Kapitel Vier
Was die Seele aufnehmen kann, kann das Fleisch niemals ergründen.
Der Traum des Fener
Imarak, der Erste Destriant
D
ie raue Haut war heiß, fiebrig, und sie bewegte sich wie ein feuchter, mit Felsbrocken gefüllter Sack. Der Körper der Matrone sonderte ein ätzendes Öl ab, das die zerfetzten Kleider Tocs des Jüngeren längst durchdrungen hatte. Sie hatte die gewaltigen Arme in einer stürmischen Umarmung um ihn geschlungen, und als die riesige, aufgeblähte K’Chain Che’Malle sich jetzt auf dem sandigen Boden bewegte, rutschte er zwischen Hautfalten hindurch.
In der Höhle herrschte Dunkelheit.
Der Lichtschimmer, den er gelegentlich sah, entstand in seinem eigenen Kopf. Illusionen, die vielleicht Erinnerungen waren. Zerrissene, bruchstückhafte Szenen von niedrigen Hügeln, die mit gelbem Gras bewachsen im warmen Sonnenlicht lagen. Gestalten, die sich am äußersten Rand seines Blickfelds bewegten. Einige von ihnen trugen Masken. Eine war nichts weiter als tote Haut, die über kräftige Knochen gespannt war. Eine andere war … schön. Perfekt. Er glaubte an keine von ihnen. Ihre Gesichter waren die Gesichter des Wahnsinns, die bedrohlich immer näher rückten, neben seiner Schulter schwebten.
Wenn der Schlaf sich seiner bemächtigte, träumte er von Wölfen. Er jagte, nicht um zu fressen, sondern um etwas zu überbringen … etwas anderes; er wusste nicht, was. Die Beute wanderte allein, die Beute floh, wenn sie ihn sah. Mit den Brüdern und Schwestern an seiner Seite verfolgte er sie. Unermüdlich. Meile um Meile glitt mühelos unter ihren Pfoten dahin. Die kleine, furchtsame Kreatur konnte ihnen nicht entkommen. Er und seine Artgenossen kamen näher, erschöpften die Beute, indem sie sie zahllose Hügel hinauftrieben, bis sie schließlich ins Straucheln geriet und zusammenbrach. Sie umzingelten sie.
Als sie näher traten, um zu überbringen … was überbracht werden musste, … verschwand die Beute.
Entsetzen, dann Verzweiflung.
Er und seine Artgenossen umkreisten die Stelle, an der sie gelegen hatte. Hoben die Köpfe zum Himmel und stießen ein klagendes Geheul aus. Heulten ohne Unterlass. Bis Toc der Jüngere blinzelnd erwachte, in der Umarmung der Matrone, während die stickige Luft in der Höhle unter den verebbenden Echos seines Geheuls zu tanzen schien. Dann würde die Kreatur ihn fester umfangen. Würde ihn winselnd mit der zahnstarrenden Schnauze im Nacken anstupsen; ihr Atem roch nach gesüßter Milch.
Die Zyklen seines Lebens. Schlaf, dann eine Wachphase, unterbrochen von Halluzinationen.
Verschwommene Szenen von Gestalten im goldenen Sonnenlicht, die Wahnvorstellung, ein kleines Kind in den Armen der Mutter zu sein, an ihren Brüsten zu saugen – die Matrone hatte keine Brüste, daher wusste er, dass dies Wahnvorstellungen waren, wurde aber dennoch von ihnen gestärkt –, und dann Zeiten, zu denen er begann, seine Blase und seinen Darm zu entleeren. Sie hielt ihn von sich weg, wenn er dies tat, so dass er nur sich selbst beschmutzte. Anschließend leckte sie ihn sauber, eine Geste, die ihm den letzten Rest seiner Würde raubte.
Ihre Umarmung brach Knochen. Je lauter er vor Schmerzen schrie, desto fester hielt sie ihn. Er hatte gelernt, stumm zu leiden. Seine Knochen heilten mit unnatürlicher Geschwindigkeit. Manchmal heilten sie schief zusammen. Er wusste, dass er missgestaltet war – seine Brust, seine Hüften, seine Schulterblätter.
Und dann kamen die Besuche. Ein geisterhaftes Gesicht, umhüllt vom runzligen Antlitz eines alten Mannes, eine Andeutung glänzender Hauer, nahm in seinem Geist Gestalt an. Gelbliche Augen, aus denen Schadenfreude leuchtete, hefteten sich auf die seinen.
Die einander überlappenden Gesichter hatten etwas Vertrautes, doch diese Erkenntnis allein brachte Toc nicht weiter.
Der Besucher sprach zu ihm.
Sie sind gefangen, mein Freund. Alle außer dem T’lan Imass, der die Einsamkeit fürchtet. Weshalb sollte er sonst bei seinen Gefährten bleiben? Die vom Eis verschlungen sind. Hilflos. Erstarrt. Die Seguleh – es gibt keinen Grund, sie zu fürchten. Hat nie einen gegeben. Ich habe nur gespielt. Und die Frau! Meine mit Raureif überzogene, wunderschöne Statue. Der Wolf und der Hund sind verschwunden. Geflohen. Ja, dein Verwandter, der Bruder deiner Augen … ist geflohen. Den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Hahaha!
Und wieder.
Deine malazanische Armee kommt zu spät! Zu spät, um Capustan zu retten! Die Stadt gehört mir. Die Soldaten – deine Kameraden – sind immer noch eine Woche entfernt. Wir werden sie erwarten. Wir werden sie so empfangen, wie wir alle Feinde empfangen.
Ich werde dir den Kopf des malazanischen Generals bringen. Ich werde dir sein gebratenes Fleisch bringen, und wir beide, du und ich, werden noch einmal zusammen speisen.
Wie viel Blut kann eine Welt vergießen? Hast du dich das jemals gefragt, Toc der Jüngere? Sollen wir es uns ansehen? Dann lass es uns ansehen. Du und ich, und die liebe Mutter hier – oh, ist das Entsetzen, was ich da in ihren Augen sehe? Es scheint, als säße irgendwo in ihrem verfaulten Hirn immer noch ein Fünkchen Verstand. Wie unglücklich … für sie.
Und jetzt kehrte er nach langer Abwesenheit ein weiteres Mal zurück. Die falsche Haut des alten Mannes spannte sich straff über dem unmenschlichen Gesicht. Die Hauer waren wie durch eine durchsichtige Hülle zu erkennen. Die Augen brannten, diesmal jedoch nicht vor Schadenfreude.
Betrug! Das sind keine sterblichen Wesen! Wie können sie es wagen, meine Verteidigungsanlagen anzugreifen! Hier, direkt vor diesen Toren! Und jetzt ist der T’lan Imass verschwunden – ich kann ihn nirgendwo sehen! Kommt er auch?
So soll es denn sein. Sie werden dich nicht finden. Wir machen eine Reise, wir drei. Nach Norden, weit außerhalb ihrer Reichweite. Ich habe ein … ein anderes Nest für euch beide vorbereitet.
Die Unannehmlichkeit …
Doch Toc hörte ihm nicht länger zu. Seine Gedanken waren weggerissen worden. Er sah sprödes weißes Sonnenlicht, ein schmerzhaftes Leuchten, das eisumhüllten Bergen und unter Schneeflüssen begrabenen Tälern entströmte. Am Himmel kreisten Kondore. Und dann, viel näher, war da Rauch; hölzerne Bauwerke zerbarsten, steinerne Mauern stürzten ein. Gestalten rannten durcheinander, schrien. Rote Flecken erschienen auf dem Schnee, füllten die milchigen Pfützen einer kiesbestreuten Straße.
Der Blickwinkel – Augen, die durch einen roten Schleier sahen – veränderte sich, schwang zu einer Seite. Ein schwarz und grau gesprenkelter Hund hielt Schritt; seine Schultern befanden sich in Augenhöhe der gerüsteten Gestalten, die er mit schattenhafter Wildheit in Stücke riss. Die Kreatur lief auf ein zweites Tor zu, ein bogenförmiges Portal am Fuß einer hoch aufragenden Festung. Niemand konnte ihr standhalten, niemand konnte sie aufhalten.
Grauer Staub stieg wirbelnd von den Schultern des Hundes auf. Wirbelte weiter. Drehte sich, verwandelte sich in Arme, in Beine, die sich um die Flanken des Hundes schlangen, einen Kopf mit einem Knochenhelm, ein zerrissenes Fell, das wie ein zerfetzter Flügel hinter ihm herflatterte. Ein hoch erhobenes gewelltes Schwert, das die Farbe von altem Blut hatte.
Seine Knochen sind in Ordnung, sein Fleisch nicht. Mein Fleisch ist in Ordnung, meine Knochen nicht. Sind wir Brüder?
Hund und Reiter – eine albtraumhafte Vision – krachten gegen das große, mit Eisenbändern verstärkte Tor.
Holz barst. Im dämmrigen Licht des Torwegs kam das Grauen über einen zurückweichenden Haufen von Domänensern.
In großen Sätzen auf das geborstene Portal zueilend, sah Toc durch die Augen des Wolfs, blickte in die Schatten, wo große, reptilhafte Gestalten zu beiden Seiten des Hundes und seines untoten Reiters in sein Blickfeld traten.
Die K’ell-Jäger hoben ihre breiten Klingen.
Zähnefletschend schoss der Wolf los. Sein Augenmerk war auf das Tor gerichtet; dort war jede Einzelheit so scharf wie zerbrochenes Glas, während zu den Seiten hin alles verschwamm. Eine leichte Gewichtsverlagerung brachte ihn zu dem K’ell-Jäger, der den Hund und seinen Reiter von links angriff.
Die Kreatur schwenkte herum, die Schwerter schlugen zu, um seinen Angriff aufzuhalten.
Der Wolf duckte sich unter ihnen hindurch, sprang dann mit weit aufgerissenen Fängen hoch. Sein Maul füllte sich mit ledriger Haut. Seine Reißzähne sanken tief in lebloses Fleisch. Kiefermuskeln spannten sich. Knochen knackten, brachen, als der Wolf unerbittlich zubiss, noch während der Schwung seines Angriffs den K’ell-Jäger rücklings auf seinen Schwanz fallen und gegen eine Wand krachen ließ, die unter dem Aufprall erzitterte. Die oberen und die unteren Reißzähne trafen aufeinander. Zackige Backenzähne mahlten, durchtrennten holzige Sehnen und vertrocknete Muskeln.
Der Wolf trennte den Kopf vom Körper.
Der K’Chain Che’Malle unter ihm erbebte, brach unter Krämpfen zusammen. Eine fuchtelnde Klinge hieb in die rechte Keule des Wolfs.
Toc und das Tier zuckten unter dem Schmerz zusammen, ließen jedoch nicht los.
Der von einem reich verzierten Helm bedeckte Kopf fiel nach hinten und prallte mit einem dumpfen Geräusch auf die matschbedeckten Pflastersteine.
Fauchend, Reste von leblosem Fleisch zwischen den Zähnen, wirbelte der Wolf herum.
Der Hund kauerte mit gebeugtem Rücken in einer Ecke des Torwegs. Er blutete. Er war allein, kämpfte mit seinen Wunden.
Der untote Schwertkämpfer – mein Bruder – stand jetzt auf seinen lederumwickelten Füßen und focht mit seinem Feuersteinschwert gegen die beiden Klingen des zweiten K’ell-Jägers. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Stücke des K’Chain Che’Malle flogen durch die Luft. Ein Unterarm mit dem daran befestigten Schwert wirbelte durch den Torweg und landete kurz vor dem zusammenzuckenden Hund.
Der K’ell-Jäger taumelte unter dem heftigen Angriff zurück.
Schienbeinknochen brachen mit einem trockenen, spröden Knacken. Die große Kreatur stürzte zu Boden, Matsch spritzte nach allen Seiten.
Der untote Krieger kletterte auf seinen Gegner und schwang sein Schwert, um den K’Chain Che’Malle systematisch zu zerstückeln. Es war eine Aufgabe, die er rasch erledigt hatte.
Der Wolf näherte sich dem verwundeten Hund. Das Tier schnappte warnend, bedeutete ihm, Abstand zu halten -
Plötzlich war Toc blind, sah nicht mehr mit den Augen des Wolfs.
Bittere Windböen zerrten an ihm, doch die Matrone hielt ihn fest. Sie waren unterwegs. Rasch. Reisten durch ein Gewirr, einen Pfad aus von Spalten durchzogenem Eis. Sie flohen aus Wacht, begriff er, flohen aus der Festung, die soeben erstürmt worden war.
Von Baaljagg. Und Garath und Tool. Garath – diese Wunden -
»Still!«, kreischte eine Stimme.
Der Seher war bei ihnen, wies ihnen den Weg durch Omtose Phellack.
Die Klarheit, die wie ein Geschenk zu Toc zurückgekehrt war, blieb in seinem Verstand. Sein Lachen war ein würgendes Gurgeln.
»Sei still!«
Das gesamte Gewirr wurde von fernem Donner erschüttert, das Geräusch gigantischer Eisfelder, die … aufbrachen, in einem Ausbruch magischer Energien barsten.
Lady Missgunst. Einmal mehr bei uns -
Der Seher schrie auf.
Reptilienarme drückten Toc an sich. Knochen brachen, zersplitterten. Der Schmerz stieß ihn über einen Abgrund. Meine Verwandten, meine Brüder – Er versank in lichtloser Schwärze.
Der Nachthimmel im Süden leuchtete rot. Obwohl Capustan noch mehr als eine Länge entfernt war, konnte man das Sterben der Stadt von dem spärlich bewaldeten Hügel aus gut erkennen. Der Anblick ließ die Betrachter verstummen, so dass die einzigen Geräusche das Klirren von Rüstungen und Waffen und das Schmatzen von Stiefeln und Mokassins im Schlamm waren.
Säuselnd tröpfelte es von den Blättern. Die warme Luft war vom Geruch des voll gesogenen Humus erfüllt, der von seiner Fruchtbarkeit kündete. Irgendwo in der Nähe hustete ein Mann.
Hauptmann Paran zog einen Dolch und fing an, sich den Schlamm von den Stiefeln zu kratzen. Er hatte gewusst, was sie erwarten würde – beim ersten Blick auf die Stadt. Humbrall Taurs Kundschafter hatten es schon vor einiger Zeit berichtet. Die Belagerung war vorbei. Die Grauen Schwerter hatten zwar vielleicht eine gewaltige Summe für ihre Dienste verlangt, doch vom Feuer verkohlte, abgenagte Knochen konnten den Sold nicht einfordern. Doch selbst wenn man wusste, was einen erwartete, ließ der Anblick einer sterbenden Stadt Mitleid aufwallen.
Wären diese Grauen Schwerter die Karmesingarde gewesen, hätte die Szenerie vor Parans Augen durchaus anders aussehen können. Mit der einzigen Ausnahme von Fürst K’azz D’Avores Kompanie der Bekennenden waren Söldner nach Ansicht des Hauptmanns mehr als wertlos. Prahlerische Worte und nichts dahinter.
Dann wollen wir hoffen, dass Humbrall Taurs Kinder mehr Glück gehabt haben. Das schien allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Aber vielleicht gab es ja noch irgendwo ein paar Widerstandsnester. Kleine Gruppen von in die Enge getriebenen Soldaten, die wussten, dass sie keinerlei Gnade erwarten durften, würden bis zum Ende kämpfen. In Gassen, Häusern und Zimmern. Capustans Todeszuckungen würden noch ein wenig in die Länge gezogen werden. Andererseits, wenn diese verdammten Barghast endlich einmal einen vernünftigen Laufschritt hinkriegen würden – statt diesem zänkischen Geschlender –, könnten wir durchaus noch in der Lage sein, das Ende dieses speziellen Schicksals zu berichtigen.
Paran drehte sich um, als Trotter zu ihm trat.
Die Augen des riesigen Barghast glänzten, während er die brennende Stadt betrachtete. »Der Regen hat die Flammen nicht sonderlich eingedämmt«, brummte er stirnrunzelnd.
»Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte Paran. »Ich kann ungefähr fünf große Brände ausmachen. Es könnte schlimmer sein – ich habe Geschichten über Feuerstürme gehört …«
»Stimmt, wir haben mal einen aus der Ferne gesehen, damals, im Reich der Sieben Städte.«
»Was hatte Humbrall Taur zu sagen, Kriegshäuptling? Marschieren wir weiter, oder bleiben wir einfach hier stehen?«
Trotter bleckte die angespitzten Zähne. »Er schickt die Clans der Barahn und Ahkrata nach Südosten. Sie sollen die Anlegeplätze und die schwimmenden Brücken und die Boote einnehmen. Seine eigenen Senan und die Gilk werden Capustan angreifen. Die übrigen Clans werden das Hauptvorratslager des Septarchen erobern, das zwischen den Anlegeplätzen und der Stadt liegt.«
»Das ist ja alles schön und gut, aber wenn wir weiter rumtrödeln – «
»Hetan und Cafal, Taurs Kinder, sind am Leben und nicht in Gefahr. Das beteuern die Schultermänner. Die Knochen werden beschützt, von seltsamer Zauberei. Seltsam, aber überaus mächtig. Es gibt – «
»Verdammt, Trotter! Da vorne sterben Menschen! Da vorne werden Menschen verschlungen]«
Das Grinsen des Barghast wurde breiter. »Aus diesem Grund habe ich die Erlaubnis bekommen … meinen Clan in einem Tempo meiner Wahl weiterzuführen. Hauptmann, seid Ihr wild darauf, einer der ersten Weißgesichter in Capustan zu sein?«
Paran grummelte lautlos vor sich hin. Er verspürte den brennenden Wunsch, sein Schwert zu ziehen, verspürte den Wunsch, sich zu rächen, endlich einmal – nach all dieser Zeit – einen Schlag gegen die Pannionische Domäne zu führen. In seinen wenigen lichten Momenten, in denen der Schnelle Ben nicht im Fieber fantasierte, hatte er deutlich gemacht, dass die Domäne grässliche Geheimnisse barg, dass ihr Herz von Böswilligkeit befleckt war. Nach Ansicht des Hauptmanns war bereits die Existenz der Tenescowri Beweis genug dafür.
Doch bei seinem Wunsch ging es auch noch um etwas anderes. Er lebte mit Schmerzen. In seinem Bauch wütete Feuer. Er spuckte ätzende Gallenflüssigkeit und Blut, wenn er hustete – und hatte es niemandem gesagt. Die Schmerzen fesselten ihn innerlich, und diese Fesseln wurden immer enger.
Und es gibt noch eine andere Wahrheit, eine, die ich immer wieder beiseite schiebe. Sie sucht mich heim. Sucht meine Gedanken heim. Aber ich bin nicht bereit für sie. Noch nicht. Nicht, solange mein Magen in Flammen steht …
Es war zweifellos Wahnsinn – ein Trugbild –, aber Paran glaubte, dass die Schmerzen verschwinden würden – dass alles wieder gut sein würde –, sobald er der Welt die Gewalt übergab, die in seinem Innern gefangen war. Verrückt oder nicht, er klammerte sich an diese Überzeugung. Nur dann wird dieser Druck nachlassen. Nur dann.
Er weigerte sich zu scheitern.
