Kapitel Drei

Dujek Einarm und seine Armee erwarteten die Ankunft von Caladan Bruth und seinen Verbündeten: die tödlichen Tiste Andii, Barghast-Clans aus dem hohen Norden, ein knappes Dutzend Söldner-Kontingente und die in den Ebenen beheimateten Rhivi. Dort draußen, auf dem noch immer aufgewühlten Todesstreifen vor der Stadt Fahl, würden die beiden Streitkräfte aufeinander treffen. Jedoch nicht, um einen Krieg zu beginnen, sondern um bittere Geschichte in Frieden zu verwandeln. Weder Dujek noch Bruth noch sonst irgendjemand aus ihrer legendären Gefolgschaft hätte den nachfolgenden Zusammenprall vorausahnen können – nicht von Schwertern, sondern von Welten …

 

Die Bekenntnisse des Artanthos

 

F

lache Grate zogen sich wie Bänder über die Hügelhänge eine Länge nördlich von Fahl, die kaum verheilten Wunden einer Zeit, als die Stadt voller Anmaßung nach der Steppe gegriffen hatte, die an die Rhivi-Ebene grenzte. Solange man sich erinnern konnte, waren diese Hügel den Rhivi heilig gewesen. Fahls Bauern hatten ihre Verwegenheit mit Blut bezahlt.

Doch das Land brauchte lange, um zu heilen. Nur wenige der uralten Menhire, Steinkreise und Flachstein-Grüfte waren noch an Ort und Stelle. Die Steine waren jetzt wahllos neben den Terrassen, auf denen einmal Mais angebaut worden war, zu bedeutungslosen Steinhaufen aufgeschichtet. Alles, was in diesen Hügeln heilig war, wurde nur von den Rhivi innerlich so in Ehren gehalten.

Und wie im Glauben, so sind wir auch in Wirklichkeit. Die Mhybe zog das Antilopenfell enger um ihre mageren, knochigen Schultern. Ein neues, stattliches Aufgebot von Schmerzen erfüllte an diesem Morgen ihren Körper, ein Beweis dafür, dass das Kind ihr in der vergangenen Nacht noch mehr Kraft entzogen hatte. Die alte Frau sagte sich, dass sie keinen Groll verspürte – solchen Bedürfnissen konnte sich niemand entziehen, und in dem Mädchen war sowieso nur wenig, das natürlich war. Gewaltige, kaltherzige Geister und blinde magische Bannsprüche hatten sich miteinander verschworen, um etwas Neues, Einzigartiges zum Leben zu erwecken.

Und die Zeit wurde knapp, so furchtbar knapp.

Die von einem Netzwerk aus Fältchen umgebenen dunklen Augen der Mhybe glitzerten, als sie dem Kind zuschaute, wie es über die von Wind und Wetter gezeichneten Terrassen hüpfte. Eine Mutter blieb ihren Instinkten immer treu. Es war nicht richtig, sie zu verfluchen, auf die Bande der Liebe einzuschlagen, die überdauerten, selbst wenn sich das Fleisch getrennt hatte. Trotz all der Makel, die in ihr tobten, und trotz all der krankhaften Forderungen, die in ihre Tochter hineingewoben worden waren, konnte – nein, wollte – die Mhybe keine Netze aus Hass spinnen.

Dennoch schwächte das Dahinwelken ihres Körpers die Geschenke des Herzens, an die sie sich so verzweifelt klammerte. Weniger als ein Jahr zuvor war die Mhybe noch eine junge, unverheiratete Frau gewesen.

Sie war stolz gewesen und nicht gewillt, die Halbflechten aus Gras anzunehmen, die unzählige kräftige junge Männer ihres Volkes vor dem Eingang ihres Zeltes abgelegt hatten – sie war noch nicht bereit gewesen, ihre eigenen Flechten zu lösen und sich so in eine Ehe zu binden.

Die Rhivi waren ein beschädigtes Volk – wie konnte man in einer Zeit endloser, verheerender Kriege an einen Ehemann oder eine Familie denken? Sie war nicht so blind wie ihre Stammesschwestern; sie wollte der anscheinend von den Geistern gesegneten Pflicht, Söhne zu gebären, um den Boden vor der Pflugschar des Schnitters zu düngen, nicht so einfach nachkommen. Ihre Mutter hatte aus den Knochen gelesen, war mit der Fähigkeit beschenkt gewesen, den ganzen Schatz der Erinnerungen ihres Volkes zu bewahren – die Erinnerungen eines jeden einzelnen Geschlechts, bis zurück zur Träne des Sterbenden Geistes. Und ihr Vater hatte den Kriegsspeer erhoben, zuerst gegen die Weißgesicht-Barghast, und dann gegen das malazanische Imperium.

Sie vermisste sie beide, vermisste sie sehr, doch sie verstand sehr wohl, wie der Tod ihrer Eltern und ihre eigene Weigerung, die Berührung eines Mannes zu akzeptieren, insgeheim dazu beigetragen hatten, sie in den Augen der Geister zur idealen Wahl werden zu lassen. Ein loses, ungebundenes Gefäß, in das man zwei zerrissene Seelen pflanzen konnte – von denen eine bereits jenseits des Todes war, während die andere durch uralte Zaubereien vor dem Tode bewahrt wurde; zwei Identitäten, die miteinander verflochten waren – ein Gefäß, das dazu benutzt werden würde, das unnatürliche Kind zu nähren, das auf diese Weise geschaffen worden war.

Bei den Rhivi, die mit ihren Herden wanderten und keine Mauern aus Steinen oder Ziegeln errichteten, wurde ein solches Behältnis, das nur zu einem einzigen Zweck geschaffen und nach Gebrauch weggeworfen wurde, Mhybe genannt, und so hatte sie einen neuen Namen für sich gefunden, und jetzt lagen in diesem Namen alle Wahrheiten, die ihr Leben ausmachten.

Ich bin alt, ohne weise zu sein, bin verwelkt, ohne das Geschenk vieler Jahre erhalten zu haben, und doch erwartet man von mir, dass ich dieses Kind leite – diese Kreatur, die mit jedem Jahr, das ich verliere, eines älter wird, deren Entwöhnung meinen Tod bedeuten wird. Schaut sie euch an, wie sie die Spiele spielt, die alle Kinder spielen; sie lächelt, denn sie weiß nicht, welchen Preis ich für ihre Existenz, für ihr Heranwachsen bezahle.

Die Mhybe hörte Schritte hinter sich, und einen Augenblick später trat eine große, schwarzhäutige Frau an ihre Seite. Die schräg stehenden Augen der Angekommenen waren auf das Kind gerichtet, das auf dem Abhang spielte. Der Präriewind wehte ihr einzelne Strähnen ihres langen schwarzen Haars ins Gesicht. Sie trug ein Hemd aus schwarz gefärbtem Rohleder, und darunter schimmerte ein fein gearbeiteter Schuppenpanzer.

»Ziemlich täuschend«, murmelte die Tiste Andii. »Anders kann man sie doch wohl kaum nennen, oder?«

Die Mhybe seufzte und nickte dann.

»Nicht gerade etwas, das Furcht erzeugen könnte«, fuhr die Frau mit der mitternachtsdunklen Haut fort, »oder im Brennpunkt hitziger Streitereien stehen könnte …«

»Dann hat es also noch mehr Streit gegeben?«

»Ja. Kallor hat seine Angriffe wiederholt.«

Die Mhybe versteifte sich. Sie hob den Kopf und schaute zu der Tiste Andii auf. »Und? Hat sich irgendetwas geändert, Korlat?«

»Bruth bleibt standhaft«, erwiderte Korlat nach einem Augenblick. Sie zuckte die Schultern. »Sollte er Zweifel haben, verbirgt er sie gut.«

»Er hat Zweifel«, sagte die Mhybe. »Doch noch wiegen sie nicht so schwer, noch braucht er uns Rhivi und unsere Herden dringender. Er handelt aus Berechnung, nicht aus Treue. Wird er uns auch weiterhin brauchen, wenn er erst das Bündnis mit dem einarmigen Malazaner geschlossen hat?«

»Es besteht Hoffnung«, warf Korlat ein, »dass die Malazaner mehr über die Ursprünge des Kindes wissen – «

»Genug, um die mögliche Bedrohung zu verringern? Korlat, du musst Bruth klar machen, dass das, was die beiden Seelen einmal waren, nichts im Vergleich zu dem ist, was sie geworden sind.« Den Blick auf das spielende Kind gerichtet, fuhr die Mhybe fort: »Sie wurde im Einflussbereich eines T’lan Imass geschaffen – sein zeitloses Gewirr wurde zu den bindenden Fäden, und diese wurden von einem Knochenwerfer der Imass gewoben – einem Knochenwerfer aus Fleisch und Blut, Korlat. Dieses Mädchen gehört zu den T’lan Imass. Sie mag den Körper einer Rhivi haben, und sie mag auch die Seelen zweier malazanischer Magierinnen in sich tragen, aber sie ist jetzt eine Wechselgängerin – und außerdem auch eine Knochenwerferin. Und selbst diese Wahrheit kratzt nur an der Oberfläche dessen, was aus ihr werden wird. Sag mir, wozu brauchen die unsterblichen T’lan Imass eine Knochenwerferin aus Fleisch und Blut?«

Korlat verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse. »Das darfst du mich nicht fragen.«

»Und die Malazaner auch nicht.«

»Bist du dir da sicher? Sind die T’lan Imass nicht unter dem malazanischen Banner marschiert?«

»Aber das tun sie nicht mehr, Korlat. Was für ein heimlicher Zwist herrscht jetzt zwischen ihnen? Welche geheimen Absichten mögen hinter all den Ratschlägen stecken, die die Malazaner erteilen? Wir haben keine Möglichkeit, es zu erraten, nicht wahr?«

»Ich gehe davon aus, dass Caladan Bruth sich all dessen bewusst ist«, meinte die Tiste Andii trocken. »Auf alle Fälle kannst du Zeugin der ganzen Angelegenheit werden, kannst daran teilnehmen, Mhybe. Das malazanische Kontingent nähert sich, und der Kriegsherr möchte, dass du bei der Unterredung zugegen bist.«

Die Mhybe drehte sich um. Vor ihr erstreckte sich jetzt Caladan Bruths Lager, so sorgfältig organisiert wie immer. Söldnertruppen im Westen, die Tiste Andii im Zentrum, und ihr eigenes, das Lager der Rhivi und die Bhederin-Herden im Osten. Es war ein langer Marsch gewesen, herunter vom Plateau des Alten Königs, durch die Städte Katz und Fleck und schließlich auf den sich nach Süden windenden alten Karawanenpfad, der die Ebene durchquerte, die traditionelle Heimat der Rhivi. Eine Heimat, die von Jahren des Krieges zerrissen wurde, von marschierenden Armeen und den vom Himmel herabfallenden Brandbomben der Moranth … plötzlich sind die Quorls da, ein lautloses, schwarzfleckiges Wirbeln, und das Grauen fällt auf unsere Lagerplätze … und unsere heiligen Herden.

Doch jetzt stehen wir kurz davor, unseren Feinden die Hand zu reichen. Nachdem wir einander so lange an die Gurgel gegangen sind, werden wir den malazanischen Invasoren und den kaltblütigen Moranth nun Hochzeitsbänder flechten, für die Vermählung unserer beiden Armeen – aber es ist keine Hochzeit im Namen des Friedens. Nein, diese Krieger suchen jetzt einen neuen Feind …

Südlich von Bruths Armee erhoben sich die erst vor kurzem wieder instandgesetzten Wälle von Fahl; die immer noch sichtbaren Spuren der Verwüstung erinnerten die Rhivi an die malazanische Zauberei. Sie schauderte. Eine Gruppe Reiter hatte die Stadt gerade durch das Nordtor verlassen, ein einfarbiges, graues Banner ohne jedes Wappen machte für alle deutlich, dass sie Ausgestoßene waren, während sie langsam über den kahlen Todesstreifen auf Bruths Lager zugeritten kamen.

Die Mhybe betrachtete die schmucklose Standarte misstrauisch. Alte Frau, deine Ängste sind ein wahrer Fluch. Du solltest jetzt nicht an Misstrauen denken, du solltest nicht an das Entsetzen denken, das diese ehemaligen Invasoren über uns gebracht haben. Dujek Einarm und sein gesamtes Heer sind von der verhassten Imperatrix zu Ausgestoßenen erklärt worden. Ein Feldzug ist zu Ende. Ein neuer beginnt. Ihr Geister hienieden, werden wir es irgendwann einmal erleben, dass diese Kriege endlich aufhören?

Das Kind gesellte sich zu den beiden Frauen. Die Mhybe warf dem Mädchen einen Blick zu, sah in dessen ruhigen unerschütterlichen Augen ein Wissen und eine Weisheit, die sich auf Jahrtausende zu gründen schien – und vielleicht war es tatsächlich so. Hier stehen wir drei, sind für alle deutlich zu erkennen – ein Kind von zehn oder elf Jahren, eine Frau mit einem jungen Gesicht und nichtmenschlichen Augen, und eine gebeugte alte Frau – und das Ganze ist bis in die allerletzte Einzelheit eine Illusion, denn das, was in uns liegt, ist die Umkehrung unserer äußeren Erscheinung. Ich bin das Kind. Die Tiste Andii erinnert sich an Jahrtausende, und das Mädchen … an Hunderttausende von Jahren.

