Kapitel Eins
Erinnerungen sind gewobene Wandbehänge, hinter denen sich harte Wände verbergen – sagt mir, welche Farbe der Faden hat, den ihr bevorzugt, meine Freunde, und ich werde euch im Gegenzug den Farbton eurer Seele nennen …
Das Leben der Träume
Ilbares, die Hexe
Das 1164. Jahr von Brands Schlaf (zwei Monate
nach dem Fest von Darujhistan)
Das 4. Jahr der Pannionischen Domäne
Das Teilann-Jahr der Zweiten
D
ie Kalkstein-Blöcke der Brücke lagen angesengt und zerbrochen überall im aufgewühlten Schlamm des Flussufers verstreut, als wäre die Hand eines Gottes herabgekommen und hätte den steinernen Bogen mit einer einzigen, gehässigen Geste der Verachtung beiseite gewischt. Und das, vermutete Grantl, war nicht weiter als einen halben Schritt von der Wahrheit entfernt.
Die Nachricht war weniger als eine Woche nach der Zerstörung nach Darujhistan gelangt, als die ersten Karawanen auf ihrem Weg nach Osten diesseits des Flusses den Übergang erreicht und festgestellt hatten, dass dort, wo einst eine brauchbare Brücke gestanden hatte, jetzt nur noch ein Haufen Steine lag. Geflüsterte Gerüchte erzählten von einem uralten Dämonen, der von Agenten des malazanischen Imperiums entfesselt worden und die Gadrobi-Hügel herabgeschritten war, um Darujhistan zu vernichten.
Grantl spuckte in das geschwärzte Gras neben dem Wagen. Er hatte so seine Zweifel, was diese Geschichte anging. Zugegeben, in jener Nacht, bei dem Fest vor zwei Monaten, waren merkwürdige Dinge in der Stadt vorgegangen – nicht dass er nüchtern genug gewesen wäre, um selbst irgendetwas Ungewöhnliches zu bemerken –, und es hatte genügend Zeugen gegeben, um die Geschichten von Drachen, Dämonen und dem Furcht erregenden Herabsinken von Mondbrut glaubwürdig erscheinen zu lassen, aber jeder heraufbeschworene Dämon, der stark genug gewesen wäre, einen ganzen Landstrich zu verwüsten, hätte auch Darujhistan erreicht. Und da die Stadt keineswegs nur noch ein schwelender Schlackehaufen war – zumindest nicht mehr als sonst nach einer Feier, an der die ganze Stadt beteiligt gewesen war –, war genau das nicht geschehen.
Nein, es war viel wahrscheinlicher, dass es die Hand eines Gottes gewesen war oder auch ein Erdbeben – obwohl die Gadrobi-Hügel nicht unbedingt als besonders instabile Zone galten. Vielleicht hatte sich auch nur Brand in ihrem ewigen Schlaf unruhig bewegt.
Wie auch immer, die unwiderlegbaren Tatsachen standen jetzt vor ihm. Oder genauer, sie standen nicht, sondern lagen bis zum Tor des Vermummten verstreut herum, und noch darüber hinaus. Und es bewahrheitete sich einmal mehr, dass egal, welche Spiele die Götter auch immer spielten, dreckige, hart arbeitende arme Schweine wie er darunter zu leiden hatten.
Die alte Furt wurde jetzt wieder benutzt; sie lag dreißig Schritt flussaufwärts von dort, wo die Brücke errichtet worden war. Jahrhundertelang war sie nicht mehr in Gebrauch gewesen, und nach einer Woche mit für diese Jahreszeit untypischen Regenfällen waren beide Flussufer die reinsten Schlammlöcher. Unzählige Karawanen drängten sich am Flussübergang; diejenigen, die sich dort befanden, wo früher Rampen gewesen waren, und diejenigen weiter draußen im angeschwollenen Fluss steckten hoffnungslos fest. Außerdem warteten Dutzende weitere auf den Karawanenwegen, wobei die Stimmung der Händler, Wachen und Tiere von Stunde zu Stunde schlechter wurde.
Zwei Tage warteten sie jetzt schon darauf, den Fluss überqueren zu können, und Grantl war überaus zufrieden mit seiner kleinen Truppe. Sie waren wirklich Inseln der Ruhe. Harllo war zu den Überresten eines auf dieser Seite gelegenen Brückenpfeilers hinausgewatet und saß jetzt darauf, die Angelrute in der Hand. Stonny Menackis hatte eine zerlumpte Bande anderer Karawanenwächter zu Storbys Wagen geführt, und Storby war nicht allzu ungehalten darüber, krügeweise Bier aus Gredfallan zu Höchstpreisen verkaufen zu können. Dass die Bierfässer eigentlich für eine abgelegene Schänke außerhalb von Saltoan bestimmt waren, war eben Pech für den auf seine Vorräte wartenden Wirt. Wenn die Dinge sich so weiterentwickelten, würde hier in kürzester Zeit ein Marktflecken entstehen, und dann eine ganze verfluchte Stadt, beim Vermummten. Irgendwann würde schließlich ein Beamter im Planungsamt von Darujhistan zu dem Schluss kommen, dass es eine gute Idee wäre, die Brücke wieder aufzubauen, und in zehn Jahren oder so würde das Bauwerk dann endlich wieder stehen. Es sei denn, natürlich, die Stadt wäre dann ein florierendes Gemeinwesen; in diesem Fall würden sie einen Steuereintreiber schicken.
Grantl war ebenso erfreut über die Gelassenheit, mit der sein Auftraggeber die Verspätung hinnahm. Er hatte gehört, dass dem Kaufmann Manqui auf der anderen Seite des Flusses vor Ärger eine Ader im Kopf geplatzt sei und er prompt gestorben war, was viel typischer für diese Brut war. Nein, ihr Herr Keruli war so untypisch, dass sein Verhalten sogar drohte, den sorgsam gehegten Widerwillen, den Grantl allen Kaufleuten gegenüber hegte, in Frage zu stellen. Andererseits hatten Kerulis besondere Charakterzüge beim Anführer der Karawanenwächter ohnehin schon den Verdacht aufkommen lassen, dass ihr Herr eigentlich überhaupt kein Kaufmann war.
Nicht dass es irgendeine Rolle gespielt hätte. Münzen waren Münzen, und Keruli bezahlte gut. Genau gesagt sogar überdurchschnittlich. Daher hätte es Grantl auch nicht weiter gekümmert, wenn der Mann Fürst Arard gewesen wäre, der sich als Händler verkleidet hatte.
»Ihr da, mein Herr!«
Grantl riss den Blick von Harllos bisher erfolglosen Versuchen, einen Fisch zu fangen, los. Ein grauhaariger alter Mann stand neben dem Wagen und blinzelte zu ihm hoch. »Ganz schön anmaßend, Euer Tonfall«, sagte der Anführer der Karawanenwächter mit grollender Stimme. »Nach den Lumpen zu urteilen, die Ihr tragt, seid Ihr nämlich entweder der mieseste Kaufmann der Welt oder der Diener eines armen Mannes.«
»Kammerdiener, um es ganz genau auszudrücken. Mein Name ist Emancipor Reese. Was jedoch Eure Bemerkung betrifft, dass meine Herren arm sein müssen – das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Wir sind allerdings schon ziemlich lange unterwegs.«
»Dann will ich das mal so glauben«, meinte Grantl, »denn ich kenne Euren Akzent nicht, und wenn ich das sage, dann heißt das eine ganze Menge. Was wollt Ihr, Reese?«
Der Diener kratzte sich das faltige Kinn, aus dem silbrige Stoppeln sprossen. »Vorsichtige Befragungen des hier versammelten Pöbels haben ergeben, dass Ihr allgemein als ein Mann geltet, der sich ein gewisses Maß an Respekt verschafft hat – soweit man das von einem Karawanenwächter sagen kann.«
»Soweit man das von einem Karawanenwächter sagen kann, könnte es schon sein, dass ich das getan habe«, bemerkte Grantl trocken. »Um was geht es?«
»Meine Herren wünschen mit Euch zu sprechen. Falls Ihr im Moment nicht zu beschäftigt seid – wir haben unser Lager nicht weit von hier aufgeschlagen.«
Grantl lehnte sich auf dem Kutschbock zurück und musterte Reese einen Augenblick, dann grunzte er. »Bevor ich mich mit irgendwelchen anderen Kaufleuten treffe, muss ich das erst mit meinem Auftraggeber besprechen.«
»Aber natürlich, Karawanenführer. Und Ihr könnt ihm versichern, dass meine Herren nicht den Wunsch haben, Euch abzuwerben oder Euren Kontrakt auf irgendeine andere Weise zu gefährden.«
»Tatsächlich? In Ordnung, wartet hier.« Grantl schwang sich auf der von Reese abgewandten Seite vom Kutschbock. Er trat an die kleine, mit Verzierungen eingefasste Tür und klopfte einmal. Die Tür öffnete sich sanft, und aus der Dunkelheit im Innern des Wagens schaute Kerulis rundes, ausdrucksloses Gesicht heraus.
»Ja, Grantl, geht auf alle Fälle hin. Ich muss zugeben, dass mich eine gewisse Neugier umtreibt, was die beiden Herren dieses Mannes betrifft. Seid bitte bei diesem Treffen höchst aufmerksam, achtet selbst auf die kleinsten Kleinigkeiten. Und wenn Ihr könnt, findet heraus, was die beiden seit gestern getan haben.«
Der Karawanenführer grunzte, um seine Überraschung zu verbergen; Kerulis Wissen war ganz sicher unnatürlich – der Mann hatte den Wagen die ganze Zeit nicht ein einziges Mal verlassen. »Wie Ihr wünscht, Herr«, sagte Grantl schließlich.