»Dann ruf die Brückenverbrenner zusammen«, murmelte Paran. »Wir können binnen eines Glockenschlags am Nordtor sein.«
Trotter brummte. »Die ganzen knapp drei Dutzend.«
»Nun, ich will verdammt sein, wenn wir diese Barghast nicht so weit beschämen können, dass sie anfangen, sich zu beeilen – «
»Darauf hofft Ihr?«
Paran warf dem Barghast einen Blick zu. »Der Vermummte soll uns alle holen, Trotter, du warst derjenige, der Taur um Erlaubnis gebeten hat, schon loszumarschieren. Erwartest du etwa, dass wir siebenunddreißig Capustan ganz allein zurückerobern? Mit einem bewusstlosen Magier im Schlepptau?«
Der Barghast, der die vor ihnen liegende Stadt mit zusammengekniffenen Augen musterte, rollte die Schultern und sagte: »Wir lassen den Schnellen Ben hier zurück. Und was das Zurückerobern der Stadt angeht, habe ich vor, es zu versuchen.«
Nach einer langen Pause grinste der Hauptmann. »Freut mich, das zu hören.«
Der Marsch der Weißgesicht-Barghast nach Süden über die Hochebenen war langsam und quälend gewesen. Ganz am Anfang hatten immer neue Duelle die Clans ein halbes Dutzend Mal am Tag zum Halten gebracht. Mittlerweile kam das etwas seltener vor, und Humbrall Taurs Entscheidung, in der bevorstehenden Schlacht ganze Clans mit spezifischen Aufgaben zu betrauen, würde die entsprechenden Gelegenheiten in den kommenden Tagen deutlich verringern. Denn obwohl alle Kriegshäuptlinge sich der gleichen Sache verschrieben hatten – der Befreiung ihrer Götter –, dauerten die seit langer Zeit bestehenden Feindschaften fort.
Trotters neue Rolle als Kriegshäuptling der Brückenverbrenner hatte sich als eine gewisse Erleichterung für Paran erwiesen. Er hatte die Verantwortung gehasst, die er als Befehlshaber innegehabt hatte. Der Druck, für das Wohlergehen jedes einzelnen Soldaten unter seinem Kommando sorgen zu müssen, war eine immer schwerere Last geworden. Als Stellvertreter des Anführers hatte sich dieser Druck verringert, wenn auch nur wenig – aber fürs Erste reichte es. Weniger angenehm war die Tatsache, dass Paran seine Rolle als Repräsentant der Brückenverbrenner verloren hatte. Trotter hatte die Aufgabe übernommen, an den Besprechungen des Kriegsrats teilzunehmen, so dass der Hauptmann jetzt dort keine Rolle mehr spielte.
Streng genommen war Paran noch immer der Befehlshaber der Brückenverbrenner. Doch die Kompanie war – soweit es Humbrall Taur und die Barghast betraf – zu einem Stamm geworden, und Stämme wählten Kriegshäuptlinge, und diese Rolle fiel Trotter zu.
Die baumbestandenen Hügel im Rücken, marschierte die Kompanie der Brückenverbrenner zu den schlammigen Ufern eines nur zu bestimmten Jahreszeiten wasserführenden Stroms hinab, der sich auf die Stadt zuschlängelte. Rauch von den Bränden in Capustan verbarg die Sterne am Himmel über ihnen, und der Regen der vergangenen Tage hatte die Erde unter ihren Füßen weich wie einen Schwamm werden lassen. Rüstungen und Waffen waren festgezurrt; die Brückenverbrenner trotteten lautlos durch die Dunkelheit.
Paran war drei Schritte hinter Trotter, der immer noch tat, was er schon in Elsters Trupp getan hatte – die Spitze übernehmen. Das war nicht die ideale Position für einen Kommandanten, dafür aber eine, die zur Rolle des Barghast als Kriegshäuptling passte. Der Hauptmann war darüber nicht besonders glücklich. Was noch schlimmer war – es zeigte nur allzu deutlich, wie starrköpfig Trotter war. Ein solcher Mangel an Anpassungsfähigkeit bei einem Anführer war immer ein Anlass zur Sorge.
Eine unsichtbare Präsenz schien sich auf Parans Schulter niederzulassen, die Berührung eines weit entfernten, vertrauten Geistes. Der Hauptmann verzog das Gesicht. Seine Verbindung zu Silberfuchs wurde stärker. Dies war schon das dritte Mal in dieser Woche, dass sie ihre Fühler nach ihm ausstreckte. Es war nur ein schwacher Hauch, als ob sich zwei Fingerspitzen sanft berührten. Er fragte sich, ob die Verbindung es ihr wohl möglich machte zu sehen, was er sah, ob sie wohl seine Gedanken las. In Anbetracht all dessen, was er in seinem Innern verbarg, begann Paran instinktiv vor diesem Kontakt zurückzuschrecken. Seine Geheimnisse gehörten ihm. Sie hatte kein Recht, sie ihm zu rauben, falls es das war, was sie tat. Selbst taktische Notwendigkeiten rechtfertigten so etwas seiner Meinung nach nicht. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als ihre Präsenz verweilte. Falls sie es tatsächlich ist. Was, wenn -
Vor ihm blieb Trotter stehen, kauerte sich hin, hob die Hand. Er winkte zweimal.
Paran und der Soldat direkt hinter ihm schoben sich an die Seite des Barghast-Kriegers.
Sie hatten die nördlichen Vorposten der Pannionier erreicht. Das Lager war ein einziges Durcheinander, ohne jede Organisation, nachlässig aufgebaut und deutlich unterbemannt. Unrat bedeckte die zertrampelten Wege zwischen Gräben, Gruben und den hier und dort aufgebauten Behelfszelten. Die Luft war schwer vom Gestank der ungünstig platzierten Latrinen.
Die drei Männer betrachteten die Szenerie noch einen Augenblick länger und zogen sich dann zurück, um sich wieder zu den anderen zu gesellen. Die Sergeanten der Trupps glitten vorwärts. Köpfe wurden zusammengesteckt und Kriegsrat gehalten.
Spindel – er war der Soldat gewesen, der Paran begleitet hatte – meldete sich als Erster zu Wort. »Mittelschwere Infanterie«, flüsterte er. »Zwei kleine Kompanien, nach den beiden Standarten zu schließen …«
»Zweihundert Mann«, stimmte Trotter zu. »In den Zelten sind noch mehr. Kranke und Verwundete.«
»Größtenteils Kranke, würde ich sagen«, erwiderte Spindel. »Ruhr, vermute ich, dem Geruch nach. Diese pannionischen Offiziere sind einen Dreck wert. Die Kranken werden nicht mitkämpfen, egal, was wir tun. Alle anderen sind wohl in der Stadt.«
»Die Tore dahinter«, sagte Trotter mit grollender Stimme.
Paran nickte. »Davor liegen eine Menge Leichen. Tausend, vielleicht auch mehr. Es gibt keine Barrikaden an den eigentlichen Toren, und ich habe auch keine Wachen sehen können. Das übersteigerte Selbstbewusstsein der Sieger.«
»Wir müssen durch diese mittelschwere Infanterie durchfetzen«, murmelte Sergeant Fahrig. »Spindel, wie sieht’s bei dir und dem Rest der Sappeure mit Moranth-Munition aus?«
Der kleine Mann grinste. »Na, hast du deinen Mut wiedergefunden, Fahrig?«
Der Sergeant machte ein finsteres Gesicht. »Dies ist ein Kampf, oder? Und jetzt beantworte meine Frage, Soldat.«
»Wir haben eine ganze Menge. Ich hätte allerdings trotzdem gerne Fiedler und seinen langen Arm dabei.«
Paran blinzelte, dann fielen ihm die übergroßen Armbrüste ein, die Fiedler und Igel gelegentlich benutzt hatten, um die Reichweite ihrer Knaller zu erhöhen. »Hat Igel denn keine?«
»Er hat sie kaputtgemacht, der Idiot. Nein, wir werden ein paar Knaller scharf machen, aber nur zum Säen. Heute Nacht sind Fetzer angesagt. Brenner würden zu viel Licht geben – dann könnte der Feind sehen, wie wenig wir in Wirklichkeit sind. Nein, wir nehmen Fetzer. Ich trommle die Jungs und Mädels zusammen.«
»Ich dachte, du bist ein Magier«, murmelte Paran, als der kleine Mann sich zu den wartenden Trupps aufmachte.
Spindel warf einen Blick über die Schulter. »Das bin ich auch, Hauptmann. Und ein Sappeur. ’ne tödliche Mischung, was?«
»Tödlich für uns«, gab Fahrig zurück. »Das und dein verdammtes Haarhemd – «
»He, die verbrannten Stellen wachsen nach, siehst du?«
»Mach schon«, grollte Trotter.
Spindel machte sich daran, die Sappeure der Trupps zusammenzusuchen.
»Dann stoßen wir also einfach mittendurch«, sagte Paran. »Mit den Splitterbomben sollte das eigentlich kein Problem sein, aber dann werden die an den Flanken hinter uns herstoßen – «
Spindel kam rechtzeitig wieder bei ihnen an, um ein undefinierbares Geräusch von sich zu geben und zu sagen: »Deswegen werden wir die Knaller aussäen, Hauptmann. Zwei Tropfen auf das Wachs. Zehn Herzschläge. Das Stichwort heißt ›lauft‹, und wenn wir es rufen, solltet Ihr genau das tun. Und zwar schnell. Wenn Ihr nicht mindestens dreißig Schritt weit weg seid, wenn sie hochgehen, seid Ihr gehackte Leber.«
»Seid ihr fertig?«, fragte Trotter Spindel.
»Ja. Wir sind zu neunt, also kannst du davon ausgehen, dass der Pfad, den wir schlagen werden, knapp unter dreißig Schritt breit sein wird.«
»Waffen raus«, befahl der Barghast. Dann streckte er den Arm aus, packte Spindel an seinem Haarhemd und zog ihn dicht an sich heran. Er grinste. »Macht keine Fehler.«
»Keine Fehler«, wiederholte der Sappeur mit weit aufgerissenen Augen, als Trotter seine spitz zugefeilten Zähne nur wenige Zoll vor seinem Gesicht zuschnappen ließ.
Einen Augenblick später schlichen Spindel und die übrigen acht Sappeure auf die feindlichen Linien zu; in ihren grauen Regenumhängen waren sie kaum mehr als formlose, dunkle Flecken.
Die Präsenz streifte wieder Parans Bewusstsein. Er tat, was er konnte, um sie in seinen Gedanken beiseite zu schieben. Die Säure in seinem Magen wirbelte, versprach ihm murmelnd neue Schmerzen. Er holte tief Luft, um sich zu wappnen. Wenn sich die Klingen kreuzen … wird es das erste Mal für mich sein. Nach so langer Zeit meine erste Schlacht …
Die mittelschwere Infanterie der Feinde kauerte in Gruppen von vielleicht zwanzig Mann um eine Reihe von Feuerstellen auf dem einzigen höher gelegenen Abschnitt des Lagers – einer ehemaligen Wagenspur, die parallel zur Stadtmauer verlief. Paran kam zu dem Schluss, dass ein dreißig Schritt breiter Pfad drei Gruppen weitgehend auslöschen würde.
Was bedeutete, dass deutlich mehr als einhundert Pannionier übrig bleiben würden, um zu reagieren. Wenn es unter ihnen fähige Offiziere gab, könnte das ziemlich übel werden. Andererseits, wenn da wirklich ein paar fähige Offiziere dabei wären, würden die Trupps nicht so auf einem Haufen hocken …
Die Sappeure waren in Deckung gegangen. Der Hauptmann konnte sie nicht mehr sehen. Während er die Hand um den Schwertgriff legte, warf er einen Blick über die Schulter, um sich nach den restlichen Brückenverbrennern umzusehen. Tippa stand ziemlich weit vorn, und sie sah aus, als hätte sie Schmerzen. Er wollte sie schon fragen, was los sei, da dröhnten die Explosionen durch die Nacht. Der Hauptmann wirbelte herum.
Im Licht der nun zerstörten Feuerstellen waren zuckende Leiber zu erkennen.
Trotter stieß einen schrillen, tremolierenden Kriegsschrei aus.
Die Brückenverbrenner stürmten vorwärts.
Weitere Splitterbomben explodierten, jetzt mehr zu den Seiten hin, mähten die um die angrenzenden Feuerstellen zusammengedrängten, verwirrten Soldaten nieder.
Paran sah die dunklen Umrisse der Sappeure, die direkt vor ihm zusammenliefen und sich inmitten toter und sterbender Pannionier hinkauerten.
Armbrüste schnalzten in den Händen der vielleicht ein Dutzend Brückenverbrenner, die eine besaßen.
Schreie gellten.
Mit Trotter an der Spitze erreichten die Brückenverbrenner den mit Leichen übersäten Pfad, rannten an den hingekauerten Sappeuren vorbei, die die größeren Knaller bereitmachten. Zwei Tropfen Säure auf den Wachspfropfen, der das Loch in der Tongranate versiegelte.
Ein Chor gedämpfter, zischender Geräusche.
»Lauft!«
Paran fluchte. Zehn Herzschläge schienen ihm plötzlich schrecklich kurz. Knaller waren große Sprengbomben, die größten, die die Moranth herstellten. Ein einziger konnte eine Straßenkreuzung praktisch unpassierbar machen. Der Hauptmann rannte.
Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als er den Blick auf das Tor direkt vor ihm richtete. Die tausend Leichen bewegten sich. Oh verdammt. Die sind gar nicht tot. Die haben geschlafen! Diese verdammten Bastarde haben nur geschlafen!
»Runter, runter, runter!«
Das Wort war malazanisch, und die Stimme gehörte Igel.
Paran zögerte gerade lange genug, um mitzubekommen, wie Spindel, Igel und die anderen Sappeure bei ihnen ankamen – und Knaller warfen. Nach vorn. Mitten hinein in die Reihen der Tenescowri, die sich zwischen den Brückenverbrennern und dem Tor sammelten. Dann warfen sie sich zu Boden.
»Oh, beim Vermummten!« Der Hauptmann ließ sich seinerseits fallen, schlitterte über kiesigen Schlamm, ließ den Schwertgriff los und presste beide Hände auf die Ohren.
Der Erdboden schlug ihm den Atem aus der Lunge, warf seine Beine in die Luft. Er fiel zurück in den Schlamm. Auf den Rücken. Er hatte gerade noch Zeit, wenigstens zu versuchen, sich wieder herumzurollen, ehe die Knaller direkt vor ihm explodierten. Die Erschütterung schleuderte ihn in einem Purzelbaum herum. Blutige Fetzen regneten auf ihn herab.
Etwas Großes krachte knapp neben Parans Kopf auf den Boden. Er öffnete blinzelnd die Augen. Und sah die Hüften eines Mannes – nur die Hüften, die Höhlung, in die eigentlich die Eingeweide gehörten, gähnte schwarz und leer. Oberschenkel waren ebenfalls keine vorhanden, sie waren an den Gelenken abgerissen worden. Der Hauptmann starrte das Stück Mensch an.
In seinen Ohren dröhnte es. Er spürte, wie ihm Blut aus der Nase tröpfelte. Sein Brustkorb schmerzte. Ferne Schreie heulten durch die Nacht.
Eine Hand packte ihn am Regenumhang, zog ihn hoch.
Fäustel. Der Heiler beugte sich zu ihm herab und drückte ihm sein Schwert in die Hand, rief dann Worte, die Paran kaum hörte. »Kommt! Wir machen alle, dass wir wegkommen, beim Vermummten!« Ein Stoß ließ den Hauptmann vorwärtsstolpern.
Seine Augen sahen die Verwüstung, die sich beiderseits des Pfads erstreckte, auf dem sie jetzt auf das Nordtor zurannten, aber sein Verstand war nicht in der Lage, sie zu erfassen. Er spürte, wie er sich innerlich abschottete, noch während er durch die menschlichen Überreste schlitterte und stolperte … dass er sich verschloss, wie er es schon einmal gemacht hatte, vor einigen Jahren, auf einer Straße in Itko Kan.
Die Hand der Rache blieb nicht für immer kalt. Jeder, der noch einen winzigen Funken Menschlichkeit besaß, musste sehen, dass auch die Taten der Retter entsetzlich waren – egal, wie gerechtfertigt sie auf den ersten Blick auch sein mochten. Leere Gesichter, im Tod erstarrt. Leiber, die so verdreht und verkrümmt waren, wie es einem heilen Körper niemals möglich wäre. Zerstörte Leben. Rache bildete den Spiegel einer jeden Gräueltat, in dem die Frage nach richtig und falsch jegliche Bedeutung verlor.
Zur Rechten und Linken sah er Gestalten fliehen. Ein paar Fetzer krachten, beschleunigten die wilde Flucht.
Die Brückenverbrenner hatten den Feind wissen lassen, dass sie da waren.
Wir sind ihnen ebenbürtig, begriff der Hauptmann, während er weiterrannte, was kalkulierte Brutalität angeht. Aber dies ist ein Nervenkrieg, den niemand gewinnen kann.
Die unangefochtene Dunkelheit unter dem Tor verschlang Paran und seine Kameraden. Stiefel rutschten, als die Brückenverbrenner ihren wahnsinnigen Spurt abstoppten. Sich hinkauerten. Die Armbrüste nachluden. Kein Wort wurde gesprochen.
Trotter streckte einen Arm aus und zog Igel zu sich heran. Der Barghast schüttelte den Sappeur einen Augenblick lang heftig und machte dann Anstalten, ihn zu Boden zu schleudern. Ein schriller Ruf von Spindel hielt ihn auf. Schließlich trug Igel einen Ledersack auf dem Rücken, der halb mit Moranth-Munition gefüllt war.
Igel, dessen Gesicht immer noch die grünen und blauen Spuren von Detorans zärtlichen Berührungen trug, fluchte. »Wir hatten keine andere Wahl, du großer Affe!«
Paran konnte die Worte hören. Eine Verbesserung. Er war sich nicht sicher, auf wessen Seite er in dieser Sache war, aber tatsächlich spielte das auch keine Rolle mehr. »Trotter!«, schnappte er. »Was jetzt? Wenn wir hier warten – «
Der Barghast grunzte. »In die Stadt, leise und mit eingezogenen Köpfen.«
»In welche Richtung?«, fragte Fahrig.
»Auf den Knecht zu – «
»Sehr schön … und was ist das?«
»Die schimmernde Festung, du dickschädeliger Idiot!«
Sie schoben sich vorwärts, heraus aus der Düsternis des Torwegs, hinaus auf den Platz, der direkt dahinter lag. Ihre Schritte wurden langsamer, als flackernder Feuerschein den Albtraum vor ihnen enthüllte.
Hier hatte ein Gemetzel stattgefunden, und anschließend ein Festmahl. Die Pflastersteine waren knöchelhoch mit Knochen bedeckt, manche schwarz verbrannt, andere – an denen noch immer Fleischstückchen und Sehnen hingen – roh und rot. Und volle zwei Drittel der Toten, schloss der Hauptmann aus dem, was er an Uniformen und Kleidern sehen konnte, gehörten zu den Angreifern.
»Bei den Göttern«, murmelte Paran. »Die Pannionier haben teuer bezahlt.« Ich glaube, ich sollte meine Einschätzung der Grauen Schwerter noch einmal überdenken.
Spindel nickte. »Das schon, aber die Übermacht war einfach zu groß.«
»Ein, zwei Tage früher …«, sagte Fäustel.
Niemand machte sich die Mühe, diesen Satz zu beenden. Es war nicht nötig.
»Was hast du für ein Problem, Tippa?«, wollte Fahrig wissen.
»Nichts!«, schnappte sie. »Es ist nichts.«
»Ist das da der Knecht?«, fragte Igel. »Diese glühende Kuppel? Da, zwischen den Rauchschwaden …«
»Vorwärts«, befahl Trotter.
Die Brückenverbrenner schwärmten vorsichtig hinter dem Barghast aus und eilten quer über den Platz mit seinen grässlichen Hinterlassenschaften auf eine Hauptstraße zu, die direkt auf das merkwürdig erleuchtete Bauwerk zuzuführen schien. Der Stil der Häuser und Mietskasernen beiderseits der Straße – derjenigen, die noch standen – erinnerte Paran eindeutig an die Daru. Der Rest der Stadt war völlig anders, das zeigten ihm die kurzen Blicke durch Seitenstraßen und -gassen, in denen immer noch Feuer brannten. Auf unbestimmte Weise fremdartig. Und überall lagen Leichen.
