werden benutzt.«

Alle Augen richteten sich auf Silberfuchs, die mit den Zügeln in den Händen vor ihrem Pferd stand.

»Mir gefällt nicht, was ich da höre; nein, das gefällt mir ganz und gar nicht«, grollte Dujek.

»Sie werden benutzt«, wiederholte Silberfuchs, »und zwar vom Pannionischen Seher.«

»Das ist unmöglich!«, schnappte Kallor. »Nur eine Matrone der K’Chain Che’Malle kann einen K’ell-Jäger kontrollieren – auch, wenn er untot ist.«

»Dann sieht es so aus«, sagte Korlat, »als hätten wir mehr als einen Feind.«

»Der Pannionische Seher hat eine Verbündete?« Dujek beugte sich im Sattel nach vorn und spuckte aus. »Dafür hat es bisher noch nicht den kleinsten Hinweis – «

»Nichtsdestotrotz liegt der Beweis vor uns – da unten, im Tal«, schnitt Silberfuchs ihm das Wort ab.

»Eine Matrone kann ohne den Samen eines lebenden Männchens keine Wesen ihrer Art gebären«, sagte Kallor. »Das heißt, jeder K’ell-Jäger, den wir vernichten, ist einer weniger, mit dem wir uns rumschlagen müssen.«

Bei diesen Worten drehte Bruth sich um und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Dagegen lässt sich nur schwer etwas einwenden.«

Kallor zuckte die Schultern.

»Aber das da unten sagt uns noch etwas«, fuhr der Kriegsherr fort. »In Anbetracht der Tatsache, dass die K’ell-Jäger vernichtet wurden, sieht es so aus, als würde uns jemand diese Aufgabe abnehmen.«

Stille. Dann konzentrierte sich die Aufmerksamkeit nach und nach auf Silberfuchs.

Sie lächelte. »Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt, dass ihr alle Hilfe brauchen würdet.«

Kallor stieß ein wütendes Knurren aus. »T’lan Imass! Dann sag uns doch, Hexe, warum sollten sie sich mit den K’Chain Che’Malle befassen? Sind denn nicht die Jaghut ihre erklärten Erzfeinde? Warum also deinen untoten Gefolgsleuten neue aufbürden? Warum seid ihr – du und die T’lan Imass – in diesen Krieg eingetreten, Weib?«

»Wir sind in gar nichts eingetreten«, antwortete sie, die Augen halb unter den schweren Lidern verborgen; sie stand genauso da, wie Flickenseel dagestanden hätte, mit ihrem kräftigen, aber kurvenreichen Körper unter der Tunika aus Hirschleder, die Hände vor dem Bauch verschränkt.

Oh, diesen Blick kenne ich. Jetzt gibt’s gleich ’nen Taschenspielertrick. Vorsichtig …

»Willst du dann also leugnen«, begann Bruth langsam, und sein Gesichtsausdruck war gleichermaßen düster und unsicher, »dass deine T’lan Imass für die Vernichtung dieser K’ell-Jäger verantwortlich waren?«

»Hat sich eigentlich keiner von euch jemals gefragt«, entgegnete Silberfuchs, während sie alle nacheinander ansah, »warum die T’lan Imass gegen die Jaghut Krieg geführt haben?«

»Nun, eine Erklärung würde uns vielleicht helfen, das alles etwas besser zu verstehen«, meinte Dujek.

Silberfuchs nickte kurz. »Als die ersten Imass aufgetaucht sind, waren sie gezwungen, im Schatten der Jaghut zu leben. Sie wurden toleriert, nicht weiter beachtet, aber nur in kleinen, leicht überschaubaren Gruppen. Wurden in die ärmsten Landstriche vertrieben. Dann haben sich unter den Jaghut Tyrannen erhoben, die Gefallen daran gefunden haben, sie zu versklaven, ihnen eine albtraumhafte Existenz aufzuzwingen – so dass nachfolgende Generationen in diese Situation hineingeboren wurden und kein anderes Leben kannten, so dass sie nichts von der Freiheit an sich wussten.

Die Lektion war hart, und sie wurde auch nicht leicht angenommen, denn die Wahrheit war die: Es gab intelligente Wesen auf der Welt, die die Tugenden anderer ausbeuteten – ihr Mitgefühl, ihre Liebe, ihren Glauben an ihre Art. Die sie ausbeuteten und sich darüber lustig machten. Wie viele Stämme der Imass mussten entdecken, dass ihre Götter in Wirklichkeit Jaghut-Tyrannen waren? Verborgen hinter freundlichen Masken. Tyrannen, die sie mit der Waffe des Glaubens manipulierten.

Eine Rebellion war unausweichlich, und sie war für die Imass verheerend. Sie waren schwächer, unsicher, was sie überhaupt suchten oder was die Freiheit sie sehen lassen würde, sollten sie sie finden … Aber wir haben nicht nachgegeben. Wir konnten nicht.«

Kallor lachte höhnisch. »Es hat unter den Jaghut nie mehr als eine Hand voll Tyrannen gegeben, Weib.«

»Eine Hand voll war schon zu viel, und, ja, wir haben unter den Jaghut Verbündete gefunden – solche, für die die Taten der Tyrannen verwerflich waren. Aber wir trugen jetzt Narben. Narben, die Misstrauen und Verrat uns geschlagen hatten. Wir konnten nur noch unserer eigenen Art trauen. Im Namen unserer zukünftigen Generationen würden alle Jaghut sterben müssen. Keiner durfte übrig bleiben, um neue Kinder in die Welt zu setzen und zuzulassen, dass eines dieser Kinder neue Tyrannen aufziehen würde.«

»Und was hat das mit den K’Chain Che’Malle zu tun?«, fragte Korlat.

»Bevor die Jaghut diese Welt beherrschten, haben die K’Chain Che’Malle diese Welt beherrscht. Die ersten Jaghut waren für die K’Chain Che’Malle wie die ersten Imass für die Jaghut.« Silberfuchs machte eine Pause, ihr düsterer Blick wanderte von einem zur anderen. »Jeder Spezies ist der Wunsch nach Vorherrschaft angeboren. Unsere Kriege mit den Jaghut haben uns als lebendige Menschen, als eine pulsierende, sich weiter entwickelnde Kultur zerstört. Das war der Preis, den wir bezahlt haben – für die Freiheit, die ihr jetzt besitzt. Unser ewiges Opfer.« Sie verstummte erneut für zwei, drei Herzschläge und fuhr dann in einem härteren Ton fort: »So, und jetzt frage ich euch – euch alle, die ihr es auf euch genommen habt, Krieg gegen ein tyrannisches, alles verschlingendes Reich zu führen, möglicherweise euer eigenes Leben zu opfern, und das alles für das Wohl von Menschen, die nichts von euch wissen, aus Ländern, auf die ihr noch nie einen Fuß gesetzt habt und auch niemals einen setzen werdet –, ich frage euch, was ist an uns, an den T’lan Imass, das ihr noch immer nicht begreifen könnt? Zerstört die Pannionische Domäne. Es muss getan werden. Auf mich, auf meine T’lan Imass wartet die Aufgabe, die Bedrohung zu vernichten, die sich hinter dem Pannionischen Seher versteckt, die Bedrohung durch die K’Chain Che’Malle.«

Sie betrachtete langsam ihre Gesichter. »Eine Matrone ist am Leben. Ist Fleisch und Blut. Sollte sie ein männliches Geschöpf ihrer Art finden, ein männliches Geschöpf aus Fleisch und Blut … die Tyrannei der Jaghut wird nichts gewesen sein im Vergleich zu der der K’Chain Che’Malle. Und das wird dann unser Opfer sein.«

Nur der Wind füllte die Stille, die auf ihre Worte folgte.

Dann wandte Caladan Bruth sich an Kallor. »Und du hältst diese Frau für eine Abscheulichkeit?«

»Sie lügt«, kam die krächzende Antwort. »Dieser ganze Krieg ist sinnlos. Er ist nichts weiter als ein Täuschungsmanöver.«

»Ein Täuschungsmanöver?«, wiederholte Dujek ungläubig. »Von wem?«

Kallor schloss den Mund, sagte nichts mehr.

Haradas, die Karawanenmeisterin der Trygalle-Handelsgilde, räusperte sich. »In diesen Worten könnte ein Körnchen Wahrheit liegen. Nicht dass die Frau namens Silberfuchs lügt – ich glaube, dass sie die Wahrheit sagt, soweit sie sie uns mitteilen will. Nein, ich meine das Täuschungsmanöver. Denkt an die Infektion der Gewirre. Zugegeben, der Herd scheint in der Pannionischen Domäne zu liegen, und auch zugegeben, dass das Gift sich anfühlt, als käme es aus dem Gewirr des Chaos. Aber selbst wenn man all das als gegeben annimmt, muss man doch fragen: Warum sollte eine Matrone der K’Chain Che’Malle, die das Gefäß für eine riesige Quelle von Magie ist, versuchen, die Leitungen zu zerstören, durch die ihre Macht fließt? Wenn sie zugegen war, als Morn zerstört wurde – als der Riss geschaffen wurde –, warum sollte sie dann noch einmal versuchen, sich das Chaos zunutze zu machen? Sie mag ehrgeizig sein, ja – aber eine Närrin? Das ist schwer zu glauben.«

Noch während die Bedeutung ihrer Worte einsickerte, wurde Elster etwas anderes klar. Es gibt tatsächlich einen anderen Feind, und wenn ich mir die Gesichter um mich herum ansehe – abgesehen von Dujeks und zweifellos auch meinem eigenen – dann ist diese Enthüllung nicht so überraschend, wie sie eigentlich sein sollte. Klar, wir haben einen Hinweis gehabt, aber wir haben es nicht geschafft, die Verbindung herzustellen. Bruth, Korlat, Kallor – oh, ihr Götter, sogar Kruppe und Artanthos! Verdammt, ich sollte daran denken, ihnen allen aus dem Weg zu gehen, wenn ich das nächste Mal beim Würfeln mitmachen will!

Er lenkte den Blick ruckartig wieder auf Silberfuchs, fand die schläfrigen, wissenden Augen auf sich gerichtet.

Nein, noch einmal klappt das nicht. »Silberfuchs«, brummte er. »Du erzählst eine Geschichte, um unser Mitgefühl zu gewinnen, doch es scheint, als wärst du die Sache falsch angegangen, und so richtest du am Ende alles zu Grunde, was du erreichen wolltest. Wenn es da noch eine größere Bedrohung gibt, eine dritte Hand, die geschickt sowohl uns wie auch den Pannionischen Seher manipuliert … werdet ihr – du und deine T’lan Imass – dann eure Aufmerksamkeit dieser Hand zuwenden?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Er war überrascht, als ihr fester Blick unsicher wurde, sie ihn schließlich ganz abwandte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern, als sie sagte: »Weil du zu viel von uns verlangst, Elster.«

Niemand sagte etwas.

