Kapitel Elf

 

Die von ihm selbst gerühmte Fähigkeit des malazanischen Militärs, sich auf jede Art von Kriegführung der Gegenseite einstellen zu können, war tatsächlich nur oberflächlich. Hinter der Illusion von Anpassungsfähigkeit stand ein unerschütterliches Vertrauen in die Überlegenheit der imperialen Art der Kriegführung. Zu dieser Illusion von Flexibilität trug die schiere Elastizität der malazanischen Militärstruktur bei sowie eine Basis, die von profundem Wissen und kenntnisreicher Analyse vieler verschiedener Arten der Kriegführung gestützt wurde.

 

Auszug (Teil XXVII, Buch VII, Band IX)

aus Temuls dreizehnseitiger Abhandlung

»Malazanische Kriegführung«

Enet Obar (der Leblose)

 

S

pindels Haarhemd hatte Feuer gefangen. Mit tränenden Augen und von dem widerlichen Gestank hustend schaute Tippa zu, wie der dürre Magier sich neben der Feuerstelle auf dem staubigen Boden wälzte. Rauchfäden stiegen von den schwelenden Haaren auf, Flüche ritten auf Funken in den Nachthimmel hinauf. Da alle anderen viel zu sehr mit Lachen beschäftigt waren, griff Tippa nach einem Wasserschlauch, den sie sich zwischen die Knie klemmte. Sie zog den Stöpsel, presste die Oberschenkel zusammen und verfolgte Spindel mit dem Wasserstrahl, bis sie zischende Geräusche hörte.

»Schon gut, schon gut!«, kreischte der Magier und wedelte mit den schmutzigen Händen. »Hör auf! Ich ertrinke!«

Igel war in seinem Lachkrampf selbst gefährlich nah ans Feuer gerollt. Tippa streckte ein Bein aus und versetzte dem Sappeur einen kräftigen Tritt mit dem Stiefel. »Beruhigt euch!«, schnappte sie. »Bevor der ganze Trupp noch gebraten wird. Beim Atem des Vermummten!«

Aus dem Zwielicht neben ihr meldete sich Blend zu Wort. »Wir sterben vor Langeweile, Korporal. Das ist das Problem.«

»Wenn Langeweile tödlich wäre, wäre kein einziger Soldat auf dieser ganzen verdammten Welt mehr am Leben, Blend. Das ist eine schwache Entschuldigung. Eigentlich ist es ganz einfach: Angefangen bei dem Sergeanten, der sich da drüben windet, ist dieser ganze von Oponn verfluchte Trupp verrückt.«

»Außer dir natürlich – «

»Du leckst mir die dreckigen Stiefel, Schätzchen? Das kannst du dir sparen. Ich bin nämlich noch verrückter als ihr. Sonst wäre ich schon längst davongerannt. Bei den Göttern, schau dir doch diese Idioten nur mal an. Da haben wir einen Magier, der das Haar seiner toten Mutter trägt, und jedes Mal, wenn er sein Gewirr öffnet, werden wir von fauchenden Erdhörnchen angegriffen. Da haben wir einen Sappeur mit unauslöschlichen Pulverspuren im Gesicht, dessen Blase selbst ein Gewirr sein muss, denn ich habe ihn noch kein einziges Mal pinkeln gehen sehen, und wir lagern hier nun schon drei Tage. Außerdem haben wir eine Napanesin, die von einem Bhederin-Bullen verfolgt wird, der entweder blind ist oder mehr sieht als wir, wenn er sie ansieht. Und dann haben wir da einen Heiler, der sich einen so üblen Sonnenbrand geholt hat, dass er jetzt fiebert.«

»Mach dir gar nicht erst die Mühe, Fahrig zu erwähnen«, murmelte Blend. »Der Sergeant würde als schielender Irrer ganz oben auf jedermanns Liste stehen – «

»Ich war noch nicht fertig. Dann haben wir eine Frau, die sich besonders gern an ihre Freunde anschleicht. Und schließlich«, fügte sie grollend hinzu, »ist da auch noch unser guter alter Fahrig. Mit Nerven wie kaltes Eisen. Ist davon überzeugt, dass die Götter selbst sich den Schnellen Ben geschnappt haben und er irgendwie an allem schuld ist – Fahrig natürlich, nicht der Schnelle Ben.« Tippa griff sich an den Oberarm und versuchte, einen Finger unter die Armreifen zu schieben. Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Als würden sich die Götter einen Scheiß um den Schnellen Ben kümmern, ganz zu schweigen von unserem Sergeanten. Als würden sie von irgendjemandem von uns Notiz nehmen, egal, was wir tun.«

»Machen dir Treachs Armreifen zu schaffen, Korporal?«

»Vorsichtig, Blend«, murmelte Tippa. »Ich bin jetzt nicht in der richtigen Stimmung.«

Durchnässt und kläglich mühte Spindel sich wieder auf die Beine. »Fieser Funke!«, zischte er. »Kam angeflogen wie mit dem Finger geschnipst – hier schleichen böse Geister rum, merkt euch meine Worte.«

»Merkt sie euch!«, schnaubte Tippa. »Ich werde sie in deinen Grabstein ritzen, und das ist ein verdammtes Versprechen, beim Vermummten!«

»Bei den Göttern, was für ein Gestank«, fluchte Igel.

»Ich glaube, noch nicht einmal ein fettverschmierter Barghast würde dir zu nahe kommen wollen! Ich sage, wir sollten abstimmen – ich meine, der ganze Trupp. Wir sollten dafür stimmen, Spindel dieses widerliche Hemd von seinem pickeligen Oberkörper zu reißen und es irgendwo zu vergraben – am besten unter ein paar Tonnen Geröll. Was sagst du dazu, Sergeant? He, Fahrig!«

»Psst!«, zischte der Sergeant, der am äußersten Rand des Feuerscheins saß und in die Dunkelheit starrte. »Da draußen ist irgendwas!«

»Falls das wieder ein wütendes Erdhörnchen ist – «, legte Tippa los.

»Ich habe überhaupt nichts getan«, grollte Spindel. »Und niemand wird mein Hemd vergraben, zumindest nicht, solange ich noch atme. Also, vergiss es, Sappeur. Außerdem stimmen wir in diesem Trupp sowieso über nichts ab. Der Vermummte allein mag wissen, was Elster euch Idioten damals im Neunten alles hat durchgehen lassen, aber ihr seid nicht mehr im Neunten, klar?«

»Sei still!«, fauchte Fahrig. »Da draußen ist was! Und es schnüffelt rum!«

Ein großer Schatten tauchte direkt vor dem Sergeanten auf, der einen Schrei ausstieß und einen Satz rückwärts machte; beinahe wäre er bei seinem schlotternden Rückzug ins Feuer gefallen.

»Es ist der Bhederin-Bulle«, brüllte Igel. »He, Detoran! Dein Verehrer ist gerade angekommen – au! Bei den Göttern, womit hast du mich gerade geschlagen? Mit ’ner Keule? Oder einem vom Vermummten verfluchten – was, mit deiner Faust? Lügnerin! Fahrig, diese Soldatin hat mir fast den Schädel eingeschlagen! Sie versteht einfach keinen Spaß – au! Au!«

»Lass ihn in Ruhe«, befahl Tippa. »Und vertreib mal jemand das Biest – «

»Das möchte ich sehen«, gluckste Blend. »Zweitausend Pfund Hörner, Hufe und Schwanz – «

»Das reicht jetzt«, sagte Tippa. »Es gibt hier empfindliche Ohren, Schätzchen. Schau nur, du hast dafür gesorgt, dass Detoran rot wird, während sie versucht, Igel zusammenzuschlagen.«

»Ich würde sagen, das rote Gesicht kommt von der Anstrengung, Korporal. Der Sappeur versteht sich aufs Ausweichen – oh, na schön, in Ordnung, diesmal hat er es nicht geschafft, ihr zu entwischen. Autsch.«

»Reg’ dich ab, Detoran!«, bellte Tippa. »So wie es aussieht, kann er nicht mehr geradeaus schauen, und du solltest jetzt lieber hoffen, dass du keinen dauerhaften Schaden angerichtet hast.«

»Stimmt«, fügte Spindel hinzu. »Der Bursche hat Knaller in seiner Tasche, und wenn er nicht mehr gerade werfen kann …«

Das reichte, damit Detoran die Fäuste sinken ließ und zurücktrat. Igel torkelte ein wenig herum und setzte sich dann schwer auf den Boden; Blut strömte aus seiner gebrochenen Nase. »Die versteht echt keinen Spaß«, murmelte er mit aufgeplatzten Lippen. Einen Augenblick später kippte er um.

»Na toll«, knurrte Tippa. »Wenn er bis morgen früh nicht wieder zu sich gekommen ist und wir marschieren müssen, rate mal, wer dann die Schlepptrage zieht, Detoran?«

Die große Frau zog ein finsteres Gesicht, drehte sich um und ging zu ihrer Schlafrolle hinüber.

»Wer ist verletzt?«, ließ sich eine hohe Stimme vernehmen.

Die Soldaten schauten auf und sahen Fäustel, in eine Decke eingewickelt, in den Schein des Feuers stolpern. »Ich habe Schläge gehört.«

»Der gesottene Hummer ist aufgewacht«, bemerkte Spindel. »Ich nehme an, du wirst nie wieder auf einem sonnigen Hügelhang ein Nickerchen machen, was, Heiler?«

»Es geht um Igel«, sagte Tippa. »Hat sich mit Detoran angelegt. Er liegt da drüben, neben dem Feuer – siehst du ihn?«

Fäustel nickte und humpelte zu dem Sappeur. »Das ist ein ziemlich erschreckendes Bild, das du da heraufbeschworen hast, Korporal.« Er kauerte sich hin, begann Igel zu untersuchen. »Beim Atem des Vermummten! Eingeschlagene Nase, gebrochener Kiefer … und dann noch eine Gehirnerschütterung – der Mann hat still und leise vor sich hin gekotzt.« Er warf Tippa einen düsteren Blick zu. »Ist denn niemand auf die Idee gekommen, diesen kleinen Streit zu beenden?«

Mit einem leisen Grunzen drehte der Bhederin-Bulle sich um und trottete davon in die Dunkelheit.

Fäustels Kopf fuhr herum. »Bei Feners Huf – was war das?«

»Igels Rivale«, brummelte Blend. »Hat wahrscheinlich genug gesehen, um sein Glück woanders zu versuchen.«

Seufzend lehnte Tippa sich zurück und sah zu, wie Fäustel sich um den bewusstlosen Sappeur kümmerte. Es läuft nicht besonders gut mit dem Trupp. Fahrig ist nicht Elster, Spindel ist nicht der Schnelle Ben, und ich bin auch nicht Korporal Kalam. Wenn es bei den Brückenverbrennern so etwas wie die Besten der Besten gegeben hat, dann war das der Neunte Trupp. Wobei … Detoran könnte natürlich schon Trotter Konkurrenz machen …

»Es wäre gut, wenn der Magier bald auftauchen würde«, murmelte Blend nach einiger Zeit.

Tippa nickte in die Dunkelheit, sagte dann: »Vielleicht sind der Hauptmann und die anderen schon bei den Weißgesichtern. Vielleicht kommen der Schnelle Ben und wir zu spät, um noch etwas zu ändern – «

»Wir werden so oder so nichts ändern«, sagte Blend. »Eigentlich hast du wohl gemeint, dass wir zu spät kommen könnten, um das Spektakel zu sehen.«

»Das ist vielleicht gar nicht so schlecht.«

»Du hörst dich allmählich an wie Fahrig.«

»Tja, nun, es sieht alles nicht besonders gut aus«, sagte Tippa im Flüsterton. »Der beste Magier der Kompanie ist verschwunden. Wen man dann noch bedenkt, dass wir einen adligen Hauptmann haben, der noch grün hinter den Ohren ist, und dass Elster nicht mehr da ist und was weiß ich noch alles – wir sind nicht mehr die Kompanie, die wir früher mal gewesen sind.«

»Seit Fahl nicht mehr, das ist sicher.«

Visionen von dem Chaos und Entsetzen in den Tunneln am Tag des magischen Kreuzfeuers tauchten in Korporal Tippas Kopf auf, und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Von unseren eigenen Leuten betrogen. Das ist das Schlimmste von allem, Blend. Ich kann es ertragen, von Feinden in Stücke gehackt zu werden, oder in magischem Feuer zu verbrennen, oder sogar wenn Dämonen mir die Gliedmaßen ausreißen. Aber dass einer von deinen eigenen Leuten die Klinge zieht, wenn du ihm den Rücken zukehrst …« Sie spuckte ins Feuer.

»Es hat uns zerbrochen«, sagte Blend.

Tippa nickte erneut.

»Vielleicht«, fuhr die Frau an ihrer Seite fort, »wäre es ja gut, wenn Trotter seinen Wettkampf mit den Barghast verliert und wir alle hingerichtet werden. Egal, ob mit den Barghast als Verbündeten oder nicht, ich freue mich nicht gerade auf diesen Krieg.«

Tippa starrte in die Flammen. »Du denkst darüber nach, was geschehen könnte, wenn wir das nächste Mal in eine Schlacht ziehen.«

»Wir sind brüchig, Korporal. Von Rissen durchzogen …«

»Wir haben niemanden mehr, dem wir trauen können, das ist das Problem. Haben nichts mehr, wofür wir kämpfen können.«

»Da ist noch Dujek, um auf diese beiden Fragen zu antworten«, sagte Blend.

»Ach ja, unsere abtrünnige Faust …«

Blend schnaubte leise.

Tippa warf ihrer Freundin stirnrunzelnd einen Blick zu. »Was ist?«

»Dujek ist kein Abtrünniger«, sagte Blend leise. »Wir haben uns nur wegen Bruth und den Tiste Andii vom Imperium losgesagt, weil anders der Waffenstillstand nicht möglich gewesen wäre. Hast du dich noch gar nicht gefragt, wer dieser neue Bannerträger von Einarm ist?«

»Wie heißt er noch mal? Arantal? Arthantos. Äh … Er ist – «

»Ungefähr einen Tag, nachdem wir zu Ausgestoßenen erklärt wurden, aufgetaucht.«

»So? Und was denkst du, Blend – wer ist er?«

»Eine hochrangige Klaue, da wette ich. Und er ist auf Befehl der Imperatrix hier.«

»Hast du irgendeinen Beweis dafür?«

»Nein.«

Tippa starrte wieder düster ins Feuer. »Und wer fängt jetzt an, bei jedem Schatten zusammenzuzucken?«

»Wir sind keine Abtrünnigen«, beharrte Blend. »Wir tun, was das Imperium will, Korporal, egal, wie es aussieht. Elster weiß auch Bescheid. Und vielleicht auch der Heiler da drüben, oder der Schnelle Ben – «

»Du meinst der ehemalige Neunte Trupp.«

»Hm.«

Tippas Gesichtsausdruck wurde womöglich noch düsterer. Sie stand auf, ging zu Fäustel hinüber und hockte sich neben ihn. »Wie geht’s dem Sappeur, Heiler?«, fragte sie leise.

»Es ist nicht ganz so schlimm, wie es anfangs ausgesehen hat«, räumte Fäustel ein. »Eine leichte Gehirnerschütterung. Das ist auch gut so – ich habe Schwierigkeiten, auf mein Denul-Gewirr zurückzugreifen.«

»Schwierigkeiten? Was für Schwierigkeiten?«

»Ich weiß es nicht genau. Es ist … schlecht geworden. Irgendwie. Von irgendwas … infiziert. Spindel hat das gleiche Problem mit seinem Gewirr. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum der Schnelle Ben sich verspätet.«

Tippa grunzte. »Das hättest du auch von Anfang an sagen können, Fäustel.«

»Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich von meinem Sonnenbrand zu erholen, Korporal.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Wenn dich die Sonne nicht verbrannt hat, was ist dann passiert?«

»Was auch immer mein Gewirr vergiftet, kann auch direkt auf mich einwirken. Hab ich zumindest festgestellt.«

»Fäustel«, sagte Tippa nach einem Augenblick, »es geht da so ein Gerücht um, das besagt, dass wir vielleicht gar nicht so ausgestoßen sind, wie Dujek und Elster behaupten. Vielleicht hat die Imperatrix sogar tatsächlich zustimmend in unsere Richtung genickt.«

Im Feuerschein wirkte das Gesicht des Heilers völlig ausdruckslos; er zuckte die Schultern. »Das ist mir neu, Korporal. Klingt wie etwas, das Fahrig sich ausdenken würde.«

»Nein, das kommt nicht von ihm – aber es wird ihm gefallen, wenn er es zu hören kriegt.«

Fäustel musterte Tippas Gesicht mit seinen kleinen Augen. »Und warum solltest du das tun?«

Tippa zog die Augenbrauen hoch. »Warum ich es Fahrig erzählen sollte? Die Antwort liegt doch eigentlich auf der Hand, Heiler. Ich schaue ihm gern dabei zu, wie er in Panik ausbricht. Außerdem«, sie zuckte die Schultern, »ist es doch nur ein Gerücht, das jeder Grundlage entbehrt, richtig?« Sie stand wieder auf. »Sorge dafür, dass der Sappeur morgen wieder marschieren kann.«

»Gehen wir denn irgendwo hin, Korporal?«

»Nur für den Fall, dass der Magier auftaucht.«

»In Ordnung. Ich werde tun, was ich kann.«

Der Schnelle Ben griff mit den Händen in die verfaulte, befleckte Energie und zog sich schließlich aus seinem Gewirr. Würgend und immer wieder ausspuckend, um den widerlichen, bitteren Geschmack loszuwerden, stolperte der Magier ein paar Schritte vorwärts, bis die klare Nachtluft seine Lunge füllte; dann blieb er stehen und wartete, dass seine Gedanken sich klärten.

Den letzten halben Tag hatte er damit verbracht, einen verzweifelten, anscheinend nicht enden wollenden Kampf zu führen, um sich aus dem Gewirr des Vermummten zu befreien; dabei wusste er, dass es von allen Gewirren, die er normalerweise benutzte, noch das am wenigsten vergiftete war. Die anderen hätten ihn getötet. Angesichts dieser Erkenntnis fühlte er sich beraubt – ein Magier, dem man seine Macht genommen hatte, und dessen überwältigende Fähigkeiten im Umgang mit der Magie dadurch bedeutungslos wurden.

Die schneidende, kühle Luft der Steppe hüllte ihn ein, trocknete den Schweiß auf seinen zitternden Gliedern. Über ihm glitzerten Sterne. Tausend Schritte im Norden, hinter Busch-Inseln und grasbewachsenen kleinen Erhebungen, ragte eine Reihe von Hügeln auf. Matter gelber Feuerschein schimmerte am Fuß des nächsten Hügels.

Der Schnelle Ben seufzte. Er war nicht in der Lage gewesen, mit irgendjemandem auf magischem Weg Kontakt aufzunehmen, seit er seine Reise begonnen hatte. Paran hat mir einen Trupp dagelassen … das ist mehr als ich hoffen durfte. Ich frage mich, wie viele Tage wir verloren haben. Ich sollte eigentlich Trotters Rückendeckung sein, für den Fall, dass etwas schiefgeht …

Er schüttelte sich und setzte sich in Bewegung; noch immer konnte er das infizierte Gewirr des Vermummten spüren, musste gegen die allerletzten Reste seines zehrenden Einflusses ankämpfen. Dies ist ein Angriff des Verkrüppelten Gottes, ein Krieg gegen die Gewirre selbst. Zauberei war das Schwert, das ihn niedergeschlagen hat. Jetzt versucht er, diese Waffe zu zerstören, damit seine Feinde anschließend unbewaffnet sind. Hilflos.

