Sie hätte längst anrufen müssen, ging es ihm wieder und wieder durch den Kopf.
Sie hätte anrufen müssen ...
Als Scott gegen halb zwei Uhr morgens nach dem Sixpack Bier neben sich griff, fand er nur noch leere Dosen vor. Beim Aufstehen schwankte er. Er ging zur Stereoanlage hinüber, hob die Nadel von der Schallplatte - schon seit fast einer
Stunde zirkulierte sie im Leerlauf und stieß immer wieder gegen das innere Etikett kehrte zum Telefon zurück und rief Caroline in Boston an. Das Gespräch war kurz, die Nachricht eindeutig. Sie hatten sich noch immer nicht bei Caroline gemeldet. Scott entschuldigte sich für die nächtliche Störung, worauf Caroline erwiderte, das sei schon in Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und aufgelegt hatte, versuchte er zu lesen - zuerst eine wissenschaftliche Fachzeitschrift, danach ein Groschenblatt-, starrte jedoch nur auf die ewig gleichen Zeilen, ohne ihren Inhalt zu erfassen. Gegen zwei Uhr forderte der Alkohol sein Recht, so dass er wie betäubt einschlief, ohne dass die Bilder ihn losließen. Immer wieder hatte er im Traum die Zeichnungen vor Augen, nur gehörte das Gesicht jetzt Kath.
Stunden später - jedenfalls kam es ihm so vor, in Wirklichkeit war nur eine einzige Stunde vergangen — fuhr er bei einem heftigen Donnerschlag auf. Der sommerliche Sturm tobte inzwischen so heftig, dass der Strom ausgefallen und das Haus in Dunkel getaucht war. Allerdings funkelte das Zimmer in dem Moment, als Scott die Augen aufschlug, im Widerschein eines grellen Blitzes. Während dieses kurzen Augenblicks strahlender Helligkeit fiel sein Blick auf Kaths Flickenpuppe, die vor ihm auf der Tischplatte thronte: Ihr plumper Körper war aufgeschlitzt, so dass die Füllung in einem hässlichen, grauen Bausch hervorquoll. Aus einem Winkel des mit Grübchen verzierten Mundes rann frisches Blut.
Gleich darauf wurde es wieder dunkel, und als hier und da ein Blitz aufflackerte, war die Puppe wieder ganz, war wieder die gute alte Jinnie. Irgendwann dämmerte der Morgen herauf.
Beim ersten Tageslicht rief Scott noch einmal bei Caroline an. »Wahrscheinlich haben sie einfach in irgendeinem Motel
übernachtet«, meinte sie. Allerdings verriet ihre Stimme, dass auch sie sich inzwischen Sorgen machte. Beide wussten sie, dass es Krista gar nicht ähnlich sah, sich nicht zu melden. Auch dieses Gespräch war kurz.
Nachdem er seine übervolle Blase entleert hatte, holte sich Scott das schnurlose Telefon und machte sich damit auf den Weg zum See. Der Sturm hatte inzwischen eine Atempause eingelegt, es fiel nur leichter Nieselregen. Die sabbere, kühle Luft roch nach regenfeuchtem Laub. Auf halbem Weg zum See hinunter entdeckte Scott ein vierblättriges Kleeblatt und bückte sich instinktiv, um es zu pflücken, entschied sich jedoch dagegen und markierte die Stelle stattdessen mit einem abgebrochenen Zweig. Er nahm sich vor, damit zu warten, bis Kath wieder bei ihm war, und dann so zu tun, als habe er das Kleeblatt gerade erst entdeckt...
Während Scott sich alle Mühe gab, seine Sorgen zu verdrängen, setzte er den Weg zum See hinunter fort. Ringsum war das Grün blau gesprenkelt: Viele der dicken Blaubeeren, die man hier im August ernten konnte, hatten sich bereits vom Strauch gelöst und lagen auf dem Boden. Jenseits des Landestegs kräuselte eine Böe die Wasseroberfläche, um gleich darauf durch die Birken am Seeufer zu fahren und an ihren papierdünnen Blättern zu rütteln. Im Westen türmten sich zahlreiche noch nicht entladene Gewitterwolken übereinander und trieben wie in einer Regatta ungestüm dahin. Hinter Scott, im Osten, kämpfte die aufgehende Sonne um ihre Vorherrschaft. Ihr Licht erzeugte ein fast fluoreszierendes, gelbliches Grün, das unheimlich wirkte, als es die Hügel einhüllte und sie vor dem Hintergrund des rötlich übergossenen Himmels aufleuchten ließ.
Scott trat auf den Landesteg hinaus, blieb am Rand stehen und starrte in das aufgewühlte Wasser. Unwillkürlich versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, ins Wasser einzutauchen, sich bis zu den Zehen zu strecken und in hohem Bogen hineinzuspringen ... Dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich schnell wieder auf festen Boden zurückziehen musste.
Mein Gott, ich wünschte, das Telefon würde endlich läuten. Er konnte dessen stummes Gewicht in der Jackentasche spüren. Ob so oder so: Alles war besser, als derart im Dunkel zu tappen.
Ach ja, wirklich?