Furcht wogte über Elster hinweg. Er drehte sich um, kreuzte den Blick mit Dujek, sah im Gesicht des alten Mannes ein Spiegelbild seines eigenen, wachsenden Entsetzens. Ihr Götter hienieden, wir marschieren unserem Tod entgegen. Ein unsichtbarer Feind – aber einer, von dem wir schon lange Zeit wissen, einer, von dem wir gewusst haben, dass er früher oder später kommen würde, einer, der … beim Abgrund – einer, der selbst die T’lan Imass zurückschrecken lässt …

»Welch greifbares Vonsinnensein!«, rief Kruppe. »Vonsinnensein? Gibt es ein solches Wort? Wenn nicht, dann müssen wir Kruppes zahllosen Talenten noch linguistische Erfindungen hinzufügen. Meine Freunde! Wartet! Horcht! Hört zu! Fasst euch ein Herz, ihr alle, in dem Wissen, dass Kruppe sich selbst, breitbeinig und mit stattlichem Körperumfang, entschlossen in den Weg jenes besagten – doch noch nicht erwähnten – schrecklichen Feindes jeglicher Existenz gestellt hat! Schlaft nun, da ihr es wisst, heute Nacht ruhig. Schlummert wie Säuglinge in den Armen ihrer Mutter, so wie ihr alle es früher einmal getan habt – sogar Kallor, auch wenn dieses Bild etwas Erschreckendes und Bestürzendes hat – «

»Verdammt!«, brüllte Caladan Bruth. »Im Namen des Vermummten – was redest du da, kleiner Mann? Du behauptest, dich dem Verkrüppelten Gott in den Weg gestellt zu haben? Beim Abgrund, du bist verrückt! Wenn du uns nicht gleich«, fuhr er etwas leiser fort, während er sich von seinem Pferd schwang, »einen Beweis für deine großen Worte gibst« – er stapfte auf Kruppe zu, griff mit einer Hand nach dem umwickelten Schaft seines Hammers –, »kann ich nicht voraussagen, wie schrecklich mein Zorn sein wird.«

»Das würde ich nicht tun, Bruth«, murmelte Silberfuchs.

Der Kriegsherr wirbelte herum, sah sie mit gefletschten Zähnen an. »Du dehnst deinen Schutz jetzt auch auf diese arrogante, fette Kröte aus?«

Ihre Augen wurden groß, und sie warf dem Daru einen Blick zu. »Kruppe, wünschst du das?«

»Das ist absurd! Nichts für ungut, meine Liebe – dieser Protest ist nicht böse gemeint, das versichert dir Kruppe mit süßer Stimme!«

Elster starrte den rundlichen kleinen Mann ungläubig an, wie er sich in seinen fleckigen Gewändern – die die Spuren all der Speisen und Getränke trugen, die er in den letzten Tagen zu sich genommen hatte – so hoch wie möglich aufrichtete und Caladan Bruth mit kleinen, glitzernden Augen anstarrte. »Ihr wollt Kruppe von Darujhistan drohen, ja? Ihr verlangt eine Erklärung, ja? Ihr streichelt liebevoll Euren Hammer, ja? Ihr wollt – «

»Still!«, brüllte der Kriegsherr und mühte sich sichtlich, seine Wut zu beherrschen.

Bei den Göttern hienieden – was hat Kruppe bloß vor?

»Kruppe bietet allen Drohungen die Stirn! Kruppe lacht höhnisch über jede Art von Demonstration, die der zornige Kriegsherr versuchen – «

Urplötzlich war der Hammer in Bruths Händen, war ein verschwommener Fleck in der Luft, als der Kriegsherr ausholte und ihn knapp vor Kruppes Füßen auf die Erde krachen ließ.

Die Erschütterung ließ die Pferde stürzen, wirbelte Elster und die anderen durch die Luft. Ein mörderischer Donnerschlag spaltete die Luft. Die Erde schien dem malazanischen Kommandanten entgegenzuspringen, der Aufprall war wie ein Fausthieb, dann wurde er noch einmal herumgeworfen und rollte schließlich den von Felsbrocken übersäten Hang hinab.

Über ihm hörte er Pferde ängstlich wiehern. Ein heißer, heulender Windstoß riss Erde und Staub in die Luft.

Die Geröllhalde unter Elster bewegte sich, sie floss und rutschte immer schneller rumpelnd und polternd zu Tal. Steine krachten gegen seine Rüstung, hämmerten gegen den Helm auf seinem Kopf, betäubten ihn halb. Einen winzigen Augenblick lang konnte er durch einen ungleichmäßigen Riss in der Staubwolke einen Blick auf die Hügelkette auf der anderen Seite des Tals werfen. Es war unmöglich, aber sie hob sich, wuchs rasend schnell in die Höhe – das Grundgestein riss die grasbewachsene Oberfläche auf, Staubwolken, Felssplitter und Rauch wurden in die Luft geschleudert. Dann verschluckte der allgegenwärtige Staub die Welt rings um ihn. Felsbrocken holperten über ihn hinweg. Andere trafen ihn mit kräftigen, schmerzhaften Schlägen, die ihn keuchend, hustend, würgend weiterrollen ließen.

Selbst jetzt noch hob sich der Boden unter dem rutschenden Geröll. Ferne Detonationen erschütterten die Luft, zitterten durch Elsters geschundene Knochen.

Schließlich blieb er liegen, halb begraben unter Geröll und Felsbrocken. Blinzelnd, mit brennenden Augen, sah er die Rhivi-Kundschafter vor sich – sie duckten sich, sprangen vor einigen herantorkelnden Felsbrocken beiseite, als spielten sie ein bizarres, tödliches Spiel. Hinter ihnen ragte schwarzes, dampfendes Felsgestein auf, das Rückgrat einer neuen Bergkette, die noch immer wuchs, noch immer in die Höhe stieg und den Boden des Tals, in dem der Malazaner jetzt lag, hob und kippte. Der Himmel dahinter schäumte eisengrau vor Dampf und Rauch.

Der Vermummte soll mich holen … armer Kruppe … Stöhnend wälzte Elster sich so weit herum, wie er konnte. Er war von Kopf bis Fuß mit Abschürfungen übersät und konnte die Geburt großer blauer Flecken unter seiner zerdellten, zerrissenen Rüstung spüren, aber erstaunlicherweise waren seine Knochen noch alle heil. Er strengte seine tränenden Augen an, um die Hügelkuppe zu erkennen, auf der er gerade eben noch gestanden hatte.

Die Geröllhalde war verschwunden, hatte einer klaffenden, rauen Felsklippe Platz gemacht. Der größte Teil der flachen Hügelkuppe war einfach nicht mehr da, war ausgelöscht; nur ein kleines, flaches Inselchen war übrig geblieben … auf dem Elster jetzt Gestalten ausmachen konnte, die sich bewegten, aufstanden. Pferde rappelten sich auf. Schwach vernahm er das schrille, empörte Geschrei eines Maultiers.

Nach Norden hin war eine schmale, dampfende Spalte zu sehen, die sich durch die Seite eines entfernten Tals und dann durch entfernte Hügel schnitt, ein Riss in der Erde, der unendlich tief zu sein schien.

Elster quälte sich mühsam aus dem Geröll auf die Beine, richtete sich langsam auf.

Er sah Caladan Bruth, reglos, den Hammer in den Händen … und vor dem Kriegsherrn stand auf einer eigenen Insel Kruppe, der sich den Staub aus den Kleidern klopfte. Der Riss, der dort entstanden war, wo der Hammer auf die Erde geprallt war, teilte sich direkt vor dem kleinen, fetten Daru und lief gleich hinter ihm wieder zusammen.

Elster musste sich das Lachen verbeißen, denn er wusste, wie verzweifelt, wie misstönend es klingen würde. Jetzt haben wir also Bruths Zorn gesehen. Und Kruppe, dieser groteske kleine Mann, hat ihm getrotzt. Tja, wenn es jemals eines Beweises bedurft hat, dass der Daru nicht das ist, was er zu sein scheint … Er runzelte die Stirn. Das war in der Tat eine Demonstration … ich frage mich nur – für wen?

Ein Entsetzensschrei unterbrach seine Gedankengänge.

Korlat. Sie blickte nach Norden, und ihre Körperhaltung war irgendwie zusammengezogen und in sich selbst vertieft.

Der Spalt füllte sich mit Blut, wie Elster jetzt sah – und in diesem Augenblick war schlagartig jede Erheiterung dahin.

Verunreinigtes Blut, verfaultes Blut. Beru schütze uns, die Schlafende Göttin … Brand schläft den Schlaf der Sterbenden, der Vergifteten. Und dies, begriff er, war die letzte, schrecklichste Enthüllung dieses Tages. Krank … durch die verborgene Hand des Verkrüppelten Gottes.

 

Die Mhybe riss die Augen auf. Der Wagen ruckte und rumpelte. Donner erschütterte den Boden. Von allen Seiten ertönten die Rufe der Rhivi, ein klagender Chor voller Schrecken und Bestürzung. Ihre Knochen und Muskeln schmerzten, als sie von dem Kataklysmus hin und her geschleudert wurde, aber sie würde nicht schreien. Sie wollte sich nur verstecken.

Das Rumpeln ließ nach, wurde durch das ferne Muhen der Bhederin ersetzt und, viel näher, durch die leisen Schritte ihrer Verwandten, die an dem Wagen vorbeieilten. Die Herde war der Panik nahe, ein Massenausbruch drohte.

Der uns alle vernichten würde. Und doch wäre es eine Gnade. Ein Ende meiner Schmerzen, meiner Albträume …

In ihren Träumen war sie wieder jung, doch diese Träume schenkten ihr keine Freude. Fremde wanderten über die Tundra, in der sie sich stets wiederfand. Die Fremden kamen näher. Sie floh. Schoss davon wie ein Schneehase. Rannte, rannte immerzu.

Fremde. Sie wusste nicht, was sie wollten, aber sie suchten nach ihr – das zumindest war klar. Spürten ihr nach, wie Jäger ihrer Beute. Zu schlafen hieß erschöpft und mit zitternden Gliedern aufzuwachen, während sich ihre Brust unter keuchenden Atemzügen hob und senkte.

Sie war vor dem Abgrund gerettet worden, war davor bewahrt worden, eine der zahllosen zerfetzten Seelen zu werden, die sich in ewigem, verzweifeltem Hunger verloren. Gerettet – von einem Drachen. Wozu? Um mich an einem Ort zurückzulassen, wo ich gejagt werde, wo ich pausenlos verfolgt werde?

Die Zeit verging. Nur gelegentlich drangen ein paar der beruhigenden Worte an ihr Ohr, mit denen die Hirten die verängstigten Bhederin beschwichtigten. Es würde keine Massenflucht geben. Noch immer durchlief ein gelegentliches Rumpeln die Erde, in verebbenden Wellen, die von immer weiter weg zu kommen schienen.

Die Mhybe stöhnte leise auf, als der Wagen einmal mehr schwankte, dieses Mal durch die Ankunft der beiden Daru Coll und Murillio.