Der Magier zog sich den mit Ascheflecken übersäten Umhang enger um den Körper, während er weiterging. Nein, nicht ganz hilflos. Wir haben unseren Verstand. Außerdem können wir ein Täuschungsmanöver riechen – ich zumindest kann es jedenfalls. Und das hier ist ein Täuschungsmanöver – die ganze Pannionische Domäne und ihr ansteckender Einfluss. Irgendwie hat der Angekettete eine Möglichkeit gefunden, die Schleusentore des Chaos-Gewirrs zu öffnen. Und der Pannionische Seher dient als Kanal – vielleicht ist es ihm überhaupt nicht bewusst, dass er benutzt wird, dass er nichts weiter ist als eine Spielfigur, die im Eröffnungszug nach vorne geschoben wird. Eine Eröffnung, die dazu gedacht ist, den Willen, die Durchschlagskraft des Feindes auf die Probe zu stellen … Wir müssen diese Spielfigur ausschalten. Und zwar schnell. Und entschlossen. Er näherte sich dem Feuer des Trupps, hörte leises Stimmengemurmel und hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen.

 

Tausend auf Stangen gesteckte Totenschädel tanzten entlang des Kamms, und die brennenden Zöpfe aus ölgetränktem Gras verliehen den ausgeblichenen Todesgrimassen Mähnen aus Flammen. Stimmen hoben und senkten sich, leierten ein Lied herunter. Etwas näher an der Stelle, an der Paran stand, kämpften junge Krieger mit kurzen Hakenmessern miteinander; gelegentlich zischte ein Blutspritzer auf, wenn er in den Herdring des Clans sprühte – es schien, als hätten Rivalitäten Vorrang gegenüber allem anderen.

Barghast-Frauen wanderten zwischen den Brückenverbrennern herum, zogen Soldaten beiderlei Geschlechts zu den Fellzelten des Lagers. Der Hauptmann hatte kurz daran gedacht, diesen erotischen Kontakt zu verbieten, hatte den Gedanken aber dann als nicht durchführbar und nicht besonders klug verworfen. Morgen oder übermorgen können wir schon alle tot sein.

Die Clans der Weißgesichter hatten sich versammelt. Zelte und Jurten der Senan, Gilk, Ahkrata und Barahn-Stämme – so wie die vieler anderer – bedeckten die Talsohle. Paran schätzte, dass hunderttausend Barghast Humbrall Taurs Ruf zur Beratung gefolgt waren. Aber es war nicht nur eine Beratung. Sie sind gekommen, um Trotters Herausforderung anzunehmen. Er ist der Letzte seines Clans, und auf seinem narbenübersäten Körper ist die Geschichte seines Stammes eintätowiert, eine Geschichte, die fünfhundert Generationen umspannt. Er ist gekommen, um sein Recht als Verwandter geltend zu machen, auf die Blutsbande zu pochen, die ganz am Anfang geknüpft wurden … und noch mehr, obwohl niemand mir genau erklärt, um was es dabei sonst noch geht. Wortkarge Bastarde. Es gibt hier viel zu viele Geheimnisse …

Ein Nith’rital-Krieger stieß ein nasses Kreischen aus, als der Krieger eines rivalisierenden Clans ihm mit einem Hakenmesser die Kehle aufschlitzte. Stimmen bellten, fluchten. Der verwundete Krieger wand sich auf dem Boden vor dem Herdfeuer, während das Leben in einem glänzenden Strom aus ihm herausströmte. Sein Gegner stolzierte im Kreis herum und stieß wilde Freudenschreie aus.

Unter dem Zischen der in der Nähe stehenden Barghast trat Twist an die Seite des Hauptmanns, wobei der Schwarze Moranth nicht auf die Flüche achtete.

»Ihr seid hier nicht allzu beliebt«, bemerkte Paran. »Ich habe nicht gewusst, dass die Moranth auch so weit im Osten auf die Jagd gehen.«

»Das tun wir auch nicht«, erwiderte Twist. Seine Stimme drang dünn und ausdruckslos unter dem Chitinhelm hervor. »Die Feindseligkeit ist uralt; sie speist sich aus Erinnerungen, nicht aus Erfahrungen. Die Erinnerungen sind falsch.«

»Ach ja? Ich würde vorschlagen, Ihr bemüht Euch nicht weiter, ihnen Eure Meinung nahe zu bringen.«

»Das hat tatsächlich keinen Sinn, Hauptmann. Ich bin neugierig. Dieser Krieger, Trotter – ist er ein besonders geschickter Kämpfer?«

Paran verzog das Gesicht. »Er hat eine Menge ziemlich übler Situationen überstanden. Ich nehme an, er kann sich behaupten. Doch um ehrlich zu sein – ich habe ihn noch nie kämpfen sehen.«

»Und was sagen die Brückenverbrenner, die ihn gesehen haben?«

»Die reden natürlich geringschätzig über ihn. Allerdings machen die alles herunter, daher glaube ich nicht, dass man auf ihre Meinung viel geben sollte. Wir werden es früh genug sehen.«

»Humbrall Taur hat seinen Champion erwählt«, sagte Twist. »Einen seiner Söhne.«

Der Hauptmann schaute den Schwarzen Moranth in der Dunkelheit blinzelnd an. »Wo habt Ihr das gehört? Versteht Ihr etwa die Sprache der Barghast?«

»Sie ist mit unserer eigenen verwandt. Alle sprechen nur von der Wahl, die Humbrall Taur getroffen hat: Sein jüngster Sohn, noch ohne Namen, noch zwei Monde vor seiner Todesnacht – seinem Übertritt ins Erwachsensein. Er ist schon mit Klingen in den Händen geboren worden, ist noch niemals im Duell besiegt worden, selbst wenn er erfahrenen Kriegern gegenübergetreten ist. Mit dunklem Herzen, gnadenlos … die Beschreibungen gehen weiter, aber ich bin es leid, sie zu wiederholen. Wir werden diesen außergewöhnlichen Knaben schon bald zu Gesicht bekommen. Alles andere sind nur verschwendete Atemzüge.«

»Ich verstehe die Notwendigkeit dieses Duells immer noch nicht so recht«, sagte Paran. »Trotter muss doch überhaupt keine Ansprüche erheben – die Geschichte steht deutlich sichtbar auf seinem Körper geschrieben. Warum sollte es da irgendeinen Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit geben? Er ist durch und durch Barghast – man braucht ihn doch nur anzusehen.«

»Er erhebt Anspruch auf die Führung, Hauptmann. Die Geschichte seines Stammes führt seine Abstammung auf die Ersten Gründer zurück. Sein Blut ist reiner als das Blut dieser Clans, und daher muss er eine Herausforderung aussprechen, um seinen Status zu bestätigen.«

Paran verzog wieder das Gesicht. Sein Bauch hatte sich zu einem Knoten zusammengekrampft. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, der sich auch mit großen Mengen Bier oder Wein nicht beseitigen ließ. Wenn er schlief, wurde er in seinen Träumen von Visionen heimgesucht – die frostige Höhle unter dem Finnest-Haus, die steinernen Pflastersteine, in die uralte Bilder aus den Drachenkarten eingemeißelt waren. Selbst jetzt hatte er das Gefühl, zu spüren, wie er in die Feste der Tiere stürzte – die Heimat der T’lam Imass mit ihrem leeren Geweih-Thron –, sollte er seine Augen schließen und in seiner Willenskraft nachlassen. Und das Ganze war so greifbar und reich an Sinneseindrücken, als wäre er tatsächlich an jenen Ort gereist. Und zu jener Zeit … nur, dass jene Zeit jetzt ist, und der Thron wartet … auf jemanden wartet, der ihn in Besitz nimmt. War es so für den Imperator? Als er sich vor dem Thron des Schattens wiedergefunden hat? Macht, Herrschaft über die schrecklichen Hunde, alles nur einen einzigen Schritt entfernt?

»Es geht Euch nicht gut, Hauptmann.«

Paran warf Twist einen Blick zu. Das reflektierte Licht des Lagerfeuers glänzte auf der mitternachtsschwarzen Rüstung des Moranth, spielte wie die Illusion von Augen über die Flächen seines Helms. Der einzige Beweis dafür, dass sich unter der chitinösen Schale ein Mann aus Fleisch und Blut verbarg, war die verstümmelte Hand, die leblos von seinem rechten Arm baumelte. Verdorrt und zerschmettert vom nekromantischen Griff eines Rhivi-Geistes … der ganze Arm hängt tot herunter. Langsam, aber unausweichlich, wird die Leblosigkeit weiterklettern … zur Schulter, und dann zur Brust. In einem Jahr wird dieser Mann tot sein – er wird die heilende Berührung eines Gottes brauchen, um kuriert zu werden, aber wie wahrscheinlich ist das? »Ich habe einen nervösen Magen«, antwortete der Hauptmann.

»Ihr täuscht, indem Ihr untertreibt«, sagte Tsvist. »Ganz wie Ihr wünscht. Ich werde nicht weiter in Euch dringen.«

»Ich möchte, dass Ihr etwas für mich tut«, sagte Paran nach kurzem Schweigen, während er mit zusammengekniffenen Augen das nächste Duell vor der Feuerstelle beobachtete. »Es sei denn, Ihr und Euer Quorl seid zu müde.«

»Wir haben uns genug ausgeruht«, sagte der Schwarze Moranth. »Äußert Euren Wunsch, und es wird getan werden.«

Der Hauptmann holte tief Luft, seufzte und nickte schließlich. »Gut. Ich danke Euch.«

 

Ein erster Farbstreifen zeigte sich am östlichen Horizont, breitete sich durch die Klüfte in dem Hügelkamm direkt südlich der Barghastberge aus. Mit roten Augen und fröstelnd vor Kälte zog Paran seinen wattierten Umhang enger um sich, während er die ersten Anzeichen von Bewegung in dem riesigen, von Rauchwolken umgebenen Lager beobachtete, das das ganze Tal ausfüllte. Es gelang ihm, einige der Clans anhand der barbarischen Standarten zu erkennen, die über den anscheinend willkürlich und kreuz und quer aufgebauten Zelten aufragten – Elsters Instruktionen waren gründlich gewesen –, wobei er sich besonders auf die konzentrierte, von denen der Kommandant gemeint hatte, dass sie möglicherweise Ärger machen würden.

Auf der einen Seite der Lichtung, auf der Trotter und Humbrall Taurs Champion schon bald gegeneinander kämpfen würden, war das tausend Mann starke Lager der Ahkrata. Sie waren an ihren charakteristischen Nasenpflöcken und dem einzelnen Zopf genauso leicht zu erkennen wie an ihren bunten Rüstungen, die aus Teilen der Chitinpanzer gefallener Moranth zusammengesetzt waren, wobei die Teile von Mitgliedern der Grünen, Schwarzen, Roten und sogar gelegentlich der Goldenen Clans stammten. Sie waren am weitesten gereist und bildeten die kleinste Gruppe, waren jedoch dem Vernehmen nach die bösartigsten. Als geschworene Feinde des IIgres-Clans – der jetzt für Caladan Bruth kämpfte – konnten sie sich als problematisch erweisen, wenn es darum ging, ein Bündnis zu schließen.

Humbrall Taurs größter Rivale war der Kriegshäuptling Maral Eb, dessen eigener Barahn-Clan in großer Stärke gekommen war – mehr als zehntausend Bewaffnete, die sich mit rotem Ocker bemalt hatten und bronzene Schuppenpanzer trugen, und deren Haare von Stachelschwein-Stacheln strotzten. Es bestand das Risiko, dass Maral Humbralls Position anfechten könnte, sollte sich die Möglichkeit ergeben, und in der gerade zu Ende gegangenen Nacht hatten mehr als fünfzig Duelle zwischen Barahn-Kämpfern und Humbrall Taurs eigenen Senan-Kriegern stattgefunden. Solch eine Kampfansage konnte leicht zum Auftakt eines allumfassenden Kriegs unter den Clans werden.

Die vielleicht fremdartigste Gruppe von Kriegern, die Paran gesehen hatte, waren die Gilk. Ihr Haar war zu steifen, schmalen Keilen geschnitten, und sie trugen Rüstungen, die aus den Panzern einer Schildkrötenart hergestellt worden waren. Für Barghast ausgesprochen klein und stämmig, schienen sie dem Hauptmann ein ebenbürtiger Gegner für jede schwere Infanterie zu sein, der sie sich gegenübersehen mochten.

Gruppen von kleineren Stämmen trugen zu der verwirrenden Mischung bei, aus denen das Volk der Weißgesichter bestand. Es war ein Wunder, dass Humbrall Taur es überhaupt geschafft hatte, die miteinander verfeindeten, ständig mit langjährigen Fehden und Rivalitäten beschäftigten Clans zusammenzurufen und sie dazu zu bringen, vier Tage lang mehr oder weniger Frieden zu halten.

Und heute ist der entscheidende Tag. Selbst wenn Trotter das Duell gewinnt, ist keineswegs sicher, dass alle das hinnehmen. Es könnten auch blutige Streitereien ausbrechen. Und wenn er verliert … Paran versuchte nicht weiter über diese Möglichkeit nachzudenken.

Eine klagende Stimme erklang, um die Morgendämmerung zu begrüßen, und plötzlich regten sich überall in den Lagern stumme Gestalten. Das gedämpfte Klirren von Waffen und Rüstungen folgte, dazwischen erklangen Hundegebell und das nasale Geschnatter von Gänsen. Als ob die Lichtung, auf der die Zweikämpfe stattfanden, unsichtbar Luft holen würde, begannen Krieger um sie herum zusammenzuströmen.

Paran schaute sich um und sah, dass seine Brückenverbrenner sich langsam aufrafften, wie ein Beutetier, das durch das Horn eines Jägers aufgeschreckt wurde. Etwas mehr als dreißig Malazaner – der Hauptmann wusste, dass sie entschlossen waren, den Kampf aufzunehmen, wenn etwas schief ging; doch er wusste ebenso gut, dass der Kampf nicht lange dauern würde. Er musterte den heller werdenden Himmel, spähte mit zusammengekniffenen Augen nach Südwesten in der Hoffnung, dort einen dunklen Punkt zu entdecken – Twist und sein Quorl, wie sie rasch näher kamen –, aber die silbrigblaue Weite erstreckte sich völlig unberührt über ihm.

Beunruhigt wurde Paran plötzlich klar, dass es im Lager der Barghast stiller war als sonst. Er drehte sich um und sah Humbrall Taur durch die dicht gedrängt stehende Menge schreiten, um mitten auf der Lichtung stehen zu bleiben. So nahe war der Hauptmann dem Mann noch niemals gewesen, seit sie angekommen waren. Der Krieger war riesig, tierhaft, geschmückt mit den verwitterten, behaarten Häuten entbeinter menschlicher Köpfe geschmückt. Sein Harnisch aus einander überlappenden Münzen glitzerte im Morgenlicht: Der Haufen alten, unbekannten Geldes, über den die Senan irgendwann in ihrer Vergangenheit gestolpert waren, musste groß gewesen sein, denn jeder Krieger im Stamm trug eine solche Rüstung. Es müssen ganze Schiffsladungen von Münzen gewesen sein. Das, oder ein Tempel, der bis unters Dach gefüllt war.

Der Kriegshäuptling verschwendete keine Zeit mit Worten. Er nahm die mit Dornen besetzte Keule aus der Schlinge an seiner Hüfte, reckte sie in die Luft und drehte sich dann langsam im Kreis. Alle Augen waren auf ihn gerichtet; direkt an der Lichtung standen die Elite-Krieger aller Stämme, die anderen drängten sich hinter ihnen, bis hin zu den Hängen des Tales.

Humbrall Taur machte eine Pause, als ein ahnungsloser Hund über die freie Fläche trottete. Ein gut gezielter Stein ließ ihn aufjaulend davonschießen. Der Kriegshäuptling murmelte irgendwas, das man nicht verstehen konnte, und fuchtelte dann mit seiner Waffe.

Paran sah, wie Trotter aus der Menge auftauchte. Der tätowierte Barghast trug die Standard-Rüstung der malazanischen Seesoldaten: beschlagenes, gekochtes Leder mit Eisenbändern über Schultern und Hüften. Sein Halbhelm stammte von einem toten Offizier der Soldaten von Aren, einer Stadt im Reich der Sieben Städte. Nasen- und Wangenschutz waren mit fein ziselierten Silberarbeiten eingelegt. Ein Kettengeflecht schützte seinen Hals an der Seite und im Nacken. An seinem linken Unterarm war ein runder Schild befestigt, seine Hand wurde von einem mit Dornen und eisernen Bändern versehenen Faustriemen geschützt. In seiner Rechten hielt er ein gerades Breitschwert mit ungeschliffener Spitze.

Bei seiner Ankunft stießen die versammelten Barghast ein tiefes Grollen aus, auf das Trotter mit einem harten Grinsen antwortete, wobei er blaufleckige, spitz zugefeilte Zähne entblößte.

Humbrall Taur beäugte ihn einen Augenblick, als missbillige er, dass Trotter anstatt der typischen Waffen der Barghast malazanische Waffen gewählt hatte. Dann drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung und gestikulierte noch einmal mit seiner Keule.

Sein jüngster Sohn trat aus dem Kreis der Umstehenden.

Paran wusste nicht, was er erwartet hatte, doch der Anblick dieses dürren, grinsenden Jugendlichen – er war ganz in Leder gekleidet und hielt nur ein kurzes Hakenmesser in der Rechten – entsprach keinem einzigen der Bilder, die er sich vorgestellt hatte. Was soll das? Irgendeine verschrobene Beleidigung? Will Taur sicherstellen, dass er besiegt wird? Auch wenn es seinen jüngsten Sohn das Leben kostet?

Die Krieger rundum begannen mit den Füßen auf die hart getretene Erde zu stampfen und erzeugten so ein rhythmisches, dumpfes Dröhnen, das durchs ganze Tal hallte.

Der noch namenlose Junge schlenderte in den Kreis und trat Trotter gegenüber, fünf Schritte von ihm entfernt. Er musterte den Brückenverbrenner von Kopf bis Fuß, und sein Grinsen wurde breiter.

»Hauptmann«, zischte eine Stimme neben Paran.

Er drehte sich um. »Du bist Korporal Ziellos, stimmt’s? Was kann ich für dich tun? Und mach schnell.«

Der mürrische Gesichtsausdruck des mageren, gebeugten Soldaten war noch düsterer als gewöhnlich. »Wir haben uns nur gefragt, Hauptmann … Wenn dieser Kampf schlecht ausgeht, ich meine, also, ich und ein paar andere, wir haben ein bisschen Moranth-Munition gesammelt. Auch Knaller, Hauptmann, wir haben fünf Stück. Wir könnten uns so etwas wie einen Pfad bahnen – seht Ihr den kleinen Hügel da drüben, das wäre ein guter Platz, haben wir gedacht, um uns dorthin zurückzuziehen; den könnten wir eine ganze Weile halten. Die steilen Hänge – «

»Halt’s Maul, Korporal«, grollte Paran im Flüsterton. »Meine Befehle haben sich nicht geändert. Niemand rührt sich von der Stelle.«

»Klar, er ist ein Zwerg, Hauptmann, aber was ist, wenn – «

»Du hast gehört, was ich gesagt habe, Soldat.« Ziellos neigte den Kopf. »Ja, Hauptmann. Es ist nur, dass … äh, dass ein paar – neun, vielleicht auch zehn –, na ja, die tuscheln darüber, dass sie vielleicht tun könnten, was sie wollen, und zum Vermummten mit Euch … Hauptmann.«

Paran wandte den Blick von den beiden reglos dastehenden Kriegern ab und blickte dem Korporal in die wässrigen Augen. »Und du bist ihr Sprecher, Ziellos?«

»Nein! Ich doch nicht, Hauptmann! Ich habe keine Meinung. Hatte noch nie eine. Habe wirklich nie eine, Hauptmann. Nein, ich nicht. Ich bin nur hier und erzähle Euch, was im Augenblick gerade so im Trupp vorgeht, Hauptmann, das ist alles.«

»Und da drüben stehen sie alle und sehen zu, wie wir beide uns unterhalten, und genau so wollten sie es haben. Du bist der Sprecher, Korporal, ob dir das nun gefällt oder nicht. Dies ist ein Fall, in dem ich möglicherweise doch den Boten töten sollte, und wenn auch nur, um mich von seiner Dummheit zu befreien.«

Ziellos’ mürrisches Gesicht verfinsterte sich. »Das würde ich an Eurer Stelle nicht versuchen, Hauptmann«, sagte er langsam. »Dem letzten Hauptmann, der gegen mich das Schwert gezogen hat, habe ich das Genick gebrochen.«

Paran zog eine Augenbraue hoch. Bern hilf, ich unterschätze sogar die echten Idioten in dieser Kompanie. »Versuch dieses Mal ein bisschen Zurückhaltung zu zeigen, Korporal«, sagte er. »Und jetzt geh zurück zu deinen Kameraden und sage ihnen, dass sie stillhalten sollen, bis ich das Signal gebe. Sage ihnen, wir werden niemals kampflos untergehen, aber wenn wir genau dann einen Ausbruchsversuch unternehmen, da die Barghast es erwarten, werden wir schnell sterben.«

»Ihr wollt, dass ich das alles sage, Hauptmann?«

»Wenn du willst, kannst du es gerne in deinen eigenen Worten tun.«

Ziellos seufzte. »Nun, dann ist es leicht. Ich gehe jetzt, Hauptmann.«

»Tu das, Korporal.«

Als Paran sich wieder dem Kreis zuwandte, sah er, dass Humbrall Taur vorgetreten war und jetzt genau zwischen den beiden Kämpfern stand. Falls er etwas zu ihnen sagte, so war es kurz und im Flüsterton, denn wenige Augenblicke später trat er zurück, hob einmal mehr die Keule in die Höhe. Der dröhnende Tanz der dicht gedrängt stehenden Krieger erstarb. Trotter machte seinen Schild bereit, schob das linke Bein ein Stück zurück und hielt sein Schwert in einer engen Verteidigungsposition. Der Junge änderte seine lässige Haltung nicht; er hielt sein Messer noch immer locker an seiner Seite.

