12. Kapitel

Das Taxi hielt vor dem Haus. Mit noch immer zittrigen Beinen stieg ich aus und reichte dem Fahrer sein Geld. Hinter mir ertönte das Klopfen eines Hammers auf Holz. Ich wandte mich langsam um und entdeckte meinen Opa, der den Teil des Weidezauns reparierte, den der Baum umgerissen hatte. Und ich sah Sam, der auf dem Dach des Schuppens kniete.

Das Taxi fuhr los und ich stand unschlüssig auf der Straße. Ganz unvermittelt kam mir der Gedanke; kann es sein, dass Sam ein Mörder ist? Nein, kann es nicht. Niemand wird 100 Jahre alt. Und trotzdem überzog eine Gänsehaut meine Arme. Ich tastete nach dem Ausdruck in meiner Jeans. Sollte ich ihn wirklich darauf ansprechen? Er würde sicher glauben, ich hätte den Verstand verloren. Aber ich musste etwas tun und derzeit kannte ich nur zwei Menschen, die vielleicht etwas wussten.

Seit mir klar geworden war, dass das Mädchen aus meinen Träumen, dass Anna, wirklich existiert hatte, waren diese Ausflüge in eine fremde Zeit nur noch unheimlich für mich. Und ich musste einfach erfahren, was es mit den Träumen auf sich hatte, denn mich ließ einfach das Gefühl nicht los, dass es dafür einen Grund geben könnte. Oder doch nicht? Ich war so verwirrt, dass mein Kopf schmerzte. Wie konnte ich von einem Mädchen träumen, das vor 100 Jahren gelebt hatte, und gleichzeitig von zwei Brüdern, die heute lebten? Und dann war da ja auch noch meine neue Gabe. Ich hätte mich am liebsten in mein Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und nie wieder über solche Dinge nachgedacht.

Ich ging auf die Weide zu und ich wusste, ich hätte die alte Frau fragen sollen, warum sie mir ausgerechnet diesen Artikel gezeigt hatte.

In der Nähe kicherte jemand. Es kam von der anderen Seite des umgestürzten Baumes. Ein blonder Schopf tauchte auf, dann winkte mir Mel zu. »Komm schon endlich her. Du verpasst was.«

Ich schüttelte die Gedanken ab und ging um den Baum herum. Die Zwillinge hatten es sich auf einer Decke bequem gemacht.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte ich und zog belustigt eine Augenbraue hoch.

»Wir unterstützen deinen süßen Helden.«

»Und natürlich auch Sam«, fügte Jenny hinzu.

Mein Opa räusperte sich hörbar und ich musste lachen. »Ahh, ja das klingt plausibel.« Ich drehte mich um und schaute zu Sam hinauf. Er trug eine zerrissene Jeans und ein Achselshirt. Und selbst von hier unten konnte ich gut erkennen, warum meine Freundinnen so gut gelaunt waren. Bei jedem Hammerschlag bewegten sich unter Sams Haut seine Oberarmmuskeln, Schweiß glänzte in der Sonne und sein Haar stand aufregend wirr um sein Gesicht herum. Kurz, er sah ziemlich heiß aus, und für einen Moment verglich ich das Bild, das sich mir bot, mit dem von Adrian, als er den Sockel der Engelsstatue von Ranken befreite.

»Ihr seid unmöglich«, stöhnte ich gespielt.

»Tu nicht so unschuldig«, sagte Jenny grinsend und wackelte mit den Augenbrauen. »Kaum zwei Wochen zurück in Linden und schon hast du dir die tollsten Kerle geangelt.«

»Genau«, bestätigte Mel und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. »Außerdem, wer sich diesen Anblick entgehen lässt, ist selbst schuld.«

Ich setzte mich zu den beiden auf die Decke und winkte Opa zu, der gerade seine Werkzeugkiste auf seinen Traktor lud. Opa und Ellie sind unzertrennlich. Ellie ist zwar schon in die Tage gekommen, aber ihr leises Tuck Tuck Tuck, ist eines der beruhigendsten Geräusche, das ich kenne. Vielleicht liegt das auch nur daran, dass wenn dieses Motorengeräusch erklingt, Großvater nicht weit ist. Opa winkte mir noch einmal zu und ich bedeutete ihm, dass ich später vorbeikommen würde. Ellies Motor knatterte protestierend auf, als Großvater Gas gab, dann entfernten sich beide die unbefestigte Straße hinauf.