Ein Stück weiter die Straße entlang wuchsen sich die Haufen der nicht abgenagten Leichen zu einem Hügel aus.
Die Brückenverbrenner sagten kein Wort, als sie sich diesem Hügel näherten. Was sich da vor ihnen befand, war schwer zu begreifen. Allein auf dieser Straße lagen mindestens zehntausend Leichen. Vielleicht auch mehr. Teigig, bereits aufgedunsen, das blasse Fleisch übersät von klaffenden, ausgebluteten Wunden. Größere Haufen fanden sich vor den Eingängen zu Gebäuden, an Straßenmündungen, vor dem Tor eines Anwesens und auf den Stufen zu ausgeplünderten Tempeln. Auf Gesichtern und in blicklosen Augen spiegelten sich Flammen, erzeugten für kurze Momente spöttische Illusionen von Belebung, von Leben.
Um auf der Straße weiterzumarschieren, mussten die Brückenverbrenner den Hügel vor ihnen erklimmen.
Trotter zögerte nicht.
Von der Nachhut der kleinen Gruppe kam eine Meldung. Tenescowri waren durch das Nordtor in die Stadt eingedrungen, hielten in einigem Abstand wie stumme Geister mit ihnen Schritt. Ein paar Hundert, nicht mehr. Schlecht bewaffnet. Kein Problem. Trotter zuckte bei diesen Neuigkeiten nur die Schultern.
Sie kämpften sich die weiche Rampe aus menschlichem Fleisch hinauf.
Sieh nicht nach unten. Denk nicht darüber nach, was unter deinen Füßen ist. Denk einfach nur an die Verteidiger, die weitergekämpft haben müssen. Denk an schier unmenschlichen Mut, der jede Grenze überschreitet, die uns Sterblichen normalerweise gesetzt ist. Denk an die Grauen Schwerter – diese leblosen, uniformierten Leichen auf den Türschwellen, in den Straßenmündungen. Die weitergekämpft haben und immer weiter. Die nicht zurückgewichen sind. Die in Stücke gehauen wurden, wo sie gestanden haben.
Diese Soldaten beschämen uns alle. Eine Lektion … für die Brückenverbrenner um mich herum. Für diese zerbrechliche Kompanie, deren Herz schon lang gebrochen ist. Wir sind zu einem Krieg gekommen, in dem es keine Gnade gibt.
Die Rampe war errichtet worden. Sie war mit Absicht hergestellt worden. Sie war ein Zugang. Aber wozu?
Sie endete in einem wirren, übereinander geworfenen Haufen, der nicht einmal eine Mannslänge unterhalb des Dachs einer Mietskaserne lag. Dieser gegenüber hatte ein ganz ähnliches Gebäude gestanden, doch das war durch ein Feuer in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt worden.
Trotter blieb am Rand der Rampe stehen. Die anderen taten es ihm nach, kauerten sich hin, schauten sich um, versuchten die Bedeutung dessen, was sie sahen, zu begreifen. Das unregelmäßige Ende enthüllte die Wahrheit: Unter diesem schrecklichen Gebilde befand sich kein wie auch immer gearteter Unterbau. Es bestand tatsächlich aus nichts anderem als aus Leichen.
»Eine Belagerungsrampe«, sagte Spindel schließlich. Seine Stimme war leise, fast zaghaft. »Sie wollten irgendjemanden – «
»Sie wollten uns«, ließ sich eine tiefe, grollende Stimme über ihnen vernehmen.
Armbrüste ruckten hoch.
Paran schaute zum Dach der Mietskaserne hinauf. Ein Dutzend Gestalten standen an seinem Rand, von fernem Feuerschein schwach beleuchtet.
»Sie haben Leitern gebracht«, sagte die Stimme jetzt auf Daru. »Wir haben sie trotzdem zurückgeschlagen.«
Diese Krieger waren keine Grauen Schwerter. Sie trugen Rüstungen, doch diese Rüstungen waren aus allen möglichen und unmöglichen Einzelteilen zusammengestückelt. Und bei allen waren die Gesichter und die sichtbare bloße Haut mit dunklen, schmalen Streifen verschmiert. Wie menschliche Tiger.
»Hübsche Bemalung«, rief Igel nach oben. Er sprach ebenfalls Daru. »Hab mir vor Angst fast in die Hosen geschissen, das steht mal fest.«
Der Sprecher, groß und ungeschlacht, mit knochenweißen, schwarzzackigen Macheten in den gepanzerten Fäusten, legte den Kopf schief. »Das ist keine Bemalung, Malazaner.«
Stille.
Dann winkte der Mann mit einer seiner Klingen. »Kommt herauf, wenn ihr wollt.«
Leitern wurden vom Dach heruntergelassen.
Trotter zögerte. Paran trat zu ihm. »Ich glaube, wir sollten da hoch. Dieser Mann und seine Gefolgsleute haben etwas an sich – «
Der Barghast schnaubte. »Ach – tatsächlich?« Er winkte die Brückenverbrenner zu den Leitern.
Paran sah zu, wie sie hinaufstiegen; er hatte beschlossen, als Letzter zu gehen. Er bemerkte, dass Tippa zurückblieb. »Gibt’s ein Problem, Korporal?«
Sie zuckte zusammen, massierte ihren rechten Arm.
»Du hast Schmerzen«, sagte der Hauptmann, trat zu ihr und musterte ihr verzerrtes Gesicht. »Bist du verwundet worden? Komm, lass uns zu Fäustel gehen.«
»Der kann mir nicht helfen, Hauptmann. Macht Euch um mich keine Gedanken.«
Ich weiß genau, wie du dich fühlst. »Dann rauf mit dir.«
Korporal Tippa marschierte zur nächsten Leiter, als würde sie zum Galgen geführt.
Paran warf einen Blick die Rampe hinunter. An ihrem Fuß huschten geisterhafte Gestalten durch das Zwielicht. Weit außerhalb der Reichweite jedes Geschosses. Vielleicht gar nicht willens, den Hang heraufzusteigen. Das überraschte den Hauptmann nicht.
Ohne die stechenden Schmerzen in seinem Magen zu beachten, machte er sich daran, die Leiter hochzusteigen.
Das flache Dach der Mietskaserne sah aus wie eine kleine Barackensiedlung. Aufgespannte Planen und Zelte, umgedrehte Schilde, in denen Feuer flackerten. Proviantbündel, Fässchen mit Wasser und Wein. Eine Reihe von in Decken gehüllten Gestalten – die Gefallenen, insgesamt sieben. In ein paar Zelten konnte Paran noch andere erkennen, wahrscheinlich Verwundete.
In der Nähe der Bodenluke, die auf das Dach führte, war eine Standarte aufgepflanzt worden; die gelbe Fahne war nichts anderes als die dunkel gestreifte Tunika eines Kindes.
Schweigend und wachsam warteten die Krieger, während Trotter Trupps in jede Ecke des Dachs schickte, wo sie überprüften, was jeweils unterhalb und gegenüber des Gebäudes lag.
Ihr Sprecher drehte sich plötzlich in einer fließenden, beängstigend anmutigen Bewegung um und sah Korporal Tippa an. »Du hast etwas für mich«, grollte er.
Ihre Augen weiteten sich. »Was?«
Er schob eine seiner Macheten in die Scheide und trat zu ihr.
Paran und die anderen, die in der Nähe standen, schauten zu, wie er die Hand nach Tippas rechtem Arm ausstreckte. Er packte ihren vom Kettenhemd umhüllten Bizeps. Ein gedämpftes Klacken war zu hören.
Tippa schnappte nach Luft.
Einen Augenblick später fiel ihr Schwert klirrend auf das geteerte Dach, und sie begann mit hastigen, ruckartigen Bewegungen, ihr Kettenhemd auszuziehen. Voller Erleichterung stieß sie hervor: »Berus Segen sei mit Euch! Ich weiß zwar nicht, wer im Namen des Vermummten Ihr seid, aber diese Dinger haben mich fast umgebracht. Sind enger und enger geworden. Bei den Göttern, hat das wehgetan! Er hat gesagt, sie gehen nie wieder ab. Er hat gesagt, es wäre gut für mich, sie zu tragen. Sogar der Schnelle Ben hat das gesagt – man kann keinen Handel mit Treach abschließen. Der Tiger des Sommers ist verrückt, vollkommen wahnsinnig – «
»Tot«, unterbrach sie der Daru.
Tippa, die ihren Wappenrock halb abgelegt hatte, erstarrte. »Was?«, flüsterte sie. »Tot? Treach ist tot?«
»Der Tiger des Sommers ist aufgestiegen, Soldatin. Treach – Trake – wandelt jetzt mit den Göttern. Ich nehme sie jetzt, und ich danke dir dafür, dass du sie mir gebracht hast.«
Sie zog ihren rechten Arm aus dem Ärmel des Kettenhemds. Drei Elfenbeinarmreifen rutschten zu ihrer Hand hinunter. »Hier! Ja, bitte! Keine Ursache – «
»Der Vermummte soll deine verdammte Zunge holen, Tippa«, schnappte Fahrig. »Du stellst uns bloß! Gib ihm doch einfach die verdammten Dinger!«
Tippa blickte sich um. »Blend! Wo zum Abgrund versteckst du dich schon wieder?«
»Hier«, murmelte eine Stimme neben Paran.
Erschrocken trat er einen Schritt zurück. Verdammt soll sie sein.
»Hah!«, krähte Tippa triumphierend. »Hörst du mich, Blend? Hah!«
Die Trupps sammelten sich erneut.
Der Daru rollte einen in Fetzen hängenden Ärmel hoch. Das Streifenmuster bedeckte die kräftigen, gut ausgeprägten Muskeln seines Arms. Er schob die drei Armreifen über den Ellenbogen hinauf. Das Elfenbein klickte. Irgendetwas blitzte bernsteinfarben in der Dunkelheit unter seinem Helmrand auf.
Paran musterte den Mann. In ihm wohnt ein Tier, ein uralter Geist, der wieder erwacht ist. Macht wirbelte um den Daru herum, doch der Hauptmann spürte, dass sie sich ebenso sehr auf ein natürliches Befehlstalent gründete wie auf das Tier, das sich in ihm verbarg – denn dieses Tier zog die Einsamkeit vor. Irgendwie hatte sich seine gewaltige Stärke fast den Qualitäten gebeugt, die diesen Mann zu einem geborenen Anführer machten. Eine beeindruckende Verbindung. Dieser Mann ist wichtig, da gibt es keinen Zweifel. Irgendetwas wird hier geschehen, und es ist kein Zufall, dass ich hier bin. »Ich bin Hauptmann Paran, von Einarms Heer.«
»Ihr habt Euch Zeit gelassen, was, Malazaner?«
Paran blinzelte. »Wir haben getan, was wir konnten, mein Herr. Wie auch immer, heute Nacht und morgen kommt Eure Unterstützung von den Clans der Weißgesichter.«
»Humbrall Taur, der Vater von Hetan und Cafal. Gut. Es wird Zeit, den Spieß umzudrehen.«
»Den Spieß umzudrehen?«, stotterte Fahrig. »Es sieht aus, als hättet Ihr keine Hilfe dabei gebraucht, den Spieß umzudrehen, Mann!«
»Trotter«, rief Igel. »Ich bin nicht sehr glücklich über das, was da unter uns ist. Da sind Risse. Dieses ganze Dach besteht nur aus Rissen.«
»Das Gleiche gilt für die Wände«, bemerkte ein anderer Sappeur. »Auf allen Seiten.«
»Das ganze Gebäude ist voller Leichen«, bemerkte ein kleiner Krieger in der Rüstung der Lestari, der neben dem Daru stand. »Wahrscheinlich schwellen sie an.«
Paran hatte den Blick nicht von dem großen Daru abgewandt. »Habt Ihr einen Namen?«, fragte er.
»Grantl.«
»Gehört ihr zu irgendeiner Sekte oder so was? Oder seid ihr Tempelkrieger?«
Grantl wandte ihm langsam das Gesicht zu, das zum größten Teil hinter dem Visier seines Helms verborgen lag. »Nein. Wir sind gar nichts. Niemand. Das hier ist um einer Frau willen geschehen. Und jetzt liegt sie im Sterben – «
»In welchem Zelt?«, unterbrach Fäustel ihn mit seiner hellen, dünnen Stimme.
»Das Denul-Gewirr ist vergiftet – «
»Ihr könnt das spüren, Grantl? Merkwürdig.« Der Heiler wartete einen Augenblick, dann fragte er erneut: »In welchem Zelt?«
Grantls Kamerad, der Lestari, deutete auf eines. »Dort. Sie wurde ziemlich übel durchbohrt. Blut in der Lunge. Vielleicht ist sie schon …« Er verstummte.
Paran folgte Fäustel zu dem zerfetzten Schutzdach.
Die Frau, die darunter lag, war blass, ihr junges Gesicht ausgezehrt und angespannt. Schaumiges Blut stand auf ihren Lippen.
Und hier steckt auch noch mehr dahinter.
Der Hauptmann sah zu, wie der Heiler neben ihr auf die Knie sank, die Arme ausstreckte.
»Moment mal«, knurrte Paran. »Das letzte Mal hat es dich beinahe umgebracht – «
»Nicht meine Gabe, Hauptmann. Ich habe diese Barghast-Geister in mir, die mich hierbei bedrängen. Wieder einmal. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat ja irgendjemand ein persönliches Interesse. Könnte sowieso zu spät sein. Wir werden sehen … in Ordnung?«
Nach einem Augenblick des Zögerns nickte Paran.
Fäustel legte der bewusstlosen Frau die Hände auf, schloss die Augen. Ein Dutzend Herzschläge verstrichen. »Ah«, flüsterte er schließlich. »Es sind mehrere Schichten. Ein verwundeter Körper … eine verwundete Seele. Ich werde beides heilen müssen. Also … werdet ihr mir helfen?«
Der Hauptmann begriff, dass diese Frage nicht an ihn gerichtet war, und gab daher keine Antwort.
Fäustel, dessen Augen noch immer geschlossen waren, seufzte. »Ihr wollt so viele für diese Frau opfern?« Er machte eine Pause, die Augen immer noch geschlossen, und runzelte dann die Stirn. »Ich kann diese Fäden, von denen ihr sprecht, nicht sehen. Weder bei ihr noch bei Grantl noch bei dem Mann an meiner Seite – «, An deiner Seite? Ich? Fäden? Oh, ihr Götter, warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?
»- aber ich glaube euch. Fangen wir an?«
Augenblicke vergingen, während der Heiler reglos über die Frau gebeugt verharrte. Dann bewegte sie sich auf ihrem Lager, stöhnte leise.
Die Zeltwand hinter ihnen wurde weggefetzt, Spanndrähte rissen. Paran blickte überrascht auf. Und sah Grantl über ihnen stehen, dessen Brust sich unter heftigen Atemzügen hob und senkte.
»Was?«, keuchte der Daru. »Was – « Er stolperte einen Schritt zurück, wurde von Trotters starken Händen an den Schultern gepackt.
»So etwas wie zu spät«, grollte der Barghast, »gibt es nicht.«
Fahrig trat grinsend zu ihnen. »Hallo, Capustan. Die Brückenverbrenner sind da.«
In der Morgendämmerung waren im Osten und im Norden Kampfgeräusche zu hören. Die Weißgesicht-Clans hatten den Feind endlich angegriffen. Tippa und die anderen würden später von der plötzlichen und blutigen Schlacht hören, die sich an den Anlegeplätzen an der Küste und am Ufer des Catlin abgespielt hatte. Die Clans der Barahn und Ahkrata waren auf frisch eingetroffene Regimenter von Betakliten und Betrullid-Kavallerie gestoßen. Der Kommandant der Pannionier hatte beschlossen, einen Gegenangriff zu unternehmen, statt schlecht vorbereitete Verteidigungspositionen zu halten, und es dauerte nicht lange, bis es die Barghast waren, die sich – von allen Seiten angegriffen – verschanzen mussten.
Die Barahn wichen zuerst zurück. Doch der Widerstand der Ahkrata wurde dadurch gestärkt, dass sie Zeugen des anschließenden Gemetzels an ihren Verwandten geworden waren, und sie hielten bis zum Mittag durch, als Taur die Gilk vom Vorstoß in die Stadt abkommandierte und die Krieger mit den Schildkrötenpanzer-Rüstungen zur Unterstützung an die Anlegestelle schickte. Die Gilk, ein Clan der Ebenen, der seine Kampfweise in endlosen Kriegen gegen berittene Feinde immer weiter verfeinert hatte, stellten sich den Betrullid beherzt entgegen und wurden zum Dreh- und Angelpunkt einer neuerlichen Offensive seitens der Ahkrata, die die Betakliten zerschmetterte und die Barghast alle Schwimmbrücken und Barken erobern ließ. Die letzten Überlebenden der pannionischen mittelschweren Infanterie wurden in die Untiefen des Flusses getrieben, wo sich das Wasser rot färbte. Überlebende Einheiten der Betrullid zogen sich entlang der Küste nach Norden in die Marschen zurück – ein tödlicher Fehler, wie sie feststellten, als ihre Pferde im salzigen Schlamm stecken blieben. Die Gilk verfolgten sie, um mit dem Gemetzel fortzufahren, das erst bei Einbruch der Nacht enden sollte. Septarch Kulpaths Verstärkung war ausgelöscht worden.
Humbrall Taurs Vorstoß in die Stadt sorgte für eine panische, wilde Flucht. Einheiten von Domänensern, Urdomen, Bekliten, Scalandi und Betakliten gerieten zwischen die zu Zehntausenden vor den Hakenschwertern und Lanzen der Barghast fliehenden Tenescowri und wurden mitgerissen. Die Hauptstraßen verwandelten sich in wogende Menschenmassen, eine wirbelnde Flut, die westwärts drängte, dort durch die Breschen in den Wällen brach und hinaus auf die Ebene strömte.
Taur ließ seine Clans energisch nachsetzen und trieb die Pannionier noch weiter nach Westen.
Tippa kauerte auf dem Dach und schaute hinunter auf die Straße, wo der schreiende, von Panik erfüllte Mob vorbeiwogte. Die Flut war gegen die Rampe geprallt und hatte Schneisen durch sie hindurchgeschlagen, enge Rinnen, die sich zwischen Wänden aus kaltem Fleisch hindurchwanden. Jeder dieser Durchgänge war von Gestalten verstopft, während andere über die Rampe hinwegkrabbelten, manchmal weniger als eine Pikenlänge von den Malazanern entfernt.
Trotz des entsetzlichen Bildes, das sich ihren Augen bot, fühlte sie sich, als wäre eine schwere Last von ihr genommen worden. Die verdammten Armreifen quetschten ihr nicht mehr länger den Arm zusammen. Je näher sie der Stadt gekommen waren, desto heißer und enger waren sie geworden – noch immer zierten kreisrunde Verbrennungen ihren Oberarm, und auch ihre Knochen schmerzten noch. Es gab diesbezüglich ein paar Fragen, aber sie war noch nicht bereit, darüber nachzudenken.
Von irgendwo ein paar Straßen weiter östlich erklangen jetzt die vertrauten Geräusche eines Gemetzels, untermalt von den misstönenden Schlachtgesängen der Barghast. Die Pannionier hatten eine Art Nachhut formiert, kleine, versprengte Einheiten von Bekliten, Urdomen und Domänensern, die sich vereint hatten, um den Vormarsch der Weißgesichter zu verlangsamen. Doch diese Nachhut war hoffnungslos in der Unterzahl und zerfiel rasch wieder.