Er nahm am Picknicktisch Platz, legte die Füße auf die Bank, stützte das Gesicht in die Hände und schaukelte in stiller Qual vor und zurück. Der Gedanke, seiner Frau und seiner Tochter könne etwas zugestoßen sein, war ihm unerträglich, erfüllte ihn mit ohnmächtiger Angst ... nein, etwas noch Stärkerem. Seitdem er diese Zeichnungen entdeckt hatte, die möglicherweise mit seiner Familie zu tun hatten, war Scott ein einziges Nervenbündel, ging auf Schatten los, malte sich katastrophale Szenen aus, die er nicht verdrängen konnte. Nachts hatte er sich sogar in etwas hineingesteigert, das er für eine von Übermüdung und Stress verursachte Halluzination hielt: Im flackernden Widerschein des Blitzes war es ihm so vorgekommen, als sei Kaths Puppe aufgeschlitzt worden und voller Blut. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Krista anrief, bestärkte ihn in der Gewissheit, dass der Alte Recht gehabt hatte und ein Unfall passiert sein musste ... ein schlimmer Unfall. Ihm war kalt, er fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie die Fässer, die unter dem Anlegesteg trieben.
Während er in der seltsam aufgeladenen Luft herumsaß, hörte er irgendwann eine Möwe mit so klagender Stimme schreien, dass sie beunruhigend menschlich klang. Als sich Scott zu dem Geräusch in seinem Rücken umdrehte - in seiner Müdigkeit hatte er sich ausgemalt, Kath habe sich aus Spaß an ihn herangeschlichen sah er, dass der grauweiße Vogel auf einem Felsen thronte, eine Elritze ausweidete und ihn mit den gelben Augen gleichzeitig argwöhnisch beobachtete. Voller Wut darüber, dass die Möwe ihn unwissentlich derart hereingelegt hatte, schwenkte er die Arme, bis sie davonflog. Während sie sich in die Lüfte schwang, verfolgte ihn ihr Geschrei wie hämisches Gelächter.
Scott schossen Tranen in die Augen, sein Blick verschwamm. Dennoch fielen ihm auf dem Boden nahe am Anlegesteg zwei seltsame rosafarbene Streifen auf. Als er näher hinsah, merkte er, dass es sich um Haarklammern handelte, die Krista gehörten. Gleich darauffiel ihm ein, dass sie die Klammern aus ihrem Haar gelöst hatte, als sie vor einigen Wochen mit ihm zusammen nackt im See gebadet hatte. Später hatte sie die Suche danach aufgegeben. Scott lächelte, während er die Klammern aufhob. Er nahm sie mit zum Tisch und rief sich dabei alle intimen Einzelheiten jener warmen Nacht ins Gedächtnis zurück.
Es war ein Samstag gewesen. Da Kath bei einer Freundin übernachtete, hatten Krista und er das Wochenende ganz für sich gehabt. Sie waren unten am Bootssteg gewesen, hatten sich ein bisschen betrunken und herumgealbert, bis Krista schließlich vorschlug, schwimmen zu gehen, und sich auszuziehen begann. Scott erinnerte sich noch deutlich an ihre blassen, vorgewölbten Brüste, die sich im körnigen Zwielicht des Mondes so erotisch von der ansonsten gebräunten Haut abgehoben hatten. Ebenso deutlich erinnerte er sich an die vage, Schwindel erregende Angst davor, bei Nacht zu schwimmen, ein Gefühl, das den Nervenkitzel noch erhöhte. Bis zum Morgen danach, dachte er grimmig, bis wir den steinigen Boden und das Unkraut spürten. Sie hatten gelacht, waren herumgeschwommen und hatten einander nass gespritzt, bis Krista sein Glied in die Hand genommen und hart gemacht hatte. Und dann hatten sie sich geliebt, auf dem Anlegesteg, nackt unter Sternen. Es war schön für sie beide gewesen. Und danach, es war unglaublich, waren sie an Ort und Stelle eingeschlafen, so ineinander verschlungen, dass sie nicht einmal gefroren hatten.
Sofort folgte auf diese Erinnerung eine andere. Seltsamerweise fiel ihm ein, wie Kath mit fünf Jahren einen Eiswürfel verschluckt hatte und fast daran erstickt wäre. Als erlebe sein Gehirn eine Art Kettenreaktion, führte eine Erinnerung zur nächsten. Es dauerte nicht lange, bis ihm eine ganze Kaskade
von Erinnerungssplittern in schneller Abfolge durch den Kopf schoss.
Scott hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, als der Wind plötzlich auffrischte und es erneut zu regnen begann. Völlig vertieft in das Mosaik von Erinnerungen überhörte er das erste schrille Läuten des schnurlosen Telefons, als es sich in seiner Jackentasche meldete. Beim zweiten Läuten reagierte er und zog es aus der Jacke, nahm jedoch nicht ab. Auf den Regen achtete er nicht. Ihm war nur die eigene Angst bewusst, die schwer auf ihm lastete, auf sein Herz drückte und es zu zermalmen drohte. Bestimmt war es Gerry, der anrief und mit seiner lauten Stimme gleich sagen würde: Tut mir Leid, Scott, aber sie sind tot... Sie sind beide tot...