Auch Korlat hatte den Blick zu dem Kind gesenkt. Die Tiste Andii lächelte. »Hat dir das Spielen Spaß gemacht, Silberfuchs?«

»Ein Weilchen schon«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme klang überraschend tief. »Aber dann bin ich traurig geworden.«

Korlat zog die Augenbrauen hoch. »Und warum?«

»Einst hat hier ein geheiligtes Vertrauen geherrscht – zwischen diesen Hügeln und den Geistern der Rhivi. Das ist jetzt zerbrochen. Die Geister sind nichts anderes als Gefäße voller Verlust und Schmerz. Die Hügel heilen nicht.«

Die Mhybe hatte das Gefühl, das Blut in ihren Adern erstarre zu Eis. Das Kind zeigte immer deutlicher eine Empfindsamkeit, die fast schon der der weisesten Schulterfrau aller Stämme gleichkam. Doch diese Empfindsamkeit wurde gleichzeitig von einer gewissen Kühle begleitet, als ob sich hinter jedem mitleidsvollen Wort geheime Absichten verbargen. »Können wir denn nichts tun, Tochter?« Silberfuchs zuckte die Schultern. »Es ist nicht mehr nötig.« Und da haben wir wieder so einen Fall. »Wie meinst du das?« Das Mädchen blickte die Mhybe an; auf ihrem rundlichen Gesicht lag ein Lächeln. »Wenn wir wirklich an der Unterredung teilnehmen wollen, sollten wir uns lieber beeilen, Mutter.«

 

Der Ort, an dem die Begegnung stattfinden sollte, lag dreißig Schritt jenseits der am weitesten vorgelagerten Vorposten auf einem kleinen Hang. Im Westen waren die neuen Hügelgräber zu sehen, die nach der Einnahme von Fahl errichtet worden waren, um die Toten loszuwerden. Die Mhybe fragte sich, ob die zahllosen Opfer wohl jetzt aus der Ferne die Szene beobachteten, die vor ihr lag. Schließlich werden Geister immer dann geboren, wenn Blut vergossen wird. Und wenn sie nicht günstig gestimmt werden, verwandeln sie sich oft in feindlich gesinnte Kräfte, von Albträumen gequält und voller Boshaftigkeit. Wissen denn nur die Rhivi um diese Dinge?

Von Gegnern im Krieg zu Verbündeten – was werden diese Geister von einer solchen Veränderung halten?

»Sie fühlen sich betrogen«, ließ sich Silberfuchs’ Stimme neben ihr vernehmen. »Ich werde ihnen antworten, Mutter.« Sie streckte einen Arm aus und fasste die Mhybe an der Hand, während sie langsam weitergingen. »Dies ist eine Zeit für Erinnerungen. Uralte Erinnerungen und sehr frische Erinnerungen …«

»Und du, Tochter«, fragte die Mhybe leise, »bist du die Brücke zwischen diesen Erinnerungen?« Ihre Stimme hatte bei diesen Worten einen fiebrigen Beiklang.

»Du bist wirklich weise, Mutter, auch wenn du nicht so recht an dich glaubst. Das Verborgene wird nur langsam enthüllt. Schau dir doch nur diese ehemaligen Feinde an. In deinem Innern kämpfst du mit dir, hebst alle Unterschiede zwischen uns hervor; du klammerst dich an deine Abneigung, an den Hass, den du ihnen entgegenbringst, denn das ist ein Gefühl, das dir vertraut ist. Solcher Hass erwächst aus Erinnerungen. Aber, Mutter, in Erinnerungen ist auch noch eine andere Wahrheit verborgen, eine geheime Wahrheit, und das ist all das, was wir erlebt haben, ja?«

Die Mhybe nickte. »Das sagen uns unsere Ältesten, Tochter«, stimmte sie zu und unterdrückte einen leichten Anflug von Ärger.

»Erfahrungen. Das ist etwas, was wir alle teilen. Wir haben vielleicht auf unterschiedlichen Seiten gestanden, aber dennoch sind sie gleich. Sie sind gleich.«

»Das weiß ich, Silberfuchs. Es ist sinnlos, jemandem Vorwürfe zu machen. Wir werden alle von einem unsichtbaren, unerbittlichen Willen dahingezogen – wie die Gezeiten – «

Das Mädchen drückte die Hand der Mhybe fester. »Dann frag Korlat, was ihre Erinnerungen ihr erzählen, Mutter.«

Die Rhivi warf der Tiste Andii einen Blick zu, zog die Brauen empor und sagte: »Du hast zugehört, aber du hast nichts gesagt. Welche Antwort erwartet meine Tochter von dir?«

Korlat lächelte wehmütig. »Die Erfahrungen sind gleich. Das ist ganz klar, soweit es eure beiden Armeen betrifft. Aber das gilt auch … über den Abgrund der Zeit hinweg. Bei allen Wesen, die Erinnerungen besitzen – egal, ob Individuen oder ganze Völker –, sind die Lektionen, die uns das Leben erteilt, immer dieselben.« Die jetzt violetten Augen der Tiste Andii richteten sich auf Silberfuchs. »Sogar bei den T’lan Imass – war es das, was du uns sagen wolltest, Kind?«

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Was auch immer geschehen wird – denkt an Vergebung. Haltet an diesem Gedanken fest, aber ihr solltet auch begreifen, dass Vergebung nicht immer freiwillig gewährt werden muss.« Silberfuchs richtete den Blick ihrer schläfrig wirkenden dunklen Augen auf Korlat, und plötzlich wurden diese Augen hart. »Manchmal muss Vergebung auch verweigert werden.«

Stille folgte ihren Worten. Liebe Geister, führt uns. Dieses Kind macht mir Angst. Um die Wahrheit zu sagen, ich kann Kallor verstehen … und das macht mir mehr Sorgen als alles andere.

Sie machten seitlich vom Ort der Unterredung und noch ein ganzes Stück davon entfernt Halt, direkt hinter den Vorposten von Bruths Lager.

Wenige Augenblicke später erreichten die Malazaner die Hügelkuppe. Sie waren zu viert. Es fiel der Mhybe nicht schwer, Hohefaust Dujek Einarm zu erkennen. Der zum Ausgestoßenen erklärte Einarmige war allerdings älter als sie gedacht hatte, und er saß im Sattel seines Rotschimmel-Wallachs, als litte er unter alten Beschwerden und steifen Knochen. Er war dünn und mittelgroß, und er trug eine schlichte Rüstung und ein schmuckloses, ganz normales Kurzschwert am Gürtel. Sein schmales, scharf geschnittenes Gesicht war bartlos und zeigte die Spuren eines Lebens auf dem Schlachtfeld. Er trug keinen Helm, und das Einzige, was auf seinen Rang hindeutete, war sein langer grauer Umhang mit der silbernen Borte.

Zu Dujeks Linker ritt ein weiterer Offizier mit grauem Bart und kräftiger Statur. Ein Helm mit Visier und Nackenschutz verbarg den größten Teil seines Gesichts, doch die Mhybe spürte, dass dieser Mann einen unermesslich starken Willen besaß. Er saß aufrecht im Sattel, doch sie bemerkte, dass er sein linkes Bein unbeholfen hielt und den Fuß nicht im Steigbügel hatte. Der Kettenpanzer seiner wadenlangen Halsberge war beschädigt und mit Lederflicken übersät. Die Mhybe registrierte sehr wohl, dass er auf Dujeks ungeschützter linker Seite ritt.

Zur Rechten der abtrünnigen Hohefaust ritt ein junger Mann, ganz offensichtlich eine Art Adjutant. Er war schwer zu beschreiben, doch die Mhybe sah, dass seine Blicke unablässig hierhin und dorthin huschten, dass er alle Einzelheiten in sich aufsog, die er sah. Dieser Mann hielt auch die Fahne der Ausgestoßenen in einer von einem ledernen Handschuh bedeckten Hand.

Der vierte Reiter war ein Schwarzer Moranth, vollkommen von einer chitinartigen Rüstung bedeckt, und diese Rüstung war schwer beschädigt. Der Krieger hatte alle vier Finger seiner rechten Hand verloren, doch er trug noch immer das, was von seinem Handschuh übrig geblieben war. Die Spuren unzähliger Schwerthiebe verunstalteten seine glänzende schwarze Rüstung.

Korlat ächzte leise. »Das scheint mir ein ziemlich hart gesottener Haufen, meinst du nicht auch?«

Die Mhybe nickte. »Wer ist der Mann zu Dujek Einarms Linken?«

»Elster, nehme ich an«, antwortete die Tiste Andii, und ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Er macht eine gute Figur, nicht wahr?«

Einen kurzen Augenblick fühlte die Mhybe sich wieder wie die junge Frau, die sie in Wirklichkeit war. Sie rümpfte die Nase. »Die Rhivi sind allerdings nicht so behaart, den Geistern sei Dank.«

»Trotzdem …«

»Ja, trotzdem.«

»Ich würde ihn gern zum Onkel haben«, mischte Silberfuchs sich ein.

Die beiden Frauen warfen ihr einen überraschten Blick zu.

»Als Onkel?«, wiederholte die Mhybe.

Das Mädchen nickte. »Du kannst ihm vertrauen. Während der einarmige alte Mann etwas verbirgt – na ja, nein, sie verbergen beide etwas, und es ist dasselbe Geheimnis, aber ich vertraue dem Bärtigen trotzdem. Der Moranth – er lacht innerlich. Er lacht immer, aber das weiß niemand. Es ist kein grausames Lachen, sondern eines voller Kummer. Und was den mit der Standarte angeht …« Silberfuchs runzelte die Stirn. »Da bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, ich war mir bei ihm immer unsicher …«

Die Mhybe wechselte über den Kopf des Mädchens hinweg einen Blick mit Korlat.

»Ich schlage vor«, sagte die Tiste Andii, »dass wir ein bisschen näher herangehen.«

Während sie sich dem Treffpunkt näherten, tauchten zwei Gestalten aus der Vorpostenlinie auf, gefolgt von einem Vorreiter, der eine Standarte ohne Wimpel trug. Alle drei Männer waren zu Fuß. Als sie sie sah, fragte sich die Mhybe, was die Malazaner wohl von den beiden vorderen Kriegern halten würden. In Caladan Bruths Adern floss Barghast-Blut, was man an seiner großen, ungeschlachten Gestalt und dem breiten, flachen Gesicht unschwer erkennen konnte; und außerdem war da noch etwas anderes, etwas, das nicht ganz menschlich war. Der Mann war riesig; der gewaltige eiserne Hammer, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte, passte gut zu ihm. Bruth und Dujek hatten sich auf diesem Kontinent mehr als zwölf Jahre lang ein Duell geliefert, einen Kampf der Willen, der zu mehr als zwanzig offenen Feldschlachten und ebenso vielen Belagerungen geführt hatte. Beide hatten sich mehr als einmal großer Gefahr gegenübergesehen, aber sie waren immer davongekommen, blutend zwar, aber am Leben. Auf dem Schlachtfeld hatten sie einander schon lange eingeschätzt, jetzt jedoch würden sie sich endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.

An Bruths Seite schritt Kallor dahin, groß, hager und grau. Sein bodenlanger Kettenwappenrock glänzte im diffusen Licht des frühen Morgens. Ein einfaches Bastardschwert hing von den eisernen Ringen seines Harnischs, schwang im Takt seiner schweren Schritte auf und ab. War ein Spieler in diesem tödlichen Spiel immer ein Geheimnis für die Mhybe geblieben, dann der selbst ernannte Hochkönig. Tatsächlich war das Einzige, dessen die Rhivi sich sicher sein konnte, Kallors Hass auf Silberfuchs, ein Hass, der sich auf Furcht gründete, und vielleicht auch auf ein Wissen, das nur dieser Mann besaß – ein Wissen, dass er mit niemandem teilen wollte. Kallor behauptete, dass er bereits seit Jahrtausenden lebte, behauptete, einst ein Reich regiert zu haben, das er am Ende selbst zerstört hatte, aus Gründen, die er nicht enthüllen wollte. Doch er war kein Aufgestiegener – seine Langlebigkeit verdankte er wahrscheinlich alchemistischen Mitteln, und diese waren alles andere als vollkommen, denn sein Gesicht und sein Körper wiesen die gleichen Spuren auf wie bei einem Mann, der auf die hundert zuging.

Bruth machte sich Kallors Wissen über Taktik und Strategie zu Nutze, etwas, das eine instinktive Beherrschung aller erdenklichen Truppenbewegungen im Verlauf gewaltiger Feldzüge zu sein schien, doch der Hochkönig zeigte allen deutlich, dass für ihn solche Kämpfe nichts als flüchtige Spiele waren, denen er sich nur zur Ablenkung und mit kaum verhohlenem Desinteresse widmete. Die Soldaten empfanden Kallor gegenüber keine Loyalität. Widerwilliger Respekt war alles, was man dem Mann entgegenbrachte, und die Mhybe vermutete, dass das schon immer so gewesen war und auch immer so bleiben würde.