Es hatte keinen Sinn, das Dach zu verlassen, ehe die flüchtenden Feinde nicht vorbeigezogen waren, auch wenn Igel andauernd etwas von Rissen im Fundament und Ähnlichem faselte. Tippa war vollauf zufrieden. Die Brückenverbrenner waren in der Stadt; vor der Nordmauer und dem entsprechenden Tor war es ein bisschen haarig gewesen, doch abgesehen davon war alles gut gelaufen – besser als sie es erwartet hatte. Moranth-Munition hatte eine besondere Art, die Vorgaben auszugleichen, wenn nicht gar völlig umzukehren.
Und wir haben noch kein einziges Mal die Klingen gekreuzt. Gut. Wir sind nicht mehr so stark wie früher, trotz Fahrigs gespielter Tapferkeit.
Sie fragte sich, wie weit entfernt Dujek und Bruth noch sein mochten. Hauptmann Paran hatte Twist losgeschickt, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen, sobald klar gewesen war, dass Humbrall Taur seine Stämme vereinigt hatte und bereit war, den Befehl zu geben, südwärts nach Capustan zu marschieren. Da der Schnelle Ben außer Gefecht und Spindel zu verängstigt war, um sein Gewirr zu benutzen, gab es keine Möglichkeit, herauszubekommen, ob der Schwarze Moranth es geschafft hatte.
Wer weiß, was ihnen passiert ist. Unter den Barghast kursieren Geschichten über untote dämonische Reptilien auf den Ebenen … und dann noch diese vergifteten Gewirre – wer weiß, ob dieses Gift nicht irgendwas Ekligem als Pfad dient? Spindel sagt, die Gewirre sind krank. Was ist, wenn sie einfach übernommen worden sind? Es könnte sein, dass sie gerade jetzt sehr wohl benutzt werden. Jemand könnte hindurchgekommen sein und ihnen übel mitgespielt haben. Vielleicht verfaulen jetzt schon dreißigtausend Kadaver auf den Ebenen. Es könnte sein, dass wir alles sind, was noch von Einarms Heer übrig ist.
Die Barghast schienen kein Interesse daran zu haben, sich über die Befreiung Capustans hinaus am Krieg zu beteiligen. Sie wollten die Gebeine ihrer Götter. Sie waren im Begriff, sie zu bekommen, und sobald das geschehen war, würden sie wahrscheinlich wieder nach Hause zurückkehren.
Und wenn wir dann ganz auf uns allein gestellt sind … was wird Paran dann entscheiden? Dieser verdammte Adlige sieht schrecklich aus. Der Mann ist krank. Seine Gedanken reiten auf Nadeln aus Schmerz, und das kann nicht gut sein. Das kann ganz und gar nicht gut sein.
Stiefel knirschten neben ihr, als jemand an den Rand des Daches trat. Sie blickte auf und sah die rothaarige Frau, die Fäustel zurückgeholt hatte, obwohl sie schon so gut wie tot gewesen war. Ein Rapier, dessen Klinge zu einem Drittel abgebrochen war, lag in ihrer rechten Hand. Ihre lederne Rüstung hing in Fetzen, geronnenes Blut klebte in unzähligen Rissen. In ihrer Miene lag eine gewisse Zerbrechlichkeit, aber auch so etwas wie … Verwunderung.
Tippa richtete sich auf. Die Schreie von unten waren ohrenbetäubend. Sie trat etwas näher an die Frau heran und sagte: »Es wird nicht mehr lange dauern. Man kann schon die vordersten Reihen der Barghast sehen.« Sie deutete in die entsprechende Richtung.
Die Frau nickte, dann sagte sie: »Ich heiße Stonny Menackis.«
»Korporal Tippa.«
»Ich habe mit Blend gesprochen.«
»So eine Überraschung. Sie ist eigentlich nicht der geschwätzige Typ.«
»Sie hat mir von den Armreifen erzählt.«
»Wirklich? Ach.«
Stonny zuckte die Schultern, zögerte einen Augenblick und fragte dann: »Habt Ihr … habt Ihr Euch Trake verschworen, oder so etwas? Eine Menge Soldaten tun das, habe ich gehört. Der Tiger des Sommers, Lord der Schlachten – «
»Nein«, knurrte Tippa. »Habe ich nicht. Ich hab selbst erst vor kurzem begriffen, dass sie Talismane waren – diese Armreifen.«
»Dann habt Ihr also nicht gewusst, dass Ihr auserwählt worden wart, sie zu überbringen. Sie … Grantl zu überbringen …«
Korporal Tippa warf der Frau einen Blick zu. »Das hat Euch irgendwie durcheinander gebracht, was? Euer Freund Grantl. Ihr hättet Euch nie vorstellen können, dass aus ihm … so etwas wie das da werden könnte, was auch immer das jetzt ist.«
Stonny zog eine Grimasse. »Um ehrlich zu sein, ich hätte es mir bei jedem anderen eher vorstellen können als bei ihm. Der Kerl ist ein zynischer Bastard, und er betrinkt sich andauernd. Oh, er ist schlau, soweit Männer schlau sein können. Aber wenn ich ihn mir jetzt anschaue …«
»Dann erkennt Ihr nicht wieder, was Ihr seht.«
»Es sind nicht nur diese merkwürdigen Streifen. Es sind seine Augen. Das sind Katzenaugen … die Augen eines verdammten Tigers. Genauso kalt, genauso unmenschlich.«
»Er sagt, er hat für Euch gekämpft, Schätzchen.«
»Ihr meint, das war seine Ausrede.«
»Ich würde nicht behaupten, dass es da einen Unterschied gibt.«
»Aber da gibt es einen, Korporal.«
»Wenn Ihr es sagt. Sei’s drum, die Wahrheit ist hier, genau vor Eurer Nase. In diesem verdammten Totenhaus von einem Gebäude. Der Vermummte soll uns holen, auch in Grantls Gefolgsleuten – er ist schließlich nicht der Einzige, der jetzt gestreift ist, oder? Der Mann hat zwischen den Pannioniern und Euch gestanden, und das war etwas, das groß genug war, um all die anderen da mit reinzuziehen. Hat Treach das alles geplant? Das könnte ich mir schon vorstellen, und ich habe dabei wohl auch eine Rolle gespielt, indem ich mit diesen Reifen am Arm hier aufgetaucht bin. Aber jetzt bin ich aus der ganzen Sache raus, und das ist mir sehr recht.« Und ich werde nicht mehr darüber nachdenken.
Stonny schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht vor Trake das Knie beugen. Beim Abgrund, ich habe vor dem Altar eines anderen Gottes gekniet – ich habe meine Wahl getroffen, und ich habe nicht Trake gewählt.«
»Hm. Aber vielleicht fand Euer Gott diese ganze Geschichte mit Grantl und all dem irgendwie nützlich. Menschen sind nicht die Einzigen, die Netze spinnen und damit spielen, richtig? Wir sind nicht die Einzigen, die manchmal im Gleichschritt marschieren oder sogar zusammenarbeiten, um etwas zu erreichen, das von gegenseitigem Nutzen ist – ohne irgendetwas davon dem Rest von uns zu erklären. Ich beneide Euch nicht, Stonny Menackis. Die Aufmerksamkeit eines Gottes ist eine tödliche Aufmerksamkeit. Aber so was passiert …« Tippa verstummte.
Im Gleichschritt marschieren. Ihre Augen verengten sich. Und den Rest von uns im Unklaren lassen.
Sie drehte sich um, ließ ihre Blicke über die Gruppen schweifen, die um die Zelte herumstanden, bis sie Paran entdeckte. »He, Hauptmann!«, rief sie.
Er blickte auf.
Und was ist mit dir, Hauptmann? Hast du vielleicht Geheimnisse? Hier ist was für dich. »Irgendwas Neues von Silberfuchs?«, fragte sie.
Sämtliche Brückenverbrenner in der Nähe drehten sich nach dem adligen Offizier um.
Paran zuckte zurück, als wäre er geschlagen worden. Eine Hand glitt zu seinem Bauch, als ein krampfartiger Schmerz ihn durchzuckte. Er biss die Zähne zusammen und schaffte es irgendwie, den Kopf zu heben und Tippa in die Augen zu sehen. »Sie lebt«, krächzte er.
Hab ich mir gedacht. Du bist bisher viel zu locker mit alledem umgegangen, Hauptmann. Das heißt, du hast uns Dinge vorenthalten. Eine schlechte Entscheidung. Das letzte Mal, als die Brückenverbrenner im Dunkel gehalten wurden, hat dieses Dunkel uns beinahe alle verschlungen. Das war verdammt knapp. »Wie nah ist sie? Wie weit weg, Hauptmann?«
Sie konnte sehen, welche Wirkung ihre Worte hatten, doch ein Teil von ihr war wütend, wütend genug, um kein Mitleid aufkommen zu lassen. Offiziere verheimlichten immer irgendetwas. Das war es, was die Brückenverbrenner mittlerweile an ihren Kommandanten am meisten verachteten. Unwissenheit war tödlich.
Paran richtete sich langsam und mühsam auf. Er holte tief Luft – einmal, zweimal –, während er sichtlich gegen die Schmerzen ankämpfte. »Humbrall Taur treibt ihnen die Pannionier in den Schoß, Korporal. Dujek und Bruth sind vielleicht noch drei Längen entfernt–«
Stotternd meldete sich Fahrig. »Und wissen sie, was da auf sie zukommt?«
»Ja, Sergeant.«
»Woher?«
Gute Frage. Wie eng ist dieser Kontakt zwischen dir und der wiedergeborenen Flickenseel? Und warum hast du uns nichts davon gesagt? Wir sind deine Soldaten. Man erwartet von uns, dass wir für dich kämpfen. Also ist es sogar eine verdammt gute Frage.
Paran starrte Fahrig finster an, gab jedoch keine Antwort.
Doch der Sergeant hatte nicht vor, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, nun, da er sie Tippa aus den Händen genommen hatte, und er sprach für alle Brückenverbrenner. »Also, da hätten wir uns fast von den Weißgesichtern die Köpfe abschlagen lassen, wären fast von den verdammten Tenescowri geröstet worden, und die ganze Zeit denken wir, wir sind allein. Ganz allein. Wir wissen nicht, ob das Bündnis gehalten hat oder ob Dujek und Bruth sich gegenseitig in Stücke gerissen haben und es im Westen nichts mehr gibt außer verfaulenden Gebeinen. Aber Ihr habt es gewusst. Das heißt, wenn Ihr tot wärt, Hauptmann, wenn Ihr jetzt tot wärt …«
Dann wüssten wir nichts, verdammt. Überhaupt nichts.
»Wenn ich tot wäre, würden wir diese Unterhaltung gar nicht führen«, erwiderte Paran. »Warum machen wir dann also nicht einfach weiter wie gehabt, Sergeant?«
»Vielleicht machen wir überhaupt nicht mehr weiter«, knurrte Fahrig und ließ eine Hand an den Schwertgriff sinken.
Ganz in der Nähe drehte Grantl, der am Dachrand gekauert hatte, sich langsam um und richtete sich auf.
Augenblickmal. »Sergeant!«, schnappte Tippa. »Glaubst du, Flickenseel wird dich anlächeln, wenn sie dich das nächste Mal sieht? Wenn du jetzt tust, was du vorhast?«
»Still, Korporal«, befahl Paran, ohne den Blick von Fahrig abzuwenden. »Bringen wir es hinter uns. Hier, ich mache es noch ein bisschen einfacher.« Der Hauptmann drehte dem Sergeanten den Rücken zu, wartete.
Er ist so krank, dass er es beenden will. Scheiße. Und noch schlimmer … das Ganze auch noch vor Zuschauern.
»An so was solltest du nicht mal denken, Fahrig«, warnte Fäustel den Sergeanten. »Nichts von alledem ist so, wie es aussieht – «
Tippa drehte sich zu dem Heiler um. »Ah, jetzt kommen wir der Sache ein bisschen näher! Du hast oft genug mit Elster gequatscht, bevor wir losgezogen sind, Fäustel. Du und der Schnelle Ben. Raus damit! Wir haben hier einen Hauptmann, der solche Schmerzen hat, dass er will, dass wir ihn töten, und niemand sagt uns einen verdammten Scheiß – was im Namen des Vermummten geht hier eigentlich vor?«
Der Heiler verzog das Gesicht. »Tja, Silberfuchs streckt ihre Fühler nach dem Hauptmann aus – aber er stößt sie weg –, also es ist nicht so, dass da ein ständiger Strom von Informationen hin und her fließt. Er weiß, dass sie am Leben ist, wie er sagt, und ich vermute, dass er irgendwie feststellen kann, wie weit sie entfernt ist, aber mehr nicht. Verdammt noch mal, Tippa. Nur weil der Hauptmann nicht mit dir spricht, glaubst du, du und wir übrigen Brückenverbrenner sollen schon wieder verraten werden? Er spricht mit niemandem! Und wenn du so viele Löcher in deinen Gedärmen hättest wie er, dann würdest du verdammt noch mal auch die Klappe halten! Und jetzt hört auf, alle! Schaut euch an, und wenn ihr dann glaubt, euch schämen zu müssen – nun, das habt ihr verdammt noch mal auch verdient!«
Tippa starrte den Rücken des Hauptmanns an. Er hatte sich nicht gerührt. Wollte seine Kompanie nicht ansehen. Konnte es nicht – jetzt nicht. Fäustel hatte eine Art, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Paran war ein kranker Mann, und kranke Menschen denken nicht richtig. Bei den Göttern. Ich hatte ein paar Armreifen am Arm, und ich konnte schon nicht mehr klar denken. Oh, sieht aus, als wäre ich gerade in einen Misthaufen getreten. Jemand anderen zu verfluchen heißt, ihm die ganze Schuld zu geben. Fahls Brandblasen sind wohl noch lange nicht verheilt. Verdammt. Bitte, Vermummter, tritt mal kräftig auf meine verfaulte Seele. Tritt so richtig drauf, und dann dreh den Absatz ordentlich rum …
Paran hörte kaum, was hinter seinem Rücken gebrüllt wurde. Er fühlte sich überfallen von dem Druck, den Silberfuchs’ Präsenz ausübte, was zu dem finsteren Wunsch führte, darunter lieber zu Tode gequetscht zu werden – wenn so etwas möglich war – als nachzugeben.
Ein Schwert zwischen seine Schulterblätter – und diesmal wird sich kein Gott einmischen. Oder ein letzter sturzbachartiger Blutschwall in seinen Magen, wenn dessen Wände schließlich nachgaben – eine schmerzhafte Variante, aber ebenso endgültig wie die andere. Oder ein Sprung hinunter auf die Straße, mitten hinein in den Mob da unten, um in Stücke gerissen und zertrampelt zu werden. Sinnlosigkeit, die Freiheit versprach.
Sie war in der Tat nahe, als schritte sie über eine Brücke aus Knochen, die sich von ihr bis zu der Stelle erstreckte, wo er jetzt stand.
Nein, nicht sie. Ihre Macht, die so viel mehr war als einfach nur Flickenseel. Und das machte ihr unbarmherziges Verlangen, seine Verteidigung zu durchbrechen, zu einem weitaus tödlicheren Vorsatz als die bloße Zuneigung einer Liebenden; noch nicht einmal strategische Notwendigkeiten würden es so dringlich machen. Es sei denn, Dujek und Bruth und ihre Armeen werden angegriffen … und das werden sie nicht. Bei den Göttern. Ich weiß nicht, woher ich das weiß – aber ich weiß es. Mit absoluter Gewissheit. Das – das ist gar nicht Flickenseel. Das ist Nachtfrost. Oder Bellurdan. Oder beide. Was wollen sie?
Er wurde plötzlich von einem Bild erschüttert, das etwas in seinen Gedanken beinahe hörbar einrasten ließ. Fort. Hin. Trockene Fliesen in einer dunklen Höhle, die tief eingeritzten Linien einer Drachenkarte, in Stein gemeißelt; das Bild schien zu zucken, als lebte es.
Obelisk. Eine der neutralen Karten. Ein schiefer Monolith … jetzt aus grünem Stein. Jade. Hoch über vom Wind gepeitschten Wellen aufragend – nein, über Sanddünen. Gestalten im Schatten des Monolithen. Drei, insgesamt drei. Zerlumpt, gebrochen, dem Tode nahe.
Und dann geschah etwas jenseits der merkwürdigen Szene … der Himmel zerriss.
Und der bepelzte Huf eines Gottes betrat die Welt der Sterblichen.
Entsetzen.
Brutal in diese Welt gerissen – ach, du hast es dir nicht ausgesucht, oder? Jemand hat dich heruntergezogen, und jetzt …
Fener war so gut wie tot. Ein Gott, der in der Sphäre der Sterblichen gefangen war, war so hilflos wie ein Kind auf einem Altar. Alles, was man brauchte, waren ein Messer und eine willige Hand.
So gut wie tot.
Freudloses Wissen erblühte in seinen Gedanken wie eine Tollkirsche. Doch er wollte nichts damit zu tun haben. Von ihm wurden Entscheidungen verlangt, von Mächten, die so alt waren, dass es jede Vorstellungskraft überstieg. Die Drachenkarten … die Älteren Götter spielten damit … und versuchten jetzt, mit ihm zu spielen.
So sieht also die Rolle des Herrn der Drachenkarten aus – wenn ich das wirklich geworden bin? Jemand, der tödliches Wissen besitzt und der jetzt verdammt noch mal besänftigen und mäßigen soll? Ich verstehe, was ihr mir sagt, was ich tun soll. Ein Gott fällt, schieb einen anderen an seinen Platz? Sterbliche, die sich dem einen verschworen haben, lass sie sich nun dem anderen verschwören? Beim Abgrund unter uns, sind wir dazu verdammt, wie Kieselsteine auf einem Brett herumgeschoben – herumgeschnippt – zu werden?
Wut und Empörung fauchten heiß und weiß durch Parans Gedanken. Löschten seine Schmerzen aus. Er spürte, wie er innerlich herumfuhr, um jene fremde Präsenz anzusehen, die ihn so unablässig bedrängt hatte. Fühlte, wie er zerbarst.
In Ordnung, du wolltest meine Aufmerksamkeit. Du hast sie. Hör zu, hör gut zu, Nachtfrost – oder wer auch immer – was auch immer du wirklich bist. Vielleicht hat es schon früher – vor langer Zeit – Herren der Drachenkarten gegeben, an denen du zerren und ziehen konntest und die dann getan haben, was du wolltest. Beim Vermummten, vielleicht seid ihr es – du und deine Älteren Götterfreunde –, die diesmal mich ausgesucht haben. Aber wenn es so ist, dann habt ihr einen Fehler gemacht. Einen schlimmen Fehler.
Ich war schon einmal die Marionette eines Gottes. Aber ich habe die Fäden durchtrennt, und wenn du Einzelheiten wissen willst, dann geh und frag Oponn. Ich bin dazu in ein verfluchtes Schwert hineingegangen, und ich schwöre, ich tue es wieder – und diesmal mit weitaus weniger Barmherzigkeit im Herzen –, wenn ich auch nur den Hauch einer Manipulation von deiner Seite spüre.
Er spürte kalte Erheiterung als Antwort, und das tierische Blut in Paran reagierte. Mit gesträubten Nackenhaaren. Gefletschten Zähnen. Einem tiefen, tödlichen Knurren.
Er spürte ihre plötzliche Unruhe.