»Oh, und holt auf dem Rückweg Stonny ab. Sie hat bereits viel zu viel getrunken und wird allmählich ziemlich streitlustig.«
»Dann sollte ich sie vielleicht besser jetzt gleich einsammeln. Sonst spießt sie womöglich noch jemanden mit ihrem Rapier auf. Ich kenne ihre Stimmungen.«
»Aha. Nun, dann schickt Harllo hin.«
»Äh, der würde wahrscheinlich kräftig mitmischen, Herr.«
»Und doch sprecht Ihr stets voller Wohlwollen von den beiden.«
»Das tue ich«, erwiderte Grantl. »Ich will nicht unbescheiden erscheinen, Herr, aber wenn wir drei für den gleichen Auftraggeber arbeiten, sind wir ebenso gut wie doppelt so viele andere, wen es darum geht, unseren Herrn und seine Waren zu beschützen. Deshalb sind wir auch so teuer.«
»Oh, Euer Preis war hoch? Ich verstehe. Hm. Dann teilt Euren beiden Gefährten mit, dass ich ihrem Lohn einen anständigen Bonus hinzufügen werde, wenn sie es schaffen, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen.«
Grantl schaffte es irgendwie, den Mund wieder zuzumachen und nicht Maulaffen feilzuhalten. »Oh, äh, das sollte das Problem wohl lösen, Herr.«
»Hervorragend. Dann sagt Harllo Bescheid und schickt ihn los.«
»Ja, Herr.«
Die Tür schwang zu.
Es stellte sich heraus, dass Harllo bereits auf dem Rückweg zum Wagen war, die Angelrute in der einen riesigen Hand, in der anderen ein trauriges Etwas, das wohl ein Fisch sein sollte. Die leuchtend blauen Augen des Mannes tanzten vor Aufregung.
»Schau her, du armseliger Ersatz für einen Mann – ich habe uns ein Abendessen gefangen!«
»Das Abendessen für eine Klosterratte, meinst du wohl. Ich könnte das verdammte Ding durch ein Nasenloch einatmen.«
Harllo machte ein finsteres Gesicht. »Fischsuppe. Der Geschmack …«
»Das ist ja wirklich toll. Ich liebe nach Schlamm schmeckende Fischsuppe. Schau doch, das Vieh atmet noch nicht einmal – es war wahrscheinlich schon tot, als du es gefangen hast.«
»Ich habe ihm einen Felsbrocken zwischen die Augen gehauen, Grantl …«
»Das muss ein ziemlich kleiner Felsbrocken gewesen sein.«
»Dafür kriegst du nichts ab – «
»Und dafür hast du meinen Segen. Hör zu. Stonny wird allmählich betrunken – «
»Komisch. Ich höre noch gar kein Handgemenge – «
»Es gibt einen Bonus von Keruli, wenn es kein Handgemenge gibt. Hast du verstanden?«
Harllo warf einen Blick zur Tür des Wagens und nickte. »Ich sage ihr Bescheid.«
»Du solltest dich lieber beeilen.«
»Da hast du Recht.«
Grantl schaute ihm hinterher, als er davonhastete, noch immer die Angelrute und seinen Fang in den Händen. Die Arme des Mannes waren gewaltig, viel zu lang und muskulös für seine ansonsten dürre Gestalt. Er hatte sich als Waffe ein Zweihandschwert ausgesucht, das sie einem Waffenschmied in einem Kaff namens Geschichte des Toten Mannes abgekauft hatten. Und mit seinen affenartigen Armen schwang er es, als ob es aus Bambus wäre. Harllos hellblonder Haarschopf saß wie ein Knäuel verwickelter Angelschnüre auf seinem Kopf. Fremde lachten oft, wenn sie ihn das erste Mal sahen, doch Harllo bediente sich der flachen Seite seiner Klinge, um derartige Reaktionen abzuwürgen. Kurz und bündig.
Seufzend drehte sich Grantl zu Emancipor Reese um, der immer noch dastand und auf ihn wartete. »Dann geht voran«, sagte er.
Reese neigte den Kopf. »Hervorragend.«
Der Wagen war gewaltig, ein richtiges Haus, das auf hohen Speichenrädern hockte. Reiche Schnitzereien bedeckten den fremdartig gewölbten Aufbau, kleine, bemalte Gestalten, die mit einem anzüglichen Grinsen herumtollten und -kletterten. Die Kutschbank wurde von einer ausgeblichenen Markise aus Leinenstoff geschützt. Vier Ochsen trampelten frei in einem behelfsmäßigen Gehege herum, das sich in zehn Schritt Entfernung auf der windabgewandten Seite des Lagers befand.
Ruhe war den Herren des Dieners ganz offensichtlich wichtig, denn sie hatten ihr Lager ein ganzes Stück abseits der Straße und in einiger Entfernung von den anderen Kaufleuten aufgeschlagen. Ihr Lagerplatz bot ihnen freie Sicht auf die Hügel südlich der Straße und die weite, offene Fläche der Ebene dahinter.
Auf dem Kutschbock lag eine räudige Katze und beobachtete, wie Grantl und Reese näher kamen.
»Ist das Eure Katze?«, fragte der Hauptmann.
Reese schaute blinzelnd zu ihr hin, dann seufzte er. »Ja, mein Herr. Ihr Name ist Eichhörnchen.«
»Jeder Alchemist könnte diese Räude behandeln. Genau wie jede Wachshexe.«
Der Diener schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich werde mich auf alle Fälle darum kümmern, wenn wir nach Saltoan kommen«, murmelte er. »Oh«, er deutete mit einem Kopfnicken auf die Hügel jenseits der Straße, »da kommt Meister Bauchelain.«
Grantl drehte sich um und musterte den großen, hageren Mann, der soeben die Straße erreicht hatte und jetzt lässig auf sie zukam. Er trug einen teuren, knöchellangen Umhang aus schwarzem Leder und hohe Reitstiefel aus dem gleichen Material, graue Überhosen sowie ein locker fallendes, ebenfalls schwarzes Seidenhemd, durch das ein gutes, geschwärztes Kettenhemd hindurchschimmerte.
»Schwarz«, sagte Grantl zu Reese, »war der Farbton, den ganz Darujhistan letztes Jahr bevorzugt hat.«
»Schwarz ist der Farbton, den Bauchelain stets bevorzugt, Karawanenführer.«
Das Gesicht von Reeses Herr war blass und fast dreieckig, ein Eindruck, der durch den sorgfältig gestutzten Bart noch verstärkt wurde. Das stark eingeölte Haar hatte er straff aus der hohen Stirn gekämmt. Seine Augen waren von einem matten Grau – genauso farblos wie der Rest des Mannes –, und als ihr Blick dem seinen begegnete, spürte Grantl, wie seine Eingeweide sich erschrocken zusammenzogen.
»Karawanenführer Grantl.« Bauchelains Stimme klang sanft und kultiviert. »Euer Auftraggeber geht bei seiner Schnüffelei nicht besonders subtil vor. Zwar gehören wir sonst nicht zu den Leuten, die solche Neugier hinsichtlich unserer Aktivitäten belohnen, doch diesmal wollen wir eine Ausnahme machen. Ihr dürft mich begleiten.« Er warf einen Blick auf Reese. »Deine Katze scheint unter Herzjagen zu leiden. Ich würde vorschlagen, dass du dich um die arme Kreatur kümmerst.«
»Sofort, Herr.«
Grantl legte die Hände auf die Knäufe seiner Macheten und starrte Bauchelain aus zusammengekniffenen Augen an. Die Federn des Wagens quietschten, als der Diener auf den Kutschblock kletterte.
»Nun, Karawanenführer?«
Grantl rührte sich nicht von der Stelle.
Bauchelain zog eine dünne Augenbraue hoch. »Ich versichere Euch, Euer Auftraggeber wartet ungeduldig darauf, dass Ihr meinem Ersuchen nachkommt. Wenn Ihr Euch allerdings fürchtet, könnt Ihr ihn vielleicht dazu überreden, für die Dauer dieses Unternehmens Eure Hand zu halten. Doch ich muss Euch warnen: Ihn ins Freie zu schleppen, könnte sich selbst für einen Mann von Eurer Statur als Herausforderung erweisen.«
»Habt Ihr jemals geangelt?«, fragte Grantl.
»Geangelt?«
»Die Fische, die nach einem alten Köder schnappen, sind jung, und sie werden auch nicht alt. Ich arbeite nun schon mehr als zwanzig Jahre als Karawanenwächter, mein Herr. Ich bin nicht mehr jung. Wenn Ihr wollt, dass jemand nach Eurem Köder schnappt, solltet Ihr woanders angeln.«
Auf Bauchelains Gesicht erschien ein trockenes Lächeln. »Eure Worte beruhigen mich, Karawanenführer. Gehen wir weiter?«
»Zeigt mir den Weg.«
Sie überquerten die Straße. Ein Ziegenpfad führte sie in die Hügel. Der Karawanenlagerplatz auf dieser Seite des Flusses geriet schnell außer Sicht. Das verbrannte Gras, das der Feuersturm zurückgelassen hatte, der über dieses Land hinweggefegt war, verunstaltete jeden Hang und jeden Hügel, obwohl überall neues Grün zu sprießen begann.