Humbrall Taur erreichte den Rand des Rings. Er schwenkte die Keule ein letztes Mal über dem Kopf und senkte sie dann.

Das Duell hatte begonnen.

Trotter trat zurück, tief geduckt, den Schildrand knapp unterhalb seiner Augen. Die stumpfe Spitze seines Breitschwerts stieß nach außen, als er den Arm halb ausstreckte.

Der Junge drehte sich, um ihn anzusehen, das Messer in seiner Hand bewegte sich leicht auf und ab, fast wie ein Schlangenkopf. Als Trotter irgendwann das Gewicht verlagerte – ohne, dass man etwas gesehen hätte –, tänzelte Humbrall Taurs Sohn geschmeidig nach links und wedelte willkürlich und planlos mit der Klinge, doch der große Brückenverbrenner rückte nicht vor. Noch immer lagen zehn Schritte zwischen ihnen.

Jede Bewegung, die der Bursche macht, offenbart Trotter mehr, ist ein weiteres Zeichen auf der taktischen Landkarte.

Worauf der Junge reagiert, was ihn zögern, sich anspannen oder zurückziehen lässt. Jede Gewichtsverlagerung, jede Bewegung … und Trotter hat sich noch nicht einmal von der Stelle gerührt.

Der Junge schob sich vorwärts, näherte sich Trotter aus einem Winkel, den dieser nur mit dem Schild abdeckte. Noch ein Schritt. Das Schwert des Brückenverbrenners glitt nach außen. Der junge Bursche hüpfte zurück, kam dann erneut näher, diesmal aus einem noch spitzeren Winkel.

Wie ein unerschütterlicher Infanterist drehte Trotter sich herum und ging wieder in Stellung – und der Barghast griff an.

Paran stieß ein Schnauben aus, als die Schwerfälligkeit des Brückenverbrenners verschwand. Ungeachtet seines eigenen Größenvorteils erwartete Trotter den schnellen Angriff tief hinter seinen Schild geduckt, glitt dann unerwartet vorwärts, hinein in die hoch angesetzte Attacke des jungen Burschen. Das Hakenmesser schrammte kraftlos über Trotters Helm – und dann hämmerte der schwere Schild gegen die Brust des Jungen, warf ihn zurück.

Der Junge krachte zu Boden und rutschte ein Stück über den Erdboden; eine Staubwolke stieg auf, als er sich überschlug und weiterrollte.

Ein Narr hätte ihn verfolgt und wäre prompt in der von der Sonne beschienenen Staubwolke seinem Messer begegnet – Trotter jedoch verharrte einfach hinter seinem Schild. Der Junge tauchte aus der Staubwolke auf, das Gesicht staubgepudert; er lächelte noch immer.

Das ist ein Kampfstil, an den der Bursche nicht gewöhnt ist. Trotter könnte genauso gut in der ersten Reihe einer Phalanx stehen, Schulter an Schild mit hart gesottenen malazanischen Infanteristen. Mehr als eine barbarische Horde ist von diesem tödlichen Wall entjungfert und in Stücke gerissen worden. Diese Weißgesichter waren noch nie in Gefechte mit dem Imperium verwickelt.

Der geschmeidige Barghast begann einen raschen, zuckenden Tanz, umkreiste Trotter, stieß vor und wich wieder zurück, spielte mit dem hellen Sonnenlicht und den Reflexen auf Waffen und Rüstung, trat Staubwolken los. Zur Antwort drehte sich der Brückenverbrenner einfach in eine von vier Richtungen – er war zu seinem eigenen Karree geworden – und wartete, wobei er wieder und wieder eine Position zu lange zu halten schien, ehe er sie änderte, und jedes Mal stampfte er wie ein schwerfälliger Rekrut die methodischen Schritte, die beim Drill der malazanischen Infanterie eingeübt wurden. Er ignorierte jede Finte, ließ sich nicht dazu verleiten, seinerseits anzugreifen, wenn der junge Bursche aus dem Gleichgewicht zu kommen schien oder sich unbeholfen bewegte – was ebenfalls lediglich Täuschungsmanöver waren.

Der Kreis aus Kriegern hatte damit angefangen, seiner Frustration durch Rufe und Geschrei Ausdruck zu verleihen. Dies war kein Duell, wie sie es kannten. Trotter würde das Spiel des jungen Burschen nicht mitspielen. Er ist jetzt ein Soldat des Imperiums, und das ist der Nachtrag zu seiner Geschichte.

Der Junge startete einen neuen Angriff, seine Klinge verschwamm in einem Wirbel aus Finten, und dann schlug er tief zu, suchte das rechte Knie des Brückenverbrenners – das Scharnier im Verbindungsstück der Rüstung. Der Schild fuhr herunter, trieb das Messer zur Seite. Das Breitschwert hieb waagerecht nach dem Kopf des Jungen. Er duckte sich noch tiefer, und die Hakenklinge zuckte nach unten, um wirkungslos über die Zehenkappe von Trotters Stiefel zu gleiten. Der Brückenverbrenner rammte dem Jungen seinen Schild ins Gesicht.

Der Junge taumelte, Blut spritzte ihm aus der Nase. Doch sein Messer stieg unbeirrbar in die Höhe, glitt um den Rand des Schildes herum, als folge es einem zischelnden Führer, um sich dann tief in das Verbindungsgelenk der Rüstung von Trotters linkem Arm zu graben; der Haken biss zu und riss dann durch Bänder und Adern.

Der Malazaner hieb mit seinem Breitschwert nach unten, trennte dem Jungen die Messerhand am Gelenk ab.

Beide Krieger bluteten, doch der Nahkampf war noch nicht vorbei. Paran schaute voller Erstaunen zu, wie die linke Hand des Jungen mit steif ausgestreckten Fingern nach oben schoss, unter den Kinnschutz von Trotters Helm. Ein merkwürdiges, ploppendes Geräusch kam aus Trotters Kehle. Der blutüberströmte Schildarm sank gefühllos herab, die Knie gaben nach, der Brückenverbrenner sank zu Boden.

Trotters letzte Bewegung war ein blitzschneller Hieb mit dem Breitschwert quer über den Bauch des Jungen. Glattes Fleisch teilte sich, und der Junge schaute gerade noch rechtzeitig nach unten, um die Eingeweide aus seinem Bauch quellen zu sehen. Er krümmte sich zusammen, stürzte zu Boden.

Trotter lag vor dem sterbenden Jungen, griff sich verzweifelt an die Kehle. Seine Beine traten wild um sich.

Der Hauptmann machte einen Satz nach vorn, doch einer seiner Brückenverbrenner war schneller – Mulch, ein unbedeutender Heiler aus dem Elften Trupp, stürzte in den Kreis und an Trotters Seite. Ein kleines Schnappmesser blitzte in der Hand des Soldaten auf, der sich breitbeinig auf den zuckenden Krieger setzte und seinen Kopf nach hinten bog, um die Kehle zu entblößen.

Was im Namen des Vermummten -

Ringsum herrschte ein Höllenlärm. Der Kreis löste sich auf, als Barghast-Krieger mit ihren Waffen in den Händen vorwärts stürmten, doch ganz offensichtlich wussten sie nicht so recht, was sie damit tun sollten. Parans Kopf zuckte herum, und er sah, wie sich seine Brückenverbrenner innerhalb eines Ringes aus kreischenden, streitlustigen Wilden langsam zusammendrängten.

Bei den Göttern, es bricht alles zusammen.

Ein Horn schnitt durch die Kakophonie. Köpfe drehten sich. Senan-Krieger stellten die Unverletzlichkeit des Kreises wieder her; sie brüllten, als sie die anderen Stammeskrieger und -kriegerinnen zurückstießen. Humbrall Taur hatte seine Keule einmal mehr hoch erhoben – eine stumme Aufforderung, die Ordnung wieder herzustellen, der man sich nicht entziehen konnte.

Rufe stiegen von den Barghast auf, die um die Brückenverbrenner herumstanden, und der Hauptmann sah, dass seine Soldaten Moranth-Munition wurfbereit in den hoch erhobenen Händen hielten. Die Barghast wichen ein Stück zurück und holten mit ihren Lanzen aus, um sie zu werfen.

»Brückenverbrenner!«, brüllte Paran, während er auf seine Leute zuschritt. »Packt die verdammten Dinger weg! Sofort!«

Das Horn erklang ein zweites Mal.

Köpfe drehten sich. Die tödlichen Granaten verschwanden einmal mehr unter Regenmänteln und Umhängen.

»Immer mit der Ruhe!«, grollte Paran, als er sie erreichte. Etwas leiser fügte er hinzu: »Reißt euch zusammen, ihr verdammten Idioten! Niemand hat mit einem verdammten Unentschieden gerechnet, beim Vermummten! Behaltet einen klaren Kopf. Korporal Ziellos, geh zu Mulch und frag ihn, was in Feners Namen er mit dem verdammten Schnappmesser gemacht hat – und finde raus, was mit Trotter los ist –, ich weiß, ich weiß, es hat so ausgesehen, als wäre er erledigt. Aber das ist der junge Bursche auch. Wer weiß, vielleicht geht es nur darum, wer als Erster stirbt – «

»Hauptmann«, warf einer der Sergeanten ein. »Sie wollten auf uns losgehen, das ist alles. Wir haben nichts geplant – wir haben auf Euer Zeichen gewartet, Hauptmann.«

»Das freut mich zu hören. Und jetzt haltet die Augen offen, aber bleibt ruhig, während ich losgehe, um mich mit Humbrall Taur zu besprechen.« Paran drehte sich um und marschierte auf den Kreis zu.

Das Gesicht des Barghast-Kriegshäuptlings war grau, sein Blick kehrte wieder und wieder zu der kleinen Gestalt zurück, die nun unheilvoll reglos ein Dutzend Schritte entfernt auf dem fleckigen Boden lag. Ein halbes Dutzend unbedeutenderer Häuptlinge hatte sich um Humbrall versammelt, und jeder schrie lauter, um seine Rivalen zu übertönen. Taur achtete auf keinen von ihnen.

Paran drängte sich durch die Menge. Ein kurzer Blick nach rechts zeigte ihm, dass Ziellos neben Mulch hockte. Der Heiler presste eine Hand fest auf die Wunde in Trotters linkem Arm und schien zu flüstern. Seine Augen waren geschlossen. Schwache Bewegungen waren ein Hinweis darauf, dass Trotter noch am Leben war. Und er hatte aufgehört zu zucken, wie der Hauptmann feststellte. Irgendwie hatte Mulch es ihm ermöglicht, zu atmen. Ungläubig schüttelte Paran den Kopf. Zerschmettere einem Mann die Kehle, und er stirbt. Es sei denn, ein Hoch-Denul-Heiler ist in der Nähe … und das ist Mulch nicht. Er ist ein Feldscher, dem eine Hand voll Zaubersprüche zur Verfügung stehen – der Mann hat ein Wunder vollbracht …

»Malazaner!« Humbrall Taurs kleine, ausdruckslose Augen waren auf Paran gerichtet. Er winkte. »Wir müssen reden, du und ich.« Er wechselte von Daru zu seiner Muttersprache und fauchte die Krieger an, die sich um ihn drängten. Sie machten finstere Gesichter und zogen sich zurück, warfen dem Hauptmann giftige Blicke zu.

Einen Augenblick später standen Paran und der Barghast-Kriegshäuptling einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Humbrall Taur musterte ihn einen Augenblick, dann sagte er: »Deine Krieger halten nicht viel von dir. Sie sagen, du hast schwaches Blut.«

Paran zuckte die Schultern. »Es sind Soldaten. Und ich bin ihr neuer Offizier.«

»Sie sind ungehorsam. Du solltest einen oder zwei von ihnen töten, dann werden die anderen dich respektieren.«

»Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie am Leben bleiben, nicht sie zu töten, Kriegshäuptling.«

Humbrall Taur kniff die Augen zusammen. »Dein Barghast hat auf die Weise von euch Fremden gekämpft. Er hat nicht gekämpft wie ein Verwandter von uns. Dreiundzwanzig Duelle hat mein namenloser Sohn ausgetragen. Ohne einmal zu verlieren, ohne auch nur verwundet zu werden. Ich habe einen von meinem eigenen Blut verloren, einen großen Krieger.«

»Trotter lebt immer noch«, sagte Paran.

»Er müsste eigentlich tot sein. Zerschmettere einem Mann die Kehle, und die Krämpfe töten ihn. Er hätte nicht mehr in der Lage sein dürfen, sein Schwert zu schwingen. Mein Sohn hat eine Hand geopfert, um ihn zu töten.«

»Eine tapfere Tat, Kriegshäuptling.«

»Aber vergeblich, wie es scheint. Behauptest du, dass Trotter seine Wunden überleben wird?«

»Ich weiß es nicht. Ich muss mit meinem Heiler sprechen.«

»Die Geister schweigen, Malazaner«, sagte Humbrall Taur, nachdem er einen Augenblick still verharrt hatte. »Sie warten. Daher müssen auch wir warten.«

»Dein Rat der Häuptlinge ist vielleicht nicht deiner Meinung«, bemerkte Paran.

Taur machte ein düsteres Gesicht. »Das ist eine Sache der Barghast. Geh zurück zu deiner Kompanie, Malazaner. Sorge dafür, dass sie am Leben bleiben … wenn du kannst.«

»Hängt unser Schicksal davon ab, ob Trotter überlebt, Kriegshäuptling?«

Der riesige Krieger bleckte die Zähne. »Nicht nur davon … Fürs Erste bin ich mit dir fertig.« Er drehte dem Hauptmann den Rücken zu und wurde sogleich wieder von den anderen Häuptlingen umringt.

Paran zog sich zurück, kämpfte gegen die Schmerzen in seinem Bauch an, die wieder aufflackern wollten, und ging dahin, wo Trotter lag. Den Blick auf den Barghast-Krieger gerichtet, kauerte er sich neben Mulch, dem Heiler, auf den Boden. Zwischen Trotters Schlüsselbeinen war ein Loch, in dem ein hohles Röhrchen aus Knochen steckte, das leise pfiff, wenn er atmete. Der Rest der Kehle war zerquetscht, war ein einziger grüner und blauer Fleck. Die Augen des Barghast waren offen und zeigten, dass er bei Bewusstsein war und Schmerzen hatte.

Mulch warf Paran einen Blick zu. »Ich habe die Blutgefäße und Sehnen in seinem Arm geheilt«, sagte er leise. »Ich glaube nicht, dass er ihn verlieren wird. Er wird allerdings in Zukunft schwächer sein, es sei denn, Fäustel taucht bald hier auf.«

Paran deutete auf das Knochenröhrchen. »Was im Namen des Vermummten ist das, Heiler?«

»Es ist zur Zeit nicht leicht, mit den Gewirren rumzuspielen, Hauptmann. Außerdem wäre ich eh nicht gut genug, so was wieder hinzukriegen. Das ist ein Feldscher-Trick, den habe ich von Bullit gelernt, als ich in der Sechsten Armee war – er hat sich immer wieder Mittel und Wege ausgedacht, Dinge ohne Magie zu tun, weil er sein Gewirr nie finden konnte, wenn’s mal richtig heiß herging.«

»Es sieht … behelfsmäßig aus.«

»Stimmt, Hauptmann. Wir brauchen Fäustel. Und zwar schnell.«

»Das war schnelle Arbeit, Mulch«, sagte Paran, während er wieder aufstand. »Gut gemacht.«

»Danke, Hauptmann.«

»Korporal Ziellos.«

»Hauptmann?«

»Bring ein paar Soldaten hierher. Ich will nicht, dass irgendein Barghast zu nahe an Trotter herankommt. Wenn Mulch es sagt, bringt ihn zurück in unser Lager.«

»Jawohl, Hauptmann.«

Paran schaute dem davoneilenden Soldaten hinterher, dann wandte er sich nach Süden und suchte den Himmel ab. »Beim Atem des Vermummten!«, murmelte er erleichtert.

Mulch erhob sich. »Ihr habt Twist losgeschickt, um sie zu suchen, nicht wahr, Hauptmann? Seht nur, er hat einen Passagier. Wahrscheinlich den Schnellen Ben, obwohl – «

Parans Gesicht verzog sich langsam zu einem Lächeln, während er weiterhin den weit entfernten schwarzen Fleck über dem Horizont anblinzelte. »Nicht, wenn Twist meine Anweisungen befolgt hat, Heiler.«

Mulch warf ihm einen Blick zu. »Fäustel. Bei Feners Huf, das war eine gute Idee, Hauptmann.«

Paran erwiderte den Blick des Heilers. »Auf dieser Mission wird niemand sterben, Mulch.«

Der alte Veteran nickte langsam, dann kniete er sich wieder hin, um sich weiter um Trotter zu kümmern.

 

Tippa musterte den Schnellen Ben, während sie einen weiteren grasbewachsenen Hügelhang hinaufstapften. »Willst du, dass dich jemand trägt, Magier?«

Der Angesprochene wischte sich den Schweiß von der Stirn, schüttelte den Kopf. »Nein, es wird schon besser. Hier sind viele Barghast-Geister, und es werden immer mehr. Sie widerstehen der Infektion. Es geht schon, Korporal.«

»Wenn du meinst … In meinen Augen siehst du allerdings ziemlich mitgenommen aus.« Und das ist noch ’ne ziemliche Untertreibung.

»Das Gewirr des Vermummten ist nie ein angenehmer Ort.«

»Das sind schlechte Neuigkeiten, Magier. Worauf sollten wir uns dann gefasst machen?«

Der Schnelle Ben sagte nichts.

Tippa machte ein finsteres Gesicht. »So schlecht sieht’s also aus? Na, das ist ja wirklich toll. Warte nur, bis Fahrig das hört.«

Der Magier brachte ein Lächeln zustande. »Du erzählst ihm so etwas nur, um zu sehen, wie er sich windet, stimmt’s?«

»Klar. Der Trupp braucht ein bisschen Unterhaltung, nicht wahr?«

Auf der Hügelkuppe fanden sich noch mehr niedrige Steinhaufen, anscheinend willkürlich über die ganze Fläche verstreut. Kleine, langbeinige graue Vögel hüpften ihnen aus dem Weg, als die Soldaten weitermarschierten. Es wurde nur wenig gesprochen – die Hitze war drückend, und noch immer lag mehr als ein halber Tag vor ihnen. Die ganze Zeit summten Fliegen um sie herum.