Ja, das ist die Wahrheit. Ich lasse mir kein Halsband anlegen, Nachtfrost. Und eins sage ich dir jetzt, und du würdest gut daran tun, auf meine Worte zu achten. Ich mache einen Schritt vorwärts. Zwischen dich und jeden Sterblichen, wie ich einer bin. Ich weiß nicht, was dieser Mann namens Grantl zu verlieren hatte, um dort anzukommen, wo du ihn haben wolltest, aber ich kann die Wunden in seinem Innern spüren – der Abgrund soll dich verschlingen, sind Schmerzen das einzige Mittel, mit dem du uns dazu bringen kannst zu tun, was du willst? Es scheint so. Dann solltest du dies wissen: Solange du kein anderes Mittel finden, solange du mir keinen anderen Weg zeigen kannst – etwas anderes als Schmerzen und Kummer –, so lange werde ich dich bekämpfen.
Wir haben unser Leben. Wir alle, und diese Leben sind nicht dazu da, dass du mit ihnen spielst. Nicht mit Tippas Leben, nicht mit Grantls, nicht mit Stonnys.
Du hast diesen Pfad gebahnt, Nachtfrost. Hast uns miteinander verbunden. Schön. Gut. Gib mir einen Grund, und ich komme dir entgegen. Das Blut eines Schattenhunds in den Adern zu haben – weißt du, ich glaube, wenn ich wollte, könnte ich mit seiner Hilfe die anderen rufen. Alle.
Denn ich verstehe jetzt etwas. Mir ist etwas klar geworden, etwas, von dem ich weiß, dass es wahr ist. In dem Schwert, in Dragnipur … sind zwei Schattenhunde ins Gewirr der Dunkelheit zurückgekehrt. Zurückgekehrt, Nachtfrost. Verstehst du, was ich sagen will? Sie sind nach Hause gegangen.
Und ich kann sie zurückrufen, ohne Zweifel. Zwei Seelen aus ungezähmter Dunkelheit. Dankbare Seelen, geliebte Brut der Zerstörung -
Jetzt kam eine Antwort, eine Frauenstimme, die Paran nicht kannte. »Du hast keine Ahnung, womit du drohst, Sterblicher. Das Schwert meines Bruders birgt weit mehr Geheimnisse, als du dir vorstellen kannst.«
Er lächelte. Noch schlimmer, Nachtfrost. Die Hand, die Dragnipur jetzt schwingt, gehört zur Dunkelheit. Anomander Rake, der Sohn von Mutter Dunkel. Der Weg war noch nie so gerade, so direkt oder so kurz, stimmt’s? Wenn ich ihm sage, was in seinem eigenen Schwert geschehen ist -
»Wenn Rake erfahren sollte, dass du einen Weg ins Innere von Dragnipur gefunden und die beiden Hunde befreit hast, die er erschlagen hat … dann wird er dich töten, Sterblicher.«
Vielleicht. Er hatte bereits ein paar Mal die Möglichkeit dazu, und außerdem sogar noch gute Gründe. Doch er hat sich zurückgehalten. Ich glaube nicht, dass du den Lord von Mondbrut so gut verstehst, wie du glaubst. In Anomander Rake ist nichts Vorhersehbares – vielleicht ist es das, was dir solche Angst macht.
»Verfolge diesen Pfad nicht weiter.«
Ich werde tun, was immer ich tun muss, Nachtfrost, um deine Fäden zu durchtrennen. In deinen Augen sind wir Sterblichen schwach. Und du nutzt unsere Schwäche, um zu rechtfertigen, dass du uns manipulierst.
»Der Kampf, den wir vor uns haben, ist viel gewaltiger – viel tödlicher –, als dir klar ist.«
Erkläre es. Alles. Zeige mir diese gewaltige Bedrohung, von der du sprichst.
»Das dürfen wir nicht tun, um deinen Verstand vor Schaden zu bewahren, Ganoes Paran.«
Gönnerhaftes Miststück.
Er spürte, wie ihre Wut bei seinen Worten aufflammte. »Du sagst, wir können euch nur benutzen, indem wir euch Schmerzen bereiten. Darauf haben wir nur eine Antwort: Der Schein kann trügen.«
Uns im Unklaren, unwissend zu lassen ist also eure Vorstellung von Barmherzigkeit?
»Du hast es zwar ein bisschen grob ausgedrückt, aber im Prinzip hast du Recht, Ganoes Paran.«
Ein Herr der Drachenkarten darf nicht im Unklaren gelassen werden, Nachtfrost. Wenn ich diese Rolle und die damit einhergehende Verantwortung – wie auch immer sie aussehen mag, denn ich kenne sie noch nicht, beim Vermummten – tatsächlich akzeptieren soll, dann muss ich Bescheid wissen.
»Das wirst du auch – rechtzeitig – «
Er lachte höhnisch.
»Rechtzeitig, habe ich gesagt. Gewähre uns diese kleine Barmherzigkeit, Sterblicher. Der Kampf, der vor uns liegt, unterscheidet sich nicht von einem Feldzug – zunehmende Kampfhandlungen, örtlich begrenzte Gefechte. Doch das Schlachtfeld ist kein Geringeres als die Existenz an sich. Kleine Siege sind lebenswichtige Beiträge zu dem allenthalben herrschenden Krieg, den zuführen wir uns entschlossen haben – «
Wer ist »wir«?
»Die überlebenden Älteren Götter … und andere, die sich ihrer Rolle etwas weniger bewusst sind.«
K’rul? Der, der für Flickenseels Wiedergeburt verantwortlich ist?
»Ja. Er ist mein Bruder.«
Dein Bruder. Aber nicht der Bruder, der Dragnipur geschmiedet hat.
»Nein, das war er nicht. Im Augenblick kann Draconus nur indirekt agieren, denn er ist im Innern eben jenes Schwerts angekettet, das er selbst geschaffen hat. Mit seiner eigenen Klinge niedergestreckt von Anomander Rake.«
Paran spürte, wie sich ein Verdacht wie kalter Stahl in sein Herz bohrte. Er kann nur indirekt agieren, hast du gesagt.
»Es war eine günstige Gelegenheit, Ganoes Paran. Eine niemals erwartete günstige Gelegenheit. Die Ankunft einer nicht angeketteten Seele in Dragnipur. Der Austausch einiger weniger Worte, die viel mehr bedeutet haben, als dir jemals klar war. So, wie die Bresche ins Gewirr der Dunkelheit geschlagen wurde, zerbrach auch die Barriere der Seelen. Nur ganz kurz. Aber genug – «
Warte. Paran brauchte Stille, um nachzudenken, um schnell und gründlich nachzudenken. Als er im Innern von Dragnipur gewesen und mit den angeketteten Seelen dahingeschritten war, die ihre unvorstellbare Last hinter sich hergeschleppt hatten, hatte er tatsächlich mit einem dieser Gefangenen gesprochen. Beim Abgrund unter uns, das war Draconus. Doch er konnte sich an nichts von dem erinnern, was sie gesprochen hatten.
Die Ketten führten ins Gewirr der Dunkelheit, in den Knoten unter dem ächzenden Wagen. So hielt die Dunkelheit alle jene Seelen, hielt sie fest.
Ich muss zurück in das Schwert. Ich muss ihn fragen -
»Jen’isand Rul. Ja, es stimmt, mein Bruder Draconus, derjenige, mit dem du gesprochen hast, als du im Innern des Schwertes warst - mein anderer Bruder – hat dich benutzt, Ganoes Paran. Findest du das brutal? Liegt diese Möglichkeit außerhalb deines Vorstellungsvermögens? Genau wie die anderen im Innern des Schwertes, sieht sich mein Bruder der … Ewigkeit gegenüber. Er hat versucht, einen Fluch zu überlisten, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es so lange dauern würde. Er hat sich verändert, Sterblicher. Seine legendäre Grausamkeit ist … gemildert worden. Und er verfügt über Wissen, das im Laufe von Jahrtausenden angesammelt wurde. Aber was noch wichtiger ist: Wir brauchen ihn.«
Ihr wollt, dass ich Draconus aus Rakes Schwert befreie.
»Ja.«
Damit er dann auf Rake losgeht, um sich die Waffe zurückzuholen, die er geschmiedet hat. Nachtfrost, ich würde lieber Rake als Draconus -
»Einen solchen Kampf wird es nicht geben, Ganoes Paran.«
Warum nicht?
»Um Draconus zu befreien, muss das Schwert zerschmettert werden.«
Der kalte Stahl zwischen seinen Rippen drehte sich jetzt. Und das würde auch … alle anderen befreien. Alles andere. Tut mir Leid, Weib, das werde ich nicht tun -
»Wenn es eine Möglichkeit gibt, diese beängstigende Freisetzung wahnsinniger, bösartiger Geister zu verhindern – deren Zahl in der Tat unermesslich groß und zu entsetzlich ist, um sie sich auszumalen –, dann kennt sie nur ein Mann.«
Draconus selbst.
»Ja. Denke darüber nach, Ganoes Paran. Überstürze nichts – es ist noch Zeit.«
Das freut mich zu hören.
»Wir sind nicht so grausam, wie du glaubst.«
Dann hat die Rachsucht dein Herz nicht geschwärzt, Nachtfrost? Entschuldige meine Zweifel.
»Oh, ich will mich rächen, Sterblicher, aber nicht an den kleineren Spielern, die für den Verrat an mir verantwortlich sind, denn dieser Verrat war vorausbestimmt. Ein uralter Fluch. Und mein Wunsch nach Rache richtete sich nur auf denjenigen, der diesen Fluch ausgesprochen hat.«
Ich hin überrascht, dass er oder sie noch existiert.
In ihren Worten schwang ein kaltes Lächeln mit. »Das war unser Fluch für ihn.«
Ich fange allmählich an zu glauben, dass ihr alle einander verdient.
Eine Pause entstand, dann sagte sie:»Vielleicht ist das wirklich so, Ganoes Paran.«
Was habt ihr mit Flickenseel gemacht?
»Nichts. Ihre Aufmerksamkeit ist im Augenblick auf andere Dinge gerichtet.«
Also habe ich mir selbst geschmeichelt, als ich etwas anderes vermutet habe. Verdammt, Paran, du bist immer noch ein Idiot.
»Wir werden ihr nichts zu Leide tun, Sterblicher. Selbst wenn wir dazu in der Lage wären, was wir nicht sind. In ihr ist Ehre. Und Integrität. Das sind seltene Qualitäten für jemanden, der so mächtig ist. Von daher haben wir Vertrauen – «
Eine gepanzerte Hand legte sich auf Parans Schulter, schreckte ihn auf. Er blinzelte, schaute sich um. Das Dach. Ich bin zurück.
»Hauptmann?«
Er begegnete Fäustels besorgtem Blick. »Was ist?«
»Tut mir Leid, Hauptmann, aber es hat ausgesehen, als hätten wir Euch verloren … zumindest einen Moment lang.«
Er schnitt eine Grimasse, wollte dem Mann ins Gesicht lügen, brachte es aber nicht fertig. »Wie lange?«
»Ein Dutzend Herzschläge, Hauptmann.«
»Mehr nicht? Gut. Wir müssen aufbrechen. Zum Knecht.«
»Hauptmann?«
Ich stehe jetzt zwischen ihnen und uns, Fäustel. Aber dieses »uns« ist viel mehr, als dir klar ist. Verdammt, ich wünschte, ich könnte es erklären. Ohne wie ein angeberischer Bastard zu klingen. Ohne auf die Fragen des Heilers einzugehen, drehte er sich um und entdeckte Trotter. »Kriegshäuptling. Der Knecht lockt.«
»In Ordnung, Hauptmann.«
Sämtliche Brückenverbrenner wichen seinem Blick aus. Paran fragte sich, warum. Fragte sich, was er verpasst hatte. Mit einem innerlichen Schulterzucken schritt er zu Grantl hinüber. »Ihr kommt mit uns«, sagte er.
»Ich weiß.«
Ja, den Eindruck hab ich auch. Schön, bringen wir’s hinter uns.
Der Turm des Palastes ragte wie ein Speer in die Höhe, eingehüllt in Banner aus geisterhaftem Rauch. Der dunkle, farblose Stein dämpfte das helle Sonnenlicht, in dem er badete. Dreihundertneununddreißig zugige Stufen führten im Innern des Turms nach oben; sie endeten auf einer offenen Plattform mit einem spitzen Dach aus Kupferziegeln, die keine Spur von Grünspan aufwiesen. Der Wind heulte zwischen den Säulen hindurch, die das Dach und die glatte steinerne Plattform trugen, doch der Turm schwankte nicht.
Itkovian stand da und blickte nach Osten, und der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Sein Körper fühlte sich unter der zerfetzten Rüstung blutleer und merkwürdig heiß an. Er wusste, dass seine Erschöpfung schließlich ihren Tribut forderte. Fleisch und Knochen waren nur bis zu einem bestimmten Punkt belastbar. Sie hatten den toten Fürsten in seinem Großen Saal brutal und wenig kunstvoll verteidigt. Korridore und Eingänge waren zu Schlachthäusern geworden. Der Gestank des Gemetzels hielt sich wie eine neue Schicht unter seiner Haut – selbst der Wind konnte ihn nicht wegblasen.
Die Kämpfe an der Küste und den Anlegestellen neigten sich einem grimmigen Ende zu, wie ein einsamer überlebender Kundschafter berichtet hatte. Die Betrullid waren aufgerieben worden und flohen entlang der Küste nach Norden, in die Salzmarschen, in denen ihre Pferde stecken bleiben würden, wie der Schild-Amboss nur zu gut wusste. Die verfolgenden Barghast würden kurzen Prozess mit ihnen machen.
Das Lager der Belagerer war auseinander gefegt worden, als wäre ein Tornado hindurchgebraust. Ein paar hundert Barghast – alte Frauen und Männer und Kinder – wanderten durch die blutigen Überreste, sammelten inmitten kreischender Möwen die Siegesbeute ein.
Die Ostschanze, jetzt nur noch ein Trümmerhaufen, ragte kaum noch über die Leichenberge hinaus. Rauch trieb davon wie von einem verglühenden Scheiterhaufen.
Itkovian hatte zugesehen, wie die Barghast-Clans in die Stadt vorgestoßen waren, hatte gesehen, wie aus dem Rückzug der Pannionier in den Straßen unter ihm eine panische Flucht geworden war. Beim Palast selbst war es nicht mehr zu Kämpfen gekommen. Auf dem Jelarkan-Platz hatte es ein Offizier der Domänenser geschafft, eine Nachhut zusammenzuziehen, und diese Schlacht tobte immer noch. Aber für die Pannionier war es ein Rückzugsgefecht. Sie erkauften sich Zeit für den Exodus durch die Überreste des Süd- und des Westtors.
Einige wenige Kundschafter der Weißgesichter hatten sich auf das Palastgelände vorgewagt und waren nahe genug herangekommen, um festzustellen, dass es noch Verteidiger gab, aber sie hatten nicht offiziell Kontakt aufgenommen.
Velbara, die Rekrutin, stand neben Itkovian, doch sie war schon längst keine Rekrutin mehr. Ihr Waffentraining war aus der Verzweiflung geboren worden. Sie hatte die wichtigste Lektion gelernt – am Leben zu bleiben –, und diese Lektion war zur lenkenden Macht hinter allen anderen Fähigkeiten geworden, die sie sich anschließend in der Hitze des Gefechts angeeignet hatte. Genau wie alle anderen capanischen Neulinge in der Kompanie – die jetzt den größten Teil der Überlebenden unter dem Kommando des Schild-Ambosses stellten – hatte sie sich ihren Platz als Soldatin der Grauen Schwerter verdient.
Itkovian brach das lange Schweigen. »Wir räumen jetzt den Großen Saal.«
»Ja, Herr.«
»Die Ehre des Fürsten ist wiederhergestellt. Wir müssen aufbrechen – beim Knecht gibt es noch etwas zu erledigen.«
»Können wir ihn denn überhaupt erreichen, Herr, selbst jetzt? Wir müssen einen Barghast-Kriegshäuptling finden.«
»Sie werden uns nicht mit den Feinden verwechseln, Soldatin. In der Stadt liegen so viele tote Brüder und Schwestern, dass sie unsere Farben gut genug kennen. Und da die Pannionier – abgesehen von denen auf dem Jelarkan-Platz – von den Barghast nach Westen auf die Ebene getrieben wurden, werden wir auf unserem Weg kaum mit Widerstand rechnen müssen.«
»Ja, Herr.«
Itkovian richtete seine Aufmerksamkeit ein letztes Mal auf die zerstörte Schanze auf dem Todesstreifen im Osten. Zwei Soldaten der Gidrath unten im Großen Saal kamen aus jener Festung, hatten ursprünglich zu den ebenso tollkühnen wie vortrefflichen Verteidigern gezählt, und einer von ihnen hatte vor kurzem Wunden erlitten, die sich höchstwahrscheinlich als tödlich erweisen würden. Der andere, ein Bulle von einem Mann, der vor Rath’Vermummter gekniet hatte, schien nicht mehr schlafen zu können. In den vier Tagen und Nächten, seit sie den Großen Saal zurückerobert hatten, war er während seiner Ruheperioden unruhig auf und ab gegangen, ohne seiner Umgebung auch nur die geringste Beachtung zu schenken. War immer nur auf und ab gegangen, hatte mit dunklen, fiebrig brennenden Augen vor sich hin gemurmelt. Er und sein sterbender Kamerad waren, wie Itkovian vermutete, die einzigen noch lebenden Gidrath außerhalb des Knechts.
Ein Gidrath, der sich dem Vermummten verschworen hat, doch er befolgt meine Befehle, ohne zu zögern. Schlichter Eigennutz, könnte man fraglos schließen. Schließlich wäre es nur sinnvoll, angesichts der gegenwärtigen Extremsituation alle Gedanken an Rivalität aufzugeben. Doch … ich stelle fest, dass ich meinen eigenen Erklärungen nicht traue.
Trotz seiner Erschöpfung hatte der Schild-Amboss eine zunehmende Unruhe verspürt. Irgendetwas war geschehen. Irgendwo. Und wie zur Antwort hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, als ströme sein Blut aus ihm heraus, als leerten sich seine Adern, sein Herz, als flösse alles durch eine Wunde, die er erst noch finden musste. Und seither fühlte er sich … unvollständig.
Als hätte ich meinen Glauben preisgegeben. Doch das habe ich nicht getan. »Die Leere des verlorenen Glaubens ist mit deinem angeschwollenen Selbst gefüllt.« Worte eines schon lange toten Destriant. Man gibt nicht auf, man ersetzt. Man ersetzt Glaube durch Zweifel, durch Skeptizismus, durch Ablehnung. Ich habe nichts aufgegeben. Ich habe keine Horde von Worten, die meine inneren Verteidigungsstellungen bevölkert. Tatsächlich bin ich auf Schweigen reduziert. Geleert … als würde ich Erneuerung erwarten …
Er riss sich zusammen. »Dieser Wind heult zu laut in meinen Ohren«, sagte er, den Blick noch immer auf die Ostschanze gerichtet. »Kommt, Soldatin, gehen wir nach unten.«
Einhundertzwölf Soldaten und Soldatinnen waren noch kampffähig, wenn auch niemand unverletzt war. Siebzehn Graue Schwerter lagen tot oder im Sterben entlang einer Wand. Die Luft stank nach Schweiß, nach Urin und nach verwesendem Fleisch. Die Eingänge zum Großen Saal waren von schwarz geronnenem Blut eingefasst, das von den Bodenfliesen abgekratzt worden war, damit niemand darauf ausrutschte. Der längst vergessene Architekt, der diesen Raum entworfen hatte, wäre wahrscheinlich entsetzt gewesen, wenn er gesehen hätte, was aus ihm geworden war. Statt in edler Schönheit zu schwelgen, bot er nun einen albtraumhaften Anblick.