Beim dritten Läuten nahm er den Hörer ans Ohr. Die Stimme am anderen Ende - eine hohe, angespannte Stimme, die vertraut klang - schnitt ihm das Wort ab, ehe Scott sich melden konnte. »Scott?«
Dieses einzige Wort wirkte wie ein schmerzstillendes Mittel. Kummer und böse Vorahnung lösten sich in einem einzigen bebenden, kaum hörbaren Atemzug auf. Scott fing zu kichern an.
»Hör zu, Scott, du wirst nicht glauben, in welcher Scheiße ich hier stecke ... Lachst du etwa? Es ist mein voller Ernst, Scott...« Es war Krista.
»... hörst du mir jetzt endlich zu?«
Ehe Scott antworten konnte, hörte er, wie die Stimme seiner Frau vor Wut scharf wurde und gleich darauf gedämpft klang, weil sie die Hand über die Sprechmuschel gelegt hatte. Sie sprach mit jemandem an ihrem Ende der Leitung - und nicht allzu höflich.
»Würden Sie mich hier, um Himmels willen, ein Privatgespräch führen lassen? Mein Gott noch mal!« Sie war wieder dran. »Nicht zu fassen, was das für Volltrottel sind.« »Was ist da los, Krista?«, fragte Scott, der seine Stimme
endlich wiedergefunden hatte, aber immer noch grinsen musste. »Bist du gesund und munter? Was ist passiert? Als du dich nicht gemeldet hast, dachte ich schon ...«
»Das tut mir Leid, Liebling. Aber lass mich erklären. Oh, es ist eine lange Geschichte. Gestern Abend hab ich mit dem Auto eine gottverdammte Kuh angefahren ...«
»Eine Kuh?« Scott musste schon wieder kichern. Eine Kuh, dachte er mit hysterischer Heiterkeit, nur eine blöde, gottverdammte Kuh.
»Das ist nicht komisch. Wir hätten uns dabei verletzen ... oder sogar draufgehen können. Jedenfalls ist die arme Holsteiner inzwischen nur noch Hackfleisch. Ich hab ihre Hinterbeine mit der Stoßstange erwischt Der Bauer hat gesagt, er müsse sie erschießen. Weißt du, Kath und ich haben uns gestern Nachmittag völlig verfranzt und, na ja, du weißt ja, wie ich bin, wenn ich irgendwohin muss.«
Allerdings.
»Es war dunkel, und ich bin auf dieser gewundenen Straße ziemlich schnell gefahren ... Wenn Neuengland irgendwas im Überfluss hat, dann sind es solche Straßen mit Zickzackkurven.«
Krista war wirklich fertig, wie Scott an ihrem Endlosmonolog merkte. Dennoch konnte er sein Lächeln nicht unterdrücken. Ihnen war nichts passiert, Gott sei Dank waren sie unversehrt.
»Wir sind um diese scharfe Kurve gebogen - und da waren sie, Kühe, vielleicht sechzig oder so, überall auf der verdammten Straße. Und ein halbes Dutzend Bauern mit Taschenlampen und Hunden. Die Kühe hatten den Weidezaun niedergetrampelt und waren ausgebrochen. Dem Auto ist nicht viel passiert ... ich meine, ich kann noch damit fahren. Der Kühler ist ein bisschen eingedrückt. Ich bin ins Schleudern geraten und im Straßengraben gelandet. Mein Gott, ich bin mir wie eine Kriminelle vorgekommen. Diese Bauern haben mir ganz schön hässliche Blicke zugeworfen ... Und dann mussten sie das Auto auch noch auf die Straße
hieven. Egal, aber um dem noch eins draufzusetzen, musste es auch noch zu regnen anfangen. Regen mit Blitz und Donner, es war ein regelrechter Gewittersturm. Und du weißt ja, wie solche Gewitter Kath zu schaffen machen.«
Während er grinsend im Regen saß, nickte Scott vor sich hin. Bei schlimmen Gewittern fiel Kath in die Verhaltensweisen eines fünf oder sechs Jahre jüngeren Mädchens zurück.
»Jedenfalls war ich fix und fertig. Deshalb hab ich einen Bauern gefragt, wie weit es zum nächsten Motel ist. Er sah so aus, als würde er mir lieber erzählen, ich solle ... na ja, du kannst es dir sicher ausmalen ... Aber er hat's mir dann trotzdem gesagt. Also sind wir losgefahren, wobei ich wie Espenlaub gezittert hab, nachdem wir die Kuh erwischt hatten. Und Kath war völlig verängstigt und verhielt sich wie eine Dreijährige.«
Während er zuhörte, wanderte Scott den Hügel hinauf zurück zum Haus. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er im Augustregen dagesessen und im Geiste Nachrufe auf die beiden Menschen verfasst hatte, die ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeuteten. Ohne dass er es merkte, zertrat er mit der Schuhsohle den vierblättrigen Klee, den er mit einem Zweig markiert hatte. Nur die Höhepunkte in Kristas heruntergerasseltem Bericht drangen bis in die Gehirnbereiche vor, in denen er sie sortieren konnte, aber das spielte keine Rolle. Was zählte, war allein Kristas Stimme - diese lebhafte, entnervte Stimme, die in ihrer Erregung in den alten neufundländischen Dialekt ihrer Kindheit zurückgefallen war ... Was zählte, war allein die Tatsache, dass sie noch am Leben war. Das Auto, die Kuh, der Zeichner — nichts davon war wesentlich.