Seit Twists Besuch in der Morgendämmerung hatte der Trupp niemanden mehr zu Gesicht bekommen. Sie wussten, dass das Duell inzwischen stattgefunden hatte, hatten aber nicht die geringste Ahnung, wie es ausgegangen war. Beim Vermummten, es ist gut möglich, dass wir hier zu unserer eigenen Hinrichtung marschieren. Spindel und der Schnelle Ben waren so gut wie nutzlos – beide waren blass, zittrig und nicht besonders gesprächig, und weder fähig noch willens, ihre Gewirre auszuprobieren. Igels Kiefer war so stark geschwollen, dass er nicht mehr herausbringen konnte als ein paar Grunzlaute, doch die Blicke, mit denen er den Rücken der an der Spitze marschierenden Detoran durchbohrte, ließen auf mörderische Rachepläne schließen. Blend war irgendwo vor ihnen, um zu kundschaften, oder vielleicht auch hinter ihnen – oder vielleicht sogar in meinem Schatten, beim Vermummten; Tippa warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, doch die Soldatin war nicht da. Fahrig, der die Nachhut übernommen hatte, redete ununterbrochen mit sich selbst; sein unaufhörliches Gemurmel bildete zusammen mit dem Summen der Fliegen eine ständige Begleitmusik.

In der umliegenden Landschaft gab es abgesehen von den Gräsern, mit denen die Hügel bewachsen waren, kaum Leben. Nur gelegentlich waren verkrüppelte Bäume in einem Talgrund zu sehen – immer dort, wo sich durch Bäche, die nur zu bestimmten Jahreszeiten Wasser führten, in den tieferen Erdschichten Wasser hielt. Der Himmel war wolkenlos, kein Vogel hob sich gegen das strahlende Blau ab. Weit im Norden und Osten erhoben sich zerklüftet und drohend die weißen Gipfel der Barhgast-Kette.

Nach Twists Schätzung befand sich das Barghast-Lager in einem Tal vier Längen im Norden. Wenn alles glatt ging, müssten sie vor Sonnenuntergang dort ankommen.

Der Schnelle Ben, der an Tippas Seite ging, stieß ein leises Grunzen aus, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie sich ein Dutzend dreckverschmierter Hände um die Beine des Magiers legten. Die Erde schien unter den Stiefeln des Schnellen Ben zu schäumen, und dann wurde er hinabgezogen – fleckige, knochige Finger griffen zu und zerrten, knorrige Unterarme streckten sich, umschlangen den um sich schlagenden Magier.

»Ben!«, brüllte Tippa, warf sich auf ihn. Er streckte einen Arm nach ihr aus, stumm und mit einem verblüfften Ausdruck im Gesicht, während die Erde um seine Hüften wogte. Schritte und Schreie waren zu hören, kamen näher. Tippa umklammerte das Handgelenk des Magiers.

Die Erde wogte jetzt bis zu seiner Brust hinauf. Wieder tauchten die Hände auf, packten den rechten Arm des Schnellen Ben und zogen ihn nach unten.

Ihre Blicke kreuzten sich, und dann schüttelte er den Kopf. »Lass mich los, Korporal – «

»Bist du verrückt – «

»Sofort, bevor du mir den Arm rausreißt – « Seine rechte Schulter wurde unter die Erde gezerrt.

Spindel tauchte auf, warf sich lang hin und schlang einen Arm um Bens Hals.

»Lass ihn los!«, schrie Tippa und gab das Handgelenk des Magiers frei.

Spindel starrte sie an. »Was?«

»Du sollst ihn loslassen, verdammt!«

Der Kader-Magier löste seinen Arm und rollte sich fluchend zur Seite.

Fahrig stürmte mitten zwischen sie; er hatte seine kurze Schaufel schon in den Händen, als der Kopf des Schnellen Ben unter der Erde verschwand. Dreck begann zu fliegen.

»Hör auf damit, Sergeant!«, schnappte Tippa. »Du wirst ihm noch die Schädeldecke abhauen.«

Der Sergeant starrte sie an, machte dann einen Satz rückwärts, als stünde er auf glühenden Kohlen. »Beim Vermummten!« Er hob seine Schaufel und betrachtete blinzelnd das Blatt. »Ich kann kein Blut sehen! Kann sonst jemand Blut sehen? Oder – bei den Göttern -Haare? Sind das da Haare? Oh, bei der Königin der Träume – «

»Das sind keine Haare«, grollte Spindel und nahm Fahrig die Schaufel aus der Hand. »Das sind Wurzeln, du Idiot! Sie haben ihn sich geholt. Sie haben sich den Schnellen Ben geholt!«

»Wer?«, wollte Tippa wissen.

»Barghast-Geister. Eine ganze Horde. Sie haben uns in einen Hinterhalt gelockt.«

»Und was ist mit dir?«, fragte sie.

»Ich bin wahrscheinlich nicht gefährlich genug, nehme ich an. Zumindest« – sein Kopf zuckte herum, und er blickte sich nervös um -»hoffe ich es. Ich sollte machen, dass ich von diesem verdammten Hügelgrab runterkomme, oh ja, das sollte ich!«

Tippa schaute ihm nach, als er davonhastete. »Igel, behalt ihn im Auge, ja?«

Der Sappeur mit dem geschwollenen Gesicht nickte und trottete hinter Spindel her.

»Was machen wir jetzt?«, zischte Fahrig. Sein Schnauzbart zuckte aufgeregt.

»Wir warten ein, zwei Glockenschläge, und wenn es der Magier bis dahin nicht geschafft hat, sich wieder freizubuddeln, marschieren wir weiter.«

Die blauen Augen des Sergeanten wurden groß. »Wir lassen ihn zurück?«, flüsterte er.

»Entweder das, oder wir tragen diesen ganzen verdammten Hügel ab. Aber wir würden ihn sowieso nicht finden – er ist in ihr Gewirr gezogen worden. Es ist hier und ist auch wieder nicht hier, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht kann Spindel ein paar Nachforschungen anstellen, wenn er seinen Mut wiedergefunden hat.«

»Ich hab immer gewusst, dass der Schnelle Ben nichts als Ärger bedeutet«, murmelte Fahrig. »Man kann sich auf Magier eben nicht verlassen. Du hast Recht, was haben wir davon, wenn wir ewig hier warten? Sie sind sowieso verdammt nutzlos. Lasst uns zusammenpacken und weitermarschieren.«

»Es schadet aber auch nichts, zumindest ein bisschen zu warten«, sagte Tippa.

»Ja, das ist wahrscheinlich eine gute Idee.«

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, schaute dann seufzend wieder weg. »Ich könnte was zu essen gebrauchen. Vielleicht könntest du uns ja was Besonderes machen, Sergeant …«

»Ich habe getrocknete Datteln und Brotfrüchte und ein paar geräucherte Blutegel vom Südmarkt von Fahl.«

Sie zuckte zusammen. »Klingt gut.«

»Dann werde ich mich gleich mal darum kümmern.«

Er eilte davon.

Bei den Göttern, Fahrig, du drehst immer mehr durch. Und was ist mit mir los? Da höre ich was von Datteln und Blutegeln, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen …

 

Die Kanus mit dem hochgezogenen Bug lagen im Sumpf und rotteten vor sich hin; an den Tauen, mit denen sie an den nahe gelegenen Zedernstämmen festgemacht waren, hingen lange Bärte aus Flechten und Moos. Dutzende von diesen Booten waren zu sehen. Auf einem flachen Hang waren Vorräte aufgestapelt, überwuchert von einer dicken Schimmelschicht, aus der Pilze und Morcheln ragten. Das Licht war fahl und schwach gelblich getönt. Der Schnelle Ben, von dem der Schleim troff, zog sich hoch und spuckte fauliges Wasser aus, während er sich langsam aufrichtete und sich umschaute.

Seine Angreifer waren nirgends zu sehen. Insekten flitzten ziellos durch die Luft. Frösche quakten, und irgendwo tröpfelte unentwegt Wasser. Ein feiner Salzgeruch lag in der Luft. Ich bin in einem Gewirr, das schon lange tot ist, das verfallen ist, weil sich in der Welt der Sterblichen niemand mehr daran erinnert. Die lebenden Barghast wissen nichts von diesem Ort, aber hierher gehen ihre Toten – vorausgesetzt, sie kommen so weit. »In Ordnung«, sagte er, und seine Stimme klang in der feuchten, schweren Luft merkwürdig gedämpft. »Ich bin hier. Was wollt ihr?«

Eine Bewegung in den Nebelschwaden schreckte ihn auf. Gestalten erschienen; sie standen knietief im wirbelnden schwarzen Wasser, kamen zögernd näher. Der Magier kniff die Augen leicht zusammen. Diese Kreaturen waren nicht die Barghast, die er aus der Sphäre der Sterblichen kannte.

Gedrungener, breiter und starkknochiger, waren sie eine Mischung aus Imass und Toblakai. Bei den Göttern, wie alt ist dieser Ort? Vorstehende Brauen beschatteten kleine, glitzernde Augen. Schwarze Lederstreifen waren entlang hagerer Wangen genäht, reichten bis unter die bartlosen Kiefer, wo sie um kleine Langknochen geschlungen waren, die parallel zum Kiefer verliefen. Schwarzes Haar hing in groben Zöpfen herab, in der Mitte gescheitelt. Die Männer und Frauen, die sich dem Schnellen Ben näherten, waren allesamt in eng anliegende Robbenfelle gekleidet, die mit Knochen, Geweihstücken und Muscheln verziert waren. Messer mit langen, schmalen Klingen hingen an ihren Hüften. Ein paar der Männer trugen mit Widerhaken versehene Speere, die gänzlich aus Knochen gemacht zu sein schienen.

Eine kleinere Gestalt hüpfte auf einen verfaulten Zedernstumpf direkt vor dem Schnellen Ben, ein wie ein Mensch geformtes Bündel aus Stöckchen und Bändern mit einer Eichel als Kopf.

Der Magier nickte. »Talamandas. Ich dachte, du wolltest zu den Weißgesichtern zurückkehren.«

»Das habe ich auch getan, Magier, einzig und allein dank deiner Klugheit.«

»Du hast eine merkwürdige Art, mir deine Dankbarkeit zu zeigen, Alterchen.« Der Schnelle Ben blickte sich um. »Wo sind wir?«

»Am Ort der Ersten Landung. Hier warten die Krieger, die das Ende der Reise nicht überlebt haben. Unsere Flotte war riesig, Magier, doch als die Reise endlich zu Ende war, saßen in der Hälfte aller Kanus nur noch Leichen. Wir hatten einen Ozean überquert und dabei unaufhörlich gekämpft.«

»Und wo gehen die Toten der Barghast jetzt hin?«

»Nirgendwo – und überallhin. Sie sind verloren. Magier, euer Herausforderer hat Humbrall Taurs Champion getötet. Die Geister halten immer noch den Atem an, denn der Mann könnte immer noch sterben.«

Der Schnelle Ben zuckte zusammen. Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Und wenn er stirbt?«

»Dann werden eure Soldaten sterben. Humbrall Taur hat keine andere Wahl, wenn er keinen Bürgerkrieg heraufbeschwören will. Die Geister selbst werden ihre Einigkeit verlieren. Ihr wärt eine zu große Ablenkung, ein Quell noch tieferer Spaltungen. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich habe hierher bringen lassen.« Der kleine, aus Zweigen geformte Mann deutete auf die Gestalten, die stumm hinter ihm standen. »Das da sind die Krieger. Unsere Armee. Aber … unsere Kriegshäuptlinge sind nicht unter uns. Die Gründergeister sind schon lange verloren gegangen. Eine Tochter von Humbrall Taur hat sie nun gefunden, Magier. Sie hat sie gefunden!«

»Aber da gibt es ein Problem.«

Talamandas schien in sich zusammenzusacken. »Es gibt eines, ja. Sie sind gefangen … in der Stadt Capustan.«

Die Konsequenzen, die sich aus diesen Worten ergaben, sanken nur langsam ins Bewusstsein des Magiers. »Weiß Humbrall Taur das?«

»Nein. Ich wurde von seinen Schultermännern vertrieben. Die ältesten Geister sind nicht willkommen. Nur die jungen dürfen da sein, denn sie verfügen nur über wenig Macht. Ihr Geschenk ist Trost, und Trost bedeutet den Barghast mittlerweile sehr viel. Das war nicht immer so. Vor dir siehst du ein geteiltes Pantheon, und die weite Kluft zwischen uns ist Zeit – und der Verlust der Erinnerungen. Wir sind Fremde für unsere Kinder; sie werden nicht auf unsere Weisheit hören, und sie fürchten unsere potenzielle Macht.«

»Hat Humbrall Taur gehofft, dass sein Kind diese Gründergeister finden würde?«

»Er geht ein großes Risiko ein, doch er weiß, dass die Weißen Clans verwundbar sind. Die jungen Geister sind zu schwach, um der Pannionischen Domäne zu widerstehen. Sie werden versklavt oder vernichtet werden. Doch wenn der Trost weggerissen wird, offenbart sich nichts als eine Schwäche des Glaubens, eine Abwesenheit von Stärke. Die Clans werden von den Armeen der Domäne zerschmettert werden. Humbrall Taur greift nach Macht, doch er tastet blindlings herum.«

»Und wenn ich ihm sage, dass die alten Geister gefunden worden sind … wird er mir glauben?«

»Du bist unsere einzige Hoffnung. Du musst ihn überzeugen.«

»Ich habe dich von den Zauberbanden befreit, die dich festgehalten haben«, sagte der Schnelle Ben.

»Was willst du dafür als Gegenleistung?«

»Trotter muss seine Wunden überleben. Er muss als Champion anerkannt werden, so dass er rechtmäßig seinen Platz im Rat der Häuptlinge einnehmen kann. Wir brauchen eine Position der Stärke, Talamandas.«

»Ich kann nicht zu den Stämmen zurückkehren, Magier. Ich würde nur wieder vertrieben werden.«

»Kannst du deine Macht durch einen Sterblichen leiten?«

Die Stockschlinge legte langsam den Kopf schief.

»Wir haben einen Denul-Heiler, doch genau wie ich hat er Probleme, sein Gewirr zu benutzen – das Gift des Pannionischen Sehers – «

»Um mit unserer Macht ausgestattet zu werden«, sagte Talamandas, »muss er in dieses Gewirr geführt werden, an diesen Ort hier.«

»Nun«, sagte der Schnelle Ben, »warum überlegen wir dann nicht gemeinsam, wie wir das hinkriegen können?«

Talamandas drehte sich langsam um und ließ den Blick über seine Geister-Verwandtschaft schweifen. Dann sah er wieder den Magier an. »Einverstanden.«

 

Ein einzelner Speer stieg Twist im Bogen entgegen, als der Schwarze Moranth und sein Passagier in den Sinkflug übergingen. Der Quorl wich zur Seite aus und sank dann schnell dem Kreis entgegen. Gelächter und Flüche stiegen aus der Menge der versammelten Krieger auf, ansonsten jedoch geschah nichts mehr.

Paran warf einen letzten Blick auf den Trupp, der um Trotter und Mulch herum Wache stand, und eilte dann dorthin, wo Twist und ein von Brandblasen bedeckter Fäustel inmitten einer Gruppe Barghast, die herausfordernde Rufe ausstießen und drohend die Waffen schwangen, von ihrem Reittier stiegen.

»Macht ihnen den Weg frei, verdammt noch mal!«, brüllte der Hauptmann und schob einen Senan-Krieger beiseite, während er sich näher herandrängte. Der Mann fing sich mit einem Grollen und bleckte in einem herausfordernden Grinsen die zugespitzten Zähne. Paran achtete nicht weiter darauf.

Fünf drängelnde Schritte weiter, und er hatte Twist und Fäustel erreicht.

Die Augen des Heilers waren vor Bestürzung weit aufgerissen. »Hauptmann – «

»Ja, hier wird’s allmählich heiß, Fäustel. Komm mit. Twist, Ihr solltet wahrscheinlich verdammt schnell wieder hier verschwinden – «

»Einverstanden. Ich werde zu Sergeant Fahrigs Trupp zurückkehren. Was ist geschehen?«

»Trotter hat den Zweikampf gewonnen, aber es könnte sein, dass wir den Krieg verlieren. Macht, dass Ihr wegkommt, bevor Ihr aufgespießt werdet.«

»Ja, Hauptmann.«

Paran packte den Heiler am Arm, drehte sich um und fing wieder an, sich durch die Menge zu drängen. »Trotter braucht dich«, sagte er, während sie sich vorwärts schoben. »Es sieht ziemlich übel aus. Ein zerschmetterter Kehlkopf – «

»Im Namen des Vermummten, wieso ist er dann überhaupt noch am Leben?«

»Mulch hat oberhalb seiner Lunge einen Schnitt gemacht, und dadurch atmet der Bastard jetzt.«

Fäustel runzelte die Stirn, nickte dann langsam. »Schlau. Aber, Hauptmann, es könnte sein, dass ich Euch oder Trotter nicht viel nütze – «

Parans Kopf ruckte herum. »Das solltest du aber. Wenn er stirbt, sterben wir alle.«

»Mein Gewirr – «

»Zum Vermummten mit deinen Entschuldigungen – heile den Mann einfach, verdammt noch mal!«

»Ja, Hauptmann, aber nur, damit Ihr Bescheid wisst – das wird mich wahrscheinlich umbringen.«

»Bei Feners Eiern!«

»Es ist ein guter Tausch, Hauptmann. Das sehe ich ein. Macht Euch keine Sorgen, ich werde Trotter heilen – ihr werdet alle heil hier herauskommen, und das ist alles, was im Augenblick zählt.«

Paran blieb stehen. Er schloss die Augen, kämpfte gegen die Wogen brennender Schmerzen an, die plötzlich aus seinem Magen emporstiegen. Mit zusammengebissenen Zähnen stieß er hervor: »Wie du meinst, Fäustel.«

»Ziellos winkt uns zu sich – «.

»In Ordnung, dann geh, Heiler.«

»Jawohl, Hauptmann.«

Fäustel machte sich von seinem Arm los und ging zum Trupp hinüber.

Paran zwang sich, die Augen zu öffnen.

Schau dir nur diesen verdammten Bastard an. Er zögert bei keinem Schritt. Er hat angesichts seines Schicksals noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Wer – was sind diese Soldaten?

 

Fäustel schob Mulch beiseite, kniete neben Trotter nieder, blickte dem Krieger in die harten Augen und streckte die Hand aus.

»Fäustel!«, zischte Mulch. »Dein Gewirr – «

»Sei still«, sagte Fäustel; er schloss die Augen und betastete Trotters eingedrückte, zerquetschte Kehle.

Er öffnete sein Gewirr, und sein Geist schrie auf, als virulente Macht in ihn hineinströmte. Er spürte, wie sein Fleisch anschwoll, wie es aufplatzte, hörte das Blut herausströmen und Mulchs entsetzten Aufschrei. Dann verschwand die wirkliche Welt in einem hämmernden Meer aus Schmerzen.

Finde den Weg, verdammt! Den heilenden Weg, die Ader der Ordnung – bei den Göttern! Bleib bei Sinnen, Heiler. Halte durch …

Doch er spürte, wie sein Verstand ihm entrissen, wie er verschlungen wurde. Sein Ichgefühl wurde vor seinem geistigen Auge in winzige Stückchen zerfetzt, und er konnte nichts dagegen tun. Er stützte sich auf den gesunden Kern in seiner eigenen Seele, zog Macht daraus, spürte, wie sie sich von seinen Fingerspitzen in die zerfetzten Knorpel von Trotters Kehle ergoss. Aber der Kern begann sich aufzulösen …

Hände griffen nach ihm, zerrten an ihm – ein neuer Angriff. Sein Geist wehrte sich, versuchte sich loszureißen. Schreie hüllten ihn von allen Seiten ein, als würden unzählige Seelen vernichtet. Die Hände lösten sich von seinen Gliedmaßen, wurden durch neue ersetzt. Er wurde weitergezerrt, und schließlich überließ sich sein Geist der wilden Entschlossenheit dieser zupackenden, krallenden Hände.

Plötzlich war Ruhe. Fäustel fand sich in einem stinkenden Teich kniend wieder, umgeben von Stille. Dann erhob sich um ihn herum ein Murmeln. Er blickte auf.