Der Weidenzaun ist repariert, dachte ich zufrieden. Ich könnte Katie eigentlich schon herunterholen. Aber würde sie das auch wollen? Sie hatte so glücklich neben Adrians Hengst ausgesehen. Wie ich Katie kannte, würde sie beleidigt sein, wenn ich sie nach Hause holte. Wahrscheinlich würde ich ähnlich reagieren, überlegte ich und schmunzelte.

»Und, was hast du heute an deinem schulfreien Tag so gemacht?« Mel stupste mir in die Seite und wies mit dem Kinn fragend in Sams Richtung. »Habt ihr den Tag zusammen verbracht?«

»Ja, wir wollen alles wissen. Wirklich alles«, betonte Jenny und hielt den Blick starr auf Sam gerichtet.

Ich schaute zum Dach hoch und der Zeitungsausdruck in meiner Hosentasche drückte mir auf die Seele. Es schien fast, als wollte er mir ein Loch in die Jeans brennen. Es war nur ein dünnes Blatt Papier, und doch war ich mir seiner Existenz nur allzu bewusst.

Sam strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und grinste zu mir herunter. Er schien im selben Alter zu sein, wie Annas Verlobter zum Zeitpunkt als das Foto entstand. Eine leise Stimme flüsterte, dass Sam das auf dem Bild war. Aber ich wusste, das konnte nicht sein. Er konnte nicht dieser Mann sein. Genauso wenig, wie ich Anna war. Und doch wollte ich ihm den Artikel zeigen, wollte seine Reaktion sehen. Wollte sichergehen, dass Sam kein Mörder ist, auch wenn vielleicht nie herausgekommen war, ob dieser Samuel Engelmann Annas Mörder gewesen war.

Soll ich den Zwillingen den Zeitungsausschnitt zeigen? Ich wollte so gerne mit jemandem darüber reden. Mir sagen lassen, dass ich nicht verrückt war, auch nur daran zu denken, jemand könnte mehr als hundert Jahre alt sein. Aber da es Samuel betraf, war es besser, erst mit ihm darüber zu sprechen. Vielleicht hatte das alles gar nichts zu bedeuten und er würde alles so verrückt finden wie ich. Könnte doch gut sein, dass er mir das Gemälde von Anna nur gezeigt hatte, weil sie mir so ähnlich war. Vielleicht waren Sam und Adrian, als sie feststellten, dass da ein Mädchen durch Linden lief, das aussah wie das Mädchen auf dem Porträt in ihrem Haus, genauso erschrocken?

Ich hätte es fast glauben können, was ich mir da zurechtlegte, wären da nicht diese Träume gewesen. Träume aus einer fremden Zeit. Träume in denen sowohl Samuel als auch Anna eine Rolle spielten. Und Adrian. Aber an die Möglichkeit, dass auch er einen Doppelgänger in der Vergangenheit haben könnte, wollte ich gar nicht denken.

Mel zwickte mir in den Oberarm und grinste breit. »Ich weiß ja auch, dass er ein Sahnehäppchen ist, aber ich rede mit dir.«

»Oh, entschuldige.« Offensichtlich wartete sie noch immer auf eine Antwort von mir. »Meinen schulfreien Tag? Ich war in der Schule.«

»Was?«, quiekten sie wie aus einem Mund. »Wir wussten nicht, dass du so ein Streber bist.«

»Bin ich auch nicht.« Ich tastete nach dem Ausdruck in meiner Hosentasche, der sich noch immer in meinen Hintern brannte. »Ich war in der Bibliothek. Ich wollte mir ein paar Bücher ausleihen. Leider gab es nichts, was die Druckerei innerhalb der letzten zehn Jahre verlassen hat.«

Jenny kicherte, rupfte eine Handvoll Gras aus und warf es nach mir. Ich wich dem Großteil aus, aber ein paar Halme erwischten mich trotzdem im Gesicht.

»Was hast du denn gedacht?«, sagte sie. »Das einzige, was nicht neu eröffnet wurde, weil es die ganze Zeit offen war, ist die Bibliothek. Die ist noch in den Händen der Nonnen.«

Ich nahm die Hand wieder von meiner Gesäßtasche. Es lockte mich so sehr, meine Geheimnisse mit den beiden zu teilen. Dabei wäre es so einfach gewesen, ihnen zu zeigen, wie ich einen Grashalm schweben lasse. Das wäre etwas, was sie nicht abstreiten konnten, weil sie es mit ihren eigenen Augen sehen würden. Doch da war ein Gefühl in meiner Magengrube, das mich davon abhielt. Wahrscheinlich hatte ich zu viele Filme gesehen, in denen der Held mit der tollen Gabe am Ende in der Psychiatrie oder auf einem Labortisch gelandet war.