»Du bist aufgewacht«, bemerkte der Ratsherr. »Na, das ist ja auch kein Wunder.«

»Lasst mich in Ruhe«, sagte sie, zog die Felle enger um ihren zitternden Körper und wich dabei vor den beiden Männern zurück. Es ist so kalt

»Hast du eine Ahnung, was da vorne los gewesen sein könnte?«, wandte Murillio sich an Coll.

»Scheint, als hätte Bruth einen Wutanfall gehabt.«

»Bei den Göttern! Wer hat ihn wohl dazu gebracht? Kallor? Dieser Bastard verdient – «

»Das war nicht Kallor, mein Freund«, erwiderte Coll grollend. »Aber du darfst noch einmal raten – es sollte eigentlich nicht lange dauern, bis du darauf kommst.«

Murillio stöhnte auf. »Kruppe.«

»Der Vermummte weiß, er hat unser aller Geduld das eine oder andere Mal auf eine schwere Probe gestellt … nur war keiner von uns in der Lage, die halbe Welt in Stücke zu schlagen und neue Berge himmelwärts zu schleudern.«

»Ist der elende Zwerg dabei umgekommen? Ich kann kaum glauben – «

»Es heißt, er sei ohne einen Kratzer davongekommen. Typisch. Und dass er sich nur über den Staub beklagt hat. Es ist auch sonst niemand verletzt worden, obwohl ein wütendes Maultier dem Kriegsherrn beinahe mit einem Tritt den Schädel zertrümmert hätte.«

»War das Kruppes Maultier? Das im Gehen schläft?«

»Stimmt, genau das.«

Es schläft. Und träumt bestimmt davon, ein Pferd zu sein. Prächtig, groß, wild …

»Das Biest ist in der Tat seltsam. Ich habe noch nie ein Maultier gesehen, das so … so wachsam war. In jeder Hinsicht. Bei der Königin der Träume, eine so merkwürdige Gebirgskette habe ich ja noch nie gesehen.«

»Ja, Murillio, sie sieht größer aus, als sie eigentlich ist. Eine optische Täuschung. Ein zerklüfteter Grat, wie etwas, was du ganz fern am Horizont sehen kannst, aber da ist er, keine halbe Länge von uns entfernt. Es lohnt nicht, darüber nachzudenken, wenn du mich fragst …«

Es gibt nichts, worüber nachzudenken sich lohnen würde. Keine Berge, keine Maultiere, auch nicht Bruths Zorn. Seelen bedrängen meine Tochter, dort, in ihrem Innern. Zwei Frauen und ein Thelomen namens Schädelzerschmetterer. Zwei Frauen und ein Mann, die ich noch nie gesehen habe … doch ich habe dieses Kind in mir getragen. Ich, eine Rhivi, jung, in der Blüte meines Lebens, wurde in einen Traum hineingezogen – und dann wurde der Traum wahr. Aber wo bin ich in meiner Tochter? Wo ist das Blut, das Herz der Rhivi?

Sie hat nichts von mir, überhaupt nichts. Ich war ein Gefäß – und nichts weiter – um eine Fremde zu beherbergen und auf diese Welt zu bringen.

Sie hat keinen Grund, nach mir zu sehen, mich zu besuchen, meine Hand zu halten und mich zu trösten. Meine Aufgabe ist erfüllt. Und hier liege ich, ein weggeworfenes Ding. Vergessen. Eine Mhybe.

Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.

»Ich glaube, sie ist wieder eingeschlafen.« Das war Murillios Stimme.

»Es ist am besten so«, murmelte Coll.

»Ich kann mich an meine eigene Jugend erinnern«, fuhr der Daru leise und nachdenklich fort.

»Ich kann mich auch an deine Jugend erinnern, Murillio.«

»Wild und verschwenderisch – «

»Jede Nacht eine andere Witwe, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich war tatsächlich ein Magnet, und du weißt ja, es war alles so leicht – «

»Das haben wir gemerkt.«

Er seufzte. »Aber so ist es nicht mehr. Ich bin älter geworden, habe den Preis für die Tage meiner Jugend gezahlt …«

»Für die Nächte, meinst du wohl.«

»Was auch immer. Neue Rivalen sind aufgetaucht. Junge Burschen von edlem Blut. Marak von Paxto, groß und geschmeidig, nach dem sich die Köpfe drehen, wo immer er umherschlendert. Dieser blasierte Bastard. Und dann ist da Perryl von M’necrae – «

»Also wirklich, Murillio, verschone mich damit.«

»Die Sache ist die, es war eine gewisse Zeitspanne so – ein paar Jahre lang. Ausgefüllte Jahre. Vergnügliche Jahre. Und wenn ich auch auf dem absteigenden Ast bin, kann ich doch zumindest zurückblicken und mich an meine Tage – in Ordnung, meine Nächte – voller Glanz erinnern. Aber diese arme Frau hier …«

»Ja, ich verstehe, was du meinst. Sind dir jemals diese kupfernen Schmuckstücke aufgefallen, die sie trägt? Da, zum Beispiel das Paar an den Handgelenken. Es sind Geschenke von Kruppe, aus Darujhistan.«

»Was ist damit?«

»Nun, wie ich schon gesagt habe. Sind sie dir jemals aufgefallen? Es ist merkwürdig. Sie werden heller, glänzender, wenn sie schläft.«

»Wirklich?«

»Ich würde es auf einen Stapel von Kruppes Taschentüchern schwören.«

»Wie eigenartig.«

»Jetzt sind sie allerdings ziemlich matt …«

Die beiden Männer, die sich über sie beugten, schwiegen. Nach mehreren Herzschlägen drückte die Hand, die auf ihrer Schulter ruhte, leicht zu.

»Ach, meine Liebe«, flüsterte Murillio, »ich wollte, ich könnte meine Worte zurücknehmen …«

Warum denn? Sie waren wahr. Die Worte kamen aus deinem Herzen, und es ist ein großzügiges Herz, trotz deiner verantwortungslosen Jugendjahre. Du hast meinen Fluch nur benannt. Das ändert nichts. Muss man Mitleid mit mir haben? Anscheinend nur, wenn ich schlafe. Ins Gesicht sagst du mir nichts, und du glaubst, dein Schweigen sei Güte. Aber es verhöhnt mich, denn es kommt als Gleichgültigkeit bei mir an.

Und mein Schweigen? Diesen beiden freundlichen Männern gegenüber, die jetzt auf mich herabblicken? Welchen meiner zahllosen Makel lässt das erkennen?

Es scheint, als wäre euer Mitleid nichts im Vergleich zu meinem eigenen.

Und dann trieben ihre Gedanken davon. Das ockergelbe, baumlose Ödland ihrer Träume erschien. Und sie war mitten darin.

Sie begann zu rennen.

 

Dujek warf beim Eintreten seinen gepanzerten Handschuh gegen die Zeltwand; sein Gesicht war dunkel vor Wut.

Elster entkorkte den Bierkrug und füllte zwei Pokale, die vor ihm auf dem kleinen Feldtisch standen. Beide Männer waren mit Staub und Schweiß verschmiert.

»Was ist das für ein Wahnsinn?«, krächzte die Hohefaust, schnappte sich einen Pokal und begann, im Zelt auf und ab zu gehen.

Elster streckte seine zerschlagenen Beine aus; der Stuhl unter ihm knarrte. Er nahm einen kräftigen Schluck Bier, seufzte und sagte: »Welchen Wahnsinn meinst du, Dujek?«

»Stimmt, die Liste wird allmählich verdammt lang. Der Verkrüppelte Gott! Die schlimmsten Legenden drehen sich um diesen zerschmetterten Scheißkerl – «

»Das Gedicht von Fisher Kel Tath, darüber, wie er angekettet wurde …«

»Nun, ich bin keiner, der Gedichte liest, aber, beim Vermummten, ich habe Teile davon von Schenkensängern und ähnlichen Leuten gehört. Bei Feners Eiern, das ist nicht der Krieg, den zu führen ich mich verpflichtet habe.«

Elster blickte die Hohefaust aus zusammengekniffenen Augen an. »Dann lass es.«

Dujek hörte auf, hin und her zu marschieren, und sah seinen Stellvertreter an. »Weiter«, sagte er nach einem Augenblick.

»Bruth hat es gewusst«, fuhr Elster mit einem Schulterzucken fort, das ihm ein Stöhnen entlockte. Genau wie Korlat. »Wenn er es gewusst hat, kann man davon ausgehen, dass auch Anomander Rake es gewusst hat. Und Kallor – obwohl mir das begeisterte Leuchten in seinen Augen ganz und gar nicht gefallen hat. Also, zwei Aufgestiegene und ein Möchtegern-Aufgestiegener. Der Verkrüppelte Gott ist zu mächtig für Leute wie dich und mich, wir haben keine Chance gegen ihn, Hohefaust. Überlass es ihnen, sich mit ihm zu befassen – ihnen und den Göttern. Schließlich waren sowohl Rake als auch Bruth dabei, als er angekettet wurde.«

»Du willst damit sagen, es ist ihr Problem.«

»Offen gesagt – ja, das ist es.«

»Für das wir alle bezahlen, und vielleicht schon bald den höchsten Preis. Ich werde nicht zusehen, wie meine Armee in diesem ganz besonderen Spiel verheizt wird, Elster. Wir sind losmarschiert, um die Pannionische Domäne zu zerschmettern, ein Reich von Sterblichen – nach allem, was wir herausgefunden hatten.«

»Es sieht so aus, als ob beide Seiten nicht mit offenen Karten spielen, Dujek.«

»Und? Soll mich das etwa beruhigen?« Hohefaust Dujek Einarm starrte seinen Stellvertreter einen Augenblick lang düster an, dann trank er in langen Zügen sein Bier aus und streckte ihm den leeren Pokal entgegen.

Elster füllte ihn wieder. »Wir können uns schwerlich über diese Art falsches Spiel beklagen«, polterte er. »Oder, mein Freund?«

Dujek verstummte, brummte dann wortlos vor sich hin.

In der Tat. Beruhige dich, Hohefaust. Versuche klar zu denken. »Davon abgesehen«, fuhr Elster fort, »habe ich Vertrauen.«

»In was?«, schnappte Dujek. »In wen? Ich bitte dich, sag es mir!«

»In einen gewissen kurz gewachsenen, korpulenten, widerlichen kleinen Mann – «

»In Kruppe? Hast du den Verstand verloren?«

Elster lächelte. »Alter Freund, schau dir doch an, wie du vor Wut kochst. Wie du dich darüber ärgerst, dass du manipuliert worden bist. Benutzt. Möglicherweise auch getäuscht. Und jetzt überlege einmal, wie sich ein Aufgestiegener wie Caladan Bruth fühlen muss, wenn ihm klar wird, dass er manipuliert worden ist? Würde er so wütend werden, dass er die Beherrschung verliert? Würde er so wütend werden, dass er seinen Hammer nehmen und versuchen würde, diesen selbstgefälligen, wichtigtuerischen Puppenspieler auszulöschen?«

Dujek stand lange still da, ohne sich zu rühren, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen. »Mit anderen Worten, er hat Kruppe ernst genommen …«

»Darujhistan«, sagte Elster. »Unser großer Fehlschlag. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, dass irgendjemand, irgendetwas bei dieser ganzen verdammten Geschichte im Hintergrund die Fäden gezogen hat. Nicht Anomander Rake. Nicht der Zirkel. Nicht Vorcan und ihre Assassinen. Irgendjemand anderes. Irgendjemand, der sich so schlau verborgen hat, der so erschreckend … tüchtig … war, dass wir hilflos waren, vollkommen hilflos.