»Schließlich fand ich das Motel, Nomad's Notch« Krista lachte spöttisch. »Wenn du mich fragst, würde Nomad's Crotch schon eher passen (Anm. d. Ü.: Nomad's Notch: Nomadenherberge; Nomad's Crotch frei übersetzt Geschlechtsteil eines Nomaden). Was für ein Saftladen!« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Oh, Scheiße, dieser kleine Dreckskerl, der Motel-
Besitzer, hat das eben mitgehört. Ich wollte dich anrufen, als ich hier ankam«, fuhr sie in normalem Tonfall fort. »Es war spät, schon nach Mitternacht, und ich wusste, du würdest dir Sorgen machen. Aber wegen des Gewitters ist das Telefonnetz zusammengebrochen, das Stromnetz auch. Also mussten Kath und ich im Dunkeln in diesen matschigen Hof hinaus und nach Zimmer siebzehn suchen. Und da stellt sich heraus, dass uns diese kleine Ratte die Bruchbude ganz am Ende der Reihe zugewiesen hat, mit undichtem Dach, ohne Heizung und mit einer vermoderten, alten Matratze. Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich überall am Arsch Abdrücke von den Sprungfedern.«
Krista war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. Scott hatte das Gefühl, sie werde vielleicht zu weinen anfangen. Erleichtert, wie er war, hatte er verkannt, wie sehr sie dies alles mitgenommen hatte. Im Vergleich zu dem Schicksal, das er sich ausgemalt hatte, kamen ihm Kristas Missgeschicke wie Kleinigkeiten vor. Aber alles war relativ.
»... hab dauernd von dieser armen Kuh geträumt. Als ich sie erwischt hab, hat sie sich eingekotet, Scott. Hat direkt auf die Motorhaube geschissen.« Als Krista ihren Monolog kurz unterbrach, konnte er über die Meilen hinweg ihre lauten Atemzüge hören. »Und dann ...«Jetzt weinte sie tatsächlich, Scott konnte die Tränen fast kullern hören. »Und dann das! Um halb sechs Uhr früh wird meine Zimmertür aufgerissen und diesen beiden gehirnamputierten Polizisten platzen herein!«
»Oh, mein Gott.« Plötzlich fand Scott die ganze Situation zum Brüllen komisch. Gerrys Werk ... Seine Detektivarbeit hatte Früchte getragen.
»Was geht da vor, Scott? Die halten mich für irgendeine Kriminelle, für eine Kidnapperin. Ist doch nicht zu fassen, oder? Ich hab denen meinen Führerschein, den Fahrzeugbrief und all das gezeigt, und Kath hat ihnen gesagt, dass ich ihre Mutter bin, aber die behaupten, sie müssten erst auf so was wie ´ne Unbedenklichkeitsbescheinigung aus Kanada warten.«
Sofort sah Scott eine Möglichkeit, aus der ganzen Sache mit weißer Weste herauszukommen. Vielleicht sogar als Held. »Hör mal, Liebling, lass das Weinen und gib mir deine Nummer im Motel, dann rufe ich dich sofort zurück. Ich werde mich mit Gerry in Verbindung setzen. Mal sehen, ob er diesen ganzen Schlamassel nicht aufklären kann. Offensichtlich hat es da irgendein Missverständnis gegeben.« Aus einer spontanen Eingebung heraus, die er erst Stunden später begreifen sollte, fügte er gleich darauf hinzu: »Und dann buche ich einen Flug und stoße in Boston zu euch ... Zur Hölle mit all den Sitzungen, dem Job und der Psychiatrie.«
»Okay, mein Süßer.« Krista schniefte zwar noch, klang aber wieder beherrschter. »Du bist ein Schatz.« Sie gab ihm die Nummer durch. »Danke. Und das mit dem Auto tut mir Leid.«
»Denk nicht ans Auto. Meine beiden Frauen sind heil und gesund, nur das zählt. Ich hab sowieso schon daran gedacht, den Volvo gegen einen Chevette einzutauschen.«
17
Als Krista lachte, fühlte sich Scott wie ein Glückspilz.
»Ich liebe dich, Scott.«
»Ich dich auch.«
Als sie auflegten, stand Scott immer noch draußen auf der Veranda im kühlen, erfrischenden Regen.
Als sich das Telefon erneut meldete, fuhr Scott zwar zusammen, empfand das Läuten aber nicht mehr als beängstigend, sondern nur noch als ganz normales, angenehmes Geräusch. Er trat von der Veranda ins Haus und nahm mit fröhlichem Hallo ab.