»Feuer«, bemerkte Bauchelain, während sie weitergingen, »ist lebenswichtig für die Gesundheit dieses Präriegrases. Genauso wie das Vorüberziehen der Bhederin, deren Hunderttausende von Hufen die dünne Schicht Mutterboden verdichten. Leider bedeutet die Anwesenheit von Ziegen das Ende des frischen Grüns auf diesen uralten Hügeln. Aber ich habe zuerst von Feuer gesprochen, nicht wahr, Karawanenführer? Gewalt und Zerstörung, beide sind lebenswichtig für das Leben. Findet Ihr das merkwürdig, Karawanenführer?«
»Was ich merkwürdig finde, mein Herr, ist das Gefühl, dass ich anscheinend meine Wachstafel vergessen habe.«
»Dann habt Ihr also früher einmal Unterricht gehabt. Wie interessant. Ihr seid doch ein Kämpfer, oder nicht? Wozu braucht Ihr dann Buchstaben und Zahlen?«
»Und Ihr seid ein Mann der Buchstaben und Zahlen – wozu braucht Ihr dann das Breitschwert an Eurer Hüfte und das Kettenhemd?«
»Ein unglücklicher Nebeneffekt, den die Bildung der breiten Masse mit sich bringt, ist der daraus resultierende Mangel an Respekt.«
»Eine gesunde Skepsis, wolltet Ihr wohl sagen.«
»Eine Geringschätzung jeglicher Autorität, um es genau zu sagen. Ihr habt vielleicht bemerkt – um Eure Frage zu beantworten –, dass wir nur mit einem einzigen, bereits etwas älteren Diener reisen und keine Wachen angeheuert haben. Sich schützen zu können, ist in unserem Beruf lebenswichtig …«
»Und was ist das für ein Beruf?«
Sie stiegen einen gut ausgetretenen Pfad hinunter, der sich zwischen den Hügeln hinabwand. Bauchelain blieb stehen, blickte Grantl lächelnd an. »Ihr amüsiert mich, Karawanenführer. Ich verstehe jetzt, warum Ihr in der Karawanserei einen so guten Ruf habt. Denn was Euch im Vergleich zu Euren Kollegen einzigartig macht, ist die Tatsache, dass Ihr über ein funktionierendes Gehirn verfügt. Kommt, wir sind fast da.«
Sie umrundeten einen arg mitgenommenen Hang und erreichten den Rand eines frischen Kraters. Sein Grund bestand aus aufgewühltem Schlamm, der mit Gesteinsbrocken durchsetzt war. Grantl schätzte den Durchmesser des Kraters auf vierzig Schritt und seine Tiefe auf vier bis fünf Armlängen. Ganz in der Nähe saß ein Mann direkt an der Kante; er war ebenfalls in schwarzes Leder gekleidet, und sein kahler Schädel hatte die Farbe gebleichten Pergaments. Trotz seiner bemerkenswerten Größe erhob er sich völlig geräuschlos und drehte sich in einer einzigen fließenden, eleganten Bewegung zu ihnen um.
»Das ist Korbal Broach, Karawanenführer. Mein … Partner. Korbal, hier haben wir Grantl; sein Name ist mit ziemlicher Sicherheit ein versteckter Hinweis auf seine Persönlichkeit.«
Hatte Bauchelain in dem Karawanenführer Unbehagen hervorgerufen, so ließ dieser Mann mit seinem breiten, runden Gesicht, seinen von aufgedunsenem Fleisch umgebenen Augen, dem großen Mund mit den vollen Lippen, dessen Winkel leicht herabgezogen waren – einem Gesicht, das gleichzeitig kindlich und unaussprechlich monströs war –, Wellen der Furcht durch Grantl hindurchfluten. Auch diesmal war es eine völlig instinktive Reaktion, als verströmten Bauchelain und sein Partner eine Aura, die irgendwie verunreinigt war.
»Kein Wunder, dass die Katze Herzjagen hatte«, murmelte Grantl leise vor sich hin. Er riss den Blick von Korbal Broach los und musterte den Krater.
Bauchelain machte ein paar Schritte und stellte sich neben ihn. »Begreift Ihr, was Ihr da seht, Karawanenführer?«
»Klar. Ich bin kein Idiot. Da ist ein Loch in der Erde.«
»Wie witzig. Hier stand einst ein Hügelgrab. Und in diesem Grab war ein Jaghut-Tyrann angekettet.«
»Er war angekettet …«
»In der Tat. Ein weit entferntes Imperium hat sich eingemischt – zumindest habe ich etwas in der Richtung gehört. Und gemeinsam mit einem T’lan Imass ist es ihnen gelungen, die Kreatur zu befreien.«
»Ihr schenkt diesen Geschichten also Glauben«, sagte Grantl. »Aber wenn so etwas tatsächlich geschehen ist – was im Namen des Vermummten ist dann aus dieser Kreatur geworden?«
»Das haben wir uns auch gefragt, Karawanenführer. Wir sind Fremde auf diesem Kontinent. Bis vor wenigen Wochen hatten wir noch nie von einem malazanischen Imperium gehört, oder von der wunderbaren Stadt namens Darujhistan. Doch während unseres allzu kurzen Aufenthalts hier haben wir die ganze Zeit Geschichten von Dingen gehört, die sich erst vor kurzem ereignet haben. Von Dämonen, Drachen, Assassinen. Und von dem Azath-Haus namens Finnest, das noch nicht betreten werden kann, das aber nichtsdestotrotz bereits besetzt scheint – wir haben ihm natürlich einen Besuch abgestattet. Außerdem haben wir auch noch Geschichten über eine fliegende Festung gehört, die Mondbrut genannt wird, und die einst über der Stadt geschwebt haben soll – «
»Oh ja, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Sie ist verschwunden, einen Tag, bevor ich die Stadt verlassen habe.«
Bauchelain seufzte. »Leider scheint es, als wären wir zu spät gekommen, um diese höchst wunderbaren Dinge mit eigenen Augen zu sehen. Ich habe erfahren, dass ein Lord der Tiste Andii über Mondbrut herrschen soll.«
Grantl zuckte die Schultern. »Wenn Ihr es sagt. Ich persönlich halte nichts von Klatsch und Tratsch.«
Jetzt endlich wurde der Blick des Mannes hart.
Der Karawanenführer lächelte innerlich.
»Klatsch und Tratsch. In der Tat.«
»Und das hier wolltet Ihr mir zeigen? Dieses … Loch?«
Bauchelain zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nun, eigentlich geht es um mehr. Dieses Loch ist nichts weiter als der Eingang. Wir beabsichtigen, dem Grab des Jaghut, das darunter liegt, einen Besuch abzustatten.«
»Dann sei Oponns Segen mit Euch«, erwiderte Grantl und wandte sich zum Gehen.
»Ich könnte mir vorstellen«, meinte der Mann hinter ihm, »dass Euer Auftraggeber Euch dringend bitten würde, uns zu begleiten.«
»Er kann mich so oft und so dringend bitten, wie er will«, entgegnete der Karawanenführer, »ich habe keinen Kontrakt abgeschlossen, der mich verpflichtet, in einen Schlammtümpel zu tauchen.«
»Wir haben keineswegs die Absicht, uns von Kopf bis Fuß mit Schlamm zu beschmieren.«
Grantl drehte sich um und warf einen Blick zurück; ein schiefes Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Das war nur eine Metapher, Bauchelain. Ich entschuldige mich, falls Ihr meine Worte missverstanden haben solltet.« Er drehte sich wieder um und stapfte auf den Ziegenpfad zu. Dann blieb er plötzlich stehen. »Ihr wolltet Mondbrut sehen, meine Herren?« Er deutete zum Himmel hinauf.
Wie eine sich auftürmende schwarze Wolke stand die Basaltfestung tief über dem südlichen Horizont.
Die Kiesel auf dem Pfad knirschten unter Stiefelsohlen und schnellen Schritten, und plötzlich standen die beiden Männer rechts und links von Grantl und betrachteten den weit entfernten fliegenden Berg.
»Ihre Größe ist schwer zu bestimmen«, murmelte Bauchelain. »Wie weit ist sie von uns entfernt?«
»Ich würde sagen eine Länge, vielleicht auch mehr. Glaubt mir, meine Herren, für meinen Geschmack ist das nah genug. Ich bin in Darujhistan im Schatten dieses Dings herumgelaufen – das hat sich eine ganze Weile kaum vermeiden lassen –, und glaubt mir, es ist kein besonders tröstliches Gefühl.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Was macht die fliegende Festung hier?«
Grantl zuckte die Schultern. »Sie scheint in Richtung Südosten unterwegs zu sein – «
»Daher die Schräglage …«
»Nein. Die Festung wurde über Fahl beschädigt. Von Magiern des malazanischen Imperiums.«
»Dann haben diese Magier eine beeindruckende Leistung vollbracht.«
»Sie sind dabei umgekommen. Naja, die meisten von ihnen. Habe ich gehört. Aber auch wenn sie es geschafft haben, Mondbrut zu beschädigen, so ist dem Lord doch nichts geschehen. Wenn Ihr es ›beeindruckend‹ nennen wollt, ein Loch in einen Zaun zu treten, bevor der Mann, dem das Haus gehört, herauskommt und Euch auslöscht, dann nur zu.«
Zum ersten Mal meldete sich Korbal Broach zu Wort. Seine Stimme war hoch und quäkend. »Bauchelain, kann er uns spüren?«
Sein Gefährte runzelte die Stirn, den Blick noch immer auf Mondbrut gerichtet; schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich kann keinerlei Aufmerksamkeit spüren, die uns gelten würde, mein Freund. Aber das ist ein Gespräch, das wir fortsetzen sollten, wenn wir etwas ungestörter sind.«
»Nun gut. Dann willst du also nicht, dass ich diesen Karawanenwächter töte?«
Erschrocken trat Grantl einen Schritt zurück, die Macheten halb aus den Scheiden. »Ihr würdet schon den Versuch bereuen«, knurrte er.
»Nur die Ruhe, Karawanenführer«, sagte Bauchelain lächelnd. »Mein Partner hat schlichte Ansichten – «
»So schlicht wie die einer Viper, meint Ihr wohl.«
»Vielleicht. Nichtsdestotrotz kann ich Euch versichern, dass Ihr absolut sicher seid.«
Grantl blickte den Mann finster an und wich langsam den Ziegenpfad hinunter zurück. »Meister Keruli«, flüsterte er dabei, »wenn Ihr all dies hier beobachtet – und ich glaube, dass Ihr das tut –, gehe ich davon aus, dass mein Bonus entsprechend großzügig ausfallen wird. Und wenn Euch mein Rat irgendetwas bedeutet, schlage ich vor, dass wir um diese beiden einen großen Bogen machen.«
Wenige Augenblicke bevor der Krater aus seinem Blickfeld verschwand, sah er, wie Bauchelain und Korbal Broach ihm – und Mondbrut – den Rücken zukehrten. Sie starrten kurz in das Loch hinunter und begannen dann hinabzusteigen. Schon wenig später konnte er sie nicht mehr sehen.