Und dann, während der Waffenstillstandsverhandlungen, entdecken wir alle, wer dafür verantwortlich war, dass Flickenseel wiedergeboren wurde. Als Silberfuchs, die Tochter einer Rhivi, die sie in einem unbekannten Gewirr empfangen und geboren hat. Da sind Fäden zusammengezogen worden – Nachtfrost, Bellurdan, Flickenseel selbst. Und, wie sich jetzt herausstellt, ein Älterer Gott, der in die Sphäre der Sterblichen zurückgekehrt ist. Und zu guter Letzt und am bemerkenswertesten: die T’lan Imass. Also … Flickenseel, Nachtfrost und Bellurdan – alle aus dem malazanischen Imperium – sind in einer Rhivi wiedergeboren, die zu Bruths Armee gehört … während Waffenstillstandsverhandlungen unmittelbar bevorstehen, sich ein großes Bündnis abzeichnet … wie unglaublich passend, beim Vermummten, dass ein Kind auf diese Weise eine Brücke zwischen den beiden Lagern schlägt – «

»Die nur Kallor nicht gefällt«, wies Dujek auf das Offensichtliche hin.

Elster nickte langsam. »Und Kallor ist gerade wieder einmal an Bruths Macht erinnert worden – hoffentlich hat es ausgereicht, um ihn davon abzuhalten, Dummheiten zu machen.«

»Du meinst, es ist darum gegangen?«

»Vielleicht. Bruth hat einen Beweis verlangt, oder? Was Kruppe manipuliert, sind die Umstände. Irgendwie. Ich habe nicht das Gefühl, als müssten wir nach seiner Pfeife tanzen. Hinter dem Daru steckt ein Älterer Gott, aber selbst das scheint mir eher ein Bündnis zum … gegenseitigen Nutzen zu sein, fast schon unter Gleichen. Eine Partnerschaft, wenn man so will. In Ordnung, ich gebe zu, das alles sind reine Mutmaßungen, aber ich sage dir eines: Ich bin schon früher manipuliert worden, genau wie du. Aber diesmal fühlt es sich anders an. Weniger feindlich. Dujek, ich spüre diesmal so etwas wie Mitleid.«

»Ein Bündnis unter Gleichen«, murmelte die Hohefaust und schüttelte dann nachdenklich den Kopf. »Zu was macht das dann Kruppe? Ist er ein verkleideter Gott? Ein Magier mit besonders viel Macht, ein Erzmagier?«

Elster zuckte die Schultern. »Ich vermute, dass er ein sterblicher Mensch ist. Aber von einzigartiger, überragender Intelligenz. Und ich meine das ziemlich wörtlich, Dujek. Einzigartig. Würde ein Älterer Gott plötzlich in diese Sphäre zurückgeschleudert werden, würde er sich als ersten Verbündeten dann nicht den intelligentesten Menschen suchen, den er finden kann?«

Auf Dujeks Gesicht spiegelten sich noch immer Unglaube und Überraschung. »Aber, Elster … Kruppe?«

»Kruppe. Der uns die Trygalle-Handelsgilde gebracht hat – die einzigen Händler, die in der Lage sind, uns auf der Route, die wir gewählt haben, zu versorgen. Kruppe, der der Mhybe die noch existierenden Besitztümer der Ersten Rhivi gebracht hat, damit sie sie anlegen und so ihre Schmerzen lindern konnte, und ich habe den Verdacht, dass diese Schmuckstücke noch längst nicht all ihre Macht gezeigt haben. Kruppe, der Einzige, mit dem Silberfuchs sprechen will, nun, da Paran nicht mehr hier ist. Und schließlich Kruppe, der sich dem Verkrüppelten Gott in den Weg gestellt hat.«

»Aber wenn er nur ein Sterblicher ist, wie konnte er dann Bruths Zorn überleben?«

»Nun, sein Verbündeter – der Ältere Gott – will wohl nicht, dass der Daru getötet wird. Daher nehme ich an, dass er eingegriffen hat. Was sollte es sonst gewesen sein?«

Dujek leerte seinen Pokal. »Verdammt«, seufzte er. »In Ordnung. Wir ignorieren den Verkrüppelten Gott, so gut wir können. Wir konzentrieren uns auf die Pannionische Domäne. Trotzdem, mein Freund – es gefällt mir nicht. Ich kann mir nicht helfen – es macht mich einfach nervös, dass wir nicht ernsthaft über diesen neuen Feind nachdenken …«

»Das würde ich so nicht sagen, Hohefaust.«

Dujek warf ihm einen scharfen, fragenden Blick zu, dann verzog er das Gesicht. »Der Schnelle Ben.«

Elster nickte langsam. »Ich nehme es an. Ich bin mir nicht sicher – beim Vermummten, ich weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben ist, aber so wie ich ihn kenne, ist er es. Wahrscheinlich sogar sehr lebendig. Und wenn ich daran denke, wie erschüttert er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er keinerlei Illusionen mehr und ist alles andere als unwissend.«

»Und er ist alles, was wir haben? Um den Verkrüppelten Gott auszutricksen?«

»Hohefaust, wenn Kruppe das größte Genie dieser Welt ist, dann ist der Schnelle Ben nur einen Schritt hinter ihm. Einen sehr kleinen Schritt.«

Draußen vor dem Zelt vernahmen sie Schreie, dann Fußgetrappel. Einen Augenblick später zog der Standarten-Träger Artanthos die Zeltklappe beiseite und trat herein. »Hohefaust, Kommandant – ein einzelner Moranth ist gesichtet worden. Er kommt aus Nordosten. Es ist Twist.«

Elster stand auf; er ächzte angesichts der Kaskade von Schmerzen, die die Bewegung hervorrief. »Bei der Königin der Träume, anscheinend werden wir ein paar Neuigkeiten erfahren.«

»Dann wollen wir hoffen, dass es gute Neuigkeiten sind«, grollte Dujek. »Ich für meinen Teil könnte ein paar gebrauchen.«

 

Ihr Gesicht war gegen die von Flechten überzogenen Steine gepresst, das Gefühl von Rauheit verschwand, als ihr Schweiß die zerzauste Pflanze nässte. Ihr Herz dröhnte, und sie atmete in keuchenden Zügen, während sie wimmernd dalag, zu müde, um weiterzurennen, zu müde, um auch nur den Kopf zu heben.

In der Tundra ihrer Träume waren neue Feinde aufgetaucht. Diesmal wurde sie nicht von der Gruppe von Fremden verfolgt.

Diesmal war sie von Wölfen aufgespürt worden. Von riesigen, hageren Kreaturen, größer als alle, die sie jemals in ihrem wachen Leben gesehen hatte. Sie waren auf dem Grat einer Hügelkette im Norden in ihr Blickfeld getrottet. Acht langbeinige Tiere mit hoch gewölbten Schultern, deren Fell sich den gedämpften Farben der umliegenden Landschaft anpasste. Der vorderste hatte sich umgedreht, als habe er in dem kalten, trockenen Wind ihre Witterung aufgenommen.

Und die Jagd hatte begonnen.

Anfangs hatte die Mhybe die Schnelligkeit ihrer jungen, geschmeidigen Beine in vollen Zügen genossen. So schnell wie eine Antilope – schneller als jeder sterbliche Mensch jemals hätte laufen können – war sie durch das unfruchtbare Land geflohen.

Die Wölfe hatten Schritt gehalten, ohne zu ermüden, wobei das Rudel auch zu den Seiten hin ausgeschwärmt war; gelegentlich war einer vorgeprescht, war von der einen oder anderen Seite herangeschossen, hatte sie gezwungen, kehrtzumachen.

Wieder und wieder hatten die Kreaturen es irgendwie geschafft, sie den Hang hinaufzutreiben, wenn sie versucht hatte, zwischen den Hügeln auf ebenem Gelände zu bleiben. Und sie begann zu ermüden.

Der Druck ließ niemals nach. In ihre Gedanken schlich sich – zusätzlich zu den zunehmenden Schmerzen in den Beinen, dem Feuer in ihrer Brust und der scharfen trockenen Agonie ihrer Kehle – die entsetzliche Erkenntnis, dass Flucht unmöglich war. Dass sie sterben würde. Niedergerissen wie jedes andere Tier, dazu verdammt, dem Hunger der Wölfe zum Opfer zu fallen.

Denn für diese Wölfe – das wusste sie – bedeutete das Meer ihrer Gedanken, das nun zu einem wilden Sturm aus Panik und Verzweiflung aufgewühlt wurde, nichts. Sie waren Jäger, und was in der Seele ihrer Beute wohnte, war für sie nicht von Belang. Genau wie bei der Antilope, dem Bhederin-Kalb, dem Ranag – Anmut und Wunder, Versprechen und Potenzial ausschließlich und allein reduziert auf Fleisch.

Die letzte Lektion des Lebens, die einzig wahre, begraben unter einer Vielzahl von übereinander geschichteten Täuschungen.

Früher oder später, das verstand sie jetzt, sind wir alle nichts anderes als Futter. Ob für Wölfe oder Würmer, ob das Ende abrupt oder schleichend kam, spielte nicht die geringste Rolle.

Wimmernd, halb blind, stolperte sie einen weiteren Hang hinauf. Sie waren nahe. Sie konnte hören, wie ihre Pfoten vom Wind getrocknete Flechten und Moos zerrissen. Zu ihrer Linken, zu ihrer Rechten, immer näher, ein kurzes Stück vor ihr. Mit einem Aufschrei geriet die Mhybe ins Stolpern, fiel vornüber auf den felsigen Gipfel. Sie schloss die Augen, wartete auf den Schmerz, auf die Zähne, die sich in ihr Fleisch schlugen.

Die Wölfe umkreisten sie. Sie hörte sie; sie kreisten und kamen dann in einer spiralförmigen Bewegung näher und näher.

Heißer Atem wehte gegen ihren Nacken.

Die Mhybe schrie.

Und erwachte. Über ihr ein verblassender blauer Himmel, ein vorbeiziehender Falke. Ein dahintreibender Staubschleier von der Herde. Ferne Stimmen und – viel näher – das mühsame, rasselnde Geräusch ihrer eigenen Atemzüge.

Der Wagen hatte aufgehört, sich zu bewegen. Die Armee schlug ihr Nachtlager auf.