Auf dem Thron saß Fürst Jelarkan; die Haut war ihm grob wieder auf seinen halb verzehrten Körper aufgenäht worden, doch ihm fehlten die Augen, und die Zähne waren in einem Grinsen gebleckt, das umso breiter wurde, je mehr die Lippen eintrockneten und zurückschrumpften. Das breiter werdende Lächeln des Todes, ein höchst poetisches Entsetzen, durchaus würdig, in dem, was aus dem Saal geworden war, Hof zu halten. Der junge Fürst, der sein Volk geliebt hatte, teilte nun dessen Schicksal.
Es war Zeit zu gehen. Itkovian stand in der Nähe des Haupteingangs und musterte, was noch von seinen Grauen Schwertern übrig war. Im Gegenzug blickten sie ihn an, reglos, mit steinernen Augen. Zu seiner Linken hielten zwei capanische Rekrutinnen die Zügel der beiden Schlachtrosse, die ihnen noch geblieben waren. Der einsame Gidrath – sein Kamerad war vor wenigen Augenblicken gestorben – lief mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern vor der Wand hinter den angetretenen Söldnern auf und ab. Er hielt in jeder Hand ein zerschrammtes Langschwert; das in seiner Linken war von einem wilden Hieb verbogen, der vor zwei Nächten eine Marmorsäule getroffen hatte.
Der Schild-Amboss hatte sich an seine Soldaten und Soldatinnen wenden wollen, und wenn auch nur, um den Anstand zu wahren, jetzt jedoch, da er ihnen gegenüberstand und seinen Blick über ihre Gesichter gleiten ließ, stellte er fest, dass er nicht mehr die richtigen Worte fand. Zumindest fielen ihm keine ein, die das benennen konnten, was sie miteinander verband, und auch keine, die dem merkwürdigen kalten Stolz gerecht geworden wären, den er in diesem Augenblick empfand. Schließlich zog er sein Schwert, überprüfte die Riemen, die seinen Schildarm unterstützten, und wandte sich dem Haupteingang zu.
Im Korridor dahinter waren die Leichen auf einem schmalen Streifen beiseite geschafft worden, um zwischen den aufgestapelten Kadavern hindurch einen Weg zu den Außentüren zu bahnen.
Itkovian ging den grausigen Gang entlang, trat zwischen die schiefen, zerschlagenen Türflügel und hinaus ins Sonnenlicht.
Nach jedem ihrer vielen Angriffe hatten die Pannionier ihre gefallenen Kameraden von den breiten, flachen Stufen des Zugangs weggeräumt, sie auf den Hof geschafft und dort wahllos aufeinander gestapelt – einschließlich derjenigen, die noch am Leben gewesen und erst später an ihren Wunden gestorben oder erstickt waren.
Itkovian blieb am oberen Ende der Stufen stehen. Noch immer drangen Kampfgeräusche aus der Gegend des nach Fürst Jelarkan benannten Platzes herüber, aber das war alles, was er hörte. Stille hüllte die Szene vor ihm ein, eine Stille, die auf einem Platz, der einmal der Vorplatz eines belebten Palasts gewesen war, so unpassend wirkte, dass Itkovian zum ersten Mal, seit die Belagerung begonnen hatte, zutiefst erschüttert war.
Teurer Fener, hilf mir, in all dem hier einen Sinn zu erkennen.
Er stieg die Stufen hinunter, deren Steine sich unter seinen Stiefeln weich und klebrig anfühlten. Seine Kompanie folgte ihm, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wurde.
Sie schritten durch das zerschmetterte Tor, begannen, sich auf der Rampe und dann in der Straße dahinter einen Weg zwischen den Leichen zu suchen. Auch wenn die Lebenden ihnen keine Schwierigkeiten machten, würde dies dennoch eine lange Reise werden. Und es würde auch keine Reise ohne Kampf sein. Was jetzt über sie herfiel, war das, was ihre Augen sahen, ihre Nasen rochen und was sie unter ihren Schuhsohlen spüren konnten.
Ein Kampf, in dem Schilde und Rüstungen nutzlos waren, in dem wirbelnde Schwerter nichts brachten. Die einzige Verteidigung war eine Seele, die so abgehärtet war, dass es weit über jede Art von Menschsein hinausging, und für Itkovian war dieser Preis zu hoch. Ich bin der Schild-Amboss. Ich gebe mich dem hin, was vor mir liegt. Hier ist ein Kummer entfesselt worden und nun verloren, der dicker ist als der Rauch, der in der leblosen Luft wirbelt und wogt. Eine Stadt ist getötet worden. Selbst die Überlebenden, die in den Tunneln unter den Straßen hocken … Fener soll mich holen, es wäre besser, sie kämen nie wieder herauf, um das hier zu erblicken.
Ihr Weg führte sie zwischen den Friedhöfen hindurch. Itkovian betrachtete den Ort, wo er und seine Soldaten sich verteidigt hatten. Hier sah es genauso aus wie überall. Haufen von Toten. Wie Brukhalian versprochen hatte, war kein einziger Pflasterstein freiwillig preisgegeben worden. Diese kleine Stadt hatte alles getan, was sie konnte. Der Sieg der Pannionier mochte unvermeidlich gewesen sein, aber dennoch gab es bestimmte Schwellen, die einen unerbittlichen Impuls in einen Fluch verwandelten.
Und jetzt hatten die Weißgesicht-Clans der Barghast ihrerseits ihre Unaufhaltsamkeit verkündet. Was die Pannionier getan hatten, war nunmehr ihnen angetan worden. Wir werden alle in eine Welt des Wahnsinns gestoßen, doch es fällt jetzt jedem Einzelnen von uns zu, von diesem Abgrund zurückzutreten und sich aus der Abwärtsspirale zu lösen. Aus Entsetzen muss Kummer werden, und aus Kummer Mitleid.
Als die Kompanie eine verstopfte Straße am Rande des Daru-Viertels betrat, tauchten knapp zwanzig Barghast in der Mündung einer Seitengasse ein Stück vor ihnen auf. Blutige Hakenschwerter in den Händen, die weiß bemalten Gesichter rot bespritzt. Der Vorderste grinste den Schild-Amboss an.
»Verteidiger!«, bellte er auf Capanisch mit rauem Akzent. »Wie gefällt euch das Geschenk der Befreiung?«
Itkovian ging nicht auf die Frage ein. »Ein paar Eurer Verwandten befinden sich noch im Knecht, mein Herr. Und in eben diesem Augenblick sehe ich, dass der Schutzzauber verblasst.«
»Ja, wir werden die Gebeine unserer Götter sehen«, sagte der Krieger und nickte. Er ließ den Blick seiner kleinen, dunklen Augen über die Grauen Schwerter schweifen. »Du führst einen Stamm von Frauen an.«
»Capanische Frauen«, sagte Itkovian. »Der unverwüstlichste Reichtum dieser Stadt, auch wenn es an uns war, das zu entdecken. Sie sind jetzt Graue Schwerter, mein Herr, und dadurch sind wir gestärkt.«
»Wir haben überall eure Brüder und Schwestern gesehen«, grollte der Barghast. »Wären sie unsere Feinde, dann wären wir froh, dass sie tot sind.«
»Und wenn sie Eure Verbündeten wären?«, fragte der Schild-Amboss.
Die Barghast-Krieger berührten alle gleichzeitig mit dem Rücken der Schwerthand kurz und kaum wahrnehmbar die Stirn, dann fuhr der Sprecher fort: »Der Verlust erfüllt die Schatten, die wir werfen. Hör zu, Soldat – der Feind, den ihr uns gelassen habt, war … brüchig.«
Itkovian zuckte die Schultern. »Der Glaube der Pannionier kennt keine Anbetung, nur Notwendigkeit. Ihre Stärke ist hohl, mein Herr. Werdet Ihr uns zum Knecht begleiten?«
»An eurer Seite, Soldaten. In eurem Schatten liegt Ehre.«
Die meisten Gebäude im Daru-Viertel hatten gebrannt, waren hier und dort zusammengebrochen und hatten die Straßen mit geschwärzten Trümmern gefüllt. Als die Grauen Schwerter und die Barghast sich durch die am wenigsten von Trümmern versperrten Straßen wanden, wurden Itkovians Blicke von einem Gebäude zu ihrer Rechten angezogen, das immer noch stand. Eine Mietskaserne, deren Wände merkwürdig ausgebeult waren. Rings herum waren Feuer gelegt worden, die die Steine geschwärzt hatten, doch aus irgendwelchen Gründen war der Angriff der Flammen erfolglos gewesen. Sämtliche bogenförmigen Fenster, die Itkovian sehen konnte, sahen aus, als wären sie verbarrikadiert worden.
»Euresgleichen stopfen ihre Gräber ziemlich voll«, meinte der Barghast neben ihm mit grollender Stimme
Der Schild-Amboss warf ihm einen Blick zu. »Mein Herr?«
Der Krieger deutete mit dem Kopf auf das in einen Rauchschleier gehüllte Gebäude. »Klar, das ist leichter, als außerhalb der Stadt eine Grube auszuheben und auszukleiden, und die Erde eimerweise wegzuschaffen. Es scheint, als ob ihr einen freien Blick von den Wällen wünscht. Aber wir leben nicht so inmitten unserer Toten, wie euer Volk das tut …«
Itkovian drehte sich um, um noch einmal die Mietskaserne zu betrachten, die jetzt schon ein Stückchen hinter ihnen lag. Seine Augen wurden schmal. Die Barrikaden, die die Fenster blockieren – auch sie bestehen aus Fleisch und Knochen. Bei den Zwillingshauern, wer würde solch ein Totenhaus bauen? Das kann doch unmöglich das Ergebnis einer Verteidigungsschlacht sein?
»Wir sind ganz nah herangegangen«, sagte der Krieger an seiner Seite. »Die Wände strahlen Wärme ab. Und aus den Rissen quillt eingedickte Flüssigkeit.« Er machte eine andere Geste, diesmal mit einem Schaudern, klopfte mit dem Heft seines Hakenschwerts gegen die aus Münzen bestehende Rüstung, die seinen Oberkörper bedeckte. »Bei den Knochen, Soldat, wir sind geflohen.«
»Ist das Gebäude da drüben das einzige, das so … gefüllt ist?«
»Wir haben zumindest kein anderes gesehen, obwohl wir an einem Anwesen vorbeigekommen sind, das ebenfalls noch gehalten wurde – dort haben belebte Leichname am Tor und auf den Mauern Wache gestanden. Die Luft hat nach Zauberei gestunken, nach den fauligen Ausdünstungen von Nekromantie. Ich sage dir, Soldat, wir werden froh sein, wenn wir diese Stadt wieder verlassen können.«
Itkovian schwieg. Er fühlte sich innerlich zerrissen. Feners Traum verkündete die Wahrheit des Krieges. Er sprach die Wahrheit über die Grausamkeit, die die Menschheit ihresgleichen antun konnte. Krieg war für diejenigen, die andere führten, wie ein Spiel, das in einer trügerischen Arena ruhiger Vernunft gespielt wurde. Solche Lügen konnten jedoch die Realität nicht überleben, und die Realität schien keine Grenzen zu kennen. Der Traum enthielt eine Bitte um Mäßigung und bestand darauf, dass der gewonnene Ruhm kein blinder war, sondern aus ernster, klarsichtiger Rücksicht entstand. Inmitten der grenzenlosen Realität lag das Versprechen der Erlösung.
Diese Sichtweise ließ Itkovian nun im Stich. Er schreckte zurück wie ein Tier im Käfig, das von allen Seiten grausam aufgestachelt wird. Die Flucht wurde ihm verwehrt, doch das war selbst auferlegt, war aus seinem bewussten Willen geboren, dem er mit den Worten seines Schwurs Form verliehen hatte. Er musste diese Bürde annehmen, was immer es ihn kosten würde. Die Feuer der Rache hatten in seinem Innern eine Wandlung erfahren. Er würde schließlich die Erlösung sein – für die Seelen der Gefallenen in dieser Stadt.
Erlösung. Für alle anderen, aber nicht für sich selbst. Denn um selbst erlöst zu werden, konnte er sich nur an seinen Gott wenden. Aber, teurer Fener, was ist geschehen? Wo bist du? Ich knie vor dir, wie es sich gehört, und erwarte deine Berührung. Aber du bist nirgends zu finden. Deine Sphäre … sie fühlt sich … leer an.
Wohin kann ich jetzt gehen?
Sicher, ich bin noch nicht am Ende. Das nehme ich hin. Aber wann werde ich es sein? Wer erwartet mich? Wer wird mich in die Arme schließen? Ein Schauer durchlief ihn.
Wer wird mich in die Arme schließen?
Der Schild-Amboss schob diese Frage beiseite, mühte sich, seine Entschlossenheit wiederzuerlangen. Schließlich hatte er gar keine andere Wahl. Er würde Feners Kummer sein. Und die Hand, die der Gerechtigkeit seines Lords Geltung verschaffte. Diese Art Verantwortung war ihm nicht willkommen, und er spürte, welchen Tribut er würde entrichten müssen.
Sie näherten sich dem Platz vor dem Knecht. Weitere Barghast waren zu sehen, strömten auf das gleiche Ziel zu. Die fernen Kampfgeräusche vom Jelarkan-Platz, die sie fast den ganzen Nachmittag begleitet hatten, waren nun verstummt. Der Feind war aus der Stadt vertrieben worden.
Itkovian glaubte nicht, dass die Barghast ihn verfolgen würden. Sie hatten erreicht, weswegen sie hierher gekommen waren. Die Bedrohung der Gebeine ihrer Götter durch die Pannionier war beseitigt worden.
Vermutlich würde Septarch Kulpath – falls er noch am Leben war – seine versprengten Streitkräfte neu formieren, die Disziplin wieder herstellen und sich auf den nächsten Zug vorbereiten. Entweder einen Gegenangriff oder einen Rückzug nach Westen. Beides barg Risiken. Es könnte sein, dass seine Streitmacht nicht mehr groß genug war, um die Stadt zurückzuerobern. Und seiner Armee, die ihre Lager verloren hatte und von ihren Nachschublinien abgeschnitten war, würden schon bald die Vorräte ausgehen. Das war keine beneidenswerte Position. Capustan, eine kleine, unwichtige Stadt an der Ostküste von Zentralgenabackis, war zu einem vielfältigen Fluch geworden. Und die Toten, die in diesem Kampf gestorben waren, standen nur für den Beginn des bevorstehenden Krieges.
Sie traten auf den großen Platz hinaus.
Die Stelle, an der Brukhalian gefallen war, lag direkt vor ihnen, aber alle Leichen waren weggeschafft worden – sie waren zweifellos von den sich zurückziehenden Pannioniern mitgenommen worden. Fleisch für ein weiteres Festmahl. Es spielt keine Rolle. Der Vermummte ist zu ihm gekommen. Persönlich. War das ein Zeichen der Ehrerbietung, oder einfach nur kleinliche Schadenfreude seitens des Gottes?
Der Blick des Schild-Amboss ruhte noch einen Augenblick auf dem Streifen blutbefleckter Pflastersteine, glitt dann zum Haupttor des Knechts hinüber.
Der magische Schimmer war verschwunden. In den Schatten unter dem Torbogen waren Gestalten zu erkennen.
Jeder Zugang zum Platz hatte sich mit Barghast gefüllt, doch sie drangen nicht weiter vor.
Itkovian drehte sich zu seiner Kompanie um. Sein Blick fand Hauptmann Norul – die als Hauptsergeant für die Ausbildung der Rekruten verantwortlich gewesen war – und dann Velbara. Er musterte ihre zerfetzten, fleckigen Rüstungen, ihre von tiefen Furchen durchzogenen, verhärmten Gesichter. »Ihr beide werdet mich zum Zentrum des Platzes begleiten.«
Die beiden Frauen nickten.
Zu dritt schritten sie auf die freie Fläche hinaus. Tausende von Augen waren auf sie gerichtet, und dann erhob sich ein tiefes grollendes Gemurmel, gefolgt von einem rhythmischen, gedämpften Klirren, als Klingen auf Klingen schlugen.
Von rechts kam noch eine andere Gruppe auf den Platz. Soldaten in Uniformen, die Itkovian nicht erkannte, und bei ihnen befanden sich Gestalten mit streifigen, tigerartigen Tätowierungen. Letztere wurden von einem Mann angeführt, den Itkovian schon einmal gesehen hatte. Der Schild-Amboss verlangsamte seine Schritte.
Grantl. Der Name war wie ein Hammerschlag gegen seine Brust. Und brutale Gewissheit führte zwangsläufig zu seinen nächsten Gedanken. Das Todbringende Schwert von Trake, dem Tiger des Sommers. Der Erste Held ist aufgestiegen.
Wir … wir werden ersetzt.
Itkovian riss sich zusammen und nahm sein Tempo wieder auf, blieb dann in der Mitte des freien Platzes stehen.
Ein einzelner Soldat in der fremden Uniform war an Grantls Seite getreten. Er legte dem großen Daru eine Hand auf den gestreiften Arm und bellte den anderen etwas zu, die alle stehen blieben, während der Mann und Grantl weitergingen – direkt auf Itkovian zu.
Ein Tumult am Tor zum Knecht ließ sie hinüberschauen. Die Priester und Priesterinnen des Maskenrats strömten ins Freie, zerrten einen sich heftig wehrenden Kameraden mit, während sie vorwärts hasteten. Vorneweg lief Rath’Trake. Einen Schritt hinter ihm folgte Keruli, der Daru-Händler.
Der Soldat und Grantl erreichten Itkovian zuerst.
Unter dem Daru-Helm hervor musterten Grantls Tigeraugen den Schild-Amboss. »Itkovian von den Grauen Schwertern«, sagte er mit grollender Stimme, »es ist vorbei.«
Itkovian hatte kein Verlangen nach einer genaueren Erklärung. Die Wahrheit war wie ein Messer in seinem Herzen.
»Nein, das ist es nicht«, schnappte der fremde Soldat. »Ich grüße Euch, Schild-Amboss. Ich bin Hauptmann Paran, von den Brückenverbrennern. Von Einarms Heer.«
»Er ist mehr als das«, murmelte Grantl. »Was er jetzt verkünden wird – «
»Ist nichts, was ich gern tue«, beendete Paran den Satz. »Schild-Amboss. Fener ist aus seiner Sphäre gerissen worden. Er wandert durch ein fernes Land. Ihr und Eure Kompanie – Ihr habt Euren Gott verloren.«
Und so erfahren es alle. »Wir sind uns dessen bewusst, mein Herr.«
»Grantl sagt, dass Euer Platz, Eure Rolle vorbei ist. Die Grauen Schwerter müssen beiseite treten, denn ein neuer Gott des Krieges hat die Oberhand gewonnen. Aber das muss nicht so sein. Für Euch wurde ein Weg vorbereitet …« Parans Blick wanderte an Itkovian vorbei. Er hob die Stimme. »Willkommen, Humbrall Taur. Eure Kinder erwarten Euch zweifellos im Knecht.«
Der Schild-Amboss blickte über die Schulter nach hinten und sah einen großen Barghast-Kriegshäuptling in einer Münzen-Rüstung zehn Schritte hinter ihnen stehen.
»Die können auch noch ein bisschen länger warten«, brummte Humbrall Taur. »Ich würde mir das hier gern ansehen.«
Paran zog eine Grimasse. »Ihr seid ein neugieriger Bastard – «
»Stimmt.«
Der Malazaner wandte sich wieder Itkovian zu und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Schild-Amboss kam ihm zuvor. »Einen Augenblick, mein Herr.« Er ging an den beiden Männern vorbei.
Rath’Fener zuckte und wand sich im Griff seiner Priester-Kollegen. Seine Maske saß schief, graue Haarsträhnen lugten unter den Lederriemen hervor. »Schild-Amboss!«, rief er, als er Itkovian näher kommen sah. »Im Namen Feners – «
»In seinem Namen, ja, das stimmt, mein Herr«, schnitt Itkovian ihm das Wort ab. »Zu mir, Hauptmann Norul. Das Gesetz des Traums wird angerufen.«
»Herr«, antwortete die grauhaarige Frau und trat vor.