Seufzend drehte Grantl sich um und machte sich auf den Rückweg zum Lager; er rollte die Schultern, um die angespannten, verkrampften Muskeln zu lockern.
Als er die Straße erreichte, hob er noch einmal den Kopf und schaute nach Süden, um einen letzten Blick auf Mondbrut zu werfen; die fliegende Festung wirkte durch die große Entfernung schon ein bisschen verschwommen. »Ihr da oben, Lord – ich wünsche mir, Ihr hättet den Geruch von Bauchelain und Korbal Broach tatsächlich wahrgenommen, damit Ihr dann das mit ihnen machen könntet, was Ihr mit dem Jaghut-Tyrannen gemacht habt – vorausgesetzt, Ihr hattet dabei wirklich die Hand im Spiel. Vorbeugende medizinische Maßnahmen nennen das die Feldscher. Ich kann nur beten, dass wir alle Euer Desinteresse nicht eines Tages bedauern werden.«
Während er die Straße entlangschritt, warf er einen Blick zur Seite und entdeckte Emancipor Reese, der oben auf dem Wagen saß und mit einer Hand die struppige Katze auf seinem Schoß streichelte. Räude? Grantl überlegte. Wahrscheinlich nicht.
Der große Wolf umkreiste den Körper mit gesenktem, zur Seite gewandten Kopf, so dass er den bewusstlosen Sterblichen immer mit seinem einen Auge sehen konnte.
Ins Gewirr des Chaos kamen nur wenige Besucher. Von diesen wenigen waren sterbliche Menschen mit Abstand die seltensten. Der Wolf war lange durch diese unwirtliche Landschaft gewandert – so lange, dass er nicht mehr wusste, wie lange. Seit einer endlosen Zeitspanne allein und verloren, hatte sein Geist neue, aus der Einsamkeit geborene Formen gefunden; seine Gedanken bewegten sich auf anscheinend zufällig ausgewählten Pfaden. Nur die wenigsten hätten im wilden Glanz seines Auges Bewusstsein oder Intelligenz erkannt, beides jedoch war durchaus vorhanden.
Mächtige Muskeln bewegten sich unter dem stumpfweißen Fell, während der Wolf weiter seine Kreise zog, den Kopf gesenkt und dem Körper zugewandt, das eine Auge fest auf den ausgestreckt daliegenden Menschen gerichtet.
Die angestrengte Konzentration zeigte Wirkung, hielt das Objekt, dem diese Aufmerksamkeit galt, in einem zeitlosen Zustand – eine zufällige Folge der Kräfte, die der Wolf in diesem Gewirr in sich aufgenommen hatte.
Der Wolf erinnerte sich kaum noch an die anderen Welten, die jenseits des Chaos existierten. Er wusste nichts von den Menschen, die ihn wie einen Gott anbeteten. Doch ein gewisses Wissen war über das Tier gekommen, ein instinktives Gespür, das von … Möglichkeiten kündete. Von Potenzialen. Von Entscheidungen, die der Wolf jetzt, da er diesen zerbrechlichen Menschen entdeckt hatte, treffen konnte.
Doch auch wenn dem so war, zögerte das Geschöpf.
Es gab Risiken. Und die Entscheidung, die sich nun allmählich abzeichnete, ließ den Wolf erzittern.
Er zog seine Kreise enger, immer enger um die bewusstlose Gestalt. Endlich richtete sich das eine Auge auf das Gesicht des Mannes.
Und dass dieser Mann hier war, war wirklich ein Geschenk, wie der Wolf schließlich feststellte. Denn anders war das, was er im Gesicht des Sterblichen entdeckte, nicht zu erklären. Ein gespiegelter Geist, bis in die kleinste Einzelheit. Dies war eine Möglichkeit, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte.
Doch noch immer zögerte der Wolf.
Bis eine uralte Erinnerung vor seinem geistigen Auge aufstieg. Ein zur Bewegungslosigkeit erstarrtes Bild, das im Lauf der langen Zeit allmählich verblasst war.
Es reichte aus, um die Spirale zu schließen.
Und dann war es geschehen.
Er blinzelte aus seinem einen noch funktionierenden Auge zu einem fahlblauen, wolkenlosen Himmel hinauf. Das Narbengewebe, das die Überreste seines anderen Auges bedeckte, prickelte mit einem Jucken, das ihn fast wahnsinnig machte, als krabbelten Insekten unter seiner Haut herum. Er trug einen Helm, dessen Visier hochgeschoben war. Unter ihm waren harte, scharfkantige Felsen, die sich in seinen Körper gegraben hatten.
Reglos blieb er liegen, versuchte sich an das zu erinnern, was zuletzt geschehen war. Die Vision eines dunklen Risses, der sich vor ihm öffnete – er war hineingestürzt, war hineingeschleudert worden. Das Pferd war unter ihm verschwunden, seine Bogensehne mit einem lauten Twang gerissen. Ein Gefühl des Unbehagens war in ihm aufgestiegen – ein Gefühl, das er mit seinem Gefährten geteilt hatte. Einem Freund, der an seiner Seite geritten war. Hauptmann Paran.
Toc der Jüngere stöhnte. Locke. Die verrückte Puppe.
Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Die Bruchstücke fügten sich zusammen, die Erinnerung kehrte zurück, begleitet von einer Woge der Furcht. Er rollte sich auf die Seite, obwohl jeder Muskel seines Körpers protestierte. Beim Atem des Vermummten, dies ist nicht die Rhivi-Ebene.
Eine weite Fläche aus geborstenem schwarzen Glas erstreckte sich in alle Richtungen. Grauer Staub hing in unbeweglichen Wolken eine Armspanne darüber. Zu seiner Linken erhob sich in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Schritt ein flacher Hügel, unterbrach die Monotonie der Landschaft.
Seine Kehle fühlte sich rau an. Sein Auge schmerzte. Die Sonne stand glühend heiß am Himmel. Hustend setzte Toc sich auf; unter ihm knirschten die Obsidian-Scherben. Er sah seinen doppelt gekrümmten Hornbogen neben sich liegen und griff danach. Der Köcher war am Sattel seines Pferdes befestigt gewesen. Wo auch immer er hingeraten war, sein treues wickanisches Pferd war ihm nicht gefolgt. Abgesehen von dem Messer an seiner Hüfte und dem im Augenblick nutzlosen Bogen in seiner Hand besaß er nichts. Nichts zu essen, kein Wasser. Als er seinen Bogen etwas genauer untersuchte, vertieften sich die Falten auf seiner Stirn. Die Darmsehne war ausgeleiert.
Sehr sogar. Das bedeutet, dass ich … einige Zeit … weg … war. Aber was heißt weg? Wo bin ich gewesen? Locke hatte ihn in ein Gewirr geschleudert. Und irgendwie war dort Zeit verloren gegangen. Er war nicht übermäßig durstig und auch nicht besonders hungrig. Doch selbst wenn er Pfeile gehabt hätte, war die Zugkraft des Bogens dahin. Und was noch schlimmer war: Die Sehne war ausgetrocknet, das Wachs hatte Obsidianstaub aufgenommen. Sie würde es nicht überstehen, neu gespannt zu werden. Das bedeutete aber auch, dass Tage, wenn nicht gar Wochen vergangen waren, auch wenn ihm sein Körper etwas anderes sagte.
Er stand auf. Das Kettenhemd unter seiner Tunika protestierte gegen die Bewegung, verstreute glitzernden Staub.
Bin ich im Innern eines Gewirrs? Oder hat es mich wieder ausgespuckt? Wie auch immer, er musste herausfinden, wo diese leblose Ebene aus vulkanischem Glas aufhörte. Vorausgesetzt, dass sie überhaupt irgendwo aufhörte …
Er begann, auf den Hügel zuzugehen. Der war zwar nicht besonders hoch, doch Toc musste jeden Aussichtspunkt nutzen, den er finden konnte. Als er sich dem Hügel näherte, sah er andere von der gleichen Art, in gleichmäßigen Abständen dahinter. Hügelgräber. Na toll, ich liebe Hügelgräber. Und dann einer in der Mitte, der höher war als alle übrigen.
Toc ging um den ersten Hügel herum. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass er ausgehöhlt worden war, wahrscheinlich von Plünderern. Nach einem kurzen Augenblick blieb er stehen, drehte sich um und trat näher heran. Er kauerte sich neben den ausgehöhlten Schacht, spähte in den schrägen Tunnel hinein. So weit er sehen konnte – und das war mehr als eine Mannshöhe weit –, setzte sich die Schicht aus Obsidian unter der Oberfläche fort. Dass von den Hügeln überhaupt noch etwas zu sehen war, bedeutete, dass sie groß sein mussten – eher Kuppeln als Bienenstock-Gräber. »Was auch immer es ist«, murmelte er vor sich hin, »es gefällt mir nicht.«
Er blieb stehen, dachte nach, ließ die Ereignisse, die ihn in diese … unglückliche Situation gebracht hatten, vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Man könnte sagen, dass alles mit dem tödlichen Regen aus Mondbrut begonnen hatte. Feuer und Schmerz, der Verlust eines Auges, der Kuss des Trümmerstücks, der eine wüste, entstellende Narbe in einem jungen, dem Vernehmen nach gut aussehenden Gesicht zurückgelassen hatte.