Sie lag zusammengekauert und reglos unter den Pelzen und Fellen. Ganz in der Nähe hörte sie Stimmengemurmel – zwei Stimmen. Sie roch den Rauch eines Dungfeuers, roch mit Kräutern gewürzte Fleischbrühe – Salbei, einen Hauch Ziege. Eine dritte Stimme kam hinzu, wurde von den ersten beiden begrüßt – alle merkwürdig undeutlich, so dass sie sie nicht erkennen konnte. Es ist die Mühe nicht wert. Meine Wächter. Meine Wärter.

Der Wagen quietschte. Jemand hockte sich neben sie. »Der Schlaf sollte dich nicht so erschöpfen.«

»Nein, Korlat, das sollte er nicht. Bitte, lass es mich endlich selbst beenden – «

»Nein. Hier, Coll hat Eintopf gemacht.«

»Ich habe keine Zähne mehr, mit denen ich kauen könnte.«

»Es sind nur kleine Fleischstreifen, die gut zu schlucken sind. Das meiste ist Brühe.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Trotzdem. Soll ich dir helfen, dich aufzusetzen?«

»Der Vermummte soll dich holen, Korlat. Dich und den Rest. Euch alle miteinander.«

»Komm, ich helfe dir.«

»Deine guten Absichten bringen mich um. Nein, sie bringen mich nicht um. Das ist es ja gerade, oder …« Sie ächzte, versuchte vergeblich, sich aus Korlats Händen zu winden, als die Tiste Andii sie ohne Mühe in eine sitzende Position hob. »Sie quält mich, deine Barmherzigkeit. Die alles andere ist als das. Nein, sieh mir nicht ins Gesicht, Korlat.« Sie zog sich die Kapuze tiefer in die Stirn. »Sonst fange ich noch an, mich nach dem Mitleid in deinen Augen zu sehnen. Wo ist die Schale? Ich werde essen. Lass mich allein.«

»Ich bleibe bei dir, Mhybe«, erwiderte Korlat. »Schließlich sind es zwei Schalen.«

Die Rhivi starrte ihre runzligen, pockennarbigen, skelettartigen Hände an, dann die Schale, die sie in ihnen hielt, die wässrige Brühe mit den Stückchen weinfleckigen Fleisches. »Siehst du das? Der Metzger der Ziege. Der Schlächter. Hat er oder sie angesichts der verzweifelten Schreie des Tiers gezögert? In seine bettelnden Augen gesehen? Gezögert, sein Messer zu gebrauchen? In meinen Träumen bin ich wie diese Ziege. Das ist es, wozu du mich verfluchst.«

»Der Metzger der Ziege war ein Rhivi«, sagte Korlat nach einem Augenblick. »Du und ich, wir beide kennen dieses Ritual sehr gut, Mhybe. Beschwichtigung. Die Anrufung des barmherzigen Geistes, dessen Umarmung notwendig ist. Du und ich, wir beide wissen, wie dieser Geist über die Ziege kommt, oder über jede andere Kreatur, deren Fleisch dein Volk ernähren soll, dessen Fell euch kleidet. Und aus diesem Grund schreit das Tier nicht, und es bettelt nicht. Ich habe zugesehen … und mich gewundert, denn es ist in der Tat etwas Bemerkenswertes. So etwas gibt es nur bei den Rhivi, nicht was die Absicht anbelangt, sondern die Wirksamkeit. Es ist, als ob der durch das Ritual angerufene Geist dem Tier eine bessere Zukunft zeigt – etwas, das über jenes Leben hinausgeht, das es bis zu diesem Augenblick gekannt hat – «

»Lügen«, murmelte die Mhybe. »Der Geist betrügt die arme Kreatur. Um das Schlachten leichter zu machen.«

Korlat schwieg.

Die Mhybe hob die Schale an die Lippen.

»Und wenn schon«, griff die Tiste Andii das Thema wieder auf, »vielleicht ist die Täuschung dennoch ein Geschenk … der Barmherzigkeit.«

»So etwas gibt es nicht«, schnappte die Mhybe. »Es sind nur Worte, um den Mörder und seine Verwandten zu trösten, nichts weiter. Tot ist tot, wie die Brückenverbrenner zu sagen pflegen. Diese Soldaten kennen die Wahrheit. Die Kinder des malazanischen Imperiums geben sich keinerlei Illusionen hin. Sie lassen sich nicht so einfach verzaubern.«

»Du scheinst viel über sie zu wissen.«

»Zwei Seesoldatinnen kommen gelegentlich vorbei, um mich zu besuchen. Sie haben die Aufgabe übernommen, über meine Tochter zu wachen. Und mir von ihr zu erzählen, da das sonst niemandem in den Sinn kommt, und ich schätze sie dafür.«

»Das habe ich nicht gewusst …«

»Beunruhigt es dich? Sind mir irgendwelche schrecklichen Geheimnisse offenbart worden? Wirst du das jetzt unterbinden?«

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Ich wünschte, du würdest mir wenigstens ins Gesicht sehen, Mhybe. Nein, so etwas werde ich nicht tun. Und ich weiß auch nichts von irgendwelchen entsetzlichen Geheimnissen, die man dir vorenthält. Nein, eigentlich möchte ich jetzt diese beiden Seesoldatinnen aufsuchen und mich bei ihnen bedanken.«

»Lass sie in Ruhe, Korlat. Sie wollen keinen Dank. Es sind einfache Soldatinnen, zwei Frauen aus dem Imperium. Von ihnen weiß ich, dass Kruppe Silberfuchs regelmäßig besucht. Vielleicht hat er die Rolle des lieben Onkels übernommen. Was für ein eigenartiger Mann, liebenswert trotz des schrecklichen Fluchs, den er mir auferlegt hat.«

»Ein Fluch? Oh. Mhybe, nach allem, was ich bisher von Kruppe gesehen habe, ist er niemand, der irgendjemanden verfluchen würde. Ich glaube nicht, dass er auch nur geahnt hat, was die Wiedergeburt von Flickenseel für dich bedeuten könnte.«

»Wie wahr, wie wahr. Ich verstehe es sehr gut, musst du wissen. Er wurde von dem Älteren Gott herbeigerufen – der entweder beschlossen hat, sich einzumischen oder schon lange beteiligt war. Eine Abscheulichkeit wurde geschaffen, wie Kallor es genannt hat, und es war tatsächlich eine Abscheulichkeit. Der verdorrte Körper von Nachtfrost, in dem Flickenseels Seele gefangen war, durch die Zauberei der T’lan Imass zu einer Abscheulichkeit verwoben. Das Geschöpf eines Albtraums. Der Ältere Gott hat versucht, es zu retten, irgendwie, in irgendeiner Gestalt, und dafür hat er anscheinend Kruppe gebraucht. So. Der Daru hat getan, was er konnte, hat geglaubt, es sei ein Akt der Barmherzigkeit. Aber täusch dich nicht, Korlat. Kruppe und sein Älterer Gott haben beschlossen, das Kind, das sie geschaffen haben, zu benutzen. Haben sie nur eine günstige Gelegenheit genutzt, oder war es von Anfang an ihre Absicht? Spielt das überhaupt eine Rolle? Und sieh, Kruppe begleitet nun Silberfuchs. Verschwören sie sich? Bin ich blind …«

»Sich verschwören? Mit welchem Ziel, Mhybe?«

»Das weißt du nicht? Das kann ich kaum glauben.«

»Du bist ganz offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass wir alle uns verschworen haben … gegen dich.«

»Etwa nicht?« Mit aller Kraft, die sie zusammenraffen konnte, schleuderte die Mhybe die Schale von sich, hörte sie gegen etwas prallen, hörte den überraschten Schrei Murillios, der anscheinend das Pech gehabt hatte, in ihrer Flugbahn zu stehen. »Ihr beschützt mich!«, zischte sie. »Ihr ernährt mich! Ihr bewacht mich, damit ich mir nicht das Leben nehmen kann! Und das soll keine Verschwörung sein? Und meine Tochter – meine eigene Tochter – besucht sie mich etwa? Nein! Wann habe ich ihr Gesicht zuletzt gesehen? Wann? Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann das gewesen ist!«

Der Griff um ihre Schulter wurde fester. Als Korlat sprach, war ihre Stimme leise, jedoch angespannt. »Ich höre deine Worte, meine Freundin. Ich werde der Sache auf den Grund gehen. Ich werde die Wahrheit herausfinden, und dann werde ich sie dir mitteilen. Das verspreche ich dir, Mhybe.«

»Dann erzähl mir, was passiert ist. Heute, vorhin. Ich habe … etwas gespürt. Ein Ereignis. Coll und Murillio haben von einem Vorfall zwischen Kruppe und Bruth gesprochen. Sag mir, hatte Silberfuchs etwas damit zu tun?«

»Sie war dort«, erwiderte Korlat. »Sie hat sich mir angeschlossen, als ich vorausgeritten bin, um Elsters Ruf zu folgen. Ich will ehrlich zu dir sein, Mhybe. Es ist tatsächlich etwas geschehen, bevor Bruth und Kruppe aneinander geraten sind. Deine Tochter hat … Beschützer gefunden, aber sie wird diesen Schutz nicht auf dich ausdehnen – aus irgendwelchen Gründen glaubt sie, dass du nun in Gefahr bist. Ich weiß nicht, woher diese Gefahr rührt.«

Aber ich weiß es. Oh, Korlat, deine Freundschaft mir gegenüber hat dich blind gemacht. Ich bin tatsächlich in Gefahr. Doch diese Gefahr droht mir von mir selbst. »Beschützer? Wen? Was?«

Korlat holte tief Luft, stieß sie dann ganz langsam wieder aus. »Silberfuchs hat mich darum gebeten, dir nichts von ihnen zu erzählen. Ich habe nicht verstanden, wieso, doch ich habe eingewilligt. Jetzt begreife ich, dass das falsch war. Falsch dir gegenüber, Mhybe. Eine Verschwörung, doch ich werde mich nicht daran beteiligen. Die Beschützer deiner Tochter waren Wölfe. Uralte, riesige Tiere – «

Entsetzen durchzuckte die Mhybe. Zähnefletschend schlug sie mit der Hand nach Korlats Gesicht, spürte, wie ihre Fingernägel Haut zerfetzten. »Meine Jäger!«, kreischte sie, während die Tiste Andii zurückzuckte. »Sie wollen mich töten! Meine Tochter -!« Meine Tochter! Sie sucht meine Träume heim! Bei den Geistern hienieden, sie will mich töten!

Coll und Murillio waren auf den Wagen gesprungen, stießen erschrockene Rufe aus, obgleich Korlat ihnen zuzischte, sie sollten sich beruhigen. Doch die Mhybe hörte sie nicht mehr, sie sah in diesem Moment auch nichts mehr von der Welt um sie herum. Sie schlug weiter um sich, ihre zu Klauen gekrümmten Finger zerrissen die Luft, das Gefühl, verraten worden zu sein, überwältigte sie schier, verwandelte ihr Herz in Asche. Meine Tochter! Meine Tochter!