Als er und Bruth die Hügelkuppe erreichten, verriet sein Gesichtsausdruck Verachtung und Geringschätzung, während er Dujek, Elster und den Kommandanten der Moranth musterte. Die Männer würden Mühe haben, sich dadurch nicht gekränkt zu fühlen, doch die drei Malazaner schienen den Hochkönig vollständig zu ignorieren, als sie von ihren Pferden stiegen; ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein auf Caladan Bruth gerichtet.

Dujek Einarm trat vor. »Ich grüße Euch, Kriegsherr. Erlaubt mir, Euch mein bescheidenes Kontingent vorzustellen. Mein Stellvertreter Elster. Artanthos, mein gegenwärtiger Standartenträger. Und der Anführer der Schwarzen Moranth, dessen Titel sich in etwa mit Achievant übersetzen ließe und dessen Name absolut unaussprechlich ist.« Die abtrünnige Hohefaust grinste die chitingerüstete Gestalt an. »Seit er im Schwarzhundwald einem Geist der Rhivi die Hand geschüttelt hat, haben wir angefangen, ihn Twist zu nennen.«

»Artanthos …«, murmelte Silberfuchs leise. »Diesen Namen hat er schon lange nicht mehr benutzt. Und er ist nicht das, was er zu sein scheint.«

»Wenn es eine Illusion ist«, flüsterte Korlat, »dann ist sie meisterhaft. Ich spüre nichts Ungewöhnliches.«

Das Kind nickte. »Die Luft der Ebenen … hat ihn verjüngt.«

»Wer ist er, Tochter?«, wollte die Mhybe wissen.

»In Wirklichkeit ist er eine Schimäre.«

Nachdem Dujek geendet hatte, knurrte Bruth leise und sagte:

»Der Mann an meiner Seite ist Kallor, mein Stellvertreter. Im Namen der Tiste Andii nimmt Korlat an diesem Treffen teil. Und im Namen der Rhivi die Mhybe und ihr junges Mündel. Das, was noch von meiner Standarte übrig ist, trägt mein Vorreiter Hurlochel.«

Dujek runzelte die Stirn. »Wo ist die Karmesin-Garde?«

»Fürst K’azz D’Avore kümmert sich im Augenblick um innere Angelegenheiten, Hohefaust. Sie werden sich unseren Bemühungen hinsichtlich der Pannionischen Domäne nicht anschließen.«

»Schade«, murmelte Dujek.

Bruth zuckte die Schultern. »Wir haben Hilfstruppen zusammengezogen, um sie zu ersetzen. Ein Kavallerie-Regiment aus Saltoan, vier Barghast-Clans, eine Söldnerkompanie aus Einaugkatz und eine aus Mott – «

Elster schien sich verschluckt zu haben. Er hustete und schüttelte dann den Kopf. »Doch wohl nicht Motts Irreguläre, Kriegsherr, oder …?«

Bruth lächelte und entblößte dabei spitz zugefeilte Zähne. »Doch. Ihr habt Erfahrungen mit ihnen gemacht, nicht wahr, Kommandant? Damals, als Ihr noch bei den Brückenverbrennern gedient habt.«

»Das war schon ein ganz besonderer Haufen«, stimmte Elster zu. »Allerdings nicht unbedingt im Kampf. Sie haben die meiste Zeit damit verbracht, unsere Vorräte zu stehlen und dann davonzurennen, wenn ich mich recht erinnere.«

»Wir haben es ein besonderes Talent für Logistik genannt«, kommentierte Kallor.

»Ich gehe davon aus«, sagte Bruth zu Dujek, »dass die Vereinbarungen mit dem Rat von Darujhistan sich als zufrieden stellend erwiesen haben.«

»Das haben sie, Kriegsherr. Die … Spenden … des Rats haben es uns ermöglicht, unsere Vorräte wieder aufzufüllen.«

»Ich glaube, dass eine Delegation aus Darujhistan hierher unterwegs ist; sie sollte bald hier sein«, fügte Bruth hinzu. »Wenn Ihr also noch weitere Unterstützung benötigen solltet …«

»Das ist sehr großzügig von ihnen«, sagte Dujek und nickte.

»Lasst uns in mein Kommandozelt gehen«, schlug der Kriegsherr vor. »Es gibt da ein paar Einzelheiten, die wir unbedingt besprechen müssen.«

»Ganz Eurer Meinung«, stimmte Dujek ihm zu. »Kriegsherr, wir haben lange Zeit gegeneinander gekämpft – ich freue mich darauf, endlich einmal Seite an Seite mit Euch und Eurer Armee zu kämpfen. Wollen wir hoffen, dass die Pannionische Domäne sich als würdiger Gegner erweist.«

Bruth zog eine Grimasse. »Aber nicht zu würdig.«

»Richtig«, erwiderte Dujek grinsend.

Silberfuchs, die immer noch mit der Mhybe und der Tiste Andii ein Stück entfernt stand, lächelte und sagte dann leise: »So ist es also geschehen. Sie haben sich angeblickt. Haben sich gegenseitig eingeschätzt … und beide sind zufrieden.«

»Dies ist wirklich ein bemerkenswertes Bündnis«, murmelte Korlat und schüttelte dabei ganz leicht den Kopf. »So leicht so viel aufzugeben …«

»Von all den Leuten, die ich in meinem kurzen Leben kennen gelernt habe«, sagte die Mhybe, »sind pragmatische Soldaten die Furcht erregendsten.«

Silberfuchs stieß ein kehliges Lachen aus. »Und du zweifelst an deiner Weisheit, Mutter …«

 

Caladan Bruths Kommandozelt befand sich im Zentrum des Lagers der Tiste Andii. Obwohl die Mhybe es viele Male besucht hatte und eine gewisse Vertrautheit mit den Tiste Andii entstanden war, empfand sie erneut jenes Gefühl der Fremdartigkeit, das sie immer befiel, als sie mit den anderen durch dieses Lager hindurchschritt. Die Luft auf den freien Plätzen und in den Gängen zwischen den hohen, schmalen Zelten schien von ehrwürdigem Alter und Pathos geschwängert. Die wenigen großen, dunkel gekleideten Gestalten, an denen sie vorbeikamen, sprachen kaum miteinander, und sie schenkten auch Bruth und seiner Begleitung keine weitere Beachtung; selbst von Korlat, Anomander Rakes Stellvertreterin, nahmen sie kaum Notiz.

Es war schwierig für die Mhybe, das zu verstehen – ein Volk, das von Gleichgültigkeit heimgesucht wurde, von einer Apathie, die so umfassend war, dass es schon deshalb keine zivilisierten Gespräche in Erwägung ziehen wollte, weil es die Anstrengungen für zu groß erachtete. Es gab geheime Tragödien in der langen, quälenden Geschichte der Tiste Andii. Wunden, die niemals heilen würden. Die Rhivi hatte mittlerweile festgestellt, dass selbst das Leiden zu einer Art Lebensinhalt werden konnte. Die entsetzliche Vorstellung, solch eine Existenz Jahrzehnte, dann Jahrhunderte und schließlich Jahrtausende auszudehnen, versetzte der Mhybe noch immer einen betäubenden Schock.

Diese schmalen, geheimnisvollen Zelte hätten genauso gut die Heimat von Geistern sein können – eine ruhelose, umherstreifende Nekropole, die von verlorenen Geistern heimgesucht wurde. Die merkwürdig fleckigen, zerrissenen Bänder, die an die eisernen Zeltstangen gebunden worden waren, verliehen der Szenerie etwas Weihevolles, genau wie die hageren, geisterhaften Gestalten der Tiste Andii selbst. Sie schienen zu warten, eine ewige Erwartung, die der Mhybe immer wieder Schauer den Rücken hinunterjagte. Und was noch schlimmer war, sie kannte ihre Fähigkeiten – sie hatte gesehen, wie sie voller Wut die Schwerter gezogen und sie dann mit erschreckender Wirksamkeit geschwungen hatten. Und sie hatte ihre Zauberei gesehen.

Bei den Menschen äußerte sich kalte Gleichgültigkeit häufig in Taten voller brutaler Grausamkeit, war sie häufig das wahre Gesicht des Bösen – falls so etwas denn tatsächlich existierte –, doch die Tiste Andii hatten bisher noch keine derartigen bösen Taten vollbracht. Sie kämpften unter Bruths Kommando, für eine Sache, die nicht ihre eigene war, und die wenigen von ihnen, die bei solchen Gelegenheiten getötet wurden, wurden einfach auf dem Schlachtfeld liegen gelassen. Es war den Rhivi zugefallen, diese Toten einzusammeln, sie auf die Art der Rhivi zu bestatten und ihr Dahinscheiden zu beweinen. Die Tiste Andii schauten sich solche Bemühungen mit ausdruckslosen Gesichtern an, als amüsiere sie die Aufmerksamkeit, die einem einfachen Leichnam entgegengebracht wurde.

Das Kommandozelt wartete direkt vor ihnen; es war achteckig und wurde von einem Holzrahmen getragen. Die Leinwand war vielfach geflickt und hatte einen von der Sonne ausgebleichten Orangeton. Ursprünglich war sie rot gewesen. Das Zelt hatte der Karmesin-Garde gehört und war auf einem Abfallhaufen zurückgelassen worden; von dort hatte es Vorreiter Hurlochel für seinen Kriegsherrn gerettet. Bruth legte keinen Wert auf prächtige Ausstattung, wie schon seine Standarte bewies.

Die große Zeltklappe am Eingang war zurückgeschlagen worden. Auf der vordersten Zeltstange saß ein Großer Rabe, den Kopf leicht in Richtung der Gruppe geneigt, den Schnabel geöffnet, als lachte er leise. Die schmalen Lippen der Mhybe verzogen sich zu einem halben Lächeln, als sie Scharteke erblickte. Anomander Rakes liebste Dienerin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Caladan Bruth heimzusuchen; sie gab ihm unablässig gute Ratschläge, als wäre sie eine Art verschrobenes Gewissen. Die Matriarchin der Großen Raben hatte die Geduld des Kriegsherrn mehr als einmal auf die Probe gestellt – und doch toleriert Bruth sie genauso wie er Anomander Rake toleriert. Unsichere Verbündete … die Geschichten stimmen alle darin überein, dass Bruth und Rake sehr, sehr lange Seite an Seite gestanden haben, aber vertrauen sie einander wirklich? Diese besondere Beziehung ist nicht leicht zu verstehen, sie besteht aus unzähligen Schichten voller Komplexität und Zweideutigkeiten, und in Anbetracht der Tatsache, dass Scharteke die zweifelhafte Rolle einer Brücke zwischen den beiden Kriegern spielt, wird alles nur noch verwirrender,

»Dujek Einarm!«, schrie Scharteke. Auf das laute Krächzen folgte ein verrücktes Gegacker. »Elster! Ich überbringe euch Grüße von einem gewissen Baruk, einem Alchemisten aus Darujhistan. Und im Auftrag meines Herrn, Anomander Rake, dem Lord von Mondbrut, Ritter des Hohen Hauses Dunkel und Sohn von Mutter Dunkel höchstpersönlich, übermittle ich euch seine … nein, eigentlich sind es keine Grüße … nein, keine Grüße … sondern … seine Erheiterung. Ja, das ist es – seine Erheiterung!«

Dujek runzelte die Stirn. »Und was erheitert deinen Herrn so, Vogel?«

»Vogel?«, kreischte der Große Rabe. »Ich bin Scharteke, die unumstrittene Matriarchin von Mondbruts misstönender mörderischer Schar!«

Elster grunzte. »Du bist die Matriarchin der Großen Raben? Du sprichst also für sie alle? Das will ich gern glauben – du bist schließlich laut genug, beim Vermummten.«

»Du elender Emporkömmling! Dujek Einarm, die Erheiterung meines Herrn entzieht sich jeder Erklärung – «

»Das heißt, dass du ihren Grund nicht kennst«, schnitt die abtrünnige Hohefaust ihr das Wort ab.

»Welch unerhörte Dreistigkeit – zeig ein bisschen mehr Respekt, Sterblicher, sonst werde ich mich an deinem Kadaver gütlich tun, wenn der Tag gekommen ist!«

»Du wirst dir an meinem Fell wahrscheinlich den Schnabel abbrechen, Scharteke, aber du kannst es natürlich gern versuchen, wenn es so weit ist.«

»Hast du immer noch diesen Schnabel-Riemen, Hurlochel?«, fragte Bruth mit grollender Stimme.