Nimm von uns, flüsterten tausend Stimmen in säuselndem Gleichklang. Nimm unsere Macht. Kehre dorthin zurück, wo du hergekommen bist, und nutze alles, was wir dir geben. Aber beeile dich – der Pfad, den wir geöffnet haben, ist teuer – so teuer …

Fäustel öffnete sich der Macht, die um ihn herumwirbelte. Er hatte keine andere Wahl, war hilflos gegenüber ihrem Verlangen. Seine Gliedmaßen, sein Körper fühlten sich an wie nasser Lehm, der neu geformt worden war. Von den Knochen nach außen wurde seine zerrissene Seele wieder zusammengesetzt.

Taumelnd kam er wieder auf die Beine, drehte sich um und ging los. Unter seinen Füßen war klumpiger, nachgiebiger Boden. Er schaute nicht nach unten, ging einfach immer nur weiter. Das Denul-Gewirr war nun rings um ihn herum, wild und tödlich, und wurde doch von ihm fern gehalten. Das Gift, das nicht in der Lage war, sich seiner Seele zu bemächtigen, heulte auf.

Fäustel konnte seine Finger wieder spüren, die er immer noch gegen die zerschmetterte Kehle seines Freundes drückte, doch in seinem Geist ging er immer weiter. Schritt für Schritt, unerbittlich vorwärts geschoben. Dies ist die Reise zu meinem Körper. Wer hat das für mich getan. Und warum?

Das Gewirr begann um ihn herum zu verblassen. Er war fast zu Hause. Fäustel blickte nach unten und erblickte, was er zu sehen erwartet hatte. Er ging auf einem Teppich aus Leichen – sein Weg durch das vergiftete Grauen, zu dem sein Gewirr geworden war. Teuer – so teuer …

Blinzelnd öffnete der Heiler die Augen. Er spürte gequetschte Haut unter seinen Fingern, doch nicht mehr als das. Er zwinkerte den Schweiß weg, fing einen Blick von Trotter auf.

Es waren zwei Pfade, wie es scheint. Einer für mich – und einer für dich, mein Freund.

Der Barghast hob schwach den rechten Arm. Fäustel packte ihn mit eisernem Griff. »Du bist wieder da«, flüsterte der Heiler, »du elender, haifischzähniger Bastard bist tatsächlich zurück.«

»Wer?«, krächzte Trotter. Die Haut um seine Augen spannte sich vor Anstrengung an. »Wer hat dafür bezahlt?«

Fäustel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich war es nicht.« Die Blicke des Barghast huschten zu Fäustels aufgerissenen, blutenden Armen.

Fäustel schüttelte erneut den Kopf. »Ich war es nicht, Trotter.«

 

Paran konnte sich nicht bewegen, wagte nicht, näher heranzugehen. Alles, was er sehen konnte, war ein wirrer Haufen Soldaten, die um die Stelle herumstanden, wo Trotter lag und Fäustel neben ihm kniete. Ihr Götter, vergebt mir, ich habe diesem Heiler befohlen, sich umzubringen. Wenn dies das wirkliche Gesicht der Befehlsgewalt ist, dann ist es das Grinsen eines Totenschädels. Ich will nichts davon wissen. Nicht mehr. Paran, du kannst dich nicht gegen dieses Leben stählen – dagegen, solche Entscheidungen zu treffen. Wer bist du, dass du Leben gegeneinander abwägst? Dass du ihren Wert schätzt, das Fleisch nach Gewicht bemisst? Nein, das ist ein Albtraum. Ich bin damit fertig.

Mulch kam in sein Blickfeld gestolpert, wandte sich ihm zu. Das Gesicht des Mannes war blass, seine Augen weit aufgerissen. Er stolperte heran.

Nein, sag mir nichts. Verschwinde, verdammt. »Lass hören, Heiler.«

»Es – es ist alles in Ordnung, Hauptmann. Trotter wird es schaffen – «

»Und was ist mit Fäustel?«

»Ein paar oberflächliche Wunden – ich kümmere mich darum, Hauptmann. Er lebt – aber fragt mich nicht, wie das – «

»Lass mich allein, Mulch.«

»Hauptmann?«

»Geh. Geh zurück zu Fäustel. Geh mir aus den Augen.«

Paran drehte dem Mann den Rücken zu, hörte, wie er davontrottete. Der Hauptmann schloss die Augen, wartete darauf, dass die Agonie in seinen Eingeweiden wieder losbrach, dass sie wieder wie eine Faust aus Feuer in ihm hochstieg. Aber in ihm war alles ruhig. Er wischte sich die Augen, holte tief Luft. Niemand stirbt. Wir kommen hier alle mit heiler Haut davon. Ich sollte es besser Humbrall Taur sagen. Trotter hat gewonnen, hat die Rechtmäßigkeit seines Anspruchs bewiesen … und der Rest von euch kann meinetwegen zum Vermummten gehen!

 

Fünfzehn Schritte entfernt kauerten Mulch und Ziellos; sie sahen, wie ihr Hauptmann sich aufrichtete, sahen, wie er seinen Schwertgürtel zurechtrückte, blickten ihm nach, als er sich in Richtung auf Humbrall Taurs Kommandozelt in Bewegung setzte.

»Er ist ein harter Bursche«, murmelte der Heiler.

»Kalt wie ein Jaghut-Winter«, sagte Ziellos und verzog das Gesicht. »Fäustel hat eine Weile ausgesehen wie ein Toter.«

»Eine Zeit lang war er auch verdammt nah dran.«

Die beiden Männer schwiegen einige Zeit, dann beugte Mulch sich zur Seite und spuckte aus. »Der Hauptmann könnte es tatsächlich schaffen«, sagte er.

»Hm«, sagte Ziellos. »Vielleicht.«

»He!«, rief einer der in der Nähe stehenden Soldaten. »Schaut mal da rüber zum Kamm! Ist das nicht Detoran? Und da ist Spindel – sie tragen jemanden!«

»Wahrscheinlich den Schnellen Ben«, meinte Mulch, während er sich reckte. »Hat zu lange mit seinen Gewirren rumgespielt. Dieser Idiot.«

»Magier«, höhnte Ziellos. »Wer braucht diese faulen Bastarde überhaupt?«

»Magier, wie? Und was ist mit Heilern, Korporal?«

Das lange Gesicht des Mannes wurde plötzlich noch länger, als ihm die Kinnlade auf die Brust sank. »Äh, Heiler sind gut, Mulch. Verdammt gut. Ich meine Magier und Zauberer und solche Typen – «

»Schluck’s lieber runter, bevor du noch was richtig Dummes sagst, Ziellos. Tja, dann sind wir jetzt ja alle da. Ich frage mich, was diese Weißgesichter wohl mit uns machen werden?«

»Trotter hat gewonnen!«

»Na und?«

Die Kinnlade des Korporals sank ihm ein zweites Mal auf die Brust.

 

Holzrauch erfüllte Humbrall Taurs Fellzelt. Der große Kriegshäuptling war allein; er stand mit dem Rücken zur runden Feuerstelle, ein dunkler Umriss vor dem Feuerschein. »Was hast du mir zu sagen?«, grollte er, als Paran die Zeltklappe hinter sich zufallen ließ.

»Trotter lebt. Er besteht auf seinem Recht, Anführer zu sein.«

»Aber er hat keinen Stamm – «

»Er hat einen Stamm, Kriegshäuptling. Achtunddreißig Brückenverbrenner. Er hat es dir gezeigt, in der Kampfweise, die er für das Duell gewählt hat.«

»Ich weiß, was er uns gezeigt hat – «

»Aber wer hat es verstanden?«

»Ich – und das allein zählt.«

Es wurde still im Zelt. Paran blickte sich um, suchte nach Hinweisen auf den Charakter des Kriegers, der hier vor ihm stand. Der Fußboden war mit Bhederin-Fellen bedeckt. Auf einer Seite lag ein halbes Dutzend Speere, einer von ihnen war zersplittert. An der hinteren Wand stand eine gewaltige Truhe, aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt und groß genug, um Platz für drei ausgestreckt liegende Leichen zu bieten. Der Deckel war zurückgeschlagen und enthüllte auf seiner Unterseite einen großen Schließmechanismus, der überaus kompliziert aussah. Vor der Truhe lag ein wirrer Haufen zerknüllter Decken; hier schlief Humbrall Taur offensichtlich. An allen Seiten glänzte es matt – Münzen waren an die Zeltwände genäht worden, und unter dem spitz zulaufenden Dach hingen noch mehr davon wie Quasten; Letztere waren von Jahren im Rauch geschwärzt.

»Du hast deine Befehlsgewalt verloren, Hauptmann.«

Paran blinzelte, schaute dem Kriegshäuptling in die dunklen Augen. »Das ist eine Erleichterung«, sagte er.

»Du darfst niemals zugeben, dass du nicht herrschen willst, Malazaner. Was du in dir selbst fürchtest, wird dein Urteil all dessen, was dein Nachfolger tut, beeinträchtigen. Deine Furcht wird dich sowohl für seine Weisheit als auch für seine Dummheit blind machen. Trotter ist noch nie Kommandant gewesen – das habe ich in seinen Augen gesehen, als er aus euren Reihen nach vorne getreten ist. Du musst ihn jetzt genau beobachten. Mit klarem Blick.« Der Barghast drehte sich um und ging zu der Truhe. »Ich habe Met. Trink mit mir.«

Bei den Göttern, mein Magen … »Danke, Kriegshäuptling.«

Humbrall Taur holte einen Tonkrug und zwei hölzerne Becher aus der Truhe. Er öffnete den Krug, schnüffelte versuchsweise, nickte dann und schenkte ein. »Wir werden noch einen Tag abwarten«, sagte er. »Dann werde ich mich an die Clans wenden. Trotter wird die Möglichkeit haben, etwas zu sagen, er hat sich seinen Platz bei den Häuptlingen verdient. Aber ich sage dir jetzt dies, Hauptmann.« Er reichte Paran einen Becher. »Wir werden nicht nach Capustan marschieren. Wir schulden den Leuten dort nichts. Jedes Jahr verlieren wir mehr Jugendliche an diese Stadt, an ihre Art zu leben. Ihre Händler kommen mit Waren ohne Wert zu uns, sie stellen dreiste Behauptungen auf und machen ebensolche Angebote, und wenn sie könnten, würden sie mein Volk nackt ausziehen.«

Paran nahm einen Schluck von dem berauschenden Met, spürte, wie er brennend seine Kehle hinunterrann. »Euer wirklicher Feind ist nicht Capustan, Kriegshäuptling – «

»Die Pannionische Domäne wird gegen uns Krieg führen. Das weiß ich, Malazaner. Sie werden Capustan einnehmen und es dazu benutzen, ihre Armeen direkt an unserer Grenze neu zu sammeln. Und dann werden sie marschieren.«

»Wenn dir das alles klar ist, warum – «

»Siebenundzwanzig Stämme, Hauptmann Paran.« Humbrall Taur trank seinen Becher aus, wischte sich den Mund ab. »Doch nur acht Häuptlinge werden an meiner Seite stehen. Das sind nicht genug. Ich brauche sie alle. Sag mir, dein neuer Häuptling – kann er mit Worten den Verstand beeinflussen?«

Paran zog eine Grimasse. »Ich weiß es nicht. Er spricht selten. Allerdings hat bis jetzt auch nie die Notwendigkeit bestanden. Ich vermute, wir werden es morgen sehen.«

»Ihr Brückenverbrenner seid immer noch in Gefahr.«

Der Hauptmann versteifte sich, musterte den dickflüssigen Honigwein in seinem Glas. »Warum?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

»Die Barahn, die Gilk, die Ahkrata – diese Clans stehen vereint gegen euch. Selbst jetzt streuen sie üble, falsche Geschichten. Eure Heiler sind Nekromanten – sie haben ein Ritual der Auferstehung durchgeführt, um Trotter ins Leben zurückzubringen. Die Weißgesichter mögen die Malazaner nicht besonders. Ihr seid mit den Moranth verbündet. Ihr habt den Norden erobert – wie lange wird es dauern, bis ihr euren hungrigen Blick auf uns richtet? Ihr seid der Bär der Ebenen an unserer Seite, drängt uns, die Krallen mit dem Tiger des Südens zu kreuzen. Ein Jäger weiß immer, wie ein Tiger denkt, aber beim Bär der Ebenen weiß er das nie.«

»Also scheint es, dass unser Schicksal noch immer in der Schwebe ist«, sagte Paran.

»Lass den morgigen Tag kommen«, erwiderte Humbrall Taur.

Der Hauptmann leerte seinen Becher und stellte ihn auf den Rand der Truhe. Kleine Feuer loderten in seinem Magen auf. Hinter dem klebrigen Met, der seine Zunge betäubte, konnte er Blut schmecken. »Ich muss mich um meine Soldaten kümmern«, sagte er.

»Lass ihnen diese Nacht, Hauptmann.«

Paran nickte und verließ das Zelt.

Zehn Schritte entfernt standen Tippa und Blend und warteten auf ihn. Der Hauptmann machte ein finsteres Gesicht, als die beiden Frauen zu ihm geeilt kamen. »Noch mehr gute Neuigkeiten, nehme ich an«, murmelte er leise vor sich hin.

»Hauptmann.«

»Was gibt es, Korporal?«

Tippa blinzelte. »Nun, äh, wir haben’s geschafft. Ich habe gedacht, ich sollte vielleicht Meldung machen – «

»Wo ist Fahrig?«

»Er fühlt sich nicht besonders gut, Hauptmann.«

»Hat er irgendwas Komisches gegessen?«

Blend grinste. »Ha, der war gut. Hat er irgendwas Komisches gegessen …«

»Hauptmann«, schnitt Tippa ihr hastig das Wort ab, während sie der Soldatin gleichzeitig einen düsteren Blick zuwarf. »Wir hatten den Schnellen Ben für ein Weilchen verloren und haben ihn dann wieder bekommen, nur wacht er nicht auf. Spindel vermutet, dass er eine Art Schock hat. Er wurde in ein Barghast-Gewirr gezogen – «

Paran zuckte zusammen. »Er wurde was? Bring mich zu ihm. Blend, hol Fäustel und bring ihn zu uns, und zwar schnell! Also, Tippa? Was stehst du hier noch rum? Geh vor.«

»Jawohl, Hauptmann.«

Der Siebte Trupp hatte seine Ausrüstung im Lager der Brückenverbrenner abgelegt. Detoran und Igel packten Zelte aus und wurden dabei von einem blassen, zitternden, mürrischen Fahrig beobachtet. Spindel saß neben dem Schnellen Ben und kämmte mit den Fingern abwesend sein zerfetztes Haarhemd, während er stirnrunzelnd auf den bewusstlosen Magier hinabblickte. Twist, der Schwarze Moranth, stand daneben. Soldaten der anderen Trupps saßen in Gruppen zusammen; sie beobachteten die Neuankömmlinge und hielten wachsam Abstand.

Paran folgte Korporal Tippa zu Spindel und dem Schnellen Ben. Der Hauptmann warf einen Blick auf die anderen Trupps. »Was ist denn mit denen los?«, fragte er laut.

Tippa grunzte. »Seht Ihr Igels geschwollenes Gesicht? Detoran hat schlechte Laune, Hauptmann. Wir glauben alle, dass sie sich in den armen Sappeur verknallt hat.«

»Und sie hat ihm ihre Zuneigung gezeigt, indem sie ihn verprügelt hat?«

»Sie ist eben eher der barsche Typ, Hauptmann.«

Der Hauptmann seufzte und schob Spindel ein Stück zur Seite, ehe er sich hinhockte, um den Schnellen Ben zu mustern. »Sag mir, was geschehen ist, Spindel. Tippa hat etwas von einem Barghast-Gewirr erzählt.«

»Ja, Hauptmann. Bedenkt aber, dass ich nur Vermutungen anstelle. Wir sind über ein Hügelgrab marschiert – «

»Oh, das war wirklich klug«, schnappte Paran.

Der Magier duckte sich. »Ja, äh, nun, es war nicht das erste Mal, dass wir eins überquert haben, und die anderen waren alle ganz ruhig. Wie auch immer, die Geister haben nach oben gegriffen und den Schnellen Ben gepackt, haben ihn zu sich hinuntergezogen. Wir haben ein bisschen gewartet. Und dann haben sie ihn wieder ausgespuckt – so, wie er jetzt ist. Hauptmann, die Gewirre sind schlecht geworden. Schrecklich schlecht. Ben hat gesagt, es ist der Pannionier, nur ist es eigentlich nicht der Pannionier, sondern die verborgene Macht, die hinter ihm steht. Er hat gesagt, wir sind alle in mächtigen Schwierigkeiten.«

Von hinten näherten sich Schritte, und als Paran sich umdrehte, sah er Fäustel und Blend herankommen. Hinter ihnen ging Trotter. Ein paar vereinzelte, hämische Jubelrufe stiegen von den anderen Trupps auf, um ihn zu begrüßen, gefolgt von einem lauten, verächtlichen Schnauben. Trotter bleckte die Zähne und änderte die Richtung. Eine Gestalt schoss davon wie ein Kaninchen. Das Grinsen des Barghast wurde noch breiter.

»Komm wieder her, Trotter«, kommandierte Paran. »Wir müssen uns unterhalten.«

Schulterzuckend drehte sich der riesige Krieger wieder um und näherte sich der Gruppe um den Hauptmann.

Fäustel stützte sich schwer auf Parans Schulter, als er niederkniete. »Tut mir Leid, Hauptmann«, keuchte er. »Ich fühle mich nicht so richtig wohl.«

»Ich werde dich nicht noch einmal auffordern, dein Gewirr zu benutzen, Heiler«, sagte Paran. »Aber ich brauche einen wachen Schnellen Ben. Hast du irgendwelche Vorschläge?«

Fäustel blinzelte auf den Magier hinunter. »Ich habe nicht gesagt, dass ich geschwächt wäre, Hauptmann, nur, dass ich mich nicht so richtig wohl fühle. Ich hatte Hilfe, als ich Trotter geheilt habe. Geister, wie ich inzwischen glaube. Vielleicht Geister der Barghast. Sie haben mich irgendwie wieder zusammengeflickt … und der Vermummte weiß, dass ich es verdammt nötig hatte, zusammengeflickt zu werden. Wie auch immer, es ist, als hätte ich die Beine von jemand anderem, die Arme …«Er streckte einen Arm aus und legte dem Schnellen Ben eine Hand auf die Stirn, stieß dann ein Brummen aus. »Er liegt unter einem Schutzzauber, der ihn weiter schlafen lässt, aber er ist auf dem Weg zurück.«

»Kannst du das irgendwie beschleunigen?«

»Aber sicher.« Der Heiler versetzte dem Magier eine kräftige Ohrfeige.

Der Schnelle Ben riss die Augen auf. »Au! Fäustel, du elender Bastard.«

»Hör schon auf zu jammern, Ben. Der Hauptmann will dich sprechen.«

Die dunklen Augen des Magiers richteten sich auf Paran, dann auf Trotter, der dem Hauptmann über die Schulter blickte. Der Schnelle Ben grinste. »Ihr alle schuldet mir Dank.«

»Hört nicht auf ihn«, sagte Fäustel zu Paran. »So was sagt er andauernd. Bei den Göttern, was für ein Ego. Wenn Elster hier wäre, würde er dir eine Kopfnuss verpassen, Magier, und ich bin versucht, es an seiner Stelle zu tun.«

»Vergiss es.« Der Schnelle Ben setzte sich langsam auf. »Wie sieht es hier aus?«

»Unsere Köpfe liegen immer noch auf dem Richtblock«, sagte Paran leise. »Wir haben hier nicht allzu viele Freunde, und unsere Feinde werden allmählich dreister. Humbrall Taurs Herrschaft steht auf wackeligen Füßen, und das weiß er. Dass Trotter seinen Lieblingssohn getötet hat, macht die Sache auch nicht unbedingt besser. Doch der Kriegshäuptling ist trotzdem auf unserer Seite. Mehr oder weniger. Er macht sich vielleicht nichts aus Capustan, aber er weiß um die Bedrohung, die die Pannionische Domäne darstellt.«

»Ach, er macht sich also nichts aus Capustan? So so.« Der Schnelle Ben lächelte. »Das kann ich ändern. Nun, Fäustel, hast du in deinem Körper Gesellschaft bekommen?«

Der Heiler blinzelte. »Was?«

»Du fühlst dich doch merkwürdig, oder nicht?«

»Naja–«

»Das hat er jedenfalls gesagt«, mischte Paran sich ein. »Was weißt du darüber?«

»Schlicht und einfach alles, Hauptmann. Wir müssen zu Humbrall Taur. Wir drei – nein, wir vier – du auch, Trotter. Beim Vermummten, lasst uns auch Twist mitnehmen – er weiß sehr viel mehr als er rausgelassen hat. Vielleicht kann ich dein Grinsen nicht sehen, Moranth, aber ich weiß, dass es da ist. Spindel, dieses Haarhemd stinkt bestialisch. Geh weg, bevor es mir hochkommt.«

»Das ist also der Dank dafür, dass ich deine Haut gerettet habe«, murmelte Spindel, während er zurückwich.