Ein Ritt nach Norden, über die Ebene, um Mandata Lorn abzuholen, ein Handgemenge mit Ilgres-Barghast. Zurück in Fahl dann noch mehr Ärger. Lorn hatte die Zügel angezogen, hatte ihn wieder in seiner alten Rolle als Kurier der Klaue eingesetzt. Kurier? Lass uns offen sprechen, Toc, vor allem, wenn du Selbstgespräche führst. Du warst ein Spion. Aber du hattest dich verändert. Du warst Kundschafter in Einarms Heer. Nur das und nichts anderes, bis Mandata Lorn aufgetaucht ist. Es hatte Ärger gegeben in Fahl. Zuerst mit Flickenseel, dann mit Hauptmann Paran. Flucht und Verfolgung. »Was für ein Durcheinander«, murmelte er.
Lockes Hinterhalt hatte ihn wie eine lästige Fliege in irgendein bösartiges Gewirr geschleudert. Wo ich … verweilt habe. Glaube ich zumindest. Der Vermummte soll mich holen, es wird Zeit, wieder wie ein Soldat zu denken. Finde heraus, wo du dich befindest, triff keine überstürzten Entscheidungen. Denke ans Überleben, hier an diesem fremdartigen, unfreundlichen Ort …
Er nahm seinen Marsch zu dem in der Mitte gelegenen Hügel wieder auf. Auch wenn er nur sehr sanft anstieg, war er doch mindestens dreifach mannshoch. Sein Husten wurde schlimmer, als er den Hang hinaufschlurfte.
Doch die Anstrengung wurde belohnt. Auf der Kuppe fand er sich im Zentrum eines Kreises aus kleineren Hügeln. Direkt voraus, dreihundert Schritt jenseits des Kreises und im Dunst fast schon nicht mehr zu erkennen, erhoben sich die knochigen Vorsprünge grau umhüllter Hügel. Etwas näher und mehr zu seiner Linken stand die Ruine eines steinernen Turms. Der Himmel hinter dem Turm glomm in einem widerwärtigen rötlichen Ton.
Toc warf einen Blick zur Sonne hinauf. Als er aufgewacht war, hatte sie auf etwas mehr als drei Viertel des Rades gestanden; jetzt stand sie genau über ihm. Er war in der Lage sich zu orientieren. Die Hügel lagen im Nordwesten, der Turm fast genau im Westen.
Sein Blick wurde erneut von dem rötlichen Rand am Himmel hinter dem Turm angezogen. Ja, er pulsierte tatsächlich, regelmäßig wie ein Herzschlag. Toc kratzte an dem Narbengewebe, das seine linke Augenhöhle bedeckte, zuckte zusammen, als zur Antwort Farben in seinem Kopf erblühten. Das ist Zauberei da drüben. Bei den Göttern, ich entwickle allmählich einen tiefen Hass auf jede Art von Zauberei.
Einen Augenblick später wurde seine Aufmerksamkeit von anderen Dingen angezogen, die sich näher an seinem Standort befanden. Der nördliche Hang des zentralen Grabhügels wurde von einer tiefen Grube mit ausgefransten, glitzernden Rändern verunstaltet. Ein Haufen behauener Steine, die immer noch Flecken von roter Farbe aufwiesen, lag an seinem Fuß. Es dauerte einige Zeit, ehe Toc begriff, dass dieser Krater nicht das Werk von Grabräubern war. Wer oder was auch immer ihn geschaffen hatte, hatte sich mit roher Gewalt aus dem Grab herausgedrängt. Anscheinend schlafen an diesem Ort noch nicht einmal die Toten ewig. Einen kurzen Moment lang verspürte er Nervosität, dann zuckte er die Achseln und stieß einen leisen Fluch aus. Du hast schon Schlimmeres erlebt, Soldat. Denk an den T’lan Imass, der sich mit der Mandata zusammengetan hatte. Eine lakonische Dörrpflaume auf zwei Beinen, Beru behüte uns alle. Verschleierte Augenhöhlen, in denen noch nicht einmal ein Hauch von Barmherzigkeit zu erkennen ist. Das Ding hat einen Barghast aufgespießt, wie ein Rhivi es mit einem Keiler der Ebene tun würde.
Während er mit seinem einen Auge immer noch den Krater in der Flanke des Hügels musterte, verweilten seine Gedanken bei Lorn und ihrem untoten Begleiter. Sie hatten vorgehabt, solch eine ruhelose Kreatur zu befreien, eine wilde, gewalttätige Macht auf das Land loszulassen. Er fragte sich, ob es ihnen wohl gelungen war. Das Wesen, das in dem Grab, auf dem er jetzt stand, gefangen gewesen war, hatte sich ohne Frage einer schrecklichen Aufgabe gegenübergesehen – Schutzzauber, feste Mauern und schließlich noch Armspanne um Armspanne zusammengepresstes, zerschmettertes Glas. Nun, ich nehme an, in Anbetracht der Alternativen wäre ich wahrscheinlich genauso verzweifelt und entschlossen gewesen. Wie lange hat es gedauert? Wie bösartig und entstellt war der Geist dieses Wesens, als es sich endlich befreit hatte?
Er erschauerte, was ihm einen erneuten rauen Hustenanfall bescherte. Es gab viele Geheimnisse auf der Welt, und nur die wenigsten davon waren angenehm.
Er stieg von dem Hügel herunter, wobei er den Krater umging, und machte sich auf den Weg zu dem verfallenen Turm. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das Wesen, das einst in dem Grab gewesen war, sich noch länger an diesem Ort aufgehalten hatte. Ich hätte dafür gesorgt, dass ich so weit und so schnell wie möglich von hier wegkomme. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, wie viel Zeit seit der Flucht der Kreatur verstrichen war, aber Tocs Bauch sagte ihm, dass es Jahre waren, wenn nicht Jahrzehnte. Merkwürdigerweise empfand er überhaupt keine Furcht, trotz der ungastlichen Umgebung und all der Geheimnisse unter der verwüsteten Oberfläche dieses Landes. Welche Drohung auch immer von diesem Ort ausgegangen sein mochte, sie schien ihm lang dahin.
Vierzig Schritte vom Turm entfernt wäre er beinahe über einen Leichnam gestolpert, der vollständig unter einer feinen Staubschicht verborgen lag. Von Tocs hastigen, unsicheren Schritten aufgewirbelt, stieg der Staub in einer Wolke auf. Fluchend spuckte der Malazaner Dreck aus.
Durch den wirbelnden, glitzernden Staubschleier sah er, dass die Knochen einem Menschen gehört hatten. Zugegeben, einem ziemlich vierschrötigen Menschen mit schwerem Körperbau. Die Muskeln waren zu nussbraunen Strängen vertrocknet, und die Felle und Häute, mit denen dieser Mensch teilweise bekleidet gewesen war, waren bis auf ein paar Streifen verrottet. Ein Knochenhelm, der aus dem Schädel eines gehörnten Tiers gemacht worden war, saß auf dem Kopf der Mumie. Ein Horn war irgendwann in ferner Vergangenheit abgebrochen. Ein staubbedecktes zweihändiges Schwert lag dicht daneben. Wenn man vom Schädel des Vermummten spricht …
Toc der Jüngere starrte mit finsterem Gesicht auf die Gestalt am Boden hinunter. »Was machst du denn hier?«, wollte er wissen.
»Warten«, antwortete der T’lan Imass mit einer Stimme, die klang, als striche man über raues Leder.
Toc durchforstete seine Erinnerungen nach dem Namen des untoten Kriegers. »Onos T’oolan«, sagte er dann, zufrieden mit sich. »Vom Tarad-Clan – «
»Ich werde jetzt Tool genannt. Bin ohne Clan. Frei.«
Frei? Frei, um was genau zu tun, du alter Knochensack? Irgendwo im Ödland rumzuliegen?
»Was ist mit der Mandata geschehen? Wo sind wir?«
»Verloren.«
»Auf welche meiner Fragen ist das die Antwort, Tool?«
»Auf beide.«
Toc knirschte mit den Zähnen, widerstand jedoch der Versuchung, den T’lan Imass zu treten. »Könntest du dich vielleicht ein bisschen genauer ausdrücken?«
»Vielleicht.«
»Und?«
»Maxidata Lora wurde vor zwei Monaten in Darujhistan getötet. Wir sind an einem sehr alten Ort namens Morn, zweihundert Längen weiter südlich. Es ist jetzt kurz nach Mittag.«
»Kurz nach Mittag, hast du gesagt. Vielen Dank für die Erleuchtung.« Er fand wenig Gefallen daran, sich mit einer Kreatur zu unterhalten, die bereits seit Hunderttausenden von Jahren existierte, und dieses Unbehagen ließ ihn sarkastisch werden – was genauer betrachtet gleichermaßen vermessen wie gefährlich war. Werd endlich wieder ernst, du verdammter Idiot. Er trägt das Feuersteinschwert da schließlich nicht nur zur Schau. »Habt ihr beide den Jaghut-Tyrannen befreit?«
»Für kurze Zeit. Die Bemühungen des Imperiums, Darujhistan zu erobern, sind fehl geschlagen.«
Toc warf dem Imass einen finsteren Blick zu und verschränkte die Arme. »Du hast gesagt, du würdest warten. Worauf wartest du?«
»Sie ist einige Zeit weg gewesen. Jetzt kehrt sie wieder zurück.«
»Wer?«
»Sie, die den Turm in Besitz genommen hat, Soldat.«
»Kannst du vielleicht wenigstens aufstehen, wenn du mit mir sprichst?« Bevor ich der Versuchung womöglich doch noch nachgebe.
Der T’lan Imass erhob sich mit einer ganzen Reihe knirschender Geräusche; Staub rann überall an seinem breiten Körper hinunter. Für einen winzigen Augenblick schien etwas in den Tiefen seiner Augenhöhlen zu glitzern, als der Imass Toc anstarrte, dann drehte Tool sich um und hob sein Feuersteinschwert auf.