»Ja, Kriegsherr.«

Scharteke stieß ein Zischen aus; sie senkte den Kopf, breitete ihre gewaltigen Schwingen halb aus. »Wage es ja nicht, du Ochse! Versuche ruhig, mir noch einmal so etwas anzutun – aber du tust es auf eigene Gefahr!«

»Dann halt den Schnabel!« Bruth wandte sich den anderen zu und winkte sie durch den Eingang. Scharteke, die hoch über ihnen allen auf der Stange hockte, bewegte ruckweise den Kopf auf und ab, als die Krieger unter ihr hindurchgingen. Als die Mhybe an der Reihe war, stieß der Große Rabe ein krächzendes Glucksen aus. »Das Kind, das du an der Hand hältst, wird uns noch alle überraschen, alte Frau.«

Die Rhivi blieb stehen. »Was kannst du spüren, alte Krähe?«

Scharteke lachte lautlos, ehe sie antwortete: »Immanenz, mein liebster Tonkrug, und sonst nichts. Ich grüße dich, Silberfuchs, mein Kind.«

Das Mädchen musterte den Großen Raben ein paar Herzschläge lang, dann sagte sie: »Hallo, Scharteke. Mir war bisher gar nicht klar, wie deine Art geboren wurde – nämlich aus dem faulenden Fleisch eines – «

»Sei still!«, kreischte Scharteke. »Solches Wissen sollte niemals laut ausgesprochen werden! Du musst lernen, still zu sein, mein Kind – zu deiner eigenen Sicherheit – «

»Zu deiner Sicherheit, meinst du wohl«, erwiderte Silberfuchs lächelnd.

»In diesem ganz besonderen Fall, das stimmt, will ich es nicht leugnen. Doch höre auf eine weise alte Kreatur, bevor du das Zelt betrittst, mein Kind. Unter denen, die da drinnen warten, gibt es einige, die das Ausmaß deiner Kenntnisse – solltest du so närrisch sein, es zu enthüllen – als tödlichste aller Bedrohungen ansehen würden. Bestimmte Enthüllungen könnten deinen Tod bedeuten. Und auch dies solltest du wissen: Du bist noch nicht in der Lage, dich selbst zu schützen. Und auch die Mhybe, die ich schätze und liebe, kann nicht hoffen, dich verteidigen zu können – ihre Kräfte helfen ihr nichts, wenn es um Gewalt geht. Ihr werdet beide Beschützer brauchen, habt ihr das verstanden?«

Silberfuchs lächelte noch immer gelassen und nickte.

Die Hand der Mhybe schloss sich instinktiv fester um die ihrer Tochter, während ein Wirrwarr von Gefühlen über sie hinwegschwappte. Sie war nicht blind für die Drohungen, die sich gegen sie selbst und Silberfuchs richteten, und sie war sich auch der Kräfte, die in dem Kind keimten, sehr wohl bewusst. Aber in mir selbst spüre ich keine Macht, weder eine gewalttätige noch eine andere. Obwohl sie es voller Zuneigung gesagt hat, hat Scharteke mich zu Recht »Tonkrug« genannt, und alles, was dieser Tonkrug einst beschützt hat, ist nun nicht mehr länger in mir, sondern steht hier offen und verletzlich an meiner Seite. Sie schaute nach oben und warf dem Großen Raben einen letzten Blick zu, während Silberfuchs sie ins Innere des Zelts zog. Ihr Blick traf sich mit dem aus Schartekes schwarzen, glänzenden Augen. Du liebst und schätzt mich also, Krähe? Gesegnet seist du dafür.

Der zentrale Raum des Kommandozelts wurde von einem großen Kartentisch aus roh behauenem Holz beherrscht; er war so schief und krumm, als wäre er von einem betrunkenen Tischler zusammengezimmert worden. Als die Mhybe und Silberfuchs den Raum betraten, stand Elster, der graubärtige Veteran, vor dem Tisch – den Helm hatte er abgenommen und unter einen Arm geklemmt – und lachte, den Blick auf das Monstrum gerichtet.

»Ihr seid ein alter Halunke, Kriegsherr«, sagte er und schüttelte den Kopf.

Bruth betrachtete stirnrunzelnd das Objekt, dem Elster so viel Aufmerksamkeit schenkte. »Nun, ich muss zugeben, er ist nicht besonders schön – «

»Das liegt nur daran, dass Fiedler und Igel das verdammte Ding gemacht haben«, sagte der Malazaner. »Im Mottwald – «

»Wer sind Fiedler und Igel?«

»Das waren meine beiden Sappeure, als ich noch den Neunten Trupp kommandiert habe. Sie hatten eines ihrer berüchtigten Kartenspiele organisiert – sie haben immer die Drachenkarten benutzt – und brauchten etwas, worauf sie spielen konnten. Hundert Kameraden – alles Brückenverbrenner – waren zum Spielen zusammengekommen, obwohl wir pausenlos angegriffen wurden … ganz zu schweigen davon, dass wir mitten in einem Sumpf festsaßen. Das Spiel wurde durch einen Kampf unterbrochen – wir wurden zunächst überrannt und zurückgetrieben, dann haben wir unsere Position zurückerobert, das Ganze dürfte vielleicht einen Glockenschlag gedauert haben – und siehe da: In der Zwischenzeit war jemand mit einem zweihundert Pfund schweren Tisch davon marschiert! Ihr hättet mal hören sollen, wie die Sappeure geflucht haben …«

Caladan Bruth verschränkte die Arme, den Blick noch immer stirnrunzelnd auf den Tisch gerichtet. Nach ein paar Augenblicken brummte er: »Er ist ein Geschenk von Motts Irregulären. Der Tisch hat mir gut gedient – nun, äh, meine Empfehlung an Eure Sappeure. Ich kann ihn zurückgeben lassen – «

»Das ist nicht nötig, Kriegsherr …« Es schien, als wollte der Malazaner noch etwas anderes sagen, etwas Wichtiges, dann jedoch schüttelte er nur den Kopf.

Ein leises Keuchen von Silberfuchs ließ die Mhybe zusammenzucken. Sie schaute nach unten, die Brauen fragend hochgezogen, doch die Aufmerksamkeit des Mädchens wanderte vom Tisch zu Elster und dann wieder zurück. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Onkel Elster«, sagte sie plötzlich.

Alle Augen richteten sich auf Silberfuchs, die vergnügt fortfuhr: »Diese Sappeure und ihre Spiele – sie mogeln, nicht wahr?«

Der bärtige Malazaner machte ein finsteres Gesicht. »Das ist eine Anklage, die zu wiederholen ich dir nicht unbedingt raten würde; besonders, wenn irgendwelche Brückenverbrenner in der Gegend sind, Schätzchen. Eine Menge Münzen sind bei diesen Spielen über den Tisch gewandert – und immer in die gleiche Richtung. Haben Fiedler und Igel gemogelt? Sie haben die Regeln so kompliziert gemacht, dass niemand es beweisen oder widerlegen konnte. Um also deine Frage zu beantworten: Ich weiß es nicht.« Er musterte Silberfuchs, und sein Gesichtsausdruck wurde womöglich noch finsterer, als ob ihn irgendetwas beunruhigte.

So etwas … wie ein Gefühl der Vertrautheit … Plötzlich dämmerte es der Mhybe. Natürlich weiß er nichts von ihr – was sie ist, was sie war. Was ihn betrifft, so ist es ihre erste Begegnung, doch sie hat ihn Onkel genannt. Und dann ist da noch diese Stimme – kehlig, wissend … Er kennt das Mädchen nicht – aber er kennt die Frau, die sie einst war.

Alle warteten darauf, dass Silberfuchs mehr sagen würde, dass sie irgendeine Erklärung abgeben würde. Stattdessen trat sie einfach an den Tisch heran und ließ ihre Hand über die zerschundene Oberfläche gleiten. Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Dann zog sie einen der nicht zusammenpassenden Stühle zu sich heran und setzte sich hin.

Bruth seufzte und winkte Hurlochel. »Bring uns die Karte mit dem Gebiet der Pannionischen Domäne.«

Nachdem die große Karte ausgebreitet worden war, versammelten sich die anderen langsam um den Tisch. Fast unverzüglich stieß Dujek ein Grunzen aus. »Unsere Karten sind bei weitem nicht so detailliert«, sagte er. »Ihr habt die Stellungen mehrerer pannionischer Armeen eingezeichnet – wie alt sind diese Informationen?«

»Drei Tage«, sagte Bruth. »Schartekes Verwandte sind dort, verfolgen die Truppenbewegungen. Die Aufzeichnungen, die sich auf die Organisation und die in der Vergangenheit benutzten Strategien der Pannionier beziehen, sind aus mehreren Quellen zusammengestellt worden. Wie Ihr sehen könnt, sind sie bereit, die Stadt Capustan einzunehmen. Maurik, Setta und Lest sind alle innerhalb der letzten vier Monate gefallen. Die pannionischen Streitkräfte befinden sich immer noch südlich des Catlin, aber sie haben bereits mit den Vorbereitungen dafür begonnen, den Fluss zu überqueren – «

»Und die Armee von Capustan wird sie nicht daran hindern?«, fragte Dujek. »Denn wenn sie es nicht tut, laden sie die Pannionier geradezu zu einer Belagerung ein. Ich nehme an, niemand erwartet, dass Capustan besonders viel Widerstand leisten wird.«

»Die Situation in Capustan ist ein bisschen verworren«, erklärte der Kriegsherr. »Die Stadt wird von einem Fürsten und einer Koalition von Hohepriestern beherrscht, und die beiden Parteien streiten ständig miteinander. Die Probleme sind noch schlimmer geworden, seit der Fürst eine Söldner-Kompanie angeheuert hat, um seine eigenen, schwachen Streitkräfte zu verstärken – «

»Was für eine Söldner-Kompanie?«, wollte Elster wissen.

»Die Grauen Schwerter. Habt Ihr schon einmal von ihnen gehört, Kommandant?«

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Bruth. »Es heißt, sie kommen aus dem Süden, aus Elingarth – ein nicht gerade kleines Kontingent, mehr als siebentausend Mann. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich des Wucher-Soldes würdig erweisen, den sie dem Fürsten abgetrotzt haben. Beim Vermummten, ihr so genannter Standard-Kontrakt ist fast doppelt so hoch wie die Summe, die die Karmesin-Garde verlangt.«

»Ihr Kommandant hat die Situation erkannt«, kommentierte Kallor. Seine Stimme klang, als wäre er furchtbar müde, wenn nicht gar über alle Maßen gelangweilt. »Fürst Jelarkan hat mehr Geld als Soldaten, und die Pannionier kann man nicht bestechen – schließlich ist es aus der Sicht des Sehers ein Heiliger Krieg. Aber eigentlich ist alles noch ein bisschen schlimmer. Der Rat der Hohepriester verfügt über eigene Streitkräfte, die hervorragend ausgebildeten und gut ausgerüsteten Soldaten der einzelnen Tempel. Das sind fast dreitausend der besten Kämpfer der Stadt, während dem Fürsten für seine Stadtgarde, die Capanthall, nur noch der Abschaum geblieben ist. Und ihre Zahl ist per Gesetz auf zweitausend Mann begrenzt. Jahrelang hat der Maskenrat – die Koalition der Tempel – aus der Capanthall Männer für die Tempelkompanien rekrutiert und auf diese Weise die Besten immer wieder weggelockt – «

Die Mhybe war ganz eindeutig nicht die Einzige, die vermutete, dass Kallor den ganzen Nachmittag lang weitergemacht hätte, wenn man ihm dazu Gelegenheit gegeben hätte, denn Elster unterbrach den Hochkönig, sobald er eine winzige Pause machte, um Luft zu holen.