Paran erhob sich wieder und richtete den Blick auf Humbrall Taurs Zelt. »Schön, dann gehen wir eben noch einmal hin.«

 

Der Sonnenuntergang rückte näher, tauchte das Tal in Dämmerlicht. Die Barghast hatten ihre wilden Tänze und grausamen Duelle mit beinahe fiebriger Intensität wieder aufgenommen. Dreißig Schritte von Humbrall Taurs Zelt entfernt saß Tippa inmitten abgelegter Rüstungsteile und zog ein finsteres Gesicht. »Sie sind immer noch da drin, diese Bastarde. Lassen uns einfach hier rumsitzen, so dass wir nichts tun können, außer zuzusehen, wie diese Wilden sich gegenseitig verstümmeln. Ich glaube nicht, dass wir davon ausgehen sollten, dass schon alles vorbei ist, Blend.«

Die dunkeläugige Frau an ihrer Seite runzelte die Stirn. »Soll ich Fahrig suchen?«

»Warum ihn belästigen? Kannst du das Geächze und Gestöhne hören? Das ist unser Sergeant bei seinem Ritt mit diesem Barahn-Mädchen. Er wird in ein paar Augenblicken wieder da sein und ein zufriedenes Gesicht machen – «

»Und das Schätzchen wird einen Schritt hinter ihm hertrotten – «

»Mit einem verwirrten Gesichtsausdruck – «

»›War das alles?«‹

»Sie hat geblinzelt und hat es verpasst.«

Sie lachten kurz und gehässig. Dann wurde Tippa wieder ernst. »Ganz egal, was der Schnelle Ben zu Humbrall Taur sagt – Morgen können wir alle tot sein. Zumindest denkt das der Hauptmann, und deshalb lässt er uns heute Nacht noch ein bisschen Spaß haben …«

»›Vermummt kommt die Dämmerung …‹«

»Hm.«

»Trotter hat bei dem Kampf getan, was er tun musste«, bemerkte Blend. »Es sollte eigentlich so einfach sein.«

»Nun, ich wäre glücklicher gewesen, wenn es von Anfang an Detoran gewesen wäre. Da hätte es nicht erst beinahe ein Unentschieden oder so was gegeben. Sie hätte es diesem Bürschchen so richtig gezeigt. Nach allem, was ich gehört habe, hat unser tätowierter Barghast einfach nur dagestanden und den Bengel kommen lassen. Detoran wäre einfach vorgetreten und hätte ihm mit Leichtigkeit den Schädel eingeschlagen – «

»Nicht mit Leichtigkeit, sondern mit ’ner Keule.«

»Egal. Wie auch immer, Trotter ist einfach nicht so gemein wie sie.«

»Das ist niemand, und ich habe gerade bemerkt, dass sie immer noch nicht wieder zurück ist, seit sie diesen Gilk-Krieger in die Büsche gezerrt hat.«

»An dem hält sie sich jetzt schadlos, weil Igel sich davongemacht hat und sich versteckt. Armer Kerl – der Gilk, meine ich. Er ist wahrscheinlich schon tot.«

»Dann wollen wir hoffen, dass sie es irgendwann merkt.«

Die beiden Frauen schwiegen wieder. Die Duelle unten beim Feuer folgten schnell aufeinander, und sie wurden mit einer Wildheit ausgefochten, die mehr und mehr Barghast als Zuschauer anlockte. Tippa grunzte, während sie zusah, wie ein weiterer Krieger mit dem Messer seines Gegners in der Kehle zu Boden sank. Wenn das so weitergeht, müssen sie morgen einen neuen Grabhügel errichten. Andererseits machen sie das vielleicht sowieso – einen Grabhügel für die Brückenverbrenner. Sie schaute sich um, entdeckte hier und dort einzelne Brückenverbrenner inmitten der Stammeskrieger. Die Disziplin war zusammengebrochen. Die Hoffnung, die bei der Nachricht aufgewallt war, dass Trotter überleben würde, war genauso schnell wieder verschwunden, als das Gerücht die Runde gemacht hatte, dass die Barghast sie vielleicht trotzdem töten würden – aus reiner Bosheit.

»Die Luft fühlt sich … merkwürdig an«, meinte Blend.

Stimmt … als stünde die Nacht selbst in Flammen … als befänden wir uns inmitten eines unsichtbaren Feuersturms. Die Reifen an Tippas Arm waren heiß und wurden allmählich immer heißer. Ich werde bald mal wieder in die Wassertonne tauchen müssen – das ist zwar nur eine kurzfristige Erleichterung, aber wenigstens etwas.

»Erinnerst du dich an die Nacht im Schwarzhund-Wald?«, fuhr Blend leise fort. »Als wir auf dem Rückzug waren …«

Bei dem wir über einen Platz gestolpert sind, wo die Rhivi ihre Toten verbrannt hatten … bösartige Geister, die sich aus der Asche erhoben haben. »Oh ja, Blend, ich erinnere mich nur zu gut.« Und wenn das Geschwader Schwarzer Moranth uns nicht entdeckt hätte und runtergekommen wäre, um uns einzusammeln …

»Fühlt sich genauso an, Tippa. Hier sind irgendwelche Geister losgelassen worden.«

»Aber nicht die Großen – hier versammeln sich irgendwelche Vorfahren. Wenn es die Großen wären, würden uns längst die Haare zu Berge stehen.«

»Stimmt. Also, wo sind sie? Wo sind die schrecklichsten aller Barghast-Geister?«

»Ganz offensichtlich irgendwo anders. Und wenn uns Oponns Glück zulächelt, werden sie auch morgen nicht auftauchen.«

»Man sollte eigentlich annehmen, dass sie genau das tun. Dass sie so etwas wie das hier nicht verpassen wollen.«

»Versuch doch zur Abwechslung mal, an was Angenehmes zu denken, Blend, beim Atem des Vermummten!«

»Ich habe einfach nur so nachgedacht«, gab die andere Frau schulterzuckend zurück. »Wie auch immer«, fuhr sie fort und stand auf, »ich glaube, ich werde mal ein bisschen rumlaufen. Mal sehen, was ich so alles aufschnappen kann.«

»Du verstehst die Sprache der Barghast?«

»Nein, aber für die wirkungsvollste Verständigung braucht man manchmal gar keine Worte.«

»Du bist genauso schlimm wie die anderen, Blend. Das ist wahrscheinlich die letzte Nacht, in der wir unter den Lebenden weilen, und du ziehst los.«

»Aber darum geht es doch gerade, oder nicht?«

Tippa schaute zu, wie ihre Freundin in den Schatten verschwand. Verdammt noch mal … jetzt hast du dafür gesorgt, dass ich hier hocke und mich noch elender fühle als vorher. Woher soll ich wissen, wo die gefährlichen Barghast-Geister sind? Vielleicht warten sie einfach nur hinter irgendeinem Hügel. Bereit, morgen früh ins Freie zu hopsen und uns alle zu Tode zu erschrecken. Und woher soll ich wissen, zu welcher Entscheidung dieser Barghast-Kriegshäuptling morgen kommen wird? Ob er uns allen den Kopf tätscheln oder uns ein Messer in die Kehle rammen lassen wird?

Spindel schob sich durch die Menge und trat zu ihr. Der Gestank nach verbrannten Haaren hüllte ihn ein wie ein zweiter Umhang, und er machte ein grimmiges Gesicht. Er kauerte sich vor ihr hin. »Es läuft schlecht, Korporal.«

»Das ist ja wirklich mal was Neues«, schnappte Tippa. »Was ist?«

»Die Hälfte unserer Soldaten ist betrunken, und die andere Hälfte ist auf dem besten Wege, es ihnen nachzutun. Dass Paran und seine Kumpane in dem Zelt da verschwunden sind und nicht wieder rauskommen, wird nicht gerade als gutes Zeichen gesehen. Wenn die Morgendämmerung kommt, werden wir nicht in der richtigen Verfassung sein, irgendwas zu tun, verdammt.«

Tippa warf einen Blick zu Humbrall Taurs Zelt hinüber. Die Gestalten, die sich umrisshaft in seinem Innern abzeichneten, hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Nach einem Augenblick nickte sie sich selbst zu. »In Ordnung, Spindel. Hör auf, dir darüber Sorgen zu machen. Geh und amüsier dich ein bisschen.«

Der Mann starrte sie mit offenem Mund an. »Was meinst du mit amüsieren?«

»Ja, klar, weißt du noch, was das ist? Entspannung, Vergnügen, das Gefühl, sich wohl zu fühlen. Na los, mach schon, sie ist irgendwo da draußen, und du bist in neun Monaten sowieso nicht mehr hier. Natürlich würde es deine Chancen wahrscheinlich verbessern, wenn du dieses Haarhemd ausziehen würdest – zumindest für diese eine Nacht – «

»Das kann ich nicht machen! Was soll denn Mutter denken?«

Tippa musterte den Magier, der ein ebenso bekümmertes wie entsetztes Gesicht machte. »Spindel«, sagte sie langsam, »deine Mutter ist tot. Sie ist nicht hier, sie passt nicht auf, was du tust. Du kannst dich ruhig danebenbenehmen, Spindel. Ehrlich.«

Der Magier duckte sich, als hätte ihm eine unsichtbare Hand gerade eine Kopfnuss versetzt, und einen Augenblick dachte Tippa, sie hätte die Abdrücke von Fingerknöcheln auf seinem kahlen Schädel gesehen.

Dann trottete Spindel davon, wobei er die ganze Zeit vor sich hin murmelte und den Kopf schüttelte.

Bei den Göttern … vielleicht sind alle unsere Vorfahren hier! Tippa schaute sich mit finsterem Blick um. Komm mir zu nahe, Paps, und ich schlitze dir deine verdammte Kehle auf, genauso wie ich es beim ersten Mal getan habe, beim Vermummten …

 

Mit vor Erschöpfung rot geränderten Augen trat Paran aus dem Zelteingang. Der Himmel war grau und leuchtete schwach. Nebel und der Rauch der Holzfeuer hingen reglos im Tal. Die einzige Bewegung, die er wahrnehmen konnte, stammte von einer Hundemeute, die einen Hügelkamm entlang rannte.

Und doch sind sie wach. Sind sie alle hier. Die eigentliche Schlacht ist geschlagen, und nun stehen hier vor mir die dunklen Halbgötter der Barghast – ich kann sie beinahe sehen –, und blicken der Morgendämmerung entgegen … zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren blicken sie der irdischen Morgendämmerung entgegen.

Eine Gestalt gesellte sich zu ihm. Paran warf einen Blick zur Seite. »Und?«

»Die Älteren Geister der Barghast haben Fäustel verlassen«, sagte der Schnelle Ben. »Der Heiler schläft jetzt. Könnt Ihr sie spüren, Hauptmann? Die Geister, meine ich. Alle Barrieren sind niedergerissen worden, die Alten haben sich mit ihren jüngeren Verwandten vereint. Das vergessene Gewirr ist nicht mehr vergessen.«

»Das ist ja alles sehr schön«, murmelte Paran. »Aber wir müssen immer noch eine Stadt befreien. Was geschieht, wenn Taur das Banner des Krieges erhebt und seine Rivalen sich weigern, ihm zu folgen?«

»Das werden sie nicht tun. Das können sie nicht tun. Jeder Schultermann der Weißgesichter wird die Veränderung bemerken, wenn er erwacht, wird bemerken, was da plötzlich sprießt. Außerdem werden die Geister dafür sorgen, dass bekannt wird, dass ihre Herren – die wahren Götter der Barghast – in Capustan gefangen sind. Die Gründergeister sind erwacht. Die Zeit ist gekommen, sie zu befreien.«

Der Hauptmann musterte den Magier an seiner Seite einen Augenblick, und fragte dann: »Hast du gewusst, dass die Moranth mit den Barghast verwandt sind?«

»Mehr oder weniger. Es mag Taur nicht gefallen – und die Stämme werden aufheulen –, aber wenn die Geister selbst Twist und sein Volk in die Arme geschlossen haben …«

Paran seufzte. Ich muss schlafen. Aber ich kann nicht. »Ich rufe jetzt wohl besser die Brückenverbrenner zusammen.«

»Trotters neuen Stamm«, meinte der Schnelle Ben grinsend.

»Und warum kann ich ihn dann schnarchen hören?«

»Er kennt sich mit Verantwortung nicht aus, Hauptmann. Ihr werdet ihm alles beibringen müssen.«

Ihm was beibringen? Wie man mit der Bürde lebt, Befehle erteilen zu müssen? Das ist etwas, das ich selbst nicht schaffe. Ich brauche nur in Elsters Gesicht zu sehen, um zu verstehen, dass niemand das schafft – zumindest niemand, der ein Herz hat. Wir lernen nur eins: Die Fähigkeit, unsere Gedanken zu verbergen, unsere Gefühle zu tarnen, unsere Menschlichkeit tief in unseren Seelen zu vergraben. Und das kann nicht gelehrt, sondern nur vorgemacht werden.

»Geh und weck den Bastard«, grollte Paran. »Ja, Hauptmann.«

 

Kapitel Zwölf

 

Im Herzen des Berges wartete sie,

und träumte von Frieden; so eng war sie

um ihren Kummer geschlungen, als er sie fand,

und die Suche des Mannes war vorbei,

und er nahm jede ihrer Narben auf sich,

denn die Umarmung der Macht ist eine Liebe,

die verwundet.

 

Der Aufstieg der Domäne

Scintalla von Bastion (1129-1164)

 

D

ie Bergfeste von Wacht, die direkt am Rande des Sees stand, hatte bei Sonnenuntergang die Farbe von mit Wasser verdünntem Blut. Kondore, doppelt so groß wie die Großen Raben, umkreisten sie, die mit Halsbändern versehenen Hälse gekrümmt, während sie die Menschen musterten, die inmitten einer zur Erde herabgesunkenen Sternenlandschaft aus Lagerfeuern um den Fuß der Feste herumwimmelten.

Der einäugige Tenescowri, der einst Kundschafter in Einarms Heer gewesen war, verfolgte ihren Flug mit gebannter Konzentration, als ließen sich aus den Bewegungen der dahinfliegenden Kondore vor dem dunkler werdenden Himmel irgendwelche göttlichen Botschaften ablesen. Er war wahrhaftig in den Glauben aufgenommen worden, darin waren sich alle einig, die ihn vom Sehen kannten. Die Unermesslichkeit der Domäne hatte ihn seit jenem Tag in Bastion vor drei Wochen mit Stummheit geschlagen. Von Anfang an hatte in seinem einen Auge ein wilder Hunger geleuchtet, ein uraltes Feuer, das immer lauter von Wölfen flüsterte, die durch die Dunkelheit trotteten. Man erzählte sich, dass Anaster persönlich, der Erste unter den Kindern des Toten Samens, den Mann bemerkt hatte, dass er ihn sogar während des langen Marsches in sein Gefolge aufgenommen hatte, bis dem einäugigen Tenescowri schließlich ein Pferd gegeben worden war, und er mit Anasters Leutnants an der Spitze der menschlichen Flutwelle ritt.

Natürlich wechselten die Gesichter in Anasters Kompanie von Leutnants mit brutaler Regelmäßigkeit.

Jetzt wartete die formlose, hungernde Armee zu Füßen des Pannionischen Sehers. Bei Anbruch der Morgendämmerung würde er auf einem Balkon von Wachts zentralem Turm erscheinen und seine Hände zum heiligen Segen erheben.

Das bestialische Geheul, das als Antwort auf seinen Segen zu ihm aufsteigen würde, würde einen geringeren Mann zerbrechen lassen, der Seher jedoch mochte zwar alt sein, doch er war kein gewöhnlicher Mann. Er war die Verkörperung Pannions, des Gottes, des einzigen Gottes.

Wenn Anaster die Armee der Tenescowri nach Norden führte, zum Fluss und darüber hinaus bis nach Capustan, würde er in sich die Macht tragen, die der Seher war. Und der Feind, der sich versammelt hatte, um sich ihnen entgegenzustellen, würde geschändet, verschlungen, vom Angesicht der Erde getilgt werden. In den Köpfen der Hunderttausend gab es keinen Zweifel. Nur Gewissheit, ein rasiermesserscharfes eisernes Schwert im Griff eines unaufhörlichen, verzweifelten Hungers.

Der einäugige Mann starrte noch immer zu den Kondoren hinauf, während das Licht immer schwächer wurde. Vielleicht, so flüsterten einige, stand er mit dem Seher persönlich in Verbindung, und sein Blick war gar nicht auf die kreisenden Vögel, sondern auf die Festung von Wacht gerichtet.

Dies war der Wahrheit so nahe, wie es den Bauern nur möglich war. In Wirklichkeit studierte Toc der Jüngere die hoch aufragende Befestigungsanlage, ein altmodisches Kloster, das durch militärische Anbauten wie zinnenbewehrte Brustwehre, Mauern für Flankenfeuer, gewaltige Torhäuser und Gräben mit steilen Wänden erweitert worden war und jetzt verzerrt und missgestaltet wirkte. Die Arbeiten dauerten immer noch an; die Steinmetze und Baumeister hatten ganz eindeutig die Absicht, auch während der Nacht unter hoch aufragenden Kohlepfannen mit tanzenden Flammen durchzuarbeiten.

Oh ja, beeilt euch mit diesen letzten verzweifelten Verbesserungen. Spüre, was du spürst, alter Mann. Es ist ein neues Gefühl für dich, aber es ist eines, das wir anderen sehr gut kennen. Man nennt es Furcht. Die sieben K’ell-Jäger, die du gestern nach Süden geschickt hast, die auf der Straße an uns vorbeigeschritten sind … sie werden nicht zurückkommen. Und das magische Feuer, das du nachts am südlichen Himmel aufblitzen siehst … es kommt näher. Unerbittlich.

Der Grund ist eigentlich ganz einfach – du hast die liebe Lady Missgunst verärgert. Und wenn sie wütend ist, ist sie gar nicht nett. Hast du Bastion einen Besuch abgestattet, nachdem das Gemetzel stattgefunden hat? Hast du deine Lieblings-Urdomen hingeschickt, damit sie mit einem detaillierten Bericht zurückkommen? Hat dieser Bericht deine Knie weich werden lassen? Das sollte er eigentlich tun. Denn du müsstest von ihnen erfahren haben – von der Wölfin und dem Hund, beide riesengroß und stumm, die in die Menschenmenge gestürmt sind und sie zerrissen haben. Von dem T’lan Imass, dessen Schwert wie ein rostfarbener Schemen durch deine hoch gerühmten Elitekrieger gefetzt ist. Und von den Seguleh, oh ja, den Seguleh. Der Strafarmee aus drei Kriegern, die gekommen ist, um deiner Arroganz die passende Antwort zu erteilen …

Der Schmerz in Tocs Magen hatte nachgelassen; der Knoten aus Hunger hatte sich zusammengezogen, war geschrumpft und zu einem beinahe gefühllosen Kern des Verlangens geworden; eines Verlangens, das seinerseits gehungert hatte. Seine Rippen zeichneten sich scharf und deutlich unter der gespannten Haut ab. Sein Bauch war aufgetrieben. Seine Gelenke schmerzten unaufhörlich, und er spürte, dass seine Zähne sich lockerten. Der einzige Geschmack, den er in diesen Tagen kannte, war der von irgendwelchen Abfällen, die ihm gelegentlich in die Hände fielen, und die malzige Bitterkeit seines eigenen Speichels, der dann und wann von abgestandenem, mit ein bisschen Wein versetztem Wasser aus den Fässern auf den Wagen weggespült wurde, oder auch – sehr viel seltener – mit einem Krug Bier, das für die wenigen Günstlinge des Ersten Kindes reserviert war.