Bei den Göttern, ich hätte lieber darauf bestehen sollen, dass er einfach liegen bleibt. Vertrocknete Lederhaut, stramme Muskeln und schwere Knochen … und alles zusammen bewegt sich wie etwas Lebendiges. Oh, wie der Imperator sie geliebt hat. Eine Armee, die er niemals verpflegen musste, die er niemals transportieren musste, eine Armee, die überall hingehen konnte und die so ziemlich alles tun konnte, verflucht noch mal. Und es hat niemals Deserteure gegeben – außer dem einen, der jetzt hier vor mir steht.
Aber wie will man einen Tlan-Imass-Deserteur überhaupt bestrafen?
»Ich brauche Wasser«, sagte Toc, nachdem sie sich mehrere Herzschläge lang einfach nur angestarrt hatten. »Und etwas zu essen. Und ich muss ein paar Pfeile finden. Und eine Bogensehne.« Er löste die Schnallen seines Helms und zog ihn vom Kopf. Die Lederkappe darunter war mit Schweiß vollgesogen. »Können wir nicht im Turm warten? Diese Hitze kocht mir noch das Hirn weich.« Und warum rede ich, als würde ich erwarten, dass du mir hilfst, Tool?
»Die Küste liegt tausend Schritt im Südwesten«, antwortete Tool. »Dort gibt es etwas zu essen und eine bestimmte Art von Seegras, das als Bogensehne ausreichen wird, bis wir ein Stück Darm finden. Ich kann leider kein frisches Wasser riechen. Vielleicht wird sich diejenige, die den Turm in Besitz genommen hat, als großzügig erweisen, was allerdings weit weniger wahrscheinlich ist, wenn sie hier ankommt und dich in ihrem Turm vorfindet. Pfeile kann man machen. Ganz in der Nähe gibt es eine Salzmarsch, wo wir Knochenschilf finden können. Wenn wir ein paar Schlingen auslegen, werden uns die Küstenvögel mit der Befiederung versorgen. Pfeilspitzen …« Tool drehte sich um und ließ den Blick über die Obsidian-Ebene schweifen. »Für mich sieht es nicht so aus, als könnte es hier zu einem Engpass an Rohstoffen kommen.«
Schön, helfen wirst du mir also. Dem Vermummten sei Dank dafür. »Nun, ich hoffe, du kannst immer noch Steinsplitter abschlagen und Seegras flechten, T’lan Imass, nicht zu vergessen auch Knochenschilf – was immer das sein mag – zu vernünftigen Pfeilschäften verarbeiten, denn ich weiß ganz sicher nicht, wie das geht. Wenn ich Pfeile brauche, dann fordere ich sie an, und wenn ich sie dann bekomme, dann haben sie eiserne Spitzen und sind gerade, wie mit einem Senkblei gezogen.«
»Ich habe diese Fertigkeiten nicht verlernt, Soldat – «
»Da die Mandata uns einander nie vernünftig vorgestellt hat, ich heiße Toc der Jüngere, und ich bin kein Soldat, sondern Kundschafter – «
»Du warst in den Reihen der Klaue.«
»Aber ich bin weder zum Assassinen ausgebildet worden, noch verfüge ich über irgendwelche magischen Fähigkeiten. Außerdem habe ich dieser Rolle mehr oder weniger abgeschworen. Jetzt will ich eigentlich nur noch eines: zu Dujek Einarms Heer zurückkehren.«
»Das ist eine lange Reise.«
»Das hatte ich schon vermutet. Je eher ich also aufbreche, desto besser. Sag mir, wie weit erstreckt sich dieses gläserne Ödland?«
»Sieben Längen. Dahinter befindet sich die Lamatath-Ebene. Wenn du sie erreicht hast, wende dich in Richtung Nord-Nordost – «
»Wohin wird mich das bringen? Nach Darujhistan? Hat Dujek die Stadt belagert?«
»Nein.« Der T’lan Imass drehte den Kopf zur Seite. »Sie kommt.«
Toc folgte Tools Blick. Drei Gestalten waren im Süden aufgetaucht, näherten sich dem Rand des Kreises aus Hügelgräbern. Von den dreien ging nur die in der Mitte aufrecht. Sie war groß und schlank und trug eine fließende, weiße Telaba, wie sie von den hochgeborenen Frauen im Reich der Sieben Städte getragen wurde. Ihre schwarzen Haare waren lang und glatt. Sie wurde von zwei Hunden flankiert. Der zu ihrer Linken war zottig, so groß wie ein Hügel-Pony und erinnerte an einen Wolf, der andere war kurzhaarig, dunkelbraun und überaus muskulös.
Da Tool und Toc auf freier Fläche standen, mussten die Neuankömmlinge sie gesehen haben, doch die drei zeigten sich nicht im Geringsten beunruhigt und änderten auch ihr Tempo nicht, während sie näher kamen. Als sie vielleicht noch ein Dutzend Schritte entfernt waren, sprang der wolfsähnliche Hund voraus und lief schwanzwedelnd auf den T’lan Imass zu.
Toc stand nachdenklich daneben und kratzte sich am Kinn. »Ein alter Freund, Tool? Oder will das Tier, dass du ihm einen deiner Knochen zum Spielen gibst?«
Der untote Krieger starrte ihn nur schweigend an.
»Das war ein Scherz«, beschwichtigte Toc schulterzuckend. »Oder zumindest der armselige Versuch, einen zu machen. Ich hätte nicht gedacht, dass man einen T’lan Imass beleidigen kann.« Genauer gesagt, ich hoffe, dass das so ist. Bei den Göttern, ich und meine große Klappe »Ich habe nachgedacht«, erwiderte Tool langsam. »Dieses Tier ist ein Ay, und die haben wenig Interesse an Knochen. Ay bevorzugen Fleisch – warmes Fleisch, wenn möglich.«
Toc grunzte. »Verstehe.«
»Das war ein Scherz«, sagte Tool einen Augenblick später.
»Na klar.« Hm, vielleicht wird das alles ja doch nicht so schlimm. Die Überraschungen hören zumindest nicht auf.
Der T’lan Imass streckte einen Arm aus und legte dem Ay die Spitzen seiner knochigen Finger an die breite Stirn. Das Tier stand vollkommen still. »Ein alter Freund? Ja, wir haben solche Tiere in unsere Stämme aufgenommen. Es war die einzige Möglichkeit, wenn wir nicht zusehen wollten, wie sie verhungerten. Du musst wissen, dass wir dafür verantwortlich waren, dass sie hungerten.«
»Ihr wart dafür verantwortlich? Weil ihr alles leer gejagt habt? Ich dachte immer, eure Art wäre eins mit der Natur gewesen. All diese Geister, all diese Sühnerituale – «
»Toc der Jüngere«, unterbrach ihn Tool, »machst du dich über mich lustig oder über deine eigene Unwissenheit? Noch nicht einmal die Flechten der Tundra leben in Frieden. Alles ist Kampf, alles ist Krieg. Diejenigen, die verlieren, verschwinden.«
»Und du sagst, wir sind nicht anders – «
»Wir sind anders, Soldat. Wir besitzen das Privileg, wählen zu können. Wir verfügen über die Gabe der Voraussicht. Auch wenn wir uns oft zu spät klar machen, dass wir diese Verantwortung haben …« Der T’lan Imass neigte den Kopf und musterte den Ay vor sich – und außerdem, wie es schien, seine eigene skelettartige Hand, die immer noch auf dem Schädel des Tiers ruhte.
»Baaljagg erwartet Eure Befehle, lieber untoter Krieger«, sagte die Frau mit lieblicher, singender Stimme, als sie sie erreichte. »Wie niedlich. Garath, willst du unseren ausgedörrten Gast nicht auch begrüßen?« Ihr Blick kreuzte sich mit dem Tocs, und sie lächelte. »Garath könnte Euren Kameraden allerdings auch für wert halten, ihn zu vergraben – wäre das nicht lustig?«
»Kurzfristig«, stimmte Toc ihr zu. »Ihr sprecht Daru, doch Ihr tragt eine Telaba aus dem Reich der Sieben Städte …«
Sie zog die Brauen hoch. »Tue ich das? Oh, was für ein Durcheinander! Denkt nur, mein Herr, Ihr sprecht Daru und seid doch aus dem Reich dieses verklemmten Weibes – wie war noch gleich ihr Name?«
»Imperatrix Laseen. Das malazanische Imperium.« Und woher habt Ihr das gewusst? Ich trage keine Uniform …
Sie lächelte. »Genau.«
»Ich bin Toc der Jüngere, und dieser T’lan Imass hier trägt den Namen Tool.«
»Angenehm. Meine Güte, ist es heiß hier draußen, findet Ihr nicht auch? Kommt mit, wir wollen uns in den Jaghut-Turm zurückziehen. Garath, hör auf, an dem T’lan Imass rumzuschnüffeln und weck die Bediensteten auf.«
Toc schaute dem stämmigen Hund hinterher, der Richtung Turm davontrottete. Man betrat das Bauwerk, wie der Kundschafter jetzt feststellte, eigentlich über einen Balkon, wahrscheinlich im ersten Stock – noch ein weiterer Hinweis auf die Tiefe, in die das geschmolzene Gras hinunterreichte. »Dieser Ort sieht nicht besonders wohnlich aus«, stellte er fest.
»Das Aussehen kann täuschen«, murmelte sie und blickte ihn erneut mit einem Lächeln an, das sein Herz einen Schlag aussetzen ließ.
»Habt Ihr auch einen Namen?«, fragte Toc sie, als sie sich in Bewegung setzten.
»Das ist Lady Missgunst«, sagte Tool. »Die Tochter von Draconus – demjenigen, der das Schwert Dragnipur geschmiedet hat und damit ermordet wurde … von Anomander Rake, dem Lord von Mondbrut, dem derzeitigen Besitzer des Schwerts. Draconus hatte zwei Töchter, so glaubt man, die er Missgunst und Bosheit nannte–«
»Beim Atem des Vermummten, das kann nicht dein Ernst sein«, murmelte Toc.