»Scott?« Es war Gerry. »Hör zu, wir haben die beiden gefunden, es geht ihnen gut Allerdings hat Krista eine Stinkwut«
»Tja, das weiß ich, sie hat gerade eben angerufen. Danke,
Mann, ich schulde dir einiges und werd dir einen ausgeben.« Scott lachte leise. »Kannst du mir jetzt auch noch aus dieser Patsche helfen? Wenn Krista herausfindet, dass ich hinter all dem stecke — ganz abgesehen von dem verrückten Grund dafür -, dann gnade mir Gott.«
»Das ist die leichtere Übung.«
»Danke, Kumpel. Du musst ja denken, dass ich allzu lange in der Sonne gewesen bin und einen Stich habe.«
»Naja, du weißt doch, was man sich über Seelenklempner erzählt... Nein, ganz im Ernst, deine Sorge um die beiden hat mich echt gerührt. Du kannst von Glück sagen, Menschen um dich zu haben, an denen du so hängst.«
»Tja, ich weiß.« Scott gab es einen leichten Stich ins Herz, als er die eigene Situation mit der seines Freundes verglich. Gerrys Frau Steffie hatte ihren Ehemann vor zwei Jahren sitzen lassen - mit einer leer geräumten Wohnung und einem Abschiedsbrief auf dem Küchentisch.
»Kannst du mir jetzt auch den verrückten Grund für all das verraten oder muss ich warten, bis die's im Fernsehen bringen?«
»Das ist ja wohl das mindeste, was du verdienst. Allerdings nicht jetzt. Vielleicht nächste Woche bei einem Bier und einem Essen in der Pizza Hut. Ich möchte Krista gleich zurückrufen. Ich fliege noch heute nach Boston und treffe mich am Abend mit ihr.«
»Okay, José. Aber lass mir noch zehn, fünfzehn Minuten Zeit, damit ich das Missverständnis in den Staaten aufklären kann, ehe du sie anrufst... Und meide die Sonne.«
»Auf bald«, sagte Scott lachend. »Ich ruf dich wieder an.«
Er legte den Hörer auf die Gabel und machte sich auf den Weg nach oben. Lautlos vor sich hin pfeifend, ging er ins Bad, entledigte sich seiner durchnässten Sachen und hüpfte unter die Dusche. Er fühlte sich großartig, besser als seit Tagen. Und dennoch konnte er, während das heiße Wasser Wunder wirkte, untrüglich spüren, wie die Erschöpfung ihn überwältigte. Er steuerte auf einen regelrechten Kollaps zu, das
war ihm klar. Wahrscheinlich wurde er den ersten Tag in Boston einfach durchschlafen.
Eine Kuh, dachte er wieder. Keine schlurfenden Zombies aus dem Tal der Toten. Nicht, dass er auch nur einen Augenblick geglaubt hätte ...
Es war dieser Moment, in dem ihm klar wurde, dass der Zeichner trotz allem Recht behalten hatte. In seiner Erleichterung war Scott so zerstreut gewesen, dass er den wahren Kern der Prophezeiung missachtet hatte. Es war tatsächlich eingetroffen: Seine beiden Frauen hatten abends einen Autounfall gehabt, waren auf der Straße mit einem Lebewesen zusammengestoßen. Und das heißt, dass sie jetzt außer Gefahr sind... oder nicht? Er trat aus der Dusche, rubbelte sich energisch trocken und trottete ins Schlafzimmer hinüber. Immer noch ein wenig wackelig auf den Beinen, griff er nach dem Telefon und rief den Reservierungsschalter der Air Canada an. Das Bestmögliche, das man für ihn tun könne, sei die Reservierung eines Fluges nach Montreal samt eines Anschlussfluges nach Boston, wurde ihm mitgeteilt. Mit Air Canada könne er abends um acht aus Ottawa abfliegen und eine Stunde später in Montreal in eine Delta-Maschine umsteigen, um am späteren Abend um fünf vor elf in Boston zu landen. Das passte ihm gut: Der späte Flug würde ihm Zeit lassen, die Dinge in der Klinik zu regeln.
Als Nächstes wählte er die Nummer, die Krista ihm gegeben hatte.
Die Frau, die abnahm, sprach mit einem schleppenden Nordstaader-Akzent, der Scott affektiert vorkam. »Morgen, hier Nomad's Notch.«
»Hier Dr. Bowman«, erwiderte er mit so viel Autorität, wie er aufbringen konnte. »Bitte geben Sie mir Krista Bowman.«
Der Hörer schepperte, als er gegen irgendetwas Hartes stieß. Scott hatte dabei einen Kunststoff-Tresen voller Kaffeeflecken vor Augen. »Is' für Sie«, hörte er die Frau sagen. »Scott?«
»Hi, ich hab Gerry erreicht...«
»Ja, ich weiß.« Krista klang munter und erleichtert. »Diese Gangster sind abgezogen, ohne jede Entschuldigung oder sonst was. Haben nur gesagt: Hier ist Ihr Führerschein, Lady, Sie können jetzt fahren. Schweine. Na ja, wenigstens können wir jetzt los. Kath hält das alles für einen Mordsspaß. Ich hab Caroline schon angerufen. Sie hat gelacht, aber ich weiß, dass sie sich genau wie du Sorgen gemacht hat.«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Mir geht's jetzt wieder gut, weißt du, du musst also nicht unbedingt nach Boston fliegen. Ich fände es zwar schön, aber ...«
Scott warf erneut einen Blick auf die Zeichnungen, die er vor dem Duschen aufs Bett geworfen hatte. »Sorg einfach dafür, dass der Harem heute Abend um elf am Delta-Ausgang versammelt ist.«
Krista kreischte leise auf, was sie nur tat, wenn sie sich sehr freute.