Tocs Kameraden, die anderen Leutnants – und auch Anaster selbst – waren gut genährt. Sie nahmen die zahllosen Leichen gerne an, die der Marsch gefordert hatte und immer noch forderte. Ihre kochenden Kessel waren immer voll. Die Belohnung der Mächtigen.

Die Metapher ist zur Realität geworden – ich kann meine alten, zynischen Lehrer nicken sehen. Hier, unter den Tenescowri, trübt nichts die brutale Wahrheit. Unsere Herrscher verschlingen uns. Sie haben es immer getan. Wie konnte ich nur jemals glauben, dass es anders wäre? Früher war ich Soldat. Ich habe den Willen eines anderen gewaltsam durchgesetzt.

Er hatte sich verändert, das war eine Wahrheit, die er leicht erkennen konnte. Seine Seele war zerrissen von dem Grauen, das er überall um sich herum sah, der schieren, aus Hunger und Fanatismus geborenen Amoralität, und so war er neu geformt worden, war fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt und zu etwas Neuem gemacht worden. Die Auslöschung des Glaubens – jeden Glaubens, besonders jedoch des Glaubens an das Gute in seinen Mitmenschen – hatte ihn kalt, hart und barbarisch gemacht.

Und doch würde er kein menschliches Fleisch essen. Da ist es immer noch besser, mich von innen zu verzehren, meine eigenen Muskeln zu verbrauchen, Schicht um Schicht, und alles aufzulösen, was ich einmal war. Dies ist die letzte Aufgabe, die noch vor mir liegt, und sie hat bereits begonnen. Doch er fing allmählich an, eine tiefere Wahrheit zu erkennen: Sein Widerstand bröckelte. Nein, schlag dir diesen Gedanken aus dem Kopf.

Er hatte keine Ahnung, was Anaster in ihm gesehen hatte. Toc spielte den Stummen, er war derjenige, der dem geschenkten Fleisch trotzte, er bot der Welt nichts weiter als seine Gegenwart, die Schärfe seines einen Auges – das alles sah, was gesehen werden konnte –, und doch hatte der Erste ihn entdeckt, irgendwie, inmitten der Massen, hatte ihn hervorgezerrt und ihm den Posten eines Leutnants gegeben.

Aber ich befehlige niemanden. Habe nichts mit Taktik und Strategie zu tun, den endlosen Schwierigkeiten, eine Armee zu führen und zu verwalten, selbst wenn sie so anarchistisch ist wie diese hier. Ich nehme schweigend an den Treffen mit Anaster und den anderen teil. Ich werde nicht nach meiner Meinung gefragt. Ich erstatte keinen Bericht. Was will dieser Mann von mir?

Tief unter der betäubten Oberfläche wirbelten noch immer misstrauische Gedanken. Er fragte sich, ob Anaster irgendwie wusste, wer er war. Würde er schon bald dem Seher übergeben werden? Es war durchaus möglich – in der Welt, die hier entstanden war, war alles möglich. Wirklich alles. Die Realität an sich hatte auf ihre Regeln verzichtet – hier, wo die Lebenden von den Toten empfingen. Toc hatte die wilde Liebe in den Augen der Frauen gesehen, wenn sie einen sterbenden Gefangenen bestiegen, die auflodernde Hoffnung, dass sie den letzten Samen des Leichnams in sich aufnehmen würden, der dem Körper entfloh, als suche das sterbende Fleisch selbst nach einer letzten Möglichkeit, der Endgültigkeit des Vergessens zu entgehen – noch in dem Augenblick, da die Seele in Dunkelheit ertrank. Und es ist Liebe, nicht Lust. Diese Frauen haben ihr Herz an den Augenblick des Todes gehängt. Sollte der Samen keimen …

Anaster war der Älteste der ersten Generation. Ein blasser, schlaksiger Junge mit gelbfleckigen Augen und strähnigen schwarzen Haaren, der die riesige Armee vom Rücken seines alten Gauls aus führte. Sein Gesicht war von einer unmenschlichen Schönheit, als wohne hinter der perfekten Maske keine Seele. Frauen und Männer jeden Alters kamen zu ihm, bettelten um seine sanfte Berührung, doch er verweigerte sich ihnen allen. Nur seine Mutter ließ er an sich heran, damit sie ihm über die Haare streichen oder ihre runzlige, von der Sonne gebräunte Hand auf seine Schulter legen konnte.

Toc fürchtete sie mehr als alle anderen, mehr als Anaster und seine willkürliche Grausamkeit, mehr als den Seher. Etwas Dämonisches leuchtete aus ihren Augen. Sie war die Erste gewesen, die einen sterbenden Mann bestiegen und dabei zunächst die Nachtschwüre der ersten Nacht eines jung verheirateten Paares geschrien und dann wie eine Witwe gejammert hatte, als der Mann unter ihr gestorben war. Eine Geschichte, die oft erzählt worden war, für die es eine Vielzahl von Zeugen gab. Andere Frauen der Tenescowri kamen in Scharen zu ihr. Vielleicht war es die Art, wie sie Macht über einen hilflosen Mann ausgeübt hatte; vielleicht war es ihr dreister Diebstahl des unfreiwillig verströmten Samens; vielleicht war der Wahnsinn auch einfach nur ansteckend und breitete sich von einer zur anderen aus.

Auf ihrem Marsch von Bastion hierher war die Armee an einem Dorf vorbeigekommen, das sich der Umarmung des Glaubens verweigert hatte. Toc hatte zugesehen, wie Anaster seine Mutter und ihre Gefolgsleute auf den Weiler losgelassen hatte, hatte zugesehen, als sie sich Männer und Jungen gleichermaßen vorgenommen, mit ihren Messern tödliche Stiche ausgeteilt hatten und dann in einer Art und Weise über die Leichen geschwärmt waren, wie es die schlimmsten Bestien nicht gekonnt hätten. Und die Gedanken, die er damals gehabt hatte, waren nun tief in seine Seele eingegraben. Sie waren einst menschlich, diese Frauen. Sie haben in Städten und Dörfern gelebt, die sich nicht von diesem hier unterschieden haben. Sie waren Ehefrauen und Mütter, die sich um ihr Heim und ihr Vieh gekümmert haben. Sie haben getanzt, und sie haben geweint, sie waren fromm und haben voller Respekt die alten Götter geehrt. Sie haben ein ganz normales Leben geführt.

In dem Pannionischen Seher und dem Gott, der durch ihn sprach, war irgendein Gift. Ein Gift, das aus Familienerinnerungen geboren schien. Erinnerungen, die stark genug waren, um die ältesten aller Bande zu lösen. Vielleicht ein betrogenes Kind. Ein Kind, das an der Hand geführt wurde … mitten hinein in Entsetzen und Schmerz. Genauso fühlt es sich an – all das, was ich hier um mich herum sehe. Anasters Mutter, zu etwas Bösartigem neu geformt, auf der Folterbank in eine albtraumhafte Rolle hineingeboren. Eine Mutter, die keine Mutter mehr ist, ein Eheweib, das kein Eheweib mehr ist, eine Frau, die keine Frau mehr ist.

Schreie stiegen in die Luft und verkündeten das Auftauchen einer Gruppe von Reitern, die aus dem Tor an der Rampe von Wachts äußerer Mauer hervorkamen. Toc drehte den Kopf, musterte die Besucher, während sie im immer düsterer werdenden Zwielicht näher kamen. Bewaffnet und gerüstet. Ein Urdo-Kommandant, flankiert von zwei Domänensern, und in ihrem Gefolge ritt eine Truppe aus Urdomen, immer drei nebeneinander und sieben hintereinander.

Und hinter den Truppen kam ein K’ell-Jäger.

Eine Geste von Anaster beorderte seine Leutnants auf den kleinen Hügel, den er sich als Hauptquartier ausgesucht hatte. Unter ihnen befand sich auch Toc der Jüngere.

Das Augenweiß des Ersten hatte die Farbe von Honig, seine Pupillen waren von einem trüben Schiefergrau. Fackellicht erhellte sein alabasterfarbenes Gesicht, ließ seine vollen Lippen merkwürdig rot erscheinen. Er war wieder auf sein großes, müdes Reittier gestiegen und hockte nun in sich zusammengesunken ohne Sattel auf dem breiten Pferderücken. Er musterte seine Offiziere. »Es gibt Neuigkeiten«, krächzte er.

Toc hatte ihn noch niemals lauter sprechen hören. Vielleicht konnte der Bursche auch gar nicht laut werden, vielleicht war er mit einem Fehler am Kehlkopf oder der Zunge geboren worden. Vielleicht war es aber auch nur niemals notwendig gewesen.

»Der Seher und ich haben im Geist miteinander gesprochen, und nun weiß ich mehr als selbst die Höflinge in den heiligen Mauern von Wacht. Septarch Ultentha von Korall ist zum Seher gerufen worden, was zu vielen Spekulationen Anlass gegeben hat.«

»Was gibt es Neues von der Nordgrenze, Glorreicher Erster?«, fragte einer der Leutnants.

»Die Belagerung hat bereits begonnen, meine Kinder. Ich fürchte, wir werden zu spät kommen, um am Sturm auf Capustan teilzunehmen.«

Die Leutnants holten zischend Luft.

Ich fürchte, unser Hunger wird nicht enden. Das war die wahre Bedeutung von Anasters Worten.

»Es heißt, Kaimerlor, ein großes Dorf im Osten, hat sich der Umarmung verweigert«, sagte ein anderer Offizier. »Glorreicher Erster, vielleicht – «

»Nein«, krächzte Anaster. »Jenseits von Capustan warten die Barghast. Zu Hunderttausenden, sagt man. Untereinander zerstritten. Schwach im Glauben. Wir werden alles finden, was wir brauchen, meine Kinder.«

Wir werden es nicht schaffen. Toc wusste dies mit Sicherheit, genau wie die anderen. Doch niemand sagte etwas.

Anasters Blicke hingen an den näher kommenden Soldaten. »In der Zwischenzeit«, sagte er, »hat der Seher für uns ein Geschenk vorbereitet. Ihm ist unser Mangel an Nahrung bekannt. Es scheint«, fuhr er unbarmherzig fort, »dass die Bürger von Korall … für ungenügend befunden wurden. Dies ist die Wahrheit hinter all den Spekulationen. Wir brauchen nur noch die ruhigen Wasser des Ortnal-Grabens zu überqueren, um unsere Bäuche füllen zu können, und der Urdo, der dort kommt, wird uns die Nachricht überbringen, dass Barkassen auf uns warten – genug, um uns alle zu tragen.«

»Dann«, grollt einer der Leutnants, »werden wir schmausen.«

Anaster lächelte.

Schmausen. Oh Vermummter, hol mich zu dir, bitte … Toc konnte spüren, wie die Begierde in ihm aufstieg, ein greifbares Verlangen, das ihn, wie er begriff, besiegen würde, seine Verteidigung zerschmettern würde. Ein Festschmaus – bei den Göttern, was habe ich für einen Hunger!

»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr der Erste nach einem Augenblick fort. »Der Urdo hat noch einen zweiten Auftrag.« Die widerwärtigen Augen des Jungen richteten sich auf Toc den Jüngeren. »Der Seher wünscht die Anwesenheit des Trotzenden, des Mannes mit dem einen Auge – ein Auge, das sich Nacht um Nacht auf unserer Reise von Bastion hierher langsam verändert hat, obwohl ich annehme, dass er selbst das gar nicht weiß. Der Trotzende soll Gast des Sehers sein. Der Trotzende mit seinem Wolfsauge, das in der Dunkelheit funkelt. Er wird diese außergewöhnlichen Steinwaffen nicht brauchen – ich werde persönlich für ihre Sicherheit sorgen.«

Rasch wurden Toc seine Pfeile mit den Obsidianspitzen und der Dolch abgenommen und Anaster ausgehändigt.

Die Soldaten erreichten die Hügelkuppe.

Toc ging zu ihnen hinüber, fiel vor dem Pferd des Urdo auf die Knie.

»Er ist geehrt«, sagte Anaster. »Nehmt ihn mit.«

Und Toc war wirklich dankbar, ein Strom der Erleichterung schoss durch seine verwässerten Adern. Er würde die Mauern von Korall nicht sehen, er würde auch die Bürger von Korall nicht sehen, wie sie zu Zehntausenden in Stücke gerissen wurden, er würde nicht sehen, wie sie vergewaltigt wurden, er würde auch sich selbst nicht sehen, in der Menge, die dem Fleisch entgegeneilte, das ihre rechtmäßige Belohnung war …

 

Arbeiter schwärmten über die im Entstehen begriffene Brustwehr der Zufahrt, staub- und dreckverschmierte Gestalten, die vom Feuerschein dämonisch angestrahlt wurden. Toc stolperte hinter dem Schlachtross des Urdo her und beobachtete ihre hektischen Anstrengungen mit einer Gleichgültigkeit, die von seiner Erschöpfung herrührte.

Steine, Erde und Holz waren dürftige Hindernisse für die Zauberei von Lady Missgunst, die er in Bastion entfesselt gesehen hatte. Wie in alten Legenden gebot sie über eine Macht, die in breiten Wogen dahinströmte und allem, worüber sie hinwegglitt, das Leben raubte, und so Reihe um Reihe ihrer Feinde verschlang, Straße um Straße, und Hunderte von Leichen zurückließ. Aber schließlich war sie auch die Tochter von Draconus – einem Älteren Gott –, wie er sich selbst mit einer Art wildem Stolz in Erinnerung rief.

Der Pannionische Seher hatte ihr Zauberer in den Weg gestellt, hatte Toc seither gehört, doch ihnen war es nicht besser ergangen.

Sie schob ihre Bemühungen mit einem Schulterzucken beiseite, schwächte ihre Macht und überließ sie dann Garath und Baaljagg. K’Chain Che’Malle versuchten sie zu packen, nur, um von einer Woge von Zauberei vernichtet zu werden. Der Hund namens Garath machte Jagd auf diejenigen, die Lady Missgunst entgingen, wobei er meist allein unterwegs war, manchmal jedoch auch zusammen mit Baaljagg. Beide waren schneller als die untoten Jäger, so hieß es, und weitaus klüger. Drei offene Feldschlachten hatten stattgefunden, in denen Legionen von pannionischen Betakliten, unterstützt von den berittenen Betakullid und von Scalandi-Plänklern, wie auch von Magier-Kadern – die in der Domäne anders genannt wurden, jedoch die gleiche Aufgabe hatten –, genauso gegen die Hand voll ihrer Feinde angetreten waren, wie sie sich einer feindlichen Armee entgegengestellt hätten. Diese Schlachten bildeten die Grundlage für die geflüsterten Geschichten von dem T’lan Imass – eine Kreatur, über die die Pannionier nichts wussten und die sie Steinschwert nannten – und die Seguleh, die in den ersten beiden Schlachten zu zweit gewesen waren, während in der letzten noch ein dritter erschienen war. Steinschwert hielt die eine Flanke, die Seguleh die andere. Lady Missgunst stand im Zentrum, während Garath und Baaljagg wie zwei struppige Mäntel aus Dunkelheit herumrannten, wo sie wollten.

Drei Schlachten, drei zerschmetterte Armeen, Tausende von Toten; der Rest hatte zu fliehen versucht, doch er war stets von Lady Missgunsts unerbittlichem Zorn eingeholt worden.

Du bist genauso schrecklich wie der Pannionische Seher, meine Freundin mit dem lieblichen Gesicht. Genauso schrecklich … und genauso Furcht erregend. Tool und die Seguleh ehren den Rückzug derjenigen, die sich ihnen entgegenstellen; sie sind zufrieden damit, das Schlachtfeld zu beherrschen. Selbst die Wölfin und der Hund geben die Verfolgung nach kurzer Zeit auf. Missgunst jedoch nicht. Das ist keine besonders kluge Strategie – jetzt, da der Feind weiß, dass ein Rückzug unmöglich ist, werden sie stehen bleiben und kämpfen. Die Seguleh sind nicht unverwundbar, genauso wenig wie Garath und Baaljagg. Selbst Tool ist schon unter rasenden Schwertkämpfern begraben worden, obwohl er einfach zu Staub zerfällt und woanders wieder auftaucht. Ein Angriff von Lanzenreitern kam bis auf ein Dutzend Schritte an Lady Missgunst heran. Der nächste, gut gezielte Speer …

Er bedauerte es nicht, dass er sie verlassen hatte. Er hätte in ihrer Gesellschaft nicht lange überlebt.

Als sie sich den Befestigungen des äußeren Tors näherten, sah Toc Domänenser auf der Brustwehr, ungeschlacht und schweigend. Schon in Trupps von einem halben Dutzend waren sie Furcht erregend, und hier gab es Dutzende. Sie könnten vielleicht mehr tun, als den Vormarsch der Seguleh nur verlangsamen. Sie könnten sie vielleicht sogar aufhalten. Dies ist die letzte Verteidigungslinie des Sehers …

Eine einzige Rampe, steil und mit fast senkrechten Seitenwänden, führte zum inneren Tor von Wacht hinauf. In den Gräben zu beiden Seiten lagen menschliche Knochen. Sie stiegen die Rampe hinauf. Hundert Schritte später gingen sie unter dem Torbogen hindurch. Der Urdo entließ seine Männer, damit sie ihre Pferde in die Ställe bringen konnten und stieg dann ab. Von Domänensern flankiert, beobachtete Toc, wie der K’ell-Jäger mit dröhnenden Schritten durch den Torbogen stapfte; seine mit Klingen versehenen Arme hingen lose herab. Einen Augenblick lang richtete er leblose Augen auf den Malazaner und trottete dann davon, einen unbeleuchteten, überdachten Korridor entlang, der parallel zur Mauer verlief.

Der Urdo schob das Visier seines Helms hoch. »Trotzender, zu deiner Linken ist der Eingang zum Turm des Sehers. Er erwartet dich dort. Geh.«

Vielleicht bin ich doch kein Gefangener. Vielleicht bin ich nichts weiter als eine Kuriosität. Toc verbeugte sich vor dem Offizier und stolperte dann erschöpft auf die offen stehende Tür zu. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass der Seher weiß, dass er von mir nichts zu befürchten hat. Ich befinde mich bereits im Schatten des Vermummten. Lange wird es nicht mehr dauern.

Ein hohes Gemach füllte das gesamte Erdgeschoss des Turms aus, die Decke ein chaotisches, hängendes Labyrinth aus Strebepfeilern und Bögen sowie echten und unechten Gewölben. In der Mitte hing eine skelettartige Wendeltreppe aus Bronze herunter, die eine Handbreit über dem Fußboden schwebte und sich langsam und knirschend im Kreis drehte. Das Zimmer wurde nur von einer einzigen Kohlenpfanne erleuchtet, die vor der dem Eingang gegenüberliegenden Wand stand, so dass der ganze Raum im Zwielicht lag; trotzdem hatte Toc keinerlei Schwierigkeiten, die schmucklosen Steinblöcke wahrzunehmen, aus denen die Wände bestanden, ebenso wie die Tatsache, dass es keinerlei Möbel gab, was Echos um ihn herumtanzen ließ, als er den gefliesten Fußboden überquerte und dabei durch flache Pfützen trottete.

Er legte eine Hand auf das Geländer der Treppe. Das gewaltige, von oben herabhängende Gebilde zog ihn unwiderstehlich nach einer Seite, während es weiterrotierte, brachte ihn ins Stolpern. Er schnitt eine Grimasse und zog sich auf die unterste Stufe. Ich halte jede Wette, dass der Bastard ganz oben ist, in einem schwankenden Raum. Mein Herz wird sich wahrscheinlich auf halbem Weg verabschieden. Und dann wird er da oben sitzen und darauf warten, dass jemand zu einer Audienz erscheint, die niemals stattfinden wird. Nun, das ist doch ein Witz, der selbst den Vermummten zum Lachen bringen dürfte. Er begann, die Treppe hinaufzusteigen.