»Also hat dieser Fürst Jelarkan das Gesetz umgangen, indem er Söldner angeheuert hat.«

»So ist es«, lautete Caladan Bruths rasche Antwort. »Wie auch immer, der Maskenrat hat es geschafft, ein anderes Gesetz zu erlassen, das den Grauen Schwertern jede Kampfhandlung außerhalb der Stadtmauern verbietet, darum werden sie auch nichts tun, um die Pannionier an der Überquerung des Flusses zu hindern.«

»Diese Idioten«, brummte Dujek. »Da dies für die Gegenseite ein Heiliger Krieg ist, sollte man eigentlich annehmen, dass die Tempel alles tun würden, um eine gemeinsame Front gegen die Pannionier aufzubauen.«

»Ich nehme an, dass sie glauben, genau das zu tun«, sagte Kallor mit einem Schnauben, das Dujek gegolten haben konnte, oder den Priestern von Capustan – oder allen beiden. »Während sie gleichzeitig sicherstellen, dass sie auch weiterhin den Fürsten in Schach halten können.«

»Es ist sogar noch komplizierter«, konterte Bruth. »Die Herrscherin von Maurik hat kapituliert und dadurch ein großes Blutvergießen vermieden; gleichzeitig hat sie alle Priester in ihrer Stadt gefangen nehmen lassen und sie an die pannionischen Tenescowri ausgeliefert. Durch diesen einen geschickten Schachzug hat sie ihre Stadt und die Bürger gerettet, die fürstlichen Schatztruhen mit Beute aus den Tempeln aufgefüllt und ist den Stachel losgeworden, der schon lange in ihrem Fleisch gesteckt hat. Der Pannionische Seher hat ihr das Amt einer Gouverneurin verliehen, was besser ist, als von den Tenescowri in Stücke gerissen und verschlungen zu werden – denn genau das ist mit den Priestern geschehen.«

Die Mhybe stieß zischend die Luft aus. »Sie sind in Stücke gerissen und verschlungen worden?«

»Genau das«, sagte der Kriegsherr. »Die Tenescowri sind die Bauernarmee des Sehers; es sind Fanatiker, und der Seher belastet sich nicht damit, sie mit irgendetwas zu versorgen. In der Tat gibt er ihnen seinen heiligen Segen, alles zu tun, was nötig ist, um sich zu ernähren und zu bewaffnen. Wenn gewisse andere Gerüchte der Wahrheit entsprechen, ist Kannibalismus noch der geringste aller Gräuel …«

»Wir haben ähnliche Gerüchte gehört«, murmelte Dujek. »Also, Kriegsherr, die Frage, der wir uns gegenübersehen, lautet demnach: Versuchen wir Capustan zu retten – oder lassen wir zu, dass die Stadt fällt? Der Seher muss wissen, dass wir kommen – seine Anhänger haben den Kult weit über die Grenzen der Domäne hinaus verbreitet, in Darujhistan, in Fahl, in Saltoan – das heißt, er weiß, dass wir irgendwann und irgendwo den Catlin überschreiten werden. Wenn er Capustan einnimmt, kontrolliert er die breiteste Furt des Flusses. Was für uns nur noch die alte Furt westlich von Saltoan übrig lässt, dort, wo früher die Steinbrücke gewesen ist. Natürlich könnten unsere Ingenieure uns dort auch eine Schwimmbrücke bauen, vorausgesetzt, dass wir genügend Holz mitbringen. Jedenfalls ist das die Option für einen Zug über Land. Wir haben natürlich noch zwei andere Möglichkeiten …«

Scharteke, die auf dem einen Ende des Kartentischs hockte, krächzte laut. »Hört euch den an!«

Die Mhybe nickte. Sie verstand den Großen Raben nur zu gut und verspürte selbst eine Mischung aus Ungläubigkeit und Erheiterung.

Dujek warf Scharteke über den Tisch hinweg einen finsteren Blick zu. »Hast du irgendein Problem, Vogel?«

»Du bist in der Tat dem Kriegsherrn ebenbürtig! Wort für Wort. Du denkst genauso laut wie er es tut! Und ihr habt in den vergangenen zwölf Jahren gegeneinander Krieg geführt – oh, kann denn niemand außer mir die fein geschliffene Klinge der Poesie darin erkennen?«

»Sei still, Scharteke«, befahl Caladan Bruth. »Capustan wird belagert werden. Die pannionischen Streitkräfte sind gewaltig. Wir haben erfahren, dass Septarch Kulpath der Befehlshaber dieses Feldzugs ist; er ist der tüchtigste Septarch des Sehers. Er hat die Hälfte aller Bekliten bei sich – das sind fünfzigtausend Mann reguläre Infanterie – und eine Division Urdomen, außerdem die üblichen Nachschub-Einheiten und Hilfstruppen. Capustan ist eine kleine Stadt, aber der Fürst hat sich mit den Mauern eine Menge Mühe gegeben, und die Struktur der Stadt eignet sich ganz hervorragend dafür, Viertel um Viertel zu verteidigen. Wenn die Grauen Schwerter nicht gleich nach dem ersten Scharmützel verschwinden, könnte Capustan durchaus einige Zeit standhalten. Trotzdem …«

»Meine Schwarzen Moranth könnten ein paar Kompanien in der Stadt absetzen«, sagte Dujek und warf dem schweigenden Twist einen kurzen Blick zu, »aber wenn wir nicht ausdrücklich dazu aufgefordert werden, so etwas zu tun, könnte das zu Spannungen führen, die sich als problematisch erweisen könnten.«

Kallor schnaubte. »Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahres. Welche Stadt in Genabackis würde wohl malazanische Legionen in ihren Mauern willkommen heißen? Hinzu kommt, dass Ihr Eure eigene Verpflegung mitbringen müsstet, dessen könnt Ihr sicher sein, Hohefaust – ganz zu schweigen davon, dass die Capaner Euch mit ausgesprochener Feindseligkeit gegenübertreten würden – bis hin zum Verrat.«

»Es ist ganz klar«, warf Elster ein, »dass wir zunächst Kontakt mit dem Fürsten von Capustan aufnehmen müssen, um ein solches Unternehmen vorzubereiten.«

Silberfuchs kicherte, was alle Anwesenden zusammenzucken ließ. »Was für eine Inszenierung, Onkel! Du hast bereits einen entsprechenden Plan in die Tat umgesetzt. Du und der einarmige Soldat, ihr habt das alles bis zur kleinsten Kleinigkeit ausgeheckt. Du planst, Capustan zu befreien, wenn auch natürlich nicht direkt – ihr beide tut schließlich niemals etwas auf direktem Weg, oder? Du willst hinter den Ereignissen verborgen bleiben. Wenn es jemals so etwas wie eine klassische malazanische Strategie gegeben hat, dann hat sie so ausgesehen.«

Die beiden Männer waren Meisterspieler und verzogen bei ihren Worten keine Miene.

Kallor lachte leise in sich hinein; es klang, als rasselten Knochen.

Die Mhybe musterte Elster. Das Kind ist wirklich erschreckend, nicht wahr? Bei den Geistern, sie erschreckt sogar mich, und ich weiß viel, viel mehr als du, mein Herr.

»Nun«, sagte Bruth nach einem kurzen Augenblick grollend, »ich bin erfreut, zu hören, dass wir einer Meinung sind – Capustan darf nicht fallen, und in Anbetracht aller Umstände ist es wahrscheinlich am besten, wenn wir die Stadt indirekt unterstützen. Vordergründig müssen wir gesehen werden – der größte Teil Eurer Streitkräfte, Einarm, ebenso wie meine –, wie wir über Land marschieren, in vorhersagbarem Tempo. Das wird Septarch Kulpaths Zeitrahmen für die Belagerung bestimmen, sowohl für ihn wie für uns. Ich gehe außerdem davon aus, dass wir uns auch darin einig sind, dass Capustan nicht das einzige Ziel sein darf, auf das wir unser Augenmerk richten.«

Dujek nickte langsam. »Die Stadt könnte all unseren Anstrengungen zum Trotz immer noch fallen. Wenn wir die Pannionische Domäne wirklich besiegen wollen, müssen wir sie im Innersten treffen.«

»Einverstanden. Sagt mir, Einarm, welche Stadt habt Ihr für diesen ersten Teil des Feldzugs als Ziel ausgewählt?«

»Korall«, antwortete Elster unverzüglich.

Alle Blicke richteten sich wieder auf die Karte. Bruth grinste. »Es scheint, als würden wir tatsächlich sehr ähnlich denken. Sobald wir die nördliche Grenze der Domäne erreicht haben, stoßen wir wie ein Speer gen Süden … ein paar in rascher Folge befreite Städte … Setta, Lest, Maurik – wird die Gouverneurin nicht begeistert sein? – und dann weiter nach Korall. In einem einzigen Sommer werden wir sämtliche Gebietsgewinne zunichte machen, die der Seher in den letzten vier Jahren erreicht hat. Ich will diesen Kult ins Wanken bringen. Ich will, dass sich überall in dem verdammten Ding Risse auf tun.«

»Gut, Kriegsherr. Dann marschieren wir also über Land. Keine Schiffe – das würde Kulpaths Würgegriff schließlich nur beschleunigen. Es gibt allerdings noch etwas anderes, das der Klärung bedarf«, fuhr Elster fort und richtete den Blick auf die einzige Repräsentantin der Bündnispartner, die – vom Kommandanten der Schwarzen Moranth einmal abgesehen – bisher noch nichts gesagt hatte, »und das ist die Frage, was wir von Anomander Rake erwarten können. Korlat? Werden die Tiste Andii uns unterstützen?«

Die Frau erwiderte nichts, sondern lächelte nur.

Bruth räusperte sich. »Genau wie Ihr«, sagte er, »haben wir ebenfalls bereits ein paar Dinge in Gang gesetzt. Während wir uns hier unterhalten, ist Mondbrut unterwegs zur Domäne. Aber noch ehe die Festung das Territorium des Sehers erreicht, wird sie … verschwinden.«

Dujek zog die Brauen hoch. »Eine beeindruckende Leistung.«

Scharteke stieß ein krächzendes Lachen aus.

»Wir wissen kaum etwas über die Zauberei, auf die sich die Macht des Sehers gründet«, sagte der Kriegsherr. »Wir wissen nur, dass sie existiert. Genau wie Eure Schwarzen Moranth eröffnet uns Mondbrut taktische Möglichkeiten, auf die nur Narren verzichten würden.« Bruths Grinsen wurde breiter. »Genau wie Ihr, Hohefaust, versuchen wir zu vermeiden, dass unsere Aktionen zu vorhersagbar werden.« Er nickte Korlat zu. »Die Tiste Andii verfügen über gewaltige magische Mittel – «

»Die aber nicht ausreichen werden«, warf Silberfuchs ein.

Die Tiste Andii blickte das Mädchen stirnrunzelnd an. »Das ist eine ziemlich gewagte Behauptung, mein Kind.«

Kallor zischte. »Gebt nichts auf das, was sie sagt. Tatsächlich halte ich ihre Gegenwart bei diesem Treffen für Narretei, wie Bruth sehr wohl weiß – sie ist nicht unsere Verbündete. Sie wird uns alle verraten, merkt Euch meine Worte. Denn Verrat ist ihr ältester Freund. Hört gut zu, Ihr alle. Diese Kreatur ist eine Abscheulichkeit.«

»Ach, Kallor«, seufzte Silberfuchs, »musst du immer so reden?«

Dujek wandte sich an Caladan Bruth. »Kriegsherr, ich muss zugeben, dass mich die Anwesenheit des Mädchens ein wenig verwirrt. Wer im Namen des Vermummten ist sie? Sie scheint über ein übernatürliches Wissen zu verfügen. Zumindest für eine Zehnjährige – und so sieht sie aus – «

»Sie ist viel mehr als das«, schnappte Kallor und starrte Silberfuchs aus harten, hasserfüllten Augen an. »Schaut Euch doch die Hexe neben ihr an«, fuhr der Hochkönig grollend fort. »Sie zählt kaum zwanzig Sommer, Hohefaust, und dieses Kind wurde ihr vor noch nicht einmal sechs Monaten aus dem Leib gerissen. Diese Monstrosität ernährt sich von der Lebenskraft ihrer Mutter – nein, nicht ihrer Mutter, von der Lebenskraft des unglücklichen Gefäßes, das einst dieses Kind getragen hat. Ihr seid alle erschauert, als Ihr vom Kannibalismus der Tenescowri gehört habt – was haltet Ihr von einer Kreatur, die auf diese Weise das Leben – die Seele – derjenigen verschlingt, die sie geboren hat? Und da ist noch mehr – « Er unterbrach sich, schluckte deutlich sichtbar hinunter, was er noch hatte sagen wollen, und lehnte sich zurück. »Sie sollte getötet werden. Jetzt gleich. Bevor ihre Macht die von uns allen übertrifft.«

Im Zelt wurde es still.

Verdammt sollst du sein, Kallor. War es das, was du unseren neu gewonnenen Verbündeten zeigen wolltest? Ein Lager, das uneins ist. Und … bei den Geistern hienieden … verdammt sollst du auch ein zweites Mal sein, denn sie hat es nicht gewusst. Sie hat es nicht gewusst …

Zitternd schaute die Mhybe auf Silberfuchs hinunter. Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen, und jetzt, als sie zu ihrer Mutter emporstarrte, füllten sie sich mit Tränen. »Tue ich das wirklich?«, flüsterte sie. »Ernähre ich mich von dir?«

Die Mhybe schloss die Augen, wünschte sich, sie könnte die Wahrheit vor Silberfuchs verbergen, jetzt und für immer. Stattdessen sagte sie: »Du hattest niemals eine Wahl, Tochter – es ist einfach ein Teil von dem, was du bist, und ich akzeptiere es« – und tobe doch innerlich angesichts der widerwärtigen Grausamkeit, die darin liegt – »genau wie du es akzeptieren musst. In dir ist eine Art von Dringlichkeit, Silberfuchs, eine uralte, unleugbare Kraft – du weißt es ebenso gut wie ich, kannst es spüren – «

»Uralt und unleugbar?«, sagte Kallor krächzend. »Du weißt noch nicht einmal die Hälfte, Weib.« Er machte einen Satz über den Tisch, packte Silberfuchs an der Tunika und zog sie dicht zu sich heran. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zoll voneinander entfernt, und der Hochkönig fletschte die Zähne. »Du bist da drin, stimmt’s? Ich weiß es. Ich kann es spüren. Komm raus, elende Hexe – «

»Lass sie los«, befahl Bruth. Seine Stimme war tief und leise.

Das höhnische Grinsen des Hochkönigs wurde breiter. Er löste seinen Griff von der Tunika des Mädchen und lehnte sich zurück.