»Krista?« Scotts Stimme war fast ein Flüstern.
»Ja, Liebling?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?« Er sah die Angst im Gesicht des Kindes auf der Zeichnung und merkte, dass an seinem Haaransatz Schweiß perlte.
»Spuck's schon aus, Kumpel.«
»Fahr heute Abend nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit, ja?«
»Was? Warum denn nicht?«
»Bitte, Liebes. Tu einen Abend lang einfach das, was deinen bekloppten Ehemann beruhigt.«
»Und wie soll ich dich dann am Flughafen abholen?«
»Fahr mit Caroline, dann muss ich mir keine Sorgen machen, okay?«
»Okay.« Krista war zu erschöpft, um weiter nachzuhaken oder mit ihm herumzustreiten. »Bis heute Abend also.« Absichtlich ließ sie in diesen Abschiedsworten ein erotisches Versprechen mitschwingen.
»Alles klar«, erwiderte Scott, der das Signal erkannte. »Ich
bin der Mann mit der Prawda unter dem Arm und der unreifen Chiquita-Banane, heimlich festgeklebt im Schritt« Krista lachte. »Bowman, du bist wirklich ein Blödmann ... Aber ich liebe dich trotzdem. Und tschüss.« Sie legte auf.
Ehe Scott am späten Vormittag zur Klinik aufbrach, faltete er die Zeichnungen zusammen und verstaute sie in der Reisetasche. Er wollte sie Krista zeigen, vielleicht würden sie dann beide herzhaft über diese ganze dämliche Sache lachen. In ein anderes Taschenfach stopfte er Jeans und Jinnie, Kaths Flickenpuppe.
Er war schon auf dem Weg nach draußen, als ihm die Weihnachtsfotos einfielen, die er hatte entwickeln lassen. Er schob sie als Letztes in die Tasche.
»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.« Krista stand in der glühenden Mittagshitze und starrte den mit Schmieröl verdreckten Automechaniker fassungslos an. Seine Augen, die einen verblüffenden Farbton hatten, ein intensives Flaschengrün, zwinkerten vor Vergnügen. Hinter ihm, auf dem Schotterstreifen, war der Volvo abgestellt, aus dessen eingedrückter Motorhaube zischend Dampf entwich. Dagegen brummte der Motor des Abschleppwagens, der ganz in der Nähe stand, zufrieden vor sich hin. Fast so, als wolle er sich über ihr Missgeschick lustig machen, dachte Krista.
Von Nomad's Notch aus war sie genau dreißig Kilometer gefahren, als der Wagen zu stottern und das rote Auge der Temperaturanzeige vorwurfsvoll zu blinken begann. Wie nicht anders zu erwarten, war sie genau hier, am Arsch der Welt, gelandet, als es passierte. Und es hatte sie mehr als eine Stunde gekostet, einen Wagen anzuhalten, der sie in den nächsten Ort mitnahm.
»Nein, Gnädigste, das ist mein voller Ernst. Sie haben ein Loch im Kühler - sooo groß!« Er deutete es mit seinen ölverschmierten Wurstfingern an. »Offenbar hat sich ein Ast durch den Kühlergrill gebohrt, als Sie von der Straße abgekommen sind.« Jetzt lächelten seine grünen Augen, er sah wohl schon die Dollars fließen.
Krista blickte finster zu dem demolierten Wagen hinüber. »Können Sie das reparieren?«
Der Automechaniker rieb sich das Kinn und schlurfte zu seinem Lastwagen zurück, wo er einen Ellbogen am Fenster abstützte und einen Stiefel gegen das lehmverschmierte Trittbrett stemmte. So, wie er dastand, gab er teilweise die Sicht auf das Firmenlogo frei, das an der Fahrertür prangte: ERNIE THURSTON, TEXACO.
»Reparieren kann ich den Wagen schon«, erklärte er nach einer theatralischen Pause. »Brauch dazu aber einen neuen Kühlerblock. Wahrscheinlich muss ich den in Boston besorgen ...«
»Boston?!«, unterbrach ihn Krista. Sie waren immer noch gut dreieinhalb Stunden von Boston entfernt. »Wie lange wird das dauern?«
»Bis zum Nachmittag, schätze ich. Vielleicht sogar bis morgen Vormittag. Muss den alten Kühlerblock ausbauen und mit Greyhound hinschicken. Vielleicht finden wir so einen auch in Portland, falls wir Glück haben.« Er musterte den Volvo mit offener Verachtung. »Diese ausländischen Wagen mögen ja ganz nett und so sein, aber die Einzelteile sind schlampig produziert - der letzte Scheiß!« Als wolle er seiner Meinung, die aus vollem Herzen kam, Nachdruck verleihen, spuckte er aus. »'tschuldigung, Gnädigste.«
Krista biss sich auf die Lippen. Unwillkürlich fiel ihr ein Lieblingsausspruch ihrer Mutter ein, die sie im Plauderton sagen hörte: »Ein Unglück kommt selten allein.« Also gut, an welchem Punkt soll ich mit dem Zählen anfangen ?, fragte sich Krista bitter. Erst bringt mich meine Schwester mit ihrer Wichtigtuerei auf die Palme, dann der Zoll, danach der Strafzettel wegen zu schnellen
Fahrens. Schließlich verfranse ich mich in den Bergen, fahre eine Kuh tot, muss auf einer verlausten Matratze schlafen und werde wegen Entführung festgenommen. Reicht das noch nicht?