Wenn Tom hier wäre oder Dave, würde ich keine Sekunde zögern, aber was wusste ich schon von den Zwillingen? Eigentlich waren sie Fremde. Wir mussten uns erst neu wieder kennenlernen.

Ich könnte mich Ohrfeigen bei diesen misstrauischen Gedanken. Sie hatten mir nie Grund gegeben, an ihnen zu zweifeln. Sie würden mich sicher nicht verraten. Warum hatte ich dann mehr Vertrauen zu Sam? Warum war ich bereit lieber mit ihm zu sprechen, oder mit Adrian? Da war zwar von Beginn an dieses Gefühl der Verbundenheit gewesen, aber im Grunde waren sie mir fremder als Mel und Jenny.

Mein Blick wanderte zurück zu Sam, der noch immer mit dem Hammer auf das Scheunendach einschlug. Er wirkte auf mich völlig normal. Da war nichts, was dieses merkwürdige Gefühl der Vertrautheit erklären konnte, das mich überfiel, wenn ich in seiner Nähe war. Ich beschloss, dass es keinesfalls komisch erscheinen würde, wenn ich ihm meine kleine Entdeckung präsentierte, schließlich hatte er das ja mit mir auch getan. Da war es nur billig, wenn ich ihm seinen Doppelgänger unter die Nase rieb. Das ist kein Doppelgänger. Das ist Sam, flüsterte die kleine giftige Stimme in meinem Kopf.

Sam erhob sich, stellte sich an den Rand des Daches und sprang einfach in die Tiefe, noch bevor ich schreien konnte, dass er das nicht tun sollte. Unten ging er in die Hocke, kam wieder hoch und schritt auf mich zu. Ich wollte ihn würgen, weil er mir solch einen Schreck eingejagt hatte, sagte mir aber, dass das Dach nicht wirklich hoch war, höchstens zwei Meter. Und doch fluchte ich innerlich, weil zwei Meter genug waren, um sich ein paar Knochen zu brechen.

»Fertig«, feixte er und blieb vor mir stehen.

»Danke.«

»Ja, genau. Danke«, ließ Mel sich vernehmen und rückte näher an mich heran.

»Nicht dafür.« Sam warf Mel einen flüchtigen Blick zu und hockte sich vor mir hin. Um seine Mundwinkel herum zuckte es, aber ich konnte sehen, wie er sich mühte ein Grinsen zu unterdrücken. »Deine Freundinnen waren mir eine große Unterstützung.«

»Stimmt«, bestätigte Jenny. »Ohne unsere zahlreichen Tipps hätte er das nicht geschafft. Aber jetzt müssen wir leider schon wieder gehen.« Jenny warf Mel einen kurzen Blick zu und diese nickte eilig.

»Ja, wir müssen noch ein paar anderen Bauarbeitern über die Schultern schauen.«

Bauarbeiter! Wie konnte ich die nur vergessen. Ich warf Mel und Jenny einen Blick zu, aber so was konnte ich nicht einfach mal schnell zwischen Tür und Angel klären, und schon gar nicht vor Sam. Vielleicht wäre das den Mädchen unangenehm.

»Dann vielen Dank für eure Hilfe. Ich ruf euch später an«, sagte ich grinsend.

Ich wusste, dass sie nur gehen wollten, um mich mit Sam allein zu lassen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich ihnen wohl gesagt, dass ich keine Hilfe von Kupplerinnen brauchte, aber heute war ich froh über die Aussicht, allein mit Sam reden zu können.

»Dann danke ich euch für die nette Unterhaltung.« Sam reichte Mel und Jenny die Hand und ich musste lachen, als ich sah, wie Mels Gesicht sich mit Farbe überzog.

»Gern geschehen.«

Die beiden hatten es plötzlich sehr eilig, weg zu kommen. »Vergiss nicht anzurufen. Wegen der Hausaufgaben. Du weißt schon.« Sie zwinkerte mir zu und rannte hinter Mel her.

Ich wollte mich gerade Sam zuwenden, als von der Straße her ein Hupen ertönte.

»Deine Eltern!«, rief Jenny, die zwischenzeitlich schon auf der Straße angekommen war.

Sam erhob sich mit einem bedauernden Ausdruck in den Augen. »Wir sehen uns noch.«

»Ja, danke.« Ich schaute ihm hinterher, wie er quer über die Wiese davonstiefelte. Dann würde der Artikel eben bis Morgen warten müssen.