Mit klopfendem Herzen hob die Mhybe eine zitternde Hand und strich sich übers Gesicht. Das Entsetzen war durch sie hindurchgefahren, als Kallor ihre Tochter gepackt hatte, eine eisige Flut, die ihre Glieder schwach und kraftlos gemacht und mit Leichtigkeit ihren mütterlichen Instinkt, ihr Kind zu verteidigen, überwältigt hatte –, und die ihr selbst und allen anderen, die sich im Zelt befanden, gezeigt hatte, wie feige sie war. Sie spürte, wie ihr Tränen der Scham in die Augen stiegen und ihre runzligen Wangen hinunter rannen.

»Wenn du sie noch einmal anrührst«, fuhr der Kriegsherr fort, »prügele ich dich bewusstlos, Kallor.«

»Wie es dir beliebt«, erwiderte der uralte Krieger.

Elsters Rüstung knirschte, als er sich zu Caladan Bruth umwandte. Das Gesicht des Kommandanten war dunkel, seine Miene hart. »Wenn Ihr es nicht getan hättet, Kriegsherr, hätte ich eine eigene Drohung ausgesprochen.« Er musterte den Hochkönig mit hartem Blick. »Einem Kind etwas antun? Ich würde Euch nicht bewusstlos prügeln, Kallor, ich würde Euch das Herz aus dem Leib reißen.«

Der Hochkönig grinste. »In der Tat. Ich erzittere bereits vor Furcht.«

»Das reicht«, murmelte Elster. Seine behandschuhte Linke wischte in einem Rückhandschlag herum, traf Kallor mitten ins Gesicht. Blut spritzte über den Tisch, während der Kopf des Hochkönigs nach hinten gerissen wurde. Die Kraft, die in dem Schlag gelegen hatte, brachte ihn ins Wanken. Plötzlich hatte er das Heft seines Bastardschwerts in den Händen, das Schwert zischte aus der Scheide – und verharrte, halb gezogen.

Kallor konnte seine Arme nicht mehr bewegen, denn Caladan Bruth hatte seine Handgelenke gepackt. Der Hochkönig strengte sich an, die Adern an seinem Hals und den Schläfen traten hervor, doch er erreichte nichts. Bruth musste mit seinen großen Händen noch fester zugedrückt haben, denn der Hochkönig keuchte, das Heft des Schwertes rutschte ihm aus den Fingern, und die Waffe glitt zurück in die Scheide. Bruth trat näher an ihn heran, aber die Mhybe hörte seine leisen Worte dennoch. »Akzeptiere das, was du verdient hast, Kallor. Ich habe genug davon, wie du dich bei diesem Treffen aufführst. Wenn du meine Geduld noch weiter strapazierst, macht dein Gesicht mit meinem Hammer Bekanntschaft. Hast du verstanden?«

Nach einem langen Augenblick brummte der Hochkönig zustimmend.

Bruth ließ ihn los.

Wieder wurde es still in dem Zelt. Niemand rührte sich, alle Blicke waren auf Kallors blutendes Gesicht gerichtet.

Dujek zog ein Tuch aus seinem Gürtel – es war mit getrocknetem Rasierschaum verkrustet – und warf es dem Hochkönig zu. »Behaltet es«, sagte er mit grollender Stimme.

Die Mhybe trat hinter die kreidebleiche Silberfuchs, die mit weit aufgerissenen Augen auf die Szenerie starrte, und legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern. »Hört auf«, flüsterte sie. »Bitte.«

Elster blickte wieder Bruth an und ignorierte Kallor, als existiere der Hochkönig nicht mehr. »Erklärt uns bitte, Kriegsherr«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was im Namen des Vermummten ist dieses Kind?«

Silberfuchs schüttelte die Hände ihrer Mutter ab. Sie stand da, als wollte sie gleich davonrennen. Dann schüttelte sie den Kopf, wischte sich über die Augen und holte tief und zitternd Luft. »Nein«, sagte sie. »Niemand soll für mich antworten.« Sie blickte zu ihrer Mutter auf – einen winzigen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke – und musterte dann wieder die anderen Anwesenden. »Worum es auch geht«, flüsterte sie, »niemand soll für mich antworten.«

Die Mhybe streckte eine Hand aus, konnte ihre Tochter aber nicht berühren. »Du musst es akzeptieren, Tochter«, sagte sie, und konnte hören, wie zerbrechlich ihre eigene Überzeugung war, und sie wusste – und erneut stieg tiefes Schamgefühl in ihr auf – , dass die anderen es auch gehört haben mussten. Du musst vergeben … musst dir selbst vergeben. Oh, ihr Geister hienieden, ich wage es nicht, diese Worte auszusprechen – dieses Recht habe ich verloren, habe ich jetzt gewiss verloren …

Silberfuchs wandte sich an Elster. »Dann also die Wahrheit, Onkel. Ich wurde aus zwei Seelen geboren, von denen du eine sehr gut gekannt hast: Flickenseel. Die andere Seele gehört zu den zerfetzten Überresten einer Hohemagierin namens Nachtfrost – tatsächlich war wenig mehr übrig als verkohlte Knochen und verbranntes Fleisch, auch wenn andere Teile von ihr infolge eines versiegelnden Zauberspruchs konserviert wurden. Flickenseels … Tod … fand im Einflussbereich eines Teilann-Gewirrs statt – so wie ein T’lan Imass es geplant hatte – «

Nur die Mhybe sah, wie der Standartenträger Artanthos zusammenfuhr. Und was wisst Ihr, mein Herr, von all diesen Dingen? Diese Frage zuckte nur kurz durch ihre Gedanken – es war viel zu schwierig, sich jetzt mit Mutmaßungen und Überlegungen abzugeben.

»Unter diesem Einfluss, Onkel«, fuhr Silberfuchs fort, »ist etwas geschehen. Etwas Unerwartetes. Ein Knochenwerfer aus der fernsten Vergangenheit ist aufgetaucht, außerdem ein Älterer Gott, und eine sterbliche Seele – «

Kallors Schnauben war nur gedämpft zu hören, da er sich noch immer das Tuch vor das Gesicht hielt. »›Nachtfrost‹«, murmelte er. »Was für ein erbärmlicher Mangel an Phantasie … Ob K’rul das wohl gewusst hat? Ach, was für eine Ironie …«

Silberfuchs nahm den Faden wieder auf. »Diese drei waren zusammengekommen, um meiner Mutter zu helfen, dieser Rhivi, die plötzlich ein unmögliches Kind trug. Ich wurde an zwei Orten zugleich geboren – in dieser Welt bei den Rhivi, und in die Hände des Knochenwerfers in dem Tellann-Gewirr.« Sie zögerte, schauderte, als wäre sie plötzlich erschöpft. »Meine Zukunft«, flüsterte sie einen Augenblick später und schlang die Arme um ihren Oberkörper, »gehört den T’lan Imass.« Sie wirbelte herum, blickte Korlat an. »Sie sammeln sich zur Zusammenkunft, und ihr werdet ihre Macht in dem Krieg brauchen, der heraufzieht.«

»Welch unheilige Verbindung«, krächzte Kallor. Er senkte die Hand, ließ das Tuch fallen. Seine Augen waren zusammengekniffen, und sein blutverschmiertes Gesicht war weiß wie Pergament. »Genau wie ich es befürchtet habe – oh, was seid ihr nur für Narren. Ihr alle. Narren – «

»Zur Zusammenkunft«, wiederholte die Tiste Andii. Sie beachtete den Hochkönig ebenfalls nicht. »Warum? Aus welchem Grund, Silberfuchs?«

»Das muss ich entscheiden, denn ich existiere, um sie zu befehligen. Sie alle zu befehligen. Meine Geburt war das Zeichen, das diese Zusammenkunft angekündigt hat – eine Forderung, die jeder T’lan Imass auf dieser Welt gehört hat. Und jetzt kommen die, die dazu in der Lage sind. Sie kommen.«

 

In Elsters Kopf überschlug sich alles. Es war schon alarmierend genug, dass es Risse in Bruths Truppenkontingent gab, doch die Enthüllungen dieses Kindes … seine Gedanken wirbelten, rasten … und führten ihn an einen anderen Ort. Das Kommandozelt und seine Wände verschwanden, und plötzlich befand er sich in einer Welt verdrehter Schatten, dunklen Verrats und ihrer schrecklichen, unerwarteten Konsequenzen – eine Welt, die er leidenschaftlich hasste.

Erinnerungen stiegen geisterhaft vor seinem inneren Auge auf. Das magische Feuer vor Fahl, das Gemetzel an den Brückenverbrennern, der Angriff auf Mondbrut. Quälende Verdächtigungen, ein Mahlstrom verzweifelter Pläne …

A´Karonys, Bellurdan, Nachtfrost, Flickenseel … Die Liste der Namen aller Magier und Magierinnen, deren Tod Hohemagier Tayschrenn zur Last gelegt werden konnte, war mit dem Blut sinnloser Paranoia geschrieben. Elster war nicht traurig gewesen, als der Hohemagier sich verabschiedet hatte, obwohl der Kommandant den Verdacht hegte, dass Tayschrenn nicht so fern war, wie es den Anschein hatte. Wir sind Ausgestoßene. Laseens Proklamation hat uns vom Imperium getrennt … doch es ist alles eine Lüge. Nur er und Dujek kannten die Wahrheit – der Rest des Heeres glaubte tatsächlich, sie wären von der Imperatrix zu Ausgestoßenen erklärt worden. Ihre Loyalität galt Dujek Einarm – und vielleicht auch mir.

Beim Vermummten, wir werden diese Loyalität auf eine harte Probe stellen, ehe alles vorbei ist Doch sie weiß Bescheid. Das Mädchen weiß Bescheid. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie die wiedergeborene Flickenseel war; die Zauberin war da, war zu erkennen – im Schnitt der Gesichtszüge des Mädchens, in der Art und Weise, wie sie dastand, wie sie sich bewegte, in ihrem schläfrigen, wissenden Blick. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Tatsache ergaben, überwältigten Elster schier – er brauchte Zeit, Zeit zum Nachdenken …

Flickenseel ist wiedergeboren worden … was hast du nur getan, Tayschrenn, egal, ob unabsichtlich oder nicht? Zum Vermummten mit dir!

Elster hatte Nachtfrost nicht gekannt – sie hatten niemals miteinander gesprochen, und sein ganzes Wissen beruhte ausschließlich auf Geschichten, die er über sie gehört hatte. Die Lebensgefährtin Bellurdans, des Thelomen, hatte Hohe Rashan Magie ausgeübt und war eine der Auserwählten des Imperators gewesen. Und letzten Endes war sie verraten worden, genauso wie die Brückenverbrenner …

Sie hatte eine gewisse Schärfe gehabt, hatte es geheißen, wie schartiges, blutbeflecktes Eisen. Und er konnte sehen, dass das, was von jener Frau übrig geblieben war, einen Schatten auf das Kind geworfen hatte – der sanfte Glanz in Flickenseels schläfrigen Augen war irgendwie dunkler geworden, und dies zu sehen strapazierte die ohnehin schon blank liegenden Nerven des Kommandanten noch mehr.

Oh, beim Vermummten. Eine der Auswirkungen hatte sich in seinen Gedanken gerade mit einem Donnerhall bemerkbar gemacht. Mögen die Götter uns unsere närrischen Spiele vergeben …

In Fahl wartete Ganoes Paran. Flickenseels Geliebter. Was wird er von Silberfuchs halten? Von einer Frau binnen eines Augenblicks zu einer Neugeborenen, dann binnen sechs Monaten von einer Neugeborenen zu einem zehnjährigen Mädchen. Und was wird sie in sechs Wochen sein? Eine Zwanzigjährige? Paran … mein Junge … ist es Kummer, was dir die Eingeweide zerfrisst? Und wenn dem so ist, was wird dann diese Antwort mit dir machen?

Noch während er darum kämpfte, die Worte des jungen Mädchens und auch all das, was er in ihrem Gesicht sah, zu verstehen, wandten sich seine Gedanken der Mhybe zu, die neben Silberfuchs stand. Kummer durchflutete ihn. Die Götter waren in der Tat grausam. Die alte Frau würde wahrscheinlich binnen eines Jahres tot sein, würde den Bedürfnissen des Kindes brutal geopfert werden. Was für eine bösartige, albtraumhafte Verdrehung der Mutter rolle.

Die letzten Worte des Mädchens hatten dem Kommandanten einen neuerlichen Schock versetzt. »Sie kommen.« Die T’lan Imass – beim Atem des Vermummten, als wäre das Ganze nicht schon so kompliziert genug. Wem kann ich in dieser ganzen Geschichte wirklich glauben? Kallor, der selbst ein kalter, unheimlicher Bastard ist, nennt sie eine Monstrosität; er würde sie töten, wenn er könnte. So viel ist sicher. Ich kann es nicht ausstehen, wenn einem Kind ein Leid zugefügt wird … aber ist sie wirklich ein Kind?