Während sie zum zischenden Volvo hinüberblickte, brannte ihr ein dicker Schweißtropfen im Auge. »In Ordnung«, sagte sie resigniert. »Also los.«
Der Mechaniker nickte und spuckte nochmals aus. Gleich darauf stieg er in den Abschleppwagen und setzte so zurück, dass er direkt vor dem Volvo zu stehen kam. Seine grünen Augen funkelten.
In der Zwischenzeit hatte Krista ihre Tochter, die im Straßengraben nach Grashüpfern suchte, zu sich gewunken. Beide quetschten sich auf den Beifahrersitz von Ernie Thurstons Ford. Während sie auf ihn warteten, zupfte Kath gedankenverloren an der Füllung, die aus einem Riss im Kunststoffpolster quoll.
Der Zwischenaufenthalt in Montreal dauerte kaum mehr als eine Stunde. Den Großteil der Zeit verbrachte Scott damit, dass er in einer Bar am Abflug-Gate ein Bier genoss. Den recht unbeholfenen Annäherungsversuchen einer beschwipsten Prostituierten schenkte er keine Beachtung.
Nach dem Gespräch mit Krista hatte er am restlichen Vormittag versucht, ein bisschen Schlaf nachzuholen. Aber die Nacht voller Sorgen hatte die Wirkung eines Aufputschmittels, so dass er keine Ruhe finden konnte. Zwar schaffte er es, für eine Stunde einzunicken, fühlte sich beim Aufwachen jedoch noch erschöpfter als zuvor. Als er kurz nach zwölf in der Klinik ankam, zog er sich sofort in sein Büro zurück, wo er einige Stunden damit zubrachte, Briefe zu diktieren und die für diese Woche angesetzten Besprechungen und Termine zu verlegen. Ehe er die Klinik verließ, sah er kurz nach dem Zeichner, der in seinem Rollstuhl saß und fest schlief. Wie die
Krankenschwester, die Bateman mit der Betreuung des Alten beauftragt hatte, berichtete, hatte er sich seit dem frühen Morgen kaum gerührt. Von neuen Zeichnungen war nichts zu sehen.
Während sich Scott in die Schlange einreihte, die darauf wartete, an Bord zu gehen, merkte er, dass er mehr als angesäuselt war, genau wie die Nutte, und ihre hartnäckigen Annäherungsversuche jetzt seltsamerweise als schmeichelhaft empfand. Immer noch winkte und zwinkerte sie ihm von ihrem Hocker an der benachbarten offenen Bar aus zu.
Was für ein anhängliches Straßenhündchen, dachte Scott, musste kichern und winkte zurück. Inzwischen hatte er die grässliche Angst, die ihn letzte Nacht gepackt hatte, fast vergessen. Allerdings nagte trotz der Erschöpfung und der milden, vom Alkohol verursachten Euphorie irgendetwas an ihm, beschäftigte sein Unterbewusstsein. Es war irgendein Detail, das er nicht richtig fassen konnte, das ihm immer wieder entglitt. Irgendetwas passte nicht zusammen, fügte sich nicht recht ins Bild. Es hatte mit den Zeichnungen des Alten zu tun: Irgendetwas daran war widersinnig, ohne dass er es hätte benennen können, aber es war eindeutig in den Bildern enthalten.
Während Scott wartete, wurde ihm vage bewusst, dass er die Arbeiten des Alten mit sich herumschleppte: Sie lagen zusammengefaltet in der Seitentasche seiner TWA-Flugtasche. Es kam ihm so vor, als könne er sie darin spüren - wie ein Gewicht, gerade so schwer, dass die Trageriemen der Tasche unangenehm in seine Schulter schnitten.
»Ihre Bordkarte, bitte. Ihre Bordkarte, Sir?!«
»Was ...?«
Ohne es zu merken, war Scott bis zur Spitze der Warteschlange aufgerückt. Jetzt sah er sich einer gereizten Stewardess aus Puerto Rico in adretter blauer Uniform gegenüber, die ungeduldig die behandschuhten Finger ausstreckte. Der Passagier vor Scott war bereits ans Ende der Zugangsrampe gelangt und bog gerade um die Ecke.
Die Leute hinter Scott murmelten aufgebracht.
Er reichte der Stewardess die Bordkarte.