Zweiundvierzig Stufen später hatte er das nächste Stockwerk erreicht. Toc ließ sich auf die kalte Bronze sinken, mit der der Treppenabsatz verkleidet war. Seine Beine brannten, und die Welt um ihn herum schwankte widerwärtig, wie betrunken. Er legte schweißnasse Hände auf die sandige, mit Kies bestreute Oberfläche der Metallplatte und versuchte blinzelnd seinen Blick zu klären.

Der Raum, der ihn umgab, war unbeleuchtet, doch sein eines Auge konnte jede Einzelheit erkennen: die offenen Regale voller Folterwerkzeuge, die niedrigen Bettgestelle aus fleckigem Holz, das Bündel aus dunklen, steifen Lumpen vor einer Wand, und – menschliche Häute, die wie die Wandteppiche eines wahnsinnigen Künstlers die Wände bedeckten. Sie waren vollständig, bis hin zu Fingerspitzen und Nägeln, aufgespannt in Form grässlicher, übergroßer menschlicher Gestalten, die Gesichter flach und der raue Stein der Wände dort, wo einst die Augen gewesen waren. Nasenlöcher und Münder waren zugenäht, das Haar zu einer Seite gezogen und locker verknotet.

Wogen des Abscheus brandeten über Toc hinweg; sie ließen ihn erschauern, raubten ihm die letzten Kräfte. Er wollte schreien, wollte seinem Entsetzen Ausdruck verleihen, doch er konnte nur keuchen. Zitternd zog er sich am Geländer hoch, starrte die sich windende Spirale der Stufen hinauf, begann höher zu steigen.

Räume glitten an ihm vorbei, Szenen, die in grauer Ungewissheit verschwammen, während er die scheinbar endlose Treppe hinaufstieg. Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Der Turm, der jetzt im Wind schwankte und an allen Ecken und Enden knirschte und ächzte, war zum Aufstieg seines ganzen Lebens geworden, war das, wozu er geboren worden war, die einzige Aufgabe eines Sterblichen. Kaltes Metall, Stein, schwach erleuchtete Räume, die auftauchten und wieder versanken wie kraftlose Sonnen, die vorüberzogen, das Vergehen von Aeonen, Zivilisationen, die geboren wurden und starben, und alles, was dazwischen lag, war nichts weiter als die Illusion von Ruhm.

Er fieberte. Sein Geist stürzte sich in Abgründe, in einen nach dem anderen, taumelte immer tiefer in die Quelle des Wahnsinns, während sein Körper sich emporhangelte, Schritt um Schritt. Oh Vermummter, komm endlich und finde mich. Hol mich hier weg, aus den kranken Fängen dieses Gottes, beende diese schändliche Entwürdigung – wenn ich ihm schließlich gegenüberstehe, werde ich nichts sein -

»Die Stufen sind zu Ende«, rief ihm eine alte, hohe zitternde Stimme zu. »Heb deinen Kopf, ich möchte dieses beängstigende Gesicht sehen. Du hast keine Kraft? Erlaube mir …«

Ein Wille sickerte in Tocs Körper, die Lebenskraft eines Fremden, die jeden Muskel mit Gesundheit und Stärke erfüllte. Nichtsdestotrotz schmeckte diese Kraft widerlich und schal. Toc stöhnte, kämpfte dagegen an, doch sein Trotz verließ ihn. Während sein Atem wieder gleichmäßiger ging und sein Herzschlag sich beruhigte, hob er den Kopf. Er kniete auf dem letzten Absatz aus gehämmerter Bronze.

Auf einem hölzernen Stuhl hockte zusammengekauert und verkrümmt eine vertrocknete Gestalt; die Augen des alten Mannes leuchteten flackernd, als wäre ihre Oberfläche nichts weiter als der dünne Überzug zweier Papierlaternen, fleckig und zerrissen. Der Pannionische Seher war ein Leichnam, doch dieser Leichnam wurde von einer Kreatur bewohnt und von ihr belebt – einem Wesen, das Toc als geisterhafte, vage menschenähnliche Ausdünstung von Macht wahrnehmen konnte.

»Ah, jetzt kann ich es sehen«, sagte die Stimme, obwohl der Mund des Mannes sich nicht bewegte. »Tatsächlich, das ist nicht das Auge eines Menschen. Es ist wirklich das Auge eines Wolfs. Sehr außergewöhnlich. Es heißt, dass du nicht sprichst. Wirst du es jetzt tun?«

»Wenn Ihr es wünscht«, sagte Toc. Seine Stimme, die er so lange nicht benutzt hatte, klang rau; es war selbst für ihn ein Schock.

»Ich bin erfreut. Ich bin es so müde, mir selbst zuzuhören. Dein Akzent ist mir nicht vertraut. Du bist ziemlich sicher kein Bürger von Bastion.«

»Ich bin Malazaner.«

Der Leichnam knirschte, als er sich vorbeugte, die Augen leuchteten heller. »Tatsächlich. Ein Kind jenes weit entfernten, gewaltigen Imperiums. Doch du bist aus dem Süden gekommen, während meine Spione mich informiert haben, dass die Armee deiner Brüder und Schwestern von Fahl aus losmarschiert ist. Wie kommt es also, dass du dich so verirrt hast?«

»Ich weiß nichts von dieser Armee, Seher«, erwiderte Toc. »Ich bin jetzt ein Tenescowri. Das ist alles, was zählt.«

»Eine kühne Behauptung. Wie heißt du?«

»Toc der Jüngere.«

»Lass uns die Sache mit der malazanischen Armee einen Augenblick zurückstellen, ja? Der Süden ist bis vor kurzem ein Ort gewesen, von dem keine Gefahr für mein Reich ausgegangen ist. Aber das hat sich geändert. Ich bin verärgert über eine neue, hartnäckige Bedrohung. Diese … Seguleh … und eine beunruhigende, wenn auch gnädigerweise kleine Zahl von Verbündeten. Sind das deine Freunde, Toc der Jüngere?«

»Ich habe keine Freunde, Seher.«

»Noch nicht einmal unter deinen Kameraden, den anderen Tenescowri? Was ist mit Anaster, dem Ersten Kind, der eines Tages eine ganze Armee aus Kindern des Toten Samens anführen wird? Er hat bemerkt, dass du etwas … Einzigartiges bist. Und was ist mit mir? Bin ich nicht dein Lord? War nicht ich es, der dich umarmt hat?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Toc schwerfällig, »wer von Euch es war, der mich umarmt hat.«

Das Wesen und der Leichnam zuckten bei diesen Worten gleichermaßen zurück, ein Verschwimmen von Formen, das Tocs Auge schmerzen ließ. Zwei Wesen, eines davon ist lebendig und versteckt sich hinter dem toten. Macht schwoll an, bis es schien, als würde der alte Leichnam sich auflösen. Die Gliedmaßen zuckten krampfhaft. Nach einem Augenblick wurde der wilde Ausbruch schwächer, und der Leichnam war wieder still. »Das ist mehr als das Auge eines Wolfs, wenn du so klar sehen kannst, was bisher sonst niemand wahrnehmen konnte. Oh, Zauberer haben ihr Augenmerk auf mich gerichtet, umspült von der Macht ihrer gerühmten Gewirre, und sie haben nichts Ungewöhnliches gesehen. Meine Täuschung war niemals wirklich in Gefahr. Aber du …«

Toc zuckte die Schultern. »Ich sehe, was ich sehe.«

»Mit welchem Auge?«

Er zuckte erneut die Schultern. Auf diese Frage hatte er keine Antwort.

»Aber wir haben gerade von Freunden gesprochen, Toc der Jüngere. In meiner heiligen Umarmung fühlt sich ein Sterblicher nicht allein. Anaster, das erkenne ich jetzt, wurde getäuscht.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich mich allein fühle, Seher. Ich habe gesagt, dass ich keine Freunde habe. Unter den Tenescowri bin ich eins mit Eurem heiligen Willen. Doch denkt an die Frau, die an meiner Seite geht, oder das erschöpfte Kind, das ich trage, oder die Männer um mich herum … sollten sie sterben, werde ich sie verschlingen. In solch einer Gesellschaft kann es keine Freundschaft geben, Seher. Da gibt es nur Dinge, die möglicherweise als Nahrung dienen können.«

»Und doch willst du nicht essen.«

Toc sagte nichts.

Der Seher beugte sich noch einmal vor. »Aber jetzt würdest du essen, stimmt’s?«

Und so umhüllt mich der Wahnsinn wie ein warmer Umhang. »Wenn ich es tun muss, um zu überleben.«

»Und ist es wichtig für dich, zu überleben, Toc der Jüngere?«

»Ich weiß es nicht, Seher.«

»Dann lass es uns doch herausfinden, ja?« Ein runzliger Arm hob sich. Magie waberte in der Luft vor Toc. Vor dem Malazaner nahm ein kleiner Tisch Gestalt an, hoch beladen mit dampfenden Scheiben gebratenen Fleisches. »Hier ist also die Nahrung, die du dir wünschst«, sagte der Seher. »Herrliches Fleisch; es ist ein Geschmack, an den man sich gewöhnen kann, das hat man mir zumindest gesagt. Ah, ich kann den Hunger in deinem Wolfsauge aufflackern sehen. In dir steckt tatsächlich ein Tier – was kümmert es das Tier, wo sein Mahl herkommt? Nichtsdestotrotz warne ich dich jedoch, langsam zu essen, sonst wird dein geschrumpfter Magen alles zurückweisen, was du ihm zuführst.«

Mit einem leisen Stöhnen fiel Toc stolpernd vor dem Tisch auf die Knie, streckte die Hände aus. Seine Zähne schmerzten, als er zu kauen begann, fügten den Fleischsäften sein eigenes Blut hinzu. Er schluckte, spürte, wie seine Eingeweide sich um den Bissen zusammenballten. Er zwang sich, innezuhalten, zu warten.

Der Seher erhob sich von seinem Stuhl, ging steif zu einem Fenster. »Mir ist klar geworden«, sagte die alte Kreatur, »dass sterbliche Armeen für die Aufgabe, die Bedrohung zurückzuschlagen, die sich von Süden her nähert, nicht ausreichen. Dementsprechend habe ich meine Streitkräfte zurückgezogen und werde den Feind jetzt eigenhändig vertreiben.« Der Seher drehte sich um und musterte Toc. »Es heißt, Wölfe meiden Menschenfleisch, wenn sie können. Glaube nicht, dass ich ganz ohne Mitleid wäre, Toc der Jüngere. Das Fleisch vor dir ist Wildbret.«

Das weiß ich, du verdammter Bastard. Es scheint, dass ich nicht nur das Auge eines Wolfs habe – ich habe anscheinend auch seinen Geruchssinn. Er griff nach einem weiteren Stück. »Es spielt keine Rolle mehr, Seher.«

»Ich bin erfreut. Spürst du, wie die Kraft in deinen Körper zurückkehrt? Ich habe mir die Freiheit genommen, dich zu heilen – langsam, um den Schock für den Geist zu mildern. Ich mag dich, Toc der Jüngere. Auch wenn es nur wenige wissen, ich kann der freundlichste aller Herren sein.« Der alte Mann wandte sich erneut zum Fenster.

Toc aß weiter, spürte, wie das Leben in ihn zurückfloss, sein eines Auge auf den Seher gerichtet, etwas zusammengekniffen angesichts der Macht, die sich um den beseelten Leichnam des Mannes herum aufzubauen begonnen hatte. Kalt ist sie, diese Zauberei. Der Geruch von Eis im Wind – hier sind Erinnerungen am Werk, uralte Erinnerungen – aber von wem stammen sie?

 

Der Raum verschwamm, verschwand aus seinem Blickfeld. Baaljagg … Ein gleichmäßiges Vorwärtstrotten, ein Auge, das sich nach links richtete, um Lady Missgunst zu sehen, die ein Dutzend Schritte entfernt dahinschritt. Hinter ihr kam Garath, gewaltig, die Flanken kreuz und quer mit Narben übersät, aus denen immer noch kochendes, giftiges Blut troff – das Blut des Chaos. Zur Linken von Garath ging Tool. Schwerter hatten eine neue Landkarte in den Körper des T’lan Imass geschnitzt, hatten Knochen zerschmettert, hatten vertrocknete Haut und Muskeln zerfetzt – noch nie hatte Toc einen T’lan Imass gesehen, der so schrecklich beschädigt war. Es schien unmöglich, dass Tool überhaupt stehen konnte, von Laufen ganz zu schweigen.

Baaljaggs Kopf wandte sich nicht nach den Seguleh um, die zu ihrer Rechten marschierten, doch Toc wusste, dass sie da waren, einschließlich Mok. Die Ay war, wie Toc selbst, Erinnerungen ausgeliefert, die durch den Geruch, den der neue, kalte Wind aus dem Norden mitgebracht hatte, zu neuem Leben erwacht waren – Erinnerungen, die ihrer beider Aufmerksamkeit sich Tool zuwenden ließ.

Der T’lan Imass hatte den Kopf gehoben und wurde immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Die anderen folgten seinem Beispiel. Lady Missgunst drehte sich zu Tool um.

»Was ist das für eine Zauberei, T’lan Imass?«

»Das wisst Ihr ebenso gut wie ich, Lady«, kam Tools krächzende Antwort, während er noch immer prüfend die Luft einsog. »Das ist unerwartet; es erhöht die Verwirrung, die das Wesen umgibt, das als der Pannionische Seher bekannt ist.«

»Ein unvorstellbares Bündnis, und doch scheint es so …«

»Ja, es scheint so«, stimmte Tool zu.

Baaljaggs Augen richteten sich wieder nach Norden, maßen den übernatürlichen Schimmer, der sich über dem zackigen Horizont bildete, ein Schimmer, der begann, zwischen den Bergen herabzufließen, der die Täler füllte und aus ihnen herausströmte. Der Wind begann zu heulen, wurde eisig und bitter.

Wieder zum Leben erwachte Erinnerungen … dies ist Jaghut-Zauberei …

»Kannst du sie besiegen, Tool?«, fragte Lady Missgunst.

Der T’lan Imass wandte sich ihr zu. »Ich bin clanlos. Geschwächt. Wenn Ihr sie nicht unwirksam machen könnt, Lady, werden wir sie so gut es geht durchschreiten müssen, und sie wird die ganze Zeit wachsen, wird versuchen, uns abzuweisen.«

Die Lady machte ein besorgtes Gesicht. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, während sie die Aufwallung im Norden musterte. »K’Chain Che’Malle … und Jaghut? Hat es solch ein Bündnis jemals zuvor gegeben?«

»Nein, noch nie«, erwiderte Tool.

Ein Graupelschauer ging auf die kleine Gruppe nieder, der sich rasch in Hagel verwandelte. Toc spürte die herabprasselnden Hagelkörner durch Baaljaggs Fell hindurch, während das Tier sich tiefer duckte. Einen Augenblick später setzten sie sich wieder in Bewegung, stemmten sich gegen den schmerzhaften Wind.

Vor ihnen wurden die Berge dicker, umgaben sich mit einem Mantel aus von grünen Adern durchzogenem Weiß …

 

Toc blinzelte. Er war in dem Turm, hockte vor dem mit Fleisch überladenen Tisch. Der Seher drehte ihm den Rücken zu; er wurde von Jaghut-Zauberei durchströmt – die Kreatur im Innern des Kadavers des alten Mannes war nun vollständig sichtbar; sie war dünn, groß, haarlos und grünstichig. Aber nein, da ist noch mehr … Graue Wurzeln schlängelten sich von den Beinen des Leichnams nach unten – chaotische Macht, die hinab durch den Steinfußboden reichte; die Wurzelstränge zitterten entweder vor Schmerzen oder vor Ekstase. Der Jaghut greift noch auf eine andere Art von Zauberei zurück, eine, die noch älter und weitaus tödlicher ist als Omtose Phellack.

Der Seher drehte sich um. »Ich bin … enttäuscht, Toc der Jüngere. Hast du gedacht, du könntest mit deiner Wolfsverwandten Kontakt aufnehmen, ohne dass ich es merke? So ist es also – der in dir bereitet sich auf seine Wiedergeburt vor.«

Der in mir?

»Leider«, fuhr der Seher fort, »ist der Thron der Tiere verwaist – weder du noch jener Tiergott können es mit meiner Stärke aufnehmen. Doch auch wenn dem so ist, hätte es dir – wäre ich unwissend geblieben – sehr wohl gelingen können, mich zu ermorden. Du hast gelogen!«

Die letzten anklagenden Worte waren ein Schrei, und Toc sah plötzlich nicht mehr einen alten Mann vor sich stehen, sondern ein Kind.

»Lügner! Lügner! Und dafür wirst du leiden!« Der Seher fuchtelte wild mit den Händen.

Schmerzen rasten durch Toc den Jüngeren, legten eiserne Bande um seinen Körper, seine Glieder, hoben ihn hoch. Knochen brachen. Der Malazaner schrie auf.

»Zerbrich! Oh ja, zerbrich in Stücke! Aber ich werde dich nicht töten, nein, jetzt noch nicht, noch lange, lange nicht! Oh, sieh nur, wie du dich windest, doch was weißt du schon von wirklichen Schmerzen, Sterblicher? Nichts. Aber ich werde dir Schmerzen zeigen, Toc der Jüngere. Ich werde dich lehren …«Er gestikulierte erneut.

Plötzlich schwebte Toc in absoluter Dunkelheit. Die Agonie, die ihn in ihren Klauen hielt, wurde nicht schwächer, doch sie wurde auch nicht schlimmer. Seine keuchenden Atemzüge hallten dumpf in der schwülen, abgestandenen Luft wider. Er … er hat mich weggeschickt. Mein Gott hat mich weggeschickt … und jetzt bin ich wirklich allein. Allein …

In der Nähe bewegte sich etwas, etwas Großes. Harte Haut scheuerte raschelnd gegen Stein. Ein wimmerndes Geräusch drang an Tocs Ohren, wurde lauter, kam näher.

Mit einem Aufkreischen schlangen sich ledrige Arme um den Malazaner, zogen ihn in eine erstickende, verzweifelte Umarmung. Gegen einen schlaffen, rauhäutigen Busen gedrückt, fand Toc sich in der Gesellschaft von mehr als einem Dutzend Leichnamen in den unterschiedlichsten Stadien der Verwesung wieder – alle in der verlangenden Umarmung riesiger reptilhafter Arme.

Gebrochene Rippen mahlten und rissen an Tocs Brust.

Seine Haut war schlüpfrig von Blut, doch welch eine heilende Zauberei der Seher ihm auch hatte zuteil werden lassen, sie war noch immer wirksam und fügte die Knochen langsam wieder zusammen, die dann aufs Neue in der wilden Umarmung der Kreatur, die ihn jetzt festhielt, gebrochen wurden.

Die Stimme des Sehers erklang in seinem Kopf. Ich bin der anderen müde … doch dich werde ich am Leben erhalten. Du bist es wert, meinen Platz in dieser sanften, mütterlichen Umarmung einzunehmen. Oh, sie ist wahnsinnig. Vollkommen wahnsinnig, doch der Funke des Verlangens glimmt noch immer in ihr. Ein solches Verlangen. Hüte dich, oder es wird dich verschlingen, wie es mich verschlungen hat – bis ich so widerwärtig geworden bin, dass sie mich wieder ausgespuckt hat. Wenn Verlangen übermächtig wird, wird es zu Gift, Toc der Jüngere. Zum großen Verderber der Liebe, und so soll es auch dich verderben. Deinen Körper. Deinen Geist. Kannst du es spüren? Es hat schon angefangen. Kannst du es spüren, teurer Malazaner?

Er bekam keine Luft um zu schreien, doch die Arme, die ihn hielten, spürten sein Erschauern und drückten ihn fester.

Leises Wimmern erfüllte das Zimmer – Tocs Stimme und die des Wesens, das ihn gefangen hielt.