»Das könnt Ihr nicht tun!«, kreischte Rath’Fener. »Nur das Todbringende Schwert darf den Traum aus einem solchen Grund beschwören!«
Itkovian stand regungslos da.
Irgendwie gelang es dem Priester, einen Arm vorzustrecken und den Schild-Amboss mit einem Finger anzutippen. »Mein Rang ist der eines Destriant! Oder habt Ihr jemanden, der diesen Titel für sich beansprucht?«
»Destriant Karnadas ist tot.«
»Der Mann war kein Destriant, Schild-Amboss! Vielleicht ein Anwärter, aber mein Rang war und bleibt höher. Aus diesem Grund kann nur ein Todbringendes Schwert den Traum gegen mich beschwören, und das wisst Ihr.«
Grantl schnaubte. »Itkovian, Paran hat mir erzählt, dass es einen Verrat gegeben hat. Euer Priester hat Brukhalian an die Pannionier verkauft. Das ist nicht nur widerwärtig, sondern auch noch schlecht beraten. Also.« Er machte eine Pause. »Tut es nicht auch irgendein Todbringendes Schwert? Wenn dem so ist, werde ich den Traum anrufen.« Er sah Rath’Fener mit gefletschten Zähnen an. »Bestraft den Bastard.«
Wir sind ersetzt worden. Der Lord der Schlacht ist in der Tat verwandelt.
»Das kann er nicht tun!«, kreischte Rath’Fener.
»Welch anmaßende Behauptung«, sagte Itkovian zu dem maskierten Priester. »Um diesem Mann das Recht auf den Titel abzusprechen, mein Herr, müsst Ihr unseren Gott anrufen. Zu Eurer Verteidigung. Tut das, mein Herr, und Ihr verlasst diesen Ort als freier Mann.«
Die Augen hinter der Maske weiteten sich. »Ihr wisst genau, dass das unmöglich ist, Itkovian!«
»Dann ist Eure Verteidigung vorbei, mein Herr. Der Traum wird angerufen. Ich werde zu Feners Hand der Gerechtigkeit.«
Rath`Trake, der bisher schweigend und wachsam in der Nähe gestanden hatte, meldete sich jetzt zu Wort. »Es besteht keine Notwendigkeit für all das, Schild-Amboss. Die Abwesenheit Eures Gottes verändert … alles. Gewiss begreift Ihr die Folgen der traditionellen Form der Bestrafung. Eine einfache Exekution – nicht das Gesetz des Traums – «
»Wird diesem Mann verweigert«, sagte Itkovian. »Hauptmann Norul.«
Sie ging zu Rath’Fener, streckte die Arme aus und nahm ihn den Priestern und Priesterinnen ab. In ihren großen, narbigen Händen wirkte er wie eine Lumpenpuppe, als sie ihn herumschwang und mit dem Bauch nach unten auf die Pflastersteine warf. Dann setzte sie sich rittlings auf ihn, streckte seine Arme nebeneinander nach vorne. Der Mann kreischte schrill, als ihm plötzlich klar wurde, was ihm bevorstand.
Itkovian zog sein Schwert. Rauch stieg von der Klinge auf. »Der Traum«, sagte er, während er über den ausgestreckten Armen des Priesters stand. »Es war Verrat, Brukhalians Leben im Tausch für das Eure zu verkaufen. Verrat, das widerwärtigste aller Verbrechen gegenüber den Gesetzen des Traums, gegenüber Fener selbst. In Übereinstimmung mit dem Urteil des Ebers des Sommers wird daher um Strafe ersucht.« Er schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Betet, mein Herr, dass Fener findet, was wir ihm schicken.«
»Aber das wird er nicht tun!«, schrie Rath’Trake. »Versteht Ihr denn nicht? Seine Sphäre – Euer Gott wartet nicht mehr darin!«
»Er weiß es«, sagte Paran. »So etwas geschieht, wenn es persönlich wird, und glaubt mir, ich hätte mit der ganzen Angelegenheit am liebsten nichts zu tun.«
Rath’Trake fuhr zu dem Hauptmann herum. »Und wer seid Ihr, Soldat?«
»Heute … jetzt, in genau diesem Augenblick … bin ich der Herr der Drachenkarten, Priester. Und es scheint, als wäre ich hier, um zu verhandeln … in Eurem Namen und in dem Eures Gottes. Leider«, fügte er mit einem gequälten Lächeln hinzu, »zeigt sich der Schild-Amboss bewundernswert … widerspenstig …«
Itkovian hörte die Worte kaum, die neben ihm gewechselt wurden. Den Blick fest auf den Priester gerichtet, der vor ihm auf dem Boden lag, sagte er: »Unser Lord ist … fort. Das stimmt. Also … dann betet am besten, Rath’Fener, dass eine Kreatur voller Barmherzigkeit jetzt freundlich auf Euch herabblickt.«
Rath’Trake wirbelte bei diesen Worten erneut zu dem Schild-Amboss herum. »Beim Abgrund, Itkovian – kein Verbrechen ist so widerwärtig, dass es das rechtfertigt, was Ihr zu tun im Begriff seid! Seine Seele wird in Stücke gerissen werden! Wo sie hingehen, gibt es keine Kreaturen voller Barmherzigkeit! Itkovian – «
»Schweigt, mein Herr. Dieses Urteil ist mein und das des Traums.«
Das Opfer kreischte auf.
Und Itkovian ließ sein Schwert herabsausen. Die Schneide traf knirschend auf die Pflastersteine. Ein doppelter Blutschwall schoss aus den Stümpfen von Rath’Feners Handgelenken. Seine Hände … waren nirgends zu sehen.
Itkovian presste die flache Seite seiner Klinge gegen die Stümpfe. Fleisch verschmorte zischend. Rath’Feners Schreie verstummten abrupt, als er das Bewusstsein verlor. Hauptmann Norul trat von dem Mann weg, ließ ihn auf den Pflastersteinen liegen.
Paran ergriff wieder das Wort. »Schild-Amboss, hört mir zu. Bitte. Fener ist fort – er wandelt in der Sphäre der Sterblichen. Also kann er Euch nicht segnen. Mit dem, was Ihr auf Euch nehmt … es gibt keinen Ort, wo es hinkönnte, keine Möglichkeit, die Bürde leichter zu machen.«
»Ich bin mir dessen, was Ihr sagt, gleichermaßen bewusst, mein Herr.« Itkovian starrte noch immer auf Rath’Fener hinunter, der sich zu regen begann und allmählich wieder zu sich kam. »Doch dieses Wissen ist wertlos.«
»Es gibt einen anderen Weg, Schild-Amboss.«
Bei diesen Worten drehte Itkovian sich um, kniff die Augen zusammen.
Paran fuhr fort. »Eine Wahlmöglichkeit ist … geschaffen worden. In dieser Hinsicht bin ich nur ein Bote – «
Rath’Trake trat an Itkovian heran. »Wir werden Euch willkommen heißen, mein Herr. Euch und Eure Gefolgsleute. Der Tiger des Sommers braucht Euch, einen Schild-Amboss, und bietet Euch daher seine Umarmung – «
»Nein.«
Die Augen hinter der Maske wurden schmal.
»Itkovian«, sagte Paran. »Dies hier wurde vorausgesagt … und der Weg dafür bereitet … von Älteren Mächten, die von neuem erwacht und in der Welt wieder aktiv sind. Ich bin hier, um Euch zu sagen, was sie von Euch wollen – «
»Nein. Ich habe mich Fener verschworen. Wenn es denn sein muss, werde ich sein Schicksal teilen.«
»Dies ist ein Angebot, Euch zu retten – kein Verrat!«, rief Rath’Trake.
»Nein? Kein Wort mehr, meine Herren.« Mittlerweile hatte Rath’Fener, der noch immer auf den Pflastersteinen lag, das Bewusstsein wiedererlangt. Itkovian musterte ihn. »Ich bin noch nicht am Ende«, flüsterte er.
Ein Zucken ging durch Rath’Feners Körper, er stieß einen gellenden Schrei aus, seine Arme ruckten, als zerrten unsichtbare, unmenschliche Hände an ihnen. Dunkle Tätowierungen erschienen auf der Haut des Priesters, doch es waren nicht die Tätowierungen Feners – denn es war nicht der Eber gewesen, der Rath’Feners abgetrennte Hände für sich beansprucht hatte. Sich windende, fremdartige Schriftzeichen breiteten sich auf seiner Haut aus, als die unbekannte Macht ihr Zeichen hinterließ, Besitzansprüche auf die menschliche Seele des Mannes anmeldete. Worte, die wie Verbrennungen immer dunkler wurden.
Blasen bildeten sich, platzten auf, und dickflüssige, gelbe Flüssigkeit spritzte heraus.
Schreie, die von unerträglichen, unvorstellbaren Qualen kündeten, hallten über den Platz, der Körper auf den Pflastersteinen zuckte krampfartig, als Muskeln und Fett unter der Haut schmolzen, dann kochten und herausplatzten.
Doch der Mann starb nicht.
Itkovian schob sein Schwert in die Scheide.
Der Malazaner begriff als Erster, was er vorhatte. Seine Hand schoss vor, schloss sich um den Arm des Schild-Ambosses. »Beim Abgrund, tut das – «
»Hauptmann Norul.«
Die Frau, deren Gesicht unter dem Helmrand totenblass war, legte eine Hand an den Schwertgriff. »Hauptmann Paran«, sagte sie, und ihre Stimme klang spröde und angespannt. »Nehmt Eure Hand weg.«
Er wirbelte zu ihr herum. »Aber selbst Ihr schaudert vor dem zurück, was er vorhat – «
»Trotzdem, mein Herr. Lasst ihn los, oder ich töte Euch.«
Bei dieser Drohung glitzerten die Augen des Malazaners merkwürdig, doch Itkovian konnte keinen Gedanken an den jungen Hauptmann verschwenden. Er hatte eine Verpflichtung. Rath’Fener war genug bestraft worden. Seine Qualen mussten enden.
Und wer wird mich retten?
Paran löste seinen Griff.
Itkovian beugte sich zu der zuckenden, kaum noch erkennbaren Gestalt auf den Pflastersteinen hinunter. »Rath’Fener, hört mich. Ja, ich komme. Werdet Ihr meine Umarmung annehmen?«
Trotz all des Neids und der Boshaftigkeit in dem gequälten Priester, all dessen, was zu dem Verrat nicht nur an Brukhalian, dem Todbringenden Schwert, sondern auch an Fener selbst geführt hatte, war ein kleines bisschen Barmherzigkeit in der Seele des Mannes verblieben. Barmherzigkeit und Einsicht. Sein Körper zuckte weg, seine Glieder schlitterten über die Pflastersteine, als er versuchte, aus Itkovians Schatten zu kriechen.
Der Schild-Amboss nickte, dann nahm er den eitertriefenden Körper in die Arme und richtete sich auf.
Ich sehe Euch zurückschrecken und weiß, dass dies Eure letzte Geste ist. Eine Geste der Buße. Darauf kann ich nicht anders als mit Güte antworten, Rath’Fener. Also … nehme ich Eure Schmerzen auf mich, mein Herr. Nein, wehrt Euch nicht gegen dieses Geschenk. Ich befreie Eure Seele, damit sie zum Vermummten gehen kann, in den Trost des Todes -
Paran und die anderen sahen nur den Schild-Amboss, der reglos dastand, Rath’Fener in den Armen. Der verstümmelte, blutüberströmte Priester kämpfte noch einen Augenblick, dann schien er innerlich zusammenzubrechen, und seine Schreie verstummten.
Das Leben des Mannes entfaltete sich vor Itkovians geistigem Auge. Vor ihm lag der Pfad, der den Priester zum Verrat geführt hatte. Er sah einen jungen Akolythen mit reinem Herzen, der auf grausame Weise nicht in Pietät und Glauben unterrichtet worden war, sondern dem zynische Lektionen in weltlichen Machtkämpfen erteilt worden waren. Regierung und Verwaltung waren Schlangennester, in denen ein unaufhörlicher Wettkampf mit illusorischen Belohnungen zwischen minderen, kleinlichen Geistern stattfand. Ein Leben in den kalten Hallen des Knechts, das die Seele des Priesters ausgehöhlt hatte. Das Ich füllte die neue Höhlung des verlorenen Glaubens, umgeben von Furcht und Eifersucht, auf die boshafte Taten die einzige Antwort waren. Die Notwendigkeit, sich zu schützen, machte jede Tugend zu einer Ware, mit der man handeln konnte.
Itkovian verstand ihn, er konnte jeden Schritt erkennen, der unausweichlich zum Verrat geführt hatte, zum Handel mit dem Leben anderer zwischen dem Priester und Agenten der Pannionischen Domäne. Dabei hatte Rath’Fener tief in seinem Innern immer gewusst, dass er durch diese Tat eine Viper um sich geschlungen hatte, deren Kuss tödlich war. Er war so oder so tot, doch er hatte sich zu weit von seinem Glauben entfernt, zu weit, um sich vorstellen zu können, dass er eines Tages zu ihm zurückkehren könnte.
Ich verstehe Euch jetzt, Rath’Fener, aber Verständnis ist nicht gleichbedeutend mit Absolution. Die Gerechtigkeit, die Eure Strafe ist, wankt niemals. Aus diesem Grunde musstet Ihr die Schmerzen erfahren.
Ja, Fener hätte Euch erwarten sollen; unser Gott hätte Eure abgetrennten Hände annehmen sollen, so dass er nach Eurem Tode auf Euch hätte schauen können, so dass er die Worte hätte sprechen können, die für Euch und nur für Euch allein vorbereitet sind – die Worte auf Eurer Haut. Die letzte Buße für Eure Verbrechen. So hätte es sein sollen, mein Herr.
Aber Fener ist fort.
Und was jetzt von Euch Besitz ergriffen hat … hat andere Begierden.
Ich mache ihm jetzt diesen Besitz streitig -
Rath’Feners Seele schrie auf, versuchte noch einmal, sich davonzustehlen, brachte trotz des Aufruhrs Worte heraus: Itkovian! Das dürft Ihr nicht tun! Überlasst mich meinem Schicksal, ich bitte Euch. Nicht um den Preis Eurer Seele – ich wollte nie – bitte, Itkovian-
Der Schild-Amboss schloss seine geistige Umarmung enger, durchbrach die letzten Barrieren. Niemandem wird sein Kummer versagt, mein Herr, nicht einmal Euch.
Aber Barrieren, die einmal gefallen waren, konnten sich nicht aussuchen, was durch sie hindurchgelangte.
Der Sturm, der Itkovian traf, überwältigte ihn. Ein Schmerz, der so heftig war, dass er zu einer abstrakten Macht wurde, einer lebenden Entität, die ihrerseits voller Panik und Entsetzen war. Er öffnete sich ihr, ließ sich von ihren Schreien erfüllen.
Wenn auf einem Schlachtfeld das letzte Herz zu schlagen aufgehört hat, bleibt nur der Schmerz zurück. Eingeschlossen in den Boden, in Stein, überbrückt er die Luft von einem Ort zu jedem anderen, ein Netz der Erinnerungen, das zu einem stummen Lied zittert. Doch in Itkovians Fall schlug sein Eid das Geschenk der Stille aus. Er konnte jenes Lied hören. Es erfüllte ihn ganz und gar. Und er war sein Gegenstück. Die Antwort.
Ich habe Euch jetzt, Rath ’Fener. Ihr seid gefunden, und so … antworte ich.
Plötzlich, jenseits der Schmerzen, ein wechselseitiges Bewusstsein – eine fremde Präsenz. Unermessliche Macht. Nicht bösartig, doch zutiefst … anders. Und von jener Präsenz: sturmzerrissene Verwirrung, Pein. Sie versuchte, aus dem unerwarteten Geschenk der beiden Hände eines Sterblichen … etwas Schönes zu machen. Doch das Fleisch jenes Mannes konnte das Geschenk nicht ertragen.
Grauen im Innern des Sturms. Grauen und … Kummer.
Oh, selbst Götter weinen. Dann vertraut Euch meinem Geist an. Ich werde auch Eure Schmerzen auf mich nehmen, mein Herr.
Die fremde Präsenz schreckte zurück, aber es war zu spät. Itkovians Umarmung bot ihr ein unermessliches Geschenk - und er wurde überflutet. Er spürte, wie seine Seele sich auflöste, zerrissen wurde – es ist zu gewaltig!
Wärme war hinter den kalten Gesichtern der Götter. Doch es war Leid in der Dunkelheit, denn es waren nicht die Götter selbst, die unergründlich waren. Es waren die Sterblichen. Und die Götter – sie bezahlten einfach.
Wir – wir sind das Gerüst, über das sie gespannt sind.
Und dann war das Gefühl verschwunden, als es dem fremdartigen Gott gelang, sich zurückzuziehen und Itkovian mit den verblassenden Echos des Kummers einer fernen Welt zurückzulassen – einer Welt mit ihren eigenen Gräueltaten, Schicht um Schicht im Verlauf einer langen, qualvollen Geschichte aufgehäuft. Die Echos verblassten – und dann waren sie fort.
Und er blieb zurück, mit Wissen, das ihm das Herz zerriss.
Es war nur eine kleine Gnade. Er krümmte sich unter Rath’Feners Schmerz und dem wachsenden Heranfluten von Capustans entsetzlichem Untergang, als er gezwungen wurde, seine Umarmung immer weiter zu öffnen. Laut schreiende Seelen an allen Seiten, keine einzige Lebensgeschichte nicht der Beachtung, der Anerkennung wert. Nicht eine, die er abweisen würde. Zehntausende von Seelen, Leben voller Schmerz, Verlust, Liebe und Unglück, und jedes führte zu – jedes mit Erinnerungen an den eigenen Todeskampf. Eisen und Feuer und Rauch und herabfallende Steine. Staub und Luftlosigkeit. Erinnerungen an das jämmerliche, sinnlose Ende Tausender und Abertausender von Leben.
Ich muss büßen. Ich muss die Antwort geben. Auf jeden Tod. Jeden einzelnen Tod.
Er war verloren inmitten des Sturms, war unfähig, seine Umarmung um die schier unermessliche Menge an Leid zu schließen, die auf ihn einströmte. Doch er kämpfte weiter. Das Geschenk des Friedens. Das Abstreifen des Traumas, das durch den Schmerz verursacht worden war, um die Seelen zu befreien, damit sie ihren Weg finden konnten … zu den Füßen zahlloser Götter oder in die Sphäre des Vermummten oder tatsächlich in den Abgrund selbst. Diese Reisen waren notwendig, um Seelen zu befreien, die in ihrem eigenen qualvollen Todeskampf gefangen waren.
Ich bin der … Schild-Amboss. Und es ist meine Aufgabe, auszuhalten … auszuhalten. Dehne dich aus – bei den Göttern! Erlöse sie, mein Herr! Das ist deine Aufgabe. Das Herz deiner Eide – du bist derjenige, der zwischen den Toten auf dem Schlachtfeld einhergeht, du bist derjenige, der den Frieden bringt, du bist derjenige, der die Gefallenen erlöst. Du bist derjenige, der die zerbrochenen Leben heilt. Ohne dich ist der Tod sinnlos, und zu leugnen, dass sie eine Bedeutung haben, ist das größte Verbrechen der Welt an ihren eigenen Kindern. Halte aus, Itkovian … halte aus -
Aber er hatte keinen Gott mehr, an den er sich anlehnen konnte, keine starke, unbeirrbare Präsenz, die auf ihn wartete, um seiner eigenen Not zu antworten. Und er war nichts weiter als eine sterbliche Seele …
Und doch darf ich nicht aufgeben. Ihr Götter, hört mich an! Ich mag vielleicht nicht Euer sein. Aber Eure gefallenen Kinder sind meine Kinder. Seht also, was sich hinter meinem kalten Gesicht verbirgt. Seht!