»Am Ende der Rampe links halten«, erklärte sie. »Sollen wir Ihnen helfen, Sir?«
»Nein, ddd... danke.«
Meine Güte, so betrunken war er doch gar nicht ... Oder doch?
Vorsichtig machte sich Scott auf den Weg. Beim Blick durch die lange, halb durchsichtige Seitenwand der Rampe fiel ihm die konisch geformte Spitze des Flugzeugs auf, die mit einem großen, roten Punkt markiert war. Er musste dabei an eine riesige Brust denken - die wogende, Männer verschlingende Brust in Woody Allens Film Was Sie schon immer über Sex missen wollten (aber nie zu fragen wagten). Danach dachte er an all das eiskalte Gebräu in seinem Magen (er hätte nicht sagen können, wie viele Biere es seit Ottawa gewesen waren) und an die Mitleid erregende, abgehalfterte Hure in der Wartehalle. Er lächelte.
Wie angewiesen, wandte sich Scott am Ende der Rampe nach links. Vom Rollfeld her drang kühle Luft herüber, die nach Treibstoff stank. Er spürte, wie sie an seinem Haar zauste und den Schweiß auf seiner Stirn trocknete. Nachdem er ins Flugzeug gestiegen war, zeigte er der Stewardess kurz die Bordkarte und zwängte sich durch den Gang, bis er seinen Sitz gefunden hatte.
»Möchten Sie etwas trinken, Sir?«
Zusammengekrümmt und halb schlafend saß Scott auf seinem Fensterplatz weit hinten im Flugzeug. Eingelullt vom sanften Vibrieren der Rolls-Royce-Turbinen, war er auf der Stelle friedlich eingenickt. Neben ihm thronte eine Frau, die so übergewichtig war, dass ihr Fett über den Sitz hinaus bis in den Gang schwabbelte. Sie las ein dickes Taschenbuch und roch so schal nach Schweiß wie ein ganzer Sportumkleide-»Nein, danke«, erwiderte Scott. »Ich glaube, ich habe genug gehabt.«
Lächelnd ging die Stewardess weiter, um die übrigen Passagiere mit Getränken vom scheppernden Rollwagen zu versorgen.
Die fette Frau drehte sich zu Scott um, ließ das Taschenbuch in den Schoß sinken und lächelte ihm zu. Hastig (und wohl auch ein bisschen unhöflich, wie er fürchtete) wandte sich Scott dem Fenster zu. Als er einen Blick auf die Armbanduhr warf, ging ihm auf, dass sie tatsächlich gestartet und auf halbem Weg nach Boston waren, ohne dass er es mitbekommen hatte.
Jenseits des Fensters wölbte sich ein klarer, fast wolkenloser Himmel, dessen Horizont einen sanften Bogen beschrieb. Nur eine einzige Wolke, die sich dunkel vor dem sternenbesäten Himmel abzeichnete, trieb gemächlich auf halber Höhe dahin. Ihr oberer Rand verschleierte einen Teil des Mondes und schimmerte schwach. Als Scott mit träumerischem Blick hinübersah, fiel ihm ein, wie der nächtliche Himmel ihn in seiner Kindheit fasziniert hatte. Gemeinsam mit einem Kumpel war er oft auf den Zaun hinten im Garten gestiegen und von dort aus aufs Garagendach geklettert. Beide hatten sie dann in den Himmel gestarrt, so getan, als seien sie Astronauten, und nach Sternschnuppen Ausschau gehalten.
Während Scott den Mond betrachtete, löste er sich nach und nach aus der dunklen Wölke. Zuerst erschien die ausgezackte Sichel, dann die ganze pockennarbige Scheibe -strahlend hell, kugelrund und vollkommen.
Scotts Augen weiteten sich, er spürte Panik. Da war es, segelte an der Kuppel des nächtlichen Himmels entlang - das letzte Teilchen im nervenzerreibenden Puzzle der Zeichnungen. Das Teilchen, das an ihm genagt hatte, das Detail, das er seit dem frühen Morgen im Kopf herumgewälzt hatte.
Der Mond.
Das Auge, das Gott der Nacht vorbehielt.
Wie ein Junkie, dem gerade einfällt, wo er seinen Stoff
versteckt hat, schnappte sich Scott die Reisetasche und kramte die Zeichnungen hervor. Er konzentrierte sich sofort auf die dritte Abbildung, überflog sie hastig, ließ den Blick vom Grabstein im Vordergrund zu dem schlurfenden Leichnam und danach zu dem kahlen Baum wandern, der sich schwarz vor einem übergroßen Mond abzeichnete.
Vor einem Vollmond.
Während Scott in der Abflughalle des Flughafens Montreal saß und sein zweites Bier bestellte, fuhr Krista schließlich von Thurstons Texaco-Niederlassung in Fryeburg los. Ernie hatte Recht behalten: Das Besorgen der Ersatzteile und die Reparatur hatten den ganzen Tag in Anspruch genommen. Eine ebenso unangenehme Überraschung war die Rechnung: vier-hundertsechsunddreißig Dollar plus achtundachtzig Cents, wohlgemerkt US-Dollar, keine kanadischen. Als sie bezahlte, fiel