»Die Namen haben zweifellos auch ihn amüsiert«, fuhr der T’lan Imass fort.
»Also wirklich«, sagte Lady Missgunst seufzend, »jetzt habt Ihr mir den ganzen Spaß verdorben. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Nein. Doch Ihr seid mir trotzdem bekannt.«
»So sieht es aus! Es war, wie ich zugeben muss, ein bisschen sehr bescheiden von mir, anzunehmen, dass man mich nicht erkennen würde. Schließlich haben sich meine Wege mehr als einmal mit denen der T’lan Imass gekreuzt. Das heißt, zumindest zweimal …«
Tool betrachtete sie mit seinem unergründlichen Blick. »Das Wissen, wer Ihr seid, erklärt nicht das Geheimnis Eurer gegenwärtigen Anwesenheit hier in Morn, solltet Ihr Euch weiterhin derart in Sprödigkeit üben, Lady. Ich wüsste gerne, was Ihr hier sucht.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte sie spöttisch.
Als sie sich dem Eingang des Turms näherten, erschien eine in eine Lederrüstung gekleidete, maskierte Gestalt in der Türöffnung. Toc blieb wie erstarrt stehen. »Das ist ein Seguleh!« Er wirbelte herum und starrte Lady Missgunst ungläubig an. »Euer Diener ist ein Seguleh!«
»Werden sie so genannt?« Sie runzelte die Stirn. »Ein Begriff, der mir vertraut ist, auch wenn ich jetzt nicht mehr weiß, in welchem Zusammenhang ich ihn gehört habe. Ach ja, ich habe ihre jeweiligen Namen herausgefunden, aber sonst nicht viel. Sie sind zufällig vorbeigekommen und haben mich gesehen – der da, der Senu genannt wird, und noch zwei andere. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine Abwechslung auf ihrer eintönigen Reise wäre, mich zu töten.« Sie seufzte. »Ach, und jetzt dienen sie mir.« Sie wandte sich an den Seguleh. »Senu, sind deine Brüder schon richtig wach?«
Der kleine, geschmeidige Mann neigte den Kopf; seine dunklen Augen hinter den Schlitzen seiner verzierten Maske wirkten ausdruckslos.
»Ich habe mir zusammengereimt«, sagte Lady Missgunst zu Toc, »dass diese Geste Zustimmung bedeutet. Sie sind nicht gerade ein geschwätziger Haufen, wie ich herausgefunden habe.«
Toc schüttelte den Kopf, seine Augen waren auf die beiden Breitschwerter gerichtet, die unter Senus Armen hingen. »Ist er der Einzige von den dreien, der direkt mit Euch spricht, Lady?«
»Jetzt, wo Ihr es erwähnt … Ist das denn wichtig?«
»Es bedeutet, dass er in ihrer Hierarchie am weitesten unten steht. Die anderen beiden haben es nicht nötig, mit Nicht-Seguleh zu sprechen.«
»Wie anmaßend von ihnen!«
Der Kundschafter grinste. »Ich habe noch nie einen gesehen – aber ich habe schon viel von ihnen gehört. Ihre Heimat ist eine Insel südlich von hier, und man erzählt sich, dass sie sehr zurückgezogen leben und nicht besonders gerne reisen. Aber sie sind bekannt bis weit in den Norden, bis Nathilog.« Hol mich der Vermummte – und wie bekannt sie sind.
»Hm, ich habe bei ihnen eine gewisse Arroganz gespürt, die sich als sehr unterhaltsam erwiesen hat. Führe uns hinein, lieber Senu.«
Der Seguleh rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte den T’lan Imass entdeckt und starrte ihn jetzt unverwandt an.
Mit gesträubtem Fell wich der Ay ein Stück zur Seite, so dass zwischen den beiden Männern eine freie Fläche blieb.
»Senu?«, sagte Lady Missgunst mit honigsüßer Stimme.
»Ich glaube«, flüsterte Toc, »er fordert Tool heraus.«
»Das ist lächerlich! Warum sollte er so etwas tun?«
»Für die Seguleh bedeutet der Rang alles. Wenn die Rangfolge unklar ist, fordere den anderen heraus. Sie verlieren keine Zeit.«
Lady Missgunst starrte Senu finster an. »Benimm dich, junger Mann!« Sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung in den Turm.
Senu schien bei dieser Geste zusammenzuzucken.
Ein schmerzhafter Juckreiz zuckte durch Tocs Narbe. Er kratzte sich wild, stieß einen leisen Fluch aus.
Der Seguleh wich in den kleinen Raum zurück, zögerte einen kurzen Augenblick, drehte sich dann jedoch um und führte die anderen zur Tür in der gegenüberliegenden Wand. Ein geschwungener Korridor brachte sie zu einem zentralen Raum, in dessen Mittelpunkt eine eng gewendelte Treppe nach oben führte. Die schmucklosen Wände bestanden aus grob gekörntem Bimsstein. Drei Sarkophage aus Kalkstein standen im hinteren Teil des Raums; ihre Deckel lehnten fein säuberlich aufgereiht an der Wand dahinter. Neben ihnen saß der Hund, den Lady Missgunst vorgeschickt hatte. Direkt hinter dem Eingang stand ein runder Holztisch, auf dem ganze Berge von frischen Früchten, Fleisch, Käse und Brot lagen; hinzu kamen ein mit Perlen verzierter Tonkrug und mehrere Becher.
Senus zwei Gefährten standen reglos neben dem Tisch, als hielten sie Wache und wären bereit, notfalls ihr Leben zu opfern, um ihn zu verteidigen. Beide waren, was Körpergröße und Statur anbelangte, Senus genaues Ebenbild, und sie waren ähnlich bewaffnet. Die einzigen Unterschiede zwischen ihnen waren ihre Masken. Während Senus emaillierte Gesichtsbedeckung mit dunklen Mustern übersät war, fand sich diese Art der Verzierung bei den anderen beiden weniger häufig. Die eine unterschied sich nicht allzu sehr von Senus Maske, die dritte hingegen wies nur zwei Striche auf, jeweils einen auf einer glänzenden weißen Wange. Die Augen, die durch die Schlitze dieser Maske starrten, waren so hart wie Obsidian-Splitter.
Der Seguleh mit den zwei Kratzern versteifte sich, als er den T’lan Imass erblickte, und machte einen Schritt nach vorn.
»Also wirklich!«, zischte Lady Missgunst. »Herausforderungen sind verboten! Wenn dieser Unsinn nicht sofort aufhört, verliere ich noch die Beherrschung …«
Alle drei Seguleh zuckten einen Schritt zurück.
»Ja«, sagte die Frau, »so ist es schon viel besser.« Sie wandte sich an Toc. »Stillt Euren Hunger und Euren Durst, junger Mann. In dem Krug ist saltoanischer Weißwein, angenehm gekühlt.«
Toc konnte den Blick nicht von dem Seguleh mit der kaum verzierten Maske losreißen.
»Wenn pausenloses Anstarren eine Herausforderung darstellt«, meinte Lady Missgunst leise, »würde ich um des lieben Friedens – und nicht zuletzt um Eures Lebens – willen vorschlagen, dass Ihr von Eurer derzeitigen Beschäftigung Abstand nehmt, Toc der Jüngere.«
Er ächzte in plötzlichem Erschrecken, riss den Blick von dem Mann los. »Ein Punkt für Euch, Lady. Es ist nur, dass ich noch nie von einem … ach was soll’s, es ist nicht weiter wichtig.« Er trat an den Tisch, streckte die Hand nach dem Krug aus.
Hinter ihm entstand plötzlich Bewegung, gefolgt von dem Geräusch eines Körpers, der über den Boden schlitterte und mit einem widerwärtigen dumpfen Klatschen gegen die Wand prallte. Toc wirbelte herum und sah Tool, der – das Schwert hoch erhoben – den beiden noch übrigen Seguleh gegenüberstand. Senu lag zusammengekrümmt zehn Schritte entfernt; er war entweder bewusstlos oder tot. Er hatte seine beiden Schwerter halb aus den Scheiden gezogen.
Neben Tool stand der Ay namens Baaljagg und starrte schwanzwedelnd den dahingestreckten Seguleh an.
Lady Missgunst warf den beiden anderen Dienern einen eisigen Blick zu. »In Anbetracht der Tatsache, dass meine Befehle sich als nicht ausreichend erwiesen haben, werde ich alle zukünftigen Auseinandersetzungen in die offensichtlich fähigen Hände des T’lan Imass legen.« Sie drehte sich zu Tool um. »Ist Senu tot?«
»Nein. Ich habe die flache Seite meiner Klinge benutzt, Lady. Ich hatte nicht den Wunsch, einen Eurer Diener zu töten.«
»Angesichts der Umstände war das sehr rücksichtsvoll von Euch.«
Toc legte eine zitternde Hand um den Henkel des Kruges. »Soll ich Euch auch etwas einschenken, Lady Missgunst?«
Sie warf ihm einen Blick zu, zog eine Braue hoch und lächelte schließlich. »Das ist eine wundervolle Idee, Toc der Jüngere. Es ist ganz eindeutig an Euch und mir, hier für so etwas wie zivilisiertes Benehmen zu sorgen.«
»Was habt Ihr über den Riss herausgefunden?«, fragte Tool, an die Lady gewandt.
Sie musterte ihn, einen Becher voll Wein in der Hand. »Oh, ich verstehe, Ihr seid bei allen Angelegenheiten so schnell und direkt. Er ist überbrückt worden. Von einer sterblichen Seele. Ich bin mir sicher, dass Euch das ebenfalls klar ist. Im Mittelpunkt meiner Bemühungen stand allerdings der Versuch, die Identität des Gewirrs selbst herauszufinden. Es ist anders als alle anderen. Das Portal hat fast etwas … Mechanisches.«
Der Riss? Das muss dieser rote Rahmen in der Luft sein. Oh.