Auf dem Platz, inmitten einer schrecklichen Stille, sähen Paran und die anderen zu, wie Itkovian langsam auf die Knie sank. Ein verwesender, toter Kadaver hing in seinen Armen. Die einsame, kniende Gestalt schien in den Augen des Hauptmanns die Erschöpfung der ganzen Welt zu umfassen, ein Bild, das sich in seinen Geist brannte – und eines, von dem er wusste, dass er es niemals wieder vergessen würde.
Von den Kämpfen – den Kriegen –, die sich immer noch im Innern des Schild-Amboss abspielten, war kaum etwas zu bemerken. Nach einem langen, langen Augenblick griff Itkovian mit einer Hand nach oben, um den Helmriemen zu lösen, nahm dann den Helm ab und enthüllte die von Schweißflecken übersäte Lederkappe darunter. Seine langen, schweißnassen Haare, die ihm an Kopf und Hals klebten, verbargen sein Gesicht, während er mit geneigtem Haupt auf dem Boden kniete und der Kadaver in seinen Armen zu fahler Asche zerfiel. Der Schild-Amboss rührte sich nicht.
Das ungleichmäßige Heben und Senken wurde langsamer.
Geriet aus dem Takt.
Hörte schließlich ganz auf.
Hauptmann Paran, dem das Herz laut in der Brust hämmerte, schoss zu ihm, packte Itkovian an der Schulter und schüttelte ihn. »Nein, verdammt noch mal! Deswegen bin ich nicht hierher gekommen. So etwas wollte ich nicht sehen! Wacht auf, Ihr elender Bastard!«
- Friede – Habe ich dich jetzt? Mein Geschenk – ah, diese Last -
Der Kopf des Schild-Amboss zuckte hoch. Er holte zittrig Luft.
Ablegen … was für ein Gewicht! Warum? Ihr Götter – Ihr habt alle zugesehen mit Euren unsterblichen Augen. Ihr seid alle Zeugen geworden. Und doch seid Ihr nicht vorgetreten. Ihr habt meinen Hilfeschrei zurückgewiesen. Warum?
Auf den Boden gekauert, drehte sich der Malazaner herum, um Itkovian anzusehen. »Fäustel!«, rief er über die Schulter nach hinten.
Als der Heiler angerannt kam, hob Itkovian, dessen Augen sich auf Paran richteten, langsam eine Hand. Er schluckte sein Entsetzen hinunter und schaffte es irgendwie, Worte zu finden. »Ich weiß zwar nicht, wie«, krächzte er, »aber Ihr habt mich zurückgeholt …«
Parans Grinsen wirkte gezwungen. »Ihr seid der Schild-Amboss.«
»Ja«, flüsterte Itkovian. Und, Fener, vergib mir, aber was Ihr getan habt, ist keine Barmherzigkeit … »Ich bin der Schild-Amboss.«
»Ich kann es spüren … in der Luft«, sagte Paran, und sein Blick suchte den Itkovians. »Sie ist … sie ist gereinigt worden.«
Ja.
Und ich bin noch nicht am Ende.
Grantl schaute aus ein paar Schritten Entfernung zu, wie der Malazaner und sein Heiler mit dem Kommandanten der Grauen Schwerter sprachen. Der Nebel, der sich – wie ihm jetzt klar wurde – tagelang um seine Gedanken geschlossen hatte, wurde allmählich dünner. Einzelheiten kamen ihm jetzt zu Bewusstsein, und die Tatsache, dass er sich offensichtlich innerlich verändert hatte, erschreckte ihn.
Seine Augen sahen … anders. Mit unmenschlicher Schärfe. Jede Bewegung – egal, wie schwach oder wie weit am Rande seines Gesichtsfelds – erregte seine Aufmerksamkeit. Wurde als unwichtig beurteilt oder als Bedrohung definiert, als Beute oder als unbekannt: Es waren instinktive Entscheidungen, doch sie waren nicht mehr tief vergraben, sondern lauerten jetzt dicht unter der Oberfläche seines Verstandes.
Er konnte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper spüren, jede Sehne und jeden Knochen, konnte sich auf jeden einzelnen davon konzentrieren und dabei alle anderen ausblenden. Dadurch erreichte er eine räumliche Wahrnehmungsfähigkeit, die absolute Kontrolle erlaubte. Er konnte sich vollkommen lautlos über Waldboden bewegen, wenn er das wollte. Er konnte erstarren, konnte selbst seinen Atem abschirmen und so vollkommen bewegungslos werden.
Doch die Veränderungen, die er spürte, gingen weit über diese körperlichen Anzeichen hinaus. Die Gewaltbereitschaft, die ihm innewohnte, war die eines Mörders. Kalt und unerbittlich, ohne jede Leidenschaft oder irgendwelche Zweifel.
Und diese Erkenntnis machte ihm Angst.
Das Todbringende Schwert des Tigers des Sommers. Ja, Trake, ich kann dich spüren. Ich weiß, was du aus mir gemacht hast. Verdammt, du hättest wenigstens vorher fragen können.
Er ließ den Blick über seine Gefolgsleute schweifen, wusste, dass sie genau das waren. Seine Gefolgsleute, die ihm Verschworenen. Eine beängstigende Tatsache. Unter ihnen war Stonny Menackis – nein, sie gehört nicht Trake. Sie hat Kerulis Älteren Gott für sich erwählt. Gut. Wenn sie jemals vor mir knien würde, würden wir keine religiösen Gedanken haben … aber wie wahrscheinlich ist das? Ach, Schätzchen …
Sie spürte seinen Blick und sah ihn an.
Grantl zwinkerte ihr zu.
Sie zog die Brauen hoch, und er verstand, warum sie beunruhigt war, was ihn sogar noch mehr amüsierte – seine einzige Antwort auf sein Entsetzen angesichts des brutalen Mörders, der sich in seinem Innern verbarg.
Sie zögerte, kam dann zu ihm. »Grantl?«
»Ja. Ich fühle mich, als wäre ich gerade aufgewacht.«
»Tja, nun, man sieht dir den Kater an, das kannst du mir glauben.«
»Was ist passiert?«
»Das weißt du nicht?«
»Ich glaube, ich weiß es schon, aber ich bin mir nicht ganz sicher … meiner selbst, meiner Erinnerungen. Wir haben unsere Mietskaserne verteidigt, und es war schlimmer als das, was zwischen den Zehen des Vermummten ist. Du warst verwundet, hast im Sterben gelegen. Der malazanische Soldat da drüben hat dich geheilt. Und da ist Itkovian – der Priester in seinen Armen hat sich gerade in Staub verwandelt – bei den Göttern, der hat bestimmt dringend ein Bad gebraucht – «
»Beru schütze uns alle, du bist tatsächlich wieder du selbst, Grantl. Ich habe schon geglaubt, i- äh, wir hätten dich endgültig verloren.«
»Ich glaube, bei einem Teil von mir ist das auch so, Schätzchen. Er ist für uns alle verloren.«
»Seit wann betest du denn irgendwelche Götter an?«
»Das ist ja gerade der Witz. Das tue ich gar nicht. Trake hat eine fürchterliche Wahl getroffen. Zeig mir einen Altar, und ich werde eher auf ihn pissen als ihn küssen.«
»Vielleicht musst du ihn irgendwann küssen, also würde ich vorschlagen, dass du dein Verhalten änderst.«
»Hahaha.« Er schüttelte sich, rollte die Schultern und seufzte.
Stonny zuckte bei dieser Bewegung leicht zurück. »Puh, das war ein bisschen zu katzenhaft für mich – deine Muskeln haben sich unter dieser getigerten Haut richtig gekräuselt.«
»Und das hat sich verdammt gut angefühlt. Gekräuselt? Du solltest mal darüber nachdenken, was das für neue … Möglichkeiten eröffnet, Schätzchen.«
»Träum weiter, du Flegel.«
Die Neckerei war gezwungen, und sie spürten es beide.
Stonny schwieg einen Moment, dann stieß sie zischend den Atem aus. »Buke. Ich nehme an, er ist tot – «
»Nein. Er lebt. Tatsächlich kreist er in genau diesem Augenblick über uns. Der Sperber da oben – das ist Buke. Das war Kerulis Geschenk an ihn, damit er Korbal Broach im Auge behalten konnte. Er ist jetzt ein Wechselgänger.«
Stonny warf einen düsteren Blick zum Himmel hinauf, die Hände in die Hüften gestützt. »Na, das ist ja toll!« Sie warf Keruli – der unbeachtet ein Stück entfernt dastand, die Hände in den Ärmeln, und alles beobachtete – einen giftigen Blick zu. »Alle außer mir werden gesegnet! Hat das vielleicht irgendwas mit Gerechtigkeit zu tun?«
»Nun, du bist bereits mit unvergleichlicher Schönheit gesegnet, Stonny – «
»Noch ein Wort, und ich schneide dir den Schwanz ab, das schwöre ich.«
»Ich habe keinen Schwanz.«
»Eben!« Sie sah ihn an. »Und jetzt hör zu, wir müssen uns über ein paar Dinge klar werden. Irgendetwas sagt mir, dass wir beide wohl kaum nach Darujhistan zurückkehren werden – zumindest nicht in nächster Zeit. Also, was jetzt? Trennen sich jetzt unsere Wege, du armseliger alter Mann?«
»Kein Grund zur Eile, was all das angeht, Schätzchen. Lass uns doch erst mal abwarten, wie sich die Dinge entwickeln – «
»Entschuldigt.«
Beide drehten sich um, als sie die Stimme hörten, und sahen, dass Rath’Trake zu ihnen getreten war.
Grantl starrte den maskierten Priester finster an. »Was ist?«
»Ich glaube, wir beide haben einiges zu besprechen, Todbringendes Schwert.«
»Ihr könnt glauben, was Ihr wollt«, entgegnete der Daru. »Ich habe dem Schnurrhaarträger schon klar gemacht, dass ich eine schlechte Wahl bin.«
Rath’Trake schien einen Erstickungsanfall zu bekommen. »Dem Schnurrhaarträger?«, keuchte er empört.
Stonny lachte und schlug dem Priester auf die Schulter. »Das ist vielleicht ein ehrfürchtiger Bastard, was?«
»Ich beuge das Knie vor niemandem«, grollte Grantl. »Und das gilt auch für Götter. Wenn ich könnte, würde ich mir diese Streifen auf der Stelle vom Fell schrubben.«
Der Priester rieb sich die schmerzende Schulter; die Augen hinter der Katzenmaske starrten Stonny finster an. Bei Grantls Worten wandte er sich wieder dem Daru zu. »Das ist nichts, worüber sich debattieren lässt, Todbringendes Schwert. Ihr seid, was Ihr seid – «
»Ich bin Karawanenführer, der Anführer einer Gruppe von Karawanenwächtern, und zwar ein verdammt guter. Das heißt, wenn ich nüchtern bin.«
»Ihr seid der Meister des Krieges im Namen des Tigers des Sommers – «
»Wir würden das als Zeitvertreib bezeichnen.«
»Als … als …«
Sie hörten Gelächter. Hauptmann Paran, der noch immer neben Itkovian kauerte, schaute zu ihnen herüber; offensichtlich hatte er das Gespräch mit angehört. Der Malazaner grinste Rath’Trake an. »Es läuft niemals so, wie es Eurer Meinung nach laufen sollte, was, Priester? So sieht die Verehrung von uns Sterblichen aus, und Euer neuer Gott sollte seinen Frieden damit machen, und zwar schnell. Grantl, spielt ruhig weiter nach Euren eigenen Regeln.«
»Ich hatte nichts anderes vor, Hauptmann«, erwiderte Grantl. »Wie geht es dem Schild-Amboss?«
Itkovian warf ihm über die Schulter einen Blick zu. »Es geht mir gut, mein Herr.«
»Also, das ist eine Lüge«, bemerkte Stonny.
»Und wenn schon«, sagte der Schild-Amboss, stützte sich auf Fäustels Schulter und richtete sich langsam auf.
Grantl starrte auf die beiden weißen Macheten in seinen Händen hinab. »Der Vermummte soll mich holen«, murmelte er, »aber die Dinger sind verdammt hässlich geworden.« Er zwängte die Klingen in ihre zerfetzten, zerschrammten Scheiden.
»Sie dürfen deine Hände nicht verlassen, ehe dieser Krieg nicht vorbei ist«, schnappte Rath’Trake.
»Noch ein Wort, Priester«, sagte Grantl, »und mit Euch ist es vorbei.«
Niemand sonst hatte sich auf den Platz gewagt. Korporal Tippa stand mit den anderen Brückenverbrennern an der Mündung der Gasse und versuchte zu erkennen, was da eigentlich vorging. Um sie war ein ständiges Gemurmel, da die Soldaten auf althergebrachte Weise ihre Mutmaßungen anstellten und versuchten, die Bedeutung der Gesten und gedämpften Gespräche zu erraten, die zwischen den Würdenträgern gewechselt wurden.
Tippa schaute sich düster um. »Blend, wo bist du?«
»Hier«, antwortete eine Stimme neben ihr.
»Warum schleichst du dich nicht da raus und findest heraus, was vorgeht?«
Blend zuckte die Schultern. »Ich würde bemerkt werden.«
»Tatsächlich?«
»Außerdem brauche ich das gar nicht. Für mich ist klar, was da passiert ist.«
»Tatsächlich?«
Blend verzog gequält das Gesicht. »Hast du deinen Verstand verloren, als du diese Armreifen abgegeben hast, Korporal? Ich hab dich noch nie so dauerhaft naiv erlebt.«
»Tatsächlich«, wiederholte Tippa, diesmal lang gezogen und irgendwie bedrohlich. »Mach weiter so, und es wird dir noch Leid tun, Soldatin.«
»Du willst eine Erklärung? In Ordnung. Hör dir an, was ich glaube gesehen zu haben. Die Grauen Schwerter hatten irgendwelche persönlichen Angelegenheiten zu regeln, was sie auch getan haben, nur hat es den Kommandanten da beinahe in Stücke gerissen. Aber Fäustel, der auf irgendwelche Kräfte zurückgegriffen hat, der Vermummte weiß, was für welche, hat ihm wieder ein bisschen Kraft gegeben – obwohl ich glaube, dass es die Hand unseres Hauptmanns war, die den Mann von den Toten zurückgeholt hat –, und nein, ich habe nicht gewusst, dass so etwas in Paran steckt; aber wenn wir uns in letzter Zeit Gedanken gemacht haben, ob er vielleicht mehr ist als einfach nur ein rückgratloser adliger Offizier, dann haben wir gerade den Beweis für unseren Verdacht erhalten. Aber ich glaube nicht, dass das notwendigerweise schlecht für uns sein muss – er wird uns nicht das Schwert in den Rücken stoßen, Korporal. Tatsächlich könnte er sich eher einem Schwerthieb entgegenstellen, der auf uns gezielt ist. Was Grantl angeht, nun, ich glaube, er hat sich gerade selbst wachgerüttelt – und der maskierte Trake-Priester ist gar nicht glücklich darüber –, aber allen anderen ist das scheißegal, denn manchmal ist ein Lächeln alles, was wir brauchen.«
Tippas Antwort bestand aus einem Grunzen.
»Und jetzt«, fuhr Blend fort, »nachdem sie sich das alles angesehen haben, ist es Zeit für Humbrall Taur und seine Barghast …«
Humbrall Taur hatte seine Axt hoch in die Luft gereckt und sich dann in Richtung auf das Tor des Knechts in Bewegung gesetzt. Kriegshäuptlinge und Schultermänner und -frauen lösten sich aus den versammelten Stämmen und überquerten im Gefolge des riesenhaften Kriegers den Platz.
Trotter schob sich durch die umstehenden Brückenverbrenner und gesellte sich zu seinen Artgenossen.
Tippa starrte seinen Rücken an und schnaubte verächtlich.
»Er geht, um seinen Göttern zu begegnen«, murmelte Blend. »Gönn ihm das, Korporal.«
»Hoffen wir, dass er bei ihnen bleibt«, entgegnete Tippa. »Beim Vermummten, er hat keine Ahnung, wie man eine Kompanie führt …«
»Aber Hauptmann Paran weiß es«, sagte Blend.
Tippa warf ihrer Kameradin einen Seitenblick zu und zuckte dann die Schultern. »Ich nehme an, das tut er.«
»Es könnte sich lohnen, sich Fahrig vorzunehmen«, fuhr Blend leise fort. »Und alle anderen, die vor kurzem rumgestänkert haben.«
»Sie sich vornehmen, ja. Und ihnen dann das Hirn weich klopfen. Ein guter Plan, Blend. Such Detoran. Sieht aus, als hätten auch wir ein paar persönliche Angelegenheiten zu klären.«
»Gut. Dein Gehirn arbeitet wohl doch noch.«
Tippas einzige Antwort war ein weiteres Grunzen.
Blend schlüpfte zurück in die Menge.
Persönliche Angelegenheiten. Das gefällt mir. Wir werden ihnen für Euch den Kopf zurechtsetzen, Hauptmann. Beim Vermummten, das ist das Mindeste, was ich tun kann …
Den scharfen Augen des Sperbers, der hoch oben am Himmel kreiste, entging so gut wie nichts. Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Schatten wurden länger. Staubschwaden auf der Ebene im Westen zeigten, wohin die Pannionier sich zurückzogen – sie wurden noch immer von Gruppen des Barahn-Clans weiter und weiter nach Westen getrieben.
In der Stadt selbst waren noch immer Tausende von Barghast auf den Straßen unterwegs. Sie schafften die Toten weg, während andere Stämme angefangen hatten, jenseits der Nordmauer riesige Gruben auszuheben, die sich bereits mit Leichen füllten, während beschlagnahmte Wagen in einer langen Reihe aus der Stadt strömten. Die lange, abstumpfende Aufgabe, Capustan von den Toten zu befreien, hatte begonnen.
Direkt unter ihm drängten sich jetzt mehr Gestalten auf den Platz – Barghast, die aus den Mündungen der Straßen und Gassen strömten und Humbrall Taur folgten, als der Kriegshäuptling sich dem Tor des Knechts näherte. Der Sperber, der einst Buke gewesen war, hörte kein anderes Geräusch als den Wind, was der Szene unter ihm eine hehre, ätherische Qualität verlieh.
Dennoch ließ sich der Raubvogel nicht tiefer herabsinken. Distanz war alles, was ihn seit Anbruch der Morgendämmerung vor dem Wahnsinn bewahrt hatte.
Von hier oben betrachtet, wirkten die gewaltigen Dramen von Tod und Verzweiflung abgeschwächt und fast bis zur Abstraktion gemildert. Wellenförmige Bewegungen, verschwommene Farben, die schiere Schmutzigkeit der Menschheit – alles abgeschwächt, die Sinnlosigkeit auf etwas reduziert, das merkwürdig leicht zu handhaben war.
Ausgebrannte Gebäude. Das tragische Ende Unschuldiger. Ehefrauen, Mütter, Kinder. Verzweiflung, Entsetzen und Kummer, die Stürme zerstörter Leben -
Nicht näher.
Ehefrauen, Mütter, Kinder. Ausgebrannte Gebäude.
Geh nicht näher heran.
Nie wieder.
Der Sperber ließ sich von einem Aufwind erfassen, glitt empor, die Augen nun auf die belebenden Sterne gerichtet, während die Nacht die Welt unter ihm verschlang.
Die Geschenke der Älteren Götter brachten Schmerz.
Aber manchmal brachten sie auch Barmherzigkeit.