Andererseits … beim Atem des Vermummten! Sie ist die wiedergeborene Flickenseel, eine Frau, die immer mutig und rechtschaffen war. Und Nachtfrost, eine Hohemagierin, die dem Imperator gedient hat. Und außerdem – und das ist am merkwürdigsten und beunruhigendsten von allem – ist sie die neue Herrscherin der T’lan Imass …

Elster blinzelte. Das Zelt und die Anwesenden waren plötzlich wieder da. Es war still, eine Stille, in der unzählige aufgewühlte Gedanken waberten. Sein Blick fiel erneut auf Silberfuchs; er sah, wie blass ihr junges, rundes Gesicht war, bemerkte – und diese Entdeckung versetzte ihm einen Stich –, dass die Hände des jungen Mädchens zitterten, schaute schnell wieder weg. Korlat, die Tiste Andii, beobachtete ihn. Ihre Blicke begegneten sich. Welch eine außergewöhnliche Schönheit … während Dujek so hässlich ist wie eine Hundeschnauze. Ein weiterer Beweis dafür, dass ich mich vor vielen Jahren für die falsche Seite entschieden habe. Aber sie ist wohl kaum in dieser Hinsicht an mir interessiert, nein, sie versucht, mir etwas ganz anderes mitzuteilen … Nach einem langen Augenblick nickte er. Silberfuchs … oh, ja, sie ist immer noch ein Kind. Eine Tontafel, die noch kaum beschrieben war. In Ordnung, Tiste Andii, ich verstehe, was du meinst.

Diejenigen, die sich dazu entschlossen, an Silberfuchs’ Seite zu bleiben, mochten sehr wohl in der Lage sein, darauf Einfluss zu nehmen, was aus ihr werden würde. Korlat wollte sich unter vier Augen mit ihm unterhalten, und er hatte die Einladung gerade angenommen. Elster wünschte sich, der Schnelle Ben wäre jetzt an seiner Seite; der Magier aus dem Reich der Sieben Städte besaß eine Art von Scharfsinn, der für Situationen wie diese wie geschaffen war. Der Kommandant hingegen fühlte sich bereits, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren. Paran, du armer Kerl. Was soll ich dir bloß erzählen? Soll ich dafür sorgen, dass ihr beide euch begegnet, du und Silberfuchs? Werde ich in der Lage sein, ein solches Treffen zu verhindern, wenn du erst Bescheid weißt? Geht es mich überhaupt etwas an?

 

Schartekes Schnabel stand weit offen, aber diesmal lachte sie nicht lautlos. Stattdessen verspürte sie ein ungewohntes Entsetzen. T’lan Imass! Und K’rul, der Ältere Gott! Sie wissen die Wahrheit über die Großen Raben, eine Wahrheit, die sonst niemand kennt – außer Silberfuchs, beim Abgrund … Silberfuchs, die in meine Seele geschaut und alles darin gelesen hat.

Oh, du leichtsinniges, leichtsinniges Kind! Willst du uns etwa zwingen, uns gegen dich zu verteidigen? Oder gegen jene, die du zu befehligen behauptest? Wir Große Raben haben niemals unsere eigenen Kriege geführt – willst du uns entfesselt sehen, dank deiner gedankenlosen Enthüllungen?

Wenn Rake davon erfahren sollte … auch wenn wir unsere Unschuld noch so sehr beteuern, es würde uns nichts nützen. Schließlich waren wir da, als er angekettet wurde, ja, das waren wir. Doch … ja, wir waren auch da, als er herabgestürzt ist! Die Großen Raben wurden wie Maden im Fleisch des Gestürzten geboren, und das, oh ja, das wird uns verdammen! Doch halt! Waren wir nicht die ehrenvollen Wächter der Magie des Verkrüppelten Gottes? Und waren nicht wir diejenigen, die die Kunde von der Pannionischen Domäne und der Bedrohung, die sie darstellt, in alle Welt getragen haben?

Eine Magie, die wir entfesseln können, wenn wir dazu gezwungen werden. Ach, mein Kind, du gefährdest so viel mit deinen leichtsinnigen Worten …

Ihre schwarzen, glänzenden Augen richteten sich auf Caladan Bruth. Sie musterte ihn eingehend, doch was auch immer der Kriegsherr denken mochte, es blieb hinter der ausdruckslosen, groben Maske seines Gesichts verborgen.

Halt deine Panik im Zaum, alte Vettel. Konzentriere dich wieder auf die Angelegenheiten, die direkt vor uns liegen. Denk nach!

Zu Zeiten des Imperators hatte sich das malazanische Imperium der T’lan Imass bedient. Die Eroberung des Reichs der Sieben Städte war das Ergebnis gewesen. Doch dann, mit Kellanveds Tod, hatte sich das Bündnis aufgelöst, und so war Genabackis die verheerende Unerbittlichkeit Zehntausender untoter Krieger, die sich wie Staub im Wind fortbewegen konnten, erspart geblieben. Dies allein hatte es Caladan Bruth ermöglicht, der malazanischen Bedrohung angemessen entgegenzutreten … oh, aber vielleicht hat es auch nur so ausgesehen. Hat er die Tiste Andii jemals wirklich entfesselt? Hat er Anomander Rake jemals entfesselt? Hat er jemals seine eigene, wirkliche Macht gezeigt? Bruth ist ein Aufgestiegener – das kann man in sorglosen Zeiten leicht vergessen. Sein Gewirr ist Tennes – die Macht des Landes selbst, die Erde, die das Heim der ewiglich schlafenden Göttin Brand ist. Caladan Bruth hat die Macht – da, in seinen Armen und in dem gewaltigen Hammer auf seinem Rücken –, Berge zu zerschmettern. Übertreibe ich etwa? Ein Flug in geringer Höhe über die zerschmetterten Gipfel östlich des Laederon-Plateaus erbringt genug Beweise für die Zeit, als er jünger und weniger gelassen war … Großmutter Scharteke, du solltest es besser wissen! Macht zieht Macht an. So ist es schon immer gewesen, und jetzt sind die T’lan Imass gekommen, und einmal mehr verändert sich das Gleichgewicht.

Meine Kinder spionieren in der Pannionischen Domäne. Sie können die Macht riechen, die von jenen Landen aufsteigt, die so durch und durch in Blut getaucht sind; aber diese Macht bleibt gesichtslos, als wäre sie hinter einer ganzen Abfolge täuschender, in die Irreführender Schichten verborgen. Was verbirgt sich im Herzen dieses Reichs der Fanatiker?

Dieses grauenvolle Kind weiß es – ich würde auf des Gottes Bett aus zerfetztem Fleisch darauf schwören, oh ja. Und sie wird die T’lan Imass … genau zu diesem Herzen führen.

Begreifst du das, Caladan Bruth? Ich glaube, du begreifst es. Und selbst wenn Kallor, dieser ergraute alte Tyrann, seine Warnungen mit kalter Willenskraft ausstößt … selbst wenn du erschüttert bist von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft untoter Verbündeter, so hat es dir einen noch viel größeren Schock versetzt, dass sie gebraucht werden. Wem oder was haben wir den Krieg erklärt? Was wird noch von uns übrig sein, wenn er vorbei ist?

Und, beim Abgrund, welche geheime Wahrheit weiß Kallor über Silberfuchs?

 

Die Mhybe trotzte dem überwältigenden Ekel, den sie sich selbst gegenüber empfand, und zwang sich, mit brutaler Klarheit zu denken, lauschte auf alles, was Silberfuchs sagte, auf jedes einzelne Wort, und auch auf das, was zwischen den einzelnen Worten war. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, während die Worte ihrer Tochter wie ein Sperrfeuer auf sie einprasselten. Solche Geheimnisse zu offenbaren ließ alle ihre Instinkte förmlich aufheulen – so viel preiszugeben, war voller Risiken. Doch endlich verstand sie die Lage ein wenig, in der Silberfuchs sich wiedergefunden hatte – die Bekenntnisse waren ein Hilfeschrei.

Sie braucht Verbündete. Sie weiß, dass ich allein nicht ausreiche – bei den Geistern hienieden, das ist ihr gerade gezeigt worden. Aber da ist noch mehr. Sie weiß, dass diese beiden Lager – die so lange Feinde waren – eine Brücke brauchen. In dem einen Lager geboren, streckt sie sich nach dem anderen. All das, was einst Flickenseel oder Nachtfrost war, ruft nach den alten Kameraden. Werden sie antworten?

Elsters Gefühle konnte die Mhybe nicht erkennen. Seine Gedanken mochten sehr wohl ein Echo von Kallors Standpunkt sein. Eine Abscheulichkeit. Sie sah, wie er einen Blick mit Korlat wechselte, und fragte sich, was zwischen den beiden ausgetauscht worden war.

Denk nach! Es liegt in der Natur aller hier Anwesenden, jede Situation unter strategischen Gesichtspunkten zu betrachten, und dabei persönliche Gefühle beiseite zu schieben, um abzuschätzen und abzuwägen. Silberfuchs ist vorgetreten; sie hat eine Position der Macht beansprucht, die der von Bruth, Anomander Rake oder Kallor gleichkommt. Fragt sich Dujek Einarm jetzt, mit wem er sich hier eigentlich abgibt? Begreift er, dass wir alle nur seinetwegen vereint waren – dass zwölf Jahre lang die Clans der Barghast und der Rhivi, die grundverschiedenen Kompanien von gut zwanzig Städten, die Tiste Andii, Anomander Rake, Caladan Bruth und Kallor – ganz zu schweigen von der Karmesin-Garde – dass wir alle des malazanischen Imperiums wegen Seite an Seite gestanden haben? Wegen Hohefaust Dujek Einarm persönlich.

Aber jetzt haben wir einen neuen Feind. Wir wissen bisher noch nicht viel über ihn, und das hat eine Art Zerbrechlichkeit unter uns erzeugt – ha, das ist mal eine Untertreibung – die Dujek Einarm jetzt erkennen kann.

Silberfuchs behauptet, dass wir die T’lan Imass brauchen werden. Nur der boshafte alte Imperator hätte sich mit solchen Kreaturen als Verbündete wohl fühlen können – selbst Kallor zuckt vor dem zurück, was uns aufgezwungen wird. Die zerbrechliche Allianz knirscht und wankt. Du bist ein viel zu kluger Mann, Hohefaust, um jetzt nicht schwere Zweifel zu haben.

Der einarmige Mann fand nach Silberfuchs’ Eröffnungen als Erster die Sprache wieder, und er wandte sich mit langsamen, sorgfältig gewählten Worten an das Kind. »Die T’lan Imass, mit denen das malazanische Imperium vertraut ist, gehören zu der Armee, die von Logros befehligt wird. Nach deinen Worten müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es sehr wohl noch andere Armeen gibt, von denen wir jedoch noch nie gehört haben. Warum ist das so, Kind?«

»Die letzte Zusammenkunft«, erwiderte das Kind, »war vor Hunderttausenden von Jahren, und dabei wurde das Ritual von Teilann heraufbeschworen – das Binden des Imass-Gewirrs an jeden einzelnen und jede einzelne Imass. Das Ritual hat sie unsterblich gemacht, Hohefaust. Die Lebenskraft eines ganzen Volkes wurde im Namen eines Heiligen Kriegs gefesselt, der dazu bestimmt war, jahrtausendelang zu dauern – «

»Im Namen des Kriegs gegen die Jaghut«, krächzte Kallor. Sein schmales, faltiges Gesicht verzog sich unter dem bereits trocknenden Blut zu einem höhnischen Lächeln. »Von einer Hand voll Tyrannen einmal abgesehen, waren die Jaghut Pazifisten. Ihr einziges Verbrechen war, dass sie existiert haben – «

»Hört auf mit Euren Andeutungen, dass dieser Krieg ungerecht gewesen wäre, Hochkönig«, fuhr Silberfuchs den alten Krieger an. »Ich besitze genug von Nachtfrosts Erinnerungen, um mich an das imperiale Gewirr zu erinnern – den Ort, über den ihr einst geherrscht habt, Kallor, bevor die Malazaner ihn für sich in Anspruch genommen haben. Ihr habt ein ganzes Reich verwüstet – Ihr habt das Leben dort ausgelöscht, habt nichts als Asche und verbrannte Knochen übrig gelassen. Ein ganzes Reich!«

Das blutverschmierte Grinsen des großen Kriegers war gespenstisch. »Ah, dann bist du also wirklich da, ja? Aber ich glaube, du versteckst dich, verdrehst die Wahrheit, verformst sie zu falschen Erinnerungen. Du versteckst dich, du erbärmliches, verfluchtes Weib!« Sein Lächeln wurde härter. »Aber dann solltest du auch wissen, dass du meinen Zorn besser nicht herausfordern solltest, Knochenwerferin. Flickenseel. Nachtfrost … liebes Kind …«

Die Mhybe sah, wie ihre Tochter erbleichte. Zwischen diesen beiden besteht etwas … eine uralte Feindschaft – warum habe ich das bisher nicht gesehen? Hier geht es um alte Erinnerungen … zwischen ihnen besteht eine Verbindung. Zwischen meiner Tochter und Kallor – nein, zwischen Kallor und einer der Seelen in ihrem Innern …

Nach kurzem Schweigen richtete Silberfuchs ihre Aufmerksamkeit wieder auf Dujek. »Um Euch eine Antwort zu geben: Logros und die Clans unter seinem Befehl waren mit der Aufgabe betraut, den Ersten Thron zu verteidigen. Die anderen Armeen sind aufgebrochen, um die letzten Festungen der Jaghut zu vernichten – die Jaghut hatten Barrieren aus Eis geschaffen. Omtose Phellack ist ein Gewirr aus Eis, Hohefaust, ein mörderisch kalter, nahezu lebloser Ort. Die Zaubereien der Jaghut haben die Welt bedroht … der Meeresspiegel ist gesunken, ganze Arten sind ausgestorben – jedes Gebirge war eine Barriere. Eis floss in weißen Strömen die Hänge hinab. Eis, das an einigen Stellen drei Meilen dick war. Als Sterbliche wurden die Imass zerstreut, ihre Einheit war verloren. Sie konnten solche Barrieren nicht überwinden. Es gab Hungersnöte – «

»Die Kriege gegen die Jaghut hatten schon viel früher begonnen«, schnappte Kallor. »Sie haben nur versucht, sich zu verteidigen – und wer würde das nicht tun?«

Silberfuchs zuckte nur die Schultern. »Als an Tellann gebundene Untote konnten unsere Armeen diese Barrieren überwinden. Die Bemühungen, die Jaghut auszurotten, erwiesen sich als … kostspielig. Ihr habt von diesen Armeen noch nicht einmal ein Flüstern gehört, weil viele von ihnen dezimiert wurden, während andere den Krieg an fernen, ungastlichen Orten vielleicht immer noch weiterführen.«

Auf dem Gesicht der Hohefaust lag ein schmerzlicher Ausdruck. »Die Logros haben das Imperium verlassen und waren einige Zeit lang in der Jhag Odhan verschwunden; als sie zurückgekehrt sind, hatte sich ihre Zahl deutlich verringert.«

Sie nickte.