»Ihr habt die Gräber der K’Chain Che’Malle untersucht, Lady?«
Sie rümpfte die Nase. »Nur kurz. Sie sind alle leer, und das schon seit einiger Zeit. Seit Jahrzehnten.«
Tool neigte den Kopf. Ein leises Knirschen war zu hören. »Erst seit Jahrzehnten?«
»Das ist in der Tat eine unangenehme Einzelheit. Ich glaube, die Matrone hatte bemerkenswerte Schwierigkeiten, sich zu befreien, und hat dann noch eine Menge Zeit damit verbracht, sich von ihren Mühen zu erholen, bevor sie ihre Kinder befreien konnte. Sie und ihre Brut haben in der vergrabenen Stadt im Nordwesten weitere Anstrengungen unternommen, die allerdings unvollendet geblieben sind, als hätten die Ergebnisse sich als unbefriedigend erwiesen. Dann scheinen sie die Gegend samt und sonders verlassen zu haben.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Es mag von Bedeutung sein, dass die Matrone die Seele war, die den Riss ursprünglich versiegelt hat. Wir müssen davon ausgehen, dass sich dort jetzt eine andere unglückliche Kreatur aufhält.«
Der T’lan Imass nickte.
Während sich die beiden ausgetauscht hatten, war Toc damit beschäftigt gewesen, etwas zu essen, und jetzt war er bei seinem zweiten Becher mit kühlem, frischem Wein. Der Versuch zu verstehen, worum es bisher bei dem Gespräch gegangen war, bereitete ihm Kopfschmerzen – er würde später darüber nachdenken. »Ich muss nach Norden«, sagte er, während er ein Stück körniges Brot kaute.
»Besteht irgendeine Möglichkeit, dass Ihr mich mit entsprechenden Vorräten versorgt, Lady? Ich stünde tief in Eurer Schuld …« Seine Worte verloren sich, als er das begeisterte Aufblitzen in ihren Augen sah.
»Seid vorsichtig mit dem, was Ihr mir anbietet, junger Mann – «
»Nichts für ungut, aber warum nennt Ihr mich ›junger Mann‹? Ihr seht nicht einen Tag älter als fünfundzwanzig aus.«
»Wie schmeichelhaft. Das heißt also, dass Tool mich zwar erfolgreich identifiziert hat – und ich muss zugeben, dass ich das Ausmaß seines Wissens höchst beunruhigend finde –, dass aber die Namen, die der T’lan Imass erwähnt hat, Euch nichts sagen.«
Toc zuckte die Schultern. »Von Anomander Rake habe ich natürlich schon gehört. Ich habe nicht gewusst, dass er jemand anderem ein Schwert weggenommen hat – und schon gar nicht, wann das geschehen ist. Es kommt mir allerdings in den Sinn, dass Ihr ihm gegenüber aus berechtigten Gründen eine gewisse Feindseligkeit hegen müsst, schließlich hat er Euren Vater getötet – wie war noch gleich sein Name? Ach ja, Draconus. Das malazanische Imperium teilt diese Abneigung. Da wir also die gleichen Feinde haben – «
»Sind wir notgedrungen Verbündete. Eine vernünftige Mutmaßung. Unglücklicherweise ist sie falsch. Doch unabhängig davon würde ich mich freuen, Euch mit so viel zu Essen und zu Trinken zu versorgen, wie Ihr tragen könnt, doch ich fürchte, ich kann mit nichts dienen, was als Waffe verwendbar wäre. Im Gegenzug darf ich Euch eines Tages um einen Gefallen bitten – nichts Besonderes natürlich. Etwas Kleines und relativ Schmerzloses. Ist das ein akzeptables Angebot?«
Toc hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Er warf Tool einen Blick zu, doch das ausdruckslose Gesicht des untoten Kriegers war ihm keine Hilfe. Der Malazaner machte ein finsteres Gesicht. »Ihr nutzt es aus, dass ich mich in einer misslichen Lage befinde, Lady Missgunst.«
Sie lächelte.
Und hier sitze ich und habe doch tatsächlich gehofft, dass wir über den Austausch zivilisierter Höflichkeitsfloskeln hinaus zu einem etwas … intimeren Umgang kommen könnten. Das ist mal wieder typisch für dich, Toc, mit dem falschen Hirn zu denken -
Ihr Lächeln wurde breiter.
Toc wurde rot und griff nach seinem Becher. »Meinetwegen. Ich stimme Eurem Vorschlag zu.«
»Eure Gelassenheit ist mir die reinste Freude, Toc der Jüngere.«
Er hätte sich beinahe an seinem Wein verschluckt. Wenn ich kein narbiger, einäugiger Bastard wäre, wäre ich doch glatt versucht, das einen Flirt zu nennen.
Tool meldete sich zu Wort. »Lady Missgunst, wenn Ihr nach weiterem Wissen über den Riss sucht, werdet Ihr es hier nicht finden.«
Toc war sehr angetan von dem leichten Schock, den er in ihrem Gesicht erkennen konnte, als sie sich zu dem T’lan Imass umdrehte. »Tatsächlich? Mir scheint, ich bin nicht die Einzige, die sich in einer gewissen Sprödigkeit gefällt. Könnt Ihr das näher erklären?«
Toc, der die Antwort auf diese Frage voraussah, grunzte – und duckte sich, als sie ihm einen düsteren Blick zuwarf.
»Vielleicht«, lautete Tools vorhersehbare Antwort.
Ha, ich hab’s gewusst.
Ihre Stimme klang plötzlich schärfer. »Dann tut das, bitte.«
»Ich folge einer alten Spur, Lady Missgunst. Morn war nur ein Halt auf dieser Spur. Jetzt führt sie nach Norden. Ihr werdet Eure Antworten unter denen finden, die auch ich suche.«
»Ihr möchtet, dass ich Euch begleite.«
»Ob Ihr das tut oder nicht, ist mir gleichgültig«, erwiderte Tool in seinem charakteristisch eintönigen krächzenden Tonfall. »Solltet Ihr Euch allerdings dafür entscheiden, hier zu bleiben, so muss ich Euch warnen. Sich mit dem Riss zu befassen, hat seine Risiken – sogar für jemanden wie Euch.«
Sie verschränkte die Arme. »Glaubt Ihr etwa, ich ließe es an der nötigen Vorsicht mangeln?«
»Schon jetzt habt Ihr einen toten Punkt erreicht, und Eure Frustration nimmt zu. Ich füge noch einen weiteren Anreiz hinzu, Lady Missgunst. Eure alten Reisegefährten treffen sich alle am selben Ort – in der Pannionischen Domäne. Sowohl Anomander Rake als auch Caladan Bruth bereiten sich darauf vor, Krieg gegen die Domäne zu führen. Eine folgenschwere Entscheidung – macht Euch das nicht neugierig?«
»Ihr seid nicht nur ein einfacher T’lan Imass«, sagte sie anklagend.
Tool gab ihr keine Antwort.
»Es scheint, als würde er jetzt ausnutzen, dass Ihr Euch in einer misslichen Lage befindet«, bemerkte Toc, der seine Erheiterung nur mühsam verbergen konnte.
»Ich finde Unverschämtheit schrecklich unattraktiv«, schnappte sie. »Was ist bloß aus Eurer freundlichen Gelassenheit geworden, Toc der Jüngere?«
Er wunderte sich über den plötzlichen Impuls, sich ihr zu Füßen zu werfen und um Vergebung zu betteln, der ihn durchzuckte. Er schüttelte diesen absurden Gedanken ab und sagte: »Ich nehme an, dass war eine böse Kränkung.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, und ihre großen Rehaugen schimmerten.
Der unsinnige Wunsch kehrte wieder.
Toc kratzte sich an seiner Narbe und sah weg.
»Ich hatte nicht vor, Euch zu kränken – «
Na klar, und die Königin der Träume hat Hühnerfüße.
»- und entschuldige mich aufrichtig.« Wieder schaute sie Tool an. »Meinetwegen, dann werden wir eben alle eine Reise unternehmen. Wie aufregend!« Sie winkte ihren Seguleh-Dienern. »Fangt unverzüglich mit den Vorbereitungen an!«
Tool wandte sich an Toc. »Ich werde jetzt Material für deinen Bogen und die Pfeile sammeln. Wir können sie dann unterwegs fertig stellen.«
Der Kundschafter nickte. Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Ich hätte nichts dagegen, dir zuzusehen, wie du sie machst, Tool. Das Wissen könnte mir noch einmal nützlich sein …«
Der T’lan Imass schien über diesen Vorschlag nachzudenken und neigte schließlich den Kopf. »Dieser Ansicht waren wir auch immer.«
Alle drehten sich um, als von dort, wo Senu an der Wand lag, ein lautes Stöhnen ertönte. Er hatte das Bewusstsein wiedererlangt und festgestellt, dass der Ay über ihm stand; das Tier leckte mit offensichtlichem Behagen über die auf seiner Maske aufgemalten Muster.
»Die Farbe«, erklärte Tool in seinem üblichen trockenen Tonfall, »scheint eine Mischung aus Holzkohle, Speichel und menschlichem Blut zu sein.«
»Nun, nenne ich ein böses Erwachen«, murmelte Toc.
Lady Missgunst streifte ihn ganz leicht, als sie auf die Tür zuschritt, und warf ihm im Vorübergehen einen Blick zu. »Oh, ich freue mich riesig auf diesen Ausflug.«
Die alles andere als zufällige Berührung ließ in Tocs Eingeweiden ein ganzes Nest von Vipern erwachen. Trotz seines heftig klopfenden Herzens war sich der Malazaner nicht sicher, ob er erfreut oder entsetzt sein sollte.