Und meine Stimme, sie wimmert.

Und meine Augen, sie betteln.

Und in ihrer Hand ist das Messer, und in ihrem Blick ist nichts als kalte, kalte Absicht.

 

Elsters halbes Lächeln verflog, als er sich bei Korlats Eintreten umdrehte und sah, dass ihre Augen wie weißflüssiges Eisen waren und auf ihrer rechten Wange vier parallele Striemen prangten, noch nass von dem Blut, das bis zu ihrem Kinn gelaufen war und nun auf die Binsen tropfte, die den Boden bedeckten.

Fast wäre der Malazaner zurückgewichen, als die Tiste Andii auf ihn zugestürmt kam. »Korlat, was ist geschehen?«

»Hör mir gut zu, Liebster«, knirschte sie mit eisiger Stimme. »Welche Geheimnisse du auch vor mir verborgen hast – über die wiedergeborene Flickenseel, über diese verdammten T’lan Ay, über das, was du diesen beiden Seesoldatinnen, die das Kind bewachen, aufgetragen hast, was sie der Mhybe sagen sollen – jetzt wirst du es mir sagen. Auf der Stelle.«

Er spürte, wie ihm kalt wurde, spürte, wie sein Gesicht angesichts ihrer Wut zuckte. »Aufgetragen?«, fragte er ruhig. »Ich habe ihnen nichts aufgetragen. Nicht einmal, dass sie Silberfuchs beschützen sollen. Was sie getan haben, haben sie aus eigenem Entschluss getan. Was auch immer sie gesagt haben mögen, was hierzu geführt hat – nun, ich werde dafür die Verantwortung übernehmen, denn ich bin ihr Kommandant. Und ich versichere dir, wenn sie bestraft werden sollen – «

»Halt. Einen Augenblick bitte.« Etwas in ihrem Innern hatte sich gelegt, und jetzt zitterte sie.

Elster erwog kurz, sie in die Arme zu nehmen, hielt sich dann jedoch zurück. Sie brauchte Trost, das spürte er, aber seine Instinkte sagten ihm, dass sie noch nicht bereit war, ihn anzunehmen. Er schaute sich um, entdeckte ein einigermaßen sauberes Handtuch, machte es in einer Schüssel nass und hielt es ihr hin.

Sie hatte ihm schweigend zugesehen. Ihre Augen waren mittlerweile schiefergrau, doch sie machte keine Anstalten, das Handtuch zu nehmen.

Langsam ließ er den Arm sinken.

»Warum«, wollte Korlat wissen, »hat Silberfuchs darauf bestanden, dass ihre Mutter nichts von den T’lan Ay erfahren soll?«

»Ich habe keine Ahnung, Korlat, außer der Erklärung, die sie selbst gegeben hat. Ich habe angenommen, du wüsstest es.«

»Du hast gedacht, ich wüsste es.«

Er nickte.

»Du hast gedacht, ich hätte dir … ein Geheimnis vorenthalten. Etwas, das mit Silberfuchs und ihrer Mutter zu tun hat.«

Elster zuckte die Schultern.

»Hattest du vor, mich deswegen zur Rede zu stellen?«

»Nein.«

Ihre Augen wurden groß. Das Schweigen dehnte sich aus, dann sagte sie schließlich: »Beim Vermummten, reinige endlich meine Wunden.«

Erleichtert trat er zu ihr und begann, die Kratzer so behutsam wie möglich abzutupfen. »Wer hat dich geschlagen?«, fragte er leise.

»Die Mhybe. Ich glaube, ich habe gerade einen schrecklichen Fehler gemacht, trotz all meiner guten Absichten …«

»Das ist oft so«, murmelte er, »was die guten Absichten angeht.«

Korlat blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen forschend an. »Ihr pragmatischen Malazaner. Ihr seid in der Tat scharfsinnig. Warum halten wir euch immer noch lediglich für einfache Soldaten? Bruth, Rake, Kallor … auch ich, wir alle betrachten dich und Dujek und eure Armee als etwas … Untergeordnetes. Ein Schwert, das wir in der Not ergreifen können. Es scheint jetzt, als wären wir alle Narren. Tatsache ist, keinem von uns war bisher so richtig klar, wie die Dinge jetzt stehen.«

Er runzelte die Stirn. »Und wie stehen sie jetzt?«

»Ihr seid zu unserem Rückgrat geworden. Irgendwie seid ihr das geworden, was uns Kraft gibt, uns zusammenhält. Oh, ich weiß, dass ihr Geheimnisse vor uns verbergt, Elster – «

Er lächelte schief. »Nicht so viele, wie du zu denken scheinst. Ich werde dir das größte Geheimnis anvertrauen: Wir fühlen uns unterlegen … dir und Rake und Caladan Bruth und Kallor. Der Armee der Tiste Andii und den Kriegern der Rhivi und der Barghast. Beim Vermummten, sogar diese Söldnerhorde, die euch begleitet, macht uns nervös. Wir verfügen nicht über eure Macht. Wir sind nur eine Armee. Unser bester Magier hat noch nicht einmal einen Rang. Er ist ein Trupp-Magier, und in diesem Augenblick ist er sehr weit weg und kommt sich wahrscheinlich vor wie die Fliege im Spinnennetz. Also, wir wissen, dass wir die Speerspitze sein werden, wenn es zur Schlacht kommt, und das wird uns teuer zu stehen kommen. Was den Seher selbst betrifft und das, was auch immer sich hinter ihm versteckt, nun, wir hoffen jetzt, dass ihr euch darum kümmert. Dasselbe gilt für den Verkrüppelten Gott. Du hast Recht, Korlat, wir sind nichts weiter als Soldaten. Noch dazu ziemlich müde Soldaten. Wenn wir das Rückgrat dieser Vereinten Armee sind, dann helfe uns der Vermummte, denn dann ist es ein gebeugtes, ein brüchiges Rückgrat.«

Sie legte ihre Hand auf die seine, drückte sie gegen ihre Wange. Ihre Blicke begegneten sich. »Gebeugt und brüchig? Das glaube ich nicht.«

Elster schüttelte den Kopf. »Das hier ist keineswegs ein Versuch, besondere Bescheidenheit zu zeigen, Korlat. Ich sage die Wahrheit, obwohl ich fürchte, dass du nicht darauf vorbereitet bist.«

»Silberfuchs manipuliert ihre Mutter«, sagte die Tiste Andii nach einem Augenblick. »Irgendwie. Möglicherweise ist sie sogar für die schrecklichen Albträume der alten Frau verantwortlich.«

»Das kann ich mir nur schwer vorstellen – «

»Flickenseel würde so etwas nie tun, richtig? Aber was ist mit dieser Nachtfrost? Oder mit dem Thelomen? Du hast sie gekannt, Elster. Zumindest besser als wir. Ist es möglich, dass diese beiden – allein oder einzeln – dafür verantwortlich sind?«

Er sagte nichts, während er die Wunden auf ihrer Wange sauber wischte. »Das sollte von einem Heiler behandelt werden, Korlat, sonst könnte es sich – «

»Elster.«

Er seufzte, trat einen Schritt zurück. »Ich fürchte, Nachtfrost könnte sehr wohl das Gefühl hegen, verraten worden zu sein. Und sie könnte sich die Ziele für ihre Rache willkürlich aussuchen. Das Gleiche gilt für Bellurdan Schädelzerschmetterer. Schließlich wurden sie beide verraten. Wenn du Recht damit hast, was mit der Mhybe geschieht – dass sie ihr irgendetwas antun –, dann würde ich trotzdem annehmen, dass Flickenseel sich ihnen widersetzen würde.«

»Und was ist, wenn sie den Kampf schon verloren hat?«

»Ich habe keinerlei Anzeichen gesehen, die – «

In Korlats Augen blitzte es auf, und sie stieß ihm einen Finger gegen die Brust. »Das soll wohl heißen, dass deine beiden Seesoldatinnen dir von keinerlei Anzeichen berichtet haben!«

Er zog eine Grimasse. »Sie sind trotzdem Freiwillige, Korlat. In Anbetracht des beängstigenden Ausmaßes unserer Unwissenheit in dieser Angelegenheit zahlt es sich aus, wachsam zu sein. Diese beiden Seesoldatinnen haben beschlossen, über Silberfuchs zu wachen, weil sie Flickenseel in ihr sehen. Nicht nur äußerlich, sondern auch, was ihre Persönlichkeit anbelangt. Wenn irgendetwas schief gegangen wäre, hätten sie es bemerkt, und dann wären sie zu mir gekommen. Unverzüglich.«

Korlat ließ die Hand sinken. Sie seufzte. »Und ich bin hier hereingestürmt, um dir den Kopf abzureißen. Verdammt, Elster, womit habe ich dich verdient? Und – beim Abgrund – warum bist du immer noch hier? Nach all meinen anklagenden Worten …«

»Vor ein paar Stunden ist Dujek auf ziemlich ähnliche Weise hier hereingestürmt.« Er grinste. »Heute war wohl einfach so ein Tag. Und jetzt sollten wir nach einem Heiler schicken – «

»Gleich.« Sie musterte ihn. »Elster. Du hast tatsächlich keine Ahnung, was für eine seltene Art von Mann du bist, was?«

»Selten?« Sein Grinsen wurde breiter. »Natürlich weiß ich das. Mich gibt’s nur einmal, dem Vermummten sei Dank.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

Er trat zu ihr und legte ihr einen Arm um die Hüfte. »Es ist Zeit, einen Heiler zu suchen, Korlat. Ich habe ziemlich schlichte Bedürfnisse, und wir verschwenden Zeit.«

»Die Antwort eines Soldaten«, sagte sie. »Aber ich lasse mich nicht zum Narren halten, das weißt du.«

Sie konnte nicht sehen, wie er die Augen schloss. Oh, doch, Korlat. Wenn du das volle Ausmaß meiner Angst kennen würdest … dass ich dich verlieren könnte …

 

Wild mit den Armen rudernd schlenderte Kruppe, der Aal von Darujhistan, Gelegenheitshehler und -dieb, der dem Kriegsherrn Caladan Bruth getrotzt hatte, den Hauptgang zwischen den Zelten entlang, der zu den Wagen mit den Vorräten führte. Er war gerade aus dem Kochzelt von Motts Irregulären gekommen und hielt in jeder Hand einen Nathi-Schwarzkuchen, von dem der Sirup tropfte. Ein paar Schritte hinter ihm trottete sein Maultier dahin, die Nase nach den beiden Kuchen ausgestreckt, die Ohren nach vorne gestellt.

Gerade war der zweite Glockenschlag seit Mitternacht durch das Lager geklungen, hatte die ein Stück entfernt ruhende Bhederin-Herde zu einem traurigen Muhen veranlasst, das verstummte, als die Tiere wieder einschliefen. Als er die Wagen erreichte – die in einem Rechteck aufgestellt waren, um ein Fort auf Rädern zu bilden –, bemerkte er zwei malazanische Seesoldatinnen, die in ihre Umhänge gehüllt vor einem kleinen Dungfeuer saßen.

Kruppe änderte die Richtung und ging zu ihnen hinüber. »Edle Freundinnen«, rief er leise. »Es ist schon spät, und zweifellos könntet ihr Hübschen etwas Süßes gebrauchen.«

Die beiden Frauen blickten auf. »Ach«, brummte die eine. »Es ist der fette Daru.«

»Und sein Maultier, das sich da hinter ihm in den Schatten rumdrückt.«

»Oh ja, einzigartig ist Kruppe, das ist er in der Tat! Seht her!« Er streckte ihnen die siruptriefenden Kuchen entgegen. »Für euch, meine Lieblinge.«

»Und was sollen wir jetzt essen, die Kuchen oder Eure Hände?«

Die andere zog bei den Worten ihrer Kameradin ihr Messer. »Ein paar schnelle Schnitte, und wir können selbst wählen, stimmt’s?«

Kruppe wich zurück. »Bei der Königin der Träume! Wie verbissen und vollkommen unweiblich! Ihr seid die Wächterinnen der lieblichen Silberfuchs, ja? Welch beruhigende Tatsache. Das Herz Flickenseels, das so klar aus dem Kind-das-nun-eine-Frau-ist hervorleuchtet – «

»Stimmt, wir haben Euch schon oft gesehen. Wenn Ihr mit dem Mädchen geredet habt. Sie ist die Zauberin, ja. Leicht zu erkennen für diejenigen von uns, die sie gekannt haben.«

»Welch außergewöhnliche Unverbundenheit in diesem Austausch. Kruppe ist erfreut – «

»Bekommen wir jetzt diese Sirup-Kuchen, oder was?«

»Natürlich, obwohl das blitzende Messer den großzügigen Kruppe immer noch blendet.«

»Ihr habt wohl überhaupt keinen Sinn für Humor, was? Kommt, setzt Euch zu uns, wenn Ihr Euch traut.«

Der Daru lächelte und trat wieder vor. »Nathi-Schwarzkuchen, meine Lieben.«

»Wir können es erkennen. Motts Irreguläre haben immer damit nach uns geworfen, wenn ihnen die Pfeile ausgegangen sind.«

»Jayball hat mal einen mitten ins Gesicht gekriegt, wenn ich mich recht erinnere.«

»Stimmt, und dann ist er gestolpert, und als er wieder hochgekommen ist, hat er ausgesehen wie ein Stück Waldboden mit Augen.«

»Tja, schrecklicher Sirup, tödliche Waffe«, stimmte Kruppe zu und hielt den beiden Seesoldatinnen erneut die Kuchen hin.

Sie nahmen sie.

»Eine beherzte Tat, den Schutz des Rhivi-Mädchens zu übernehmen.«

»Sie ist kein Rhivi-Mädchen. Sie ist Flickenseel. Der Pelz und die Felle sind nur Schau.«

»Ach, dann habt ihr also mit ihr gesprochen.«

»Nicht viel. Aber das brauchen wir auch nicht. Diese Kuchen gehen ohne all die Zweige und Blätter viel besser runter, was?«

Kruppe blinzelte, dann nickte er langsam. »Ganz bestimmt. Es ist eine große Verantwortung, die Augen eures Kommandanten zu sein und auf besagtes Mädchen aufzupassen.«

Die beiden Frauen hörten auf zu kauen. Sie warfen sich einen Blick zu, und die eine schluckte und sagte: »Augen? Wessen Augen, Dujeks? Wenn wir die Augen von dem sind, dann ist er so blind wie ein Maulwurf.«

»Ach, Kruppe hat natürlich Elster gemeint.«

»Elster ist nicht blind, und er braucht uns nicht, um etwas zu sehen.«

»Nichtsdestotrotz«, meinte der Daru lächelnd, »ist er ohne Zweifel überaus beruhigt darüber, dass ihr euch diese Aufgabe selbst auferlegt habt, und von euren Berichten und so weiter. Wenn Kruppe Elster wäre, wäre er es zumindest.«

»Wäre er was?«

»Nun, beruhigt natürlich.«

Die beiden Frauen stießen ein undefinierbares Grummeln aus, dann schnaubte die eine und sagte: »Der war gut. Wenn Ihr Elster wärt. Hah.«

»Eine Metapher – «

»Bestimmt nicht, Dickerchen. Ihr wollt versuchen, in Elsters Fußstapfen zu treten? Wollt versuchen, mit seinen Augen zu sehen? Hah.«

»Hah, würde ich auch sagen«, stimmte die andere Frau zu.

»Und genau das hast du getan«, bemerkte Kruppe.

»Was getan?«

»›Hah‹ gesagt.«

»Verdammt richtig. Elster hätte Imperator werden sollen, als der alte umgelegt wurde. Nicht Laseen. Aber die hat gewusst, wer ihr Rivale war, oh ja, das hat sie. Darum hat sie ihn degradiert, hat ihn zu einem verdammten Sergeanten gemacht, beim Vermummten, und ihn weit, weit weggeschickt.«

»Dann ist dieser Elster also ein ehrgeiziger Mann.«

»Ganz und gar nicht, Daru. Und das ist es ja gerade. Er hätte einen guten Imperator abgegeben, habe ich gesagt. Den Thron nicht zu wollen ist die beste und einzige Qualifikation, über die es sich nachzudenken lohnt.«

»Wie wunderlich, meine Liebe.«

»Bin ich gar nicht.«

»Entschuldigung – was bist du nicht?«

»Wunderlich. Hört zu. Das malazanische Imperium wäre etwas völlig anderes, wenn Elster vor all diesen Jahren den Thron bestiegen hätte. Wenn er getan hätte, was wir alle von ihm wollten und Laseen am Kragen gepackt und aus einem der Turmfenster geworfen hätte.«

»Und wäre er denn zu solch einem bemerkenswerten Kraftakt fähig gewesen?«

Die beiden Seesoldatinnen blickten sich an. »Hast du schon mal Armdrücken mit ihm gespielt?«, fragte die eine. »Oder seinen Bizeps gefühlt?«

Die andere schüttelte den Kopf. »Nein. Andererseits ist Laseen nicht viel mehr als ’ne halbe Portion – ich meine, wenn’s um Detoran ginge – um jetzt mal bei Napanesinnen zu bleiben –, das wäre schon wieder was völlig anderes.«

»Klar.« Sie gluckste. »Aber stell dir Det bloß mal als Imperatrix vor …«

»Die würde wahrscheinlich jeden Morgen als Erstes den Hofstaat verprügeln – «

»Ähm«, unterbrach Kruppe sie. »Ich habe die Tat an sich gemeint, meine Lieben, nicht die Kraft, die für eine derart bemerkenswerte Handlung vonnöten wäre.«

»Oh.«

»Oh ja, richtig. Jetzt hab ich’s verstanden. Ihr wollt wissen, ob er es hätte tun können, wenn er es vorgehabt hätte, stimmt’s? Aber sicher. Es ist keine gute Idee, Elster aufs Kreuz zu legen, und als ob das noch nicht ausreichen würde – er hat auch Verstand.«

»Ja, aber warum«, fragte Kruppe voller Verwunderung, »hat er es dann damals nicht getan?«

»Weil er Soldat ist, Ihr Dummkopf. Wie Laseen sich den Thron angeeignet hat, war schon blutig genug. Das ganze Imperium war erschüttert. Menschen fangen an, sich umzubringen und auf einen noch blutigen Thron loszustürmen, und manchmal hört es nicht mehr auf, manchmal ist es wie mit den Dominosteinen, richtig? Einer nach dem anderen, und das ganze Ding fällt auseinander. Er war derjenige, auf den wir alle gehört haben, klar? Wir haben abgewartet, wie er es hinnehmen würde – Laseen und all das. Und als er einfach salutiert und gesagt hat: ›Ja, Imperatrix‹, hat sich die Lage wieder beruhigt.«

»Er hat ihr eine Chance gegeben, versteht Ihr?«

»Natürlich. Und glaubt ihr Schätzchen jetzt, dass er einen Fehler gemacht hat?«

Die beiden Frauen zuckten gleichzeitig die Schultern. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte die eine. »Wir sind hier, und hier ist hier, und das war’s dann.«

»So soll es sein, und so soll es sein«, sagte Kruppe und erhob sich seufzend. »Welch wundersame Konversation. Kruppe dankt euch und wird nun wieder gehen.«

»In Ordnung. Und danke für die Kuchen.«

»Es war Kruppe eine Freude. Gute Nacht, meine Lieben.« Er schlenderte davon, machte sich wieder auf den Weg in Richtung der Wagen mit den Vorräten.

Nachdem er im Zwielicht verschwunden war, sprach eine Zeit lang keine der beiden Seesoldatinnen ein Wort. Sie waren damit beschäftigt, sich den Sirup von den Fingern zu lecken.

Dann seufzte die eine.

Die andere tat es ihr augenblicklich gleich.

»Und?«

»Ach, das war so verdammt leicht.«

»Glaubst du?«

»Aber sicher. Er ist gekommen und hat erwartet, zwei Gehirne zu finden, und hat kaum eines gefunden.«

»Es könnte immer noch sein, dass ich zu viel gequatscht habe.«

»So sind Halbhirne nun mal, meine Liebe. Alles andere hätte ihn Verdacht schöpfen lassen.«

»Egal. Was glaubst du, worüber reden er und Flickenseel miteinander?«

»Wahrscheinlich über die alte Frau.«

»Genau das denke ich auch.«

»Sie haben etwas vor.«

»Das ist auch mein Verdacht.«

»Und Flickenseel hat dabei das Sagen.«

»Stimmt.«

»Womit die Sache für mich erledigt ist.«

»Geht mir genauso. Weißt du was – dieser Schwarzkuchen war nicht dasselbe ohne die Zweige und die Blätter.«

»Eigenartig – ich habe gerade das Gleiche gedacht …«

Im Innern des Forts auf Rädern näherte sich Kruppe einem anderen Lagerfeuer. Die beiden Männer, die daran kauerten, blickten auf, als er zu ihnen trat.

»Was ist mit deinen Händen?«, fragte Murillio.

»Alles, was Kruppe berührt, bleibt bei ihm, mein Freund.«

»Nun«, knurrte Coll. »Das wissen wir schon seit Jahren.«

»Und was ist mit dem verdammten Maultier?«, hakte Murillio nach.

»Das Biest verfolgt Kruppe tatsächlich, aber das ist jetzt nicht wichtig. Kruppe hat gerade eine interessante Unterhaltung mit zwei Seesoldatinnen geführt. Und er ist erfreut, euch mitzuteilen, dass das Mädchen Silberfuchs tatsächlich in guten Händen ist.«

»Genauso klebrig wie deine?«

»Ja, das sind sie jetzt, teurer Murillio, das sind sie jetzt.«

»Was du da gesagt hast, klingt wirklich gut«, sagte Coll. »Aber nützt es uns irgendwas? Da drinnen in dem Wagen schläft eine alte Frau, und ihr gebrochenes Herz ist noch das Harmloseste von dem, worunter sie leidet, und das ist schon schlimm genug, den stärksten Mann zu zerbrechen, ganz zu schweigen von einer gebrechlichen alten Frau.«

»Kruppe ist erfreut, dir versichern zu können, dass Angelegenheiten von gewaltiger Barmherzigkeit im Werden sind. Deshalb sollte man momentane Erscheinungen unberücksichtigt lassen.«

»Und warum sagst du ihr das nicht?«, grollte Coll und nickte zum Wagen der Mhybe hinüber.

»Ach, sie ist leider noch nicht bereit, solche Wahrheiten anzunehmen. Dies ist eine Reise des Geistes. Sie muss sie in ihrem Innern beginnen. Kruppe und Silberfuchs können nicht alles leisten, trotz ihrer scheinbaren Allmacht.«

»Allmacht, ja?« Coll schüttelte den Kopf. »Gestern hätte ich über diese Behauptung noch gelacht. Du hast also die Machtprobe mit Caladan Bruth überstanden, ja? Ich würde gern so genau wie möglich erfahren, wie du das gemacht hast, du verdammte Kröte.«

Kruppe zog die Brauen hoch. »Mein lieber Zechbruder Coll! Dein Mangel an Glauben zerschmettert den zerbrechlichen Kruppe bis zu den Spitzen seiner Zehen, die sich ihrerseits vor Qual krümmen!«

»Beim Vermummten, untersteh dich, uns das zu zeigen«, wehrte Murillio ab. »Du hast diese Schuhe an, seit ich dich kenne, Kruppe.

Poliel selbst würde vor dem zurückschrecken, was wahrscheinlich zwischen deinen Zehen lauert.«

»Oh, das sollte sie auch! Doch um Colls Frage mit prägnanter Präzision zu beantworten, erklärt Kruppe, dass Ärger – ach was, Wut – keine Wirkung gegen einen wie ihn hat, für den die Welt eine Perle ist, die sich in die schleimigen Grenzen seines geschärften, muskulösen Verstandes kuschelt. Äh, vielleicht gerät diese Anspielung ins Wanken, wenn man länger darüber nachdenkt – und wird noch schlimmer, wenn man noch länger darüber nachdenkt. Kruppe versucht es noch einmal. Für den, wie man sagt, die Welt nichts anderes ist als ein gefiederter Traum aus unvorstellbaren Farben und Wundern, in dem selbst die Zeit ihre Bedeutung verloren hat … übrigens, wo wir gerade von Zeit sprechen … es ist schon sehr spät, nicht? Der Schlaf lockt, der Strom ruhiger Transsubstanziation, der Vergessen in Wiedergutmachung und Verjüngung verwandelt, und das allein ist schon Wunder genug für uns alle, um diese unstete Nacht zu beschließen!« Er wedelte ein letztes Mal kräftig mit den Händen und schritt davon. Einen Augenblick später trottete das Maultier hinter ihm her.

Die beiden Männer starrten dem seltsamen Gespann nach.

»Ich wollte, Bruths Hammer hätte diese ölige Birne getroffen«, brummte Coll nach einem Moment.

»Er wäre wahrscheinlich abgerutscht«, sagte Murillio.

»Stimmt, da hast du Recht.«

»Muscheln und Perlen und Käsefüße … beim Abgrund, ich glaube, mir wird schlecht.«

 

Hoch über dem Lager legte Scharteke die müden, bleischweren Flügel an und sank in einer lang gezogenen Spirale zum Zelt des Kriegsherrn hinab. Trotz ihrer Enttäuschung erschauerte sie immer wieder vor Aufregung und Neugier. Aus dem Spalt im Norden des Lagers strömte immer noch Brands verfaultes Blut. Die Anführerin der Großen Raben war noch über den Weitblickbergen weit im Südosten gewesen, als sie die Detonation gespürt hatte – und sie hatte sofort gewusst, was das gewesen war. Caladan Bruths Zorn.

Der Kuss des Hammers, und damit eine explosionsartige Neuformung der natürlichen Welt. Sie konnte auch in der Dunkelheit gut sehen, und der scharf umrissene Grat einer Bergkette aus Basalt stieg jetzt dort auf, wo keine Berge sein sollten – im Herzen der Catlinebene. Und dann die magischen Energien, die dem Blut der Schlafenden Göttin entströmten – auch diese erkannte Scharteke.

Die Berührung des Verkrüppelten Gottes. In Brands Adern fand eine Umwandlung statt. Der Gestürzte machte ihr Blut zu seinem eigenen. Und das ist ein Geschmack, den ich sehr gut kenne, denn er war für mich wie Muttermilch, vor sehr, sehr langer Zeit. Für mich und für meine Verwandten.

Veränderungen waren über die Welt unter ihr gekommen, und Scharteke ergötzte sich an Veränderungen. Ihre Seele und die ihrer Artgenossen waren einmal mehr zu besonderer Wachsamkeit aufgerüttelt worden. Noch nie hatte sie sich lebendiger gefühlt.

Während sie unter den warmen Aufwinden hindurchglitt, sank sie immer tiefer und wich dabei gelegentlich tänzelnd den kühlen Fallböen aus – Echos der traumatischen Störung, die die Atmosphäre aufgewühlt hatte, als Bruths Zorn sich entladen hatte –, bis sie schließlich mit einem leisen Geräusch auf der Erde vor dem Zelt des Kriegsherrn landete.

Drinnen war alles dunkel.

Leise krächzend hüpfte Scharteke unter der halb hochgeschlagenen Zeltklappe hindurch.

»Kein Wort«, ließ sich Bruths grollende Stimme in der Dunkelheit vernehmen, »über meinen Wutausbruch.«

Der Große Rabe neigte den Kopf in Richtung der Lagerstatt. Der Kriegsherr saß auf dem Rand, den Kopf in die Hände gestützt. »Ganz wie du willst«, murmelte Scharteke.

»Berichte.«

»Das werde ich tun. Zuerst von Anomander Rake. Er hat Erfolg gehabt. Mondbrut ist ungesehen durchgekommen und … versteckt sich nun. Meine Kinder ziehen ihre Kreise weit über dem Land des Pannionischen Sehers. Nicht nur ihre Augen haben die Wahrheit all dessen gesehen, was unter ihnen liegt, Kriegsherr. Auch ich selbst–«

»Spar dir diese Einzelheiten für später auf. Mondbrut ist also an Ort und Stelle. Gut. Bist du nach Capustan geflogen, wie ich es gewünscht habe?«

»Das bin ich, Gewichtiger. Und ich bin Zeugin des ersten Tages und der ersten Nacht der Schlacht geworden.«

»Und wie schätzt du die Situation ein, Scharteke?«

»Die Stadt wird nicht standhalten, Kriegsherr. Was nicht die Schuld der Verteidiger ist. Doch was ihnen gegenübersteht, ist einfach zu gewaltig.«

Bruth gab ein Brummen von sich. »Vielleicht hätten wir doch noch einmal über Dujeks Vorschlag hinsichtlich der Schwarzen Moranth nachdenken sollen – «

»Ah, die sind ebenfalls in Stellung gebracht worden, genau dort, wo Einarm sie haben wollte.« Scharteke zögerte, musterte Caladan Bruth erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge. »Eine ungewöhnliche Einzelheit muss ich noch vorbringen, Kriegsherr. Willst du sie hören?«

»Na schön.«

»Der Seher führt auch im Süden Krieg.«

Bruths Kopf ruckte hoch.

»Ja«, sagte Scharteke nickend. »Meine Kinder haben Armeen der Domäne gesehen, die vernichtend geschlagen worden waren und sich in Richtung Norden auf dem Rückzug befanden. Zurück nach Wacht. Der Seher hat enorme magische Energien gegen den unbekannten Feind eingesetzt. Flüsse aus Eis, Mauern aus Eis. Eisige Kälte, Winde und Stürme – es ist lange her, seit wir zum letzten Mal erlebt haben, wie dieses besondere Gewirr enthüllt wurde.«

»Omtose Phellack. Das Gewirr der Jaghut.«

»Genau. Kriegsherr, du scheinst von dieser Nachricht weniger überrascht zu sein, als ich angenommen hatte.«

»Darüber, dass im Süden Krieg herrscht, bin ich tatsächlich überrascht, Scharteke.« Er stand auf, legte sich eine Felldecke um die Schultern und begann, auf und ab zu gehen. »Was hingegen Omtose Phellack angeht … nein, darüber bin ich nicht überrascht.«

»Ah … Der Seher ist also nicht das, was er zu sein scheint.«

»Offensichtlich nicht. Rake und ich hatten einen Verdacht …«

»Nun«, schnappte Scharteke, »wenn ich von diesem Verdacht gewusst hätte, hätte ich die Situation in Wacht genauer untersucht. Deine Widerspenstigkeit schwächt uns alle.«

»Wir hatten keinerlei Beweise, Scharteke. Außerdem schätzen wir deine gefiederte Haut zu sehr, als dass wir riskieren würden, dass du dich zu nahe an die Festung eines unbekannten Feindes heranwagst. Es ist nun einmal geschehen. Sag mir, bleibt der Seher in Wacht?«

»Meine Brüder und Schwestern waren leider nicht in der Lage, das festzustellen. In jenem Gebiet gibt es Kondore, und sie waren über unsere Anwesenheit nicht sonderlich erfreut.«

»Wieso sollten euch ganz normale Vögel Ärger machen?«

»Sie sind nicht ganz normal. Sicher, sterbliche Vögel sind normalerweise kaum mehr als gefiederte Echsen, aber diese ganz besonderen Kondore waren mehr Echsen als alles andere.«

»Die Augen des Sehers?«

»Möglicherweise.«

»Das könnte sich als problematisch erweisen.«

Scharteke zuckte mit halb angelegten Flügeln die Schultern. »Hast du ein paar Stückchen Fleisch? Mich hungert.«

»In der Abfallgrube hinter dem Zelt sind noch ein paar Reste von der Ziege, die’s zum Abendessen gegeben hat.«

»Was? Du würdest mich aus der Abfallgrube essen lassen?«

»Verdammt noch mal, du bist ein Rabe, Scharteke – warum also nicht?«

»Ungeheuerlich! Aber wenn das alles ist, was noch da ist …«

»So ist es.«

Scharteke hüpfte auf die hintere Zeltwand zu und gab dabei gluckende Geräusche von sich, um ihre Wut im Zaum zu halten. »Nimm dir in Zukunft ein Beispiel an mir«, murmelte sie, als sie sich unter dem Stoff hindurchzwängte.

»Wie meinst du das?«, fragte Bruth hinter ihr.

Sie steckte ihren Kopf wieder ins Innere des Zelts, öffnete den Schnabel zu einem stummen Lachen und antwortete schließlich: »Habe ich einen Wutanfall bekommen?«

Grollend machte er einen Schritt auf sie zu.

Der Große Rabe krächzte und floh.