»Haben die Logros auf deinen Ruf geantwortet?«

»Ich bin mir nicht sicher – kann mir nicht sicher sein, bei keinem der Clans«, sagte das Mädchen stirnrunzelnd. »Sie haben ihn gehört. Wenn sie dazu in der Lage sind, werden sie alle kommen, und ich spüre, dass eine Armee ganz nah ist – zumindest glaube ich, dass ich spüre.«

Es gibt so viel, was du uns nicht erzählst, Tochter. Ich kann es in deinen Augen sehen. Du fürchtest, dass du auf deinen Hilferuf keine Antwort erhalten wirst, wenn du zu viel enthüllst.

Dujek seufzte und schaute den Kriegsherrn an. »Caladan Bruth, wollen wir unsere Diskussion über die geeignete Strategie wieder aufnehmen?«

Die Soldaten beugten sich erneut über den Kartentisch; leise krächzend gesellte sich Scharteke zu ihnen. Kurz darauf ergriff die Mhybe die Hand ihrer Tochter und führte sie zum Ausgang des Zeltes. Korlat schloss sich ihnen an, als sie ins Freie traten. Zur Überraschung der Mhybe folgte ihnen auch Elster.

Nach dem Aufenthalt im Innern des Kommandozelts war die kühle Nachmittagsbrise eine willkommene Abwechslung. Ohne ein einziges Wort zu wechseln, ging die kleine Gruppe ein kurzes Stück, bis sie zu einer Lichtung zwischen dem Lager der Tiste Andii und dem der Barghast kamen. Nachdem sie Halt gemacht hatten, richtete der Kommandant seine grauen Augen auf Silberfuchs.

»Ich kann eine Menge von Flickenseel in dir erkennen, Mädchen – an wie viel von ihrem Leben, ihren Erinnerungen kannst du dich erinnern?«

»An Gesichter«, antwortete sie mit einem vorsichtigen Lächeln. »Und die Gefühle, die mit ihnen verbunden sind, Kommandant. Du und ich, wir waren eine Zeit lang Verbündete. Ich glaube sogar, wir waren Freunde …«

Er nickte schwer. »Ja, das waren wir. Erinnerst du dich an den Schnellen Ben? Und den Rest meines Trupps? Was ist mit Locke? Oder Tayschrenn? Erinnerst du dich an Hauptmann Paran?«

»Der Schnelle Ben«, flüsterte sie unsicher. »War das nicht ein Magier? Aus dem Reich der Sieben Städte … ein Mann mit vielen Geheimnissen … oh, ja«, sie lächelte erneut, »der Schnelle Ben. Locke – der war kein Freund, sondern eine Bedrohung – er hat mir Schmerzen bereitet …«

»Er ist jetzt tot.«

»Ein Glück. Tayschrenn ist ein Name, den ich erst kürzlich gehört habe. Laseens bevorzugter Hohemagier – wir haben uns gestritten, er und ich, als ich Flickenseel war … und auch, als ich Nachtfrost war. Er hat keinen Sinn für Loyalität, keinen Sinn für Vertrauen – die Gedanken an ihn verwirren mich.«

»Und was ist mit dem Hauptmann?«

Etwas im Tonfall des Kommandanten ließ die Mhybe überaus wachsam werden.

Silberfuchs wich Elsters Blick aus. »Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen.«

Der Kommandant räusperte sich. »Er ist im Augenblick in Fahl. Es geht mich zwar nichts an, Mädchen, aber du könntest vielleicht einmal darüber nachdenken, was es für Konsequenzen haben könnte, wenn du dich mit ihm treffen würdest … wenn er … äh … herausfindet, dass du …« Seine Stimme erstarb. Dem Veteran war ganz offensichtlich unbehaglich zu Mute.

Bei den Geistern hienieden! Dieser Hauptmann Paran war Flickenseels Liebhaber! Ich hätte mir so etwas eigentlich denken müssen – die Seelen zweier erwachsener Frauen … »Silberfuchs … Tochter …«

»Wir sind ihm schon begegnet, Mutter«, sagte sie. »Als wir die Bhederin nach Norden getrieben haben – erinnerst du dich? Der Soldat, der unseren Lanzen getrotzt hat? Ich habe es damals schon gewusst – ich habe ihn erkannt, habe gewusst, wer er war.« Sie blickte erneut den Kommandanten an. »Paran weiß Bescheid. Schicke ihm eine Nachricht, dass ich hier bin. Bitte.«

»Nun gut, Mädchen.« Elster hob den Kopf und musterte das Lager der Barghast. »Die Brückenverbrenner werden dem Lager so oder so einen … Besuch abstatten. Der Hauptmann befehligt sie jetzt. Ich bin mir sicher, dass der Schnelle Ben und Fäustel hocherfreut sein werden, wieder deine Bekanntschaft zu machen – «

»Du meinst, du willst, dass sie mich untersuchen, damit es dir leichter fällt, eine Entscheidung zu treffen, ob ich eurer Unterstützung wert bin«, sagte Silberfuchs. »Keine Sorge, Kommandant, diese Aussicht beunruhigt mich keineswegs – in vielerlei Hinsicht bin ich auch für mich selbst ein Geheimnis, und aus diesem Grund bin ich neugierig, was sie wohl entdecken werden.«

Elster verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Du hast die gleiche schonungslose Offenheit wie die Zauberin, Mädchen – ohne allerdings über ihr gelegentlich vorhandenes Taktgefühl zu verfügen.«

Plötzlich ergriff Korlat das Wort. »Kommandant Elster, ich glaube, wir beide sollten ein paar Dinge besprechen.«

»In Ordnung«, sagte er.

Die Tiste Andii wandte sich der Mhybe und Silberfuchs zu. »Wir werden euch beide jetzt allein lassen.«

»Natürlich«, erwiderte die alte Frau und kämpfte zur gleichen Zeit damit, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Der Soldat, der unseren Lanzen getrotzt hat – oh, ja, ich erinnere mich, mein Kind. Alte Fragen, die nun endlich eine Antwort gefunden haben … und dafür tausend neue, die mich alte Frau plagen … »Komm mit, Silberfuchs, es ist Zeit, dich wieder in der Lebensweise der Rhivi zu unterrichten.«

»Ja, Mutter.«

 

Elster schaute den beiden Rhivi nach, während sie davongingen. »Sie hat viel zu viel enthüllt«, sagte er nach einem Augenblick. »Die Verhandlungen liefen gut, haben die Verbindungen enger geknüpft … und dann hat das Kind gesprochen.«

»Ja«, murmelte Korlat. »Sie verfügt über geheimes Wissen – das Wissen der T’lan Imass. Erinnerungen an diese Welt, die sich über Jahrtausende erstrecken. Die sich über einen so großen Zeitraum erstrecken, dass jene Wesen Zeugen vieler Geschehnisse wurden … der Sturz des Verkrüppelten Gottes, die Ankunft der Tiste Andii, der letzte Flug der Drachen hinein in das Gewirr Starvald Demelain …« Sie verstummte. Ihr Blick verschleierte sich.

Elster musterte sie einen Augenblick, dann sagte er: »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Großer Rabe so offensichtlich … nervös geworden ist.«

Korlat lächelte. »Scharteke glaubt, wir kennen das Geheimnis der Geburt ihrer Art nicht. Es ist die Schande ihres Ursprungs, versteht Ihr – so sehen sie es zumindest selbst. Rake ist der … der moralische Kontext völlig gleichgültig, so wie uns allen.«

»Was ist denn daran so beschämend?«

»Die Großen Raben sind keine natürlichen Kreaturen. Das Herabziehen des fremden Wesens, der später der Verkrüppelte Gott genannt werden sollte, war ein … brutales Ereignis. Teile von ihm wurden weggerissen, und sie stürzten vom Himmel wie Feuerbälle, verwüsteten ganze Landstriche. Stücke von seinem Fleisch und seinen Knochen lagen faulend in den gewaltigen Kratern, die sie erzeugt hatten, aber diese Stücke klammerten sich noch immer an eine Art von Leben. Aus diesem Fleisch wurden die Großen Raben geboren, und sie tragen in sich Bruchstücke der Macht des Verkrüppelten Gottes. Ihr habt Scharteke und ihre Artgenossen gesehen – sie verschlingen Magie, es ist ihre wirkliche Nahrung. Wenn man Große Raben mittels Zauberei angreift, führt das nur dazu, dass sie stärker werden, dass ihre Unempfänglichkeit stärker wird. Scharteke ist die Erstgeborene. Rake glaubt, dass in ihr ein … beängstigendes Potenzial verborgen liegt, und daher behält er sie und ihre Artgenossen in seiner Nähe.«

Sie machte eine Pause, sah Elster dann an. »Kommandant, in Darujhistan sind wir mit einem Eurer Magier aneinander geraten …«

»Stimmt, das war der Schnelle Ben. Er wird in Kürze hier sein, und ich werde mir dann anhören, was er von dem allen hier denkt.«

»Das ist der Mann, den Ihr vorhin gegenüber dem Kind erwähnt habt.« Sie nickte. »Ich muss zugeben, dass ich dem Magier eine gewisse Bewunderung entgegenbringe; aus diesem Grunde freue ich mich darauf, ihn kennen zu lernen.« Ihre Blicke trafen sich. »Und ich bin auch sehr erfreut, Euch kennen gelernt zu haben. Silberfuchs hat die Wahrheit gesagt, als sie meinte, sie würde Euch trauen. Und ich glaube, ich traue Euch auch.« -

Er trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. »Es hat bisher kaum Kontakt zwischen uns gegeben, Korlat – zumindest keinen, der ein solches Vertrauen rechtfertigen würde. Dennoch werde ich mich bemühen, es mir zu verdienen.«

»Das Mädchen trägt die Seele von Flickenseel in sich, einer Frau, die Euch gut gekannt hat. Auch wenn ich der Zauberin niemals begegnet bin, finde ich, dass die Frau, die sie einmal war – und die jeden Tag deutlicher in Silberfuchs hervortritt –, über bewundernswerte Qualitäten verfügt hat.«

Elster nickte langsam. »Sie war … eine Freundin.«

»Was wisst Ihr von den Ereignissen, die zu dieser … Wiedergeburt geführt haben?«

»Nicht genug, fürchte ich«, antwortete er. »Paran hat uns die Nachricht von Flickenseels Tod überbracht; er war auf ihre … Überreste gestoßen. Sie starb in der Umarmung eines Thelomen-Hohemagiers namens Bellurdan, der mit dem Leichnam seiner Frau, Nachtfrost, auf die Ebene hinausgereist war; wahrscheinlich hatte er vor, seine Frau zu bestatten. Flickenseel war bereits auf der Flucht, und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Bellurdan die Anweisung bekommen hatte, sie zurückzubringen. Soweit ich es sagen kann, ist es so, wie Silberfuchs es erzählt hat.«

Korlat richtete den Blick in die Ferne und sagte längere Zeit nichts. Als sie dann doch sprach, ließ ihre Frage, die so einfach wie logisch war, Elsters Herz wild in seiner Brust hämmern. »Kommandant, wir spüren Flickenseel und Nachtfrost in dem Kind – und das Mädchen selbst gibt zu, dass diese beiden in ihr sind –, aber jetzt frage ich mich, wo ist dann dieser Thelomen, Bellurdan?«

Er konnte nur tief Luft holen und den Kopf schütteln. Bei den Göttern, ich weiß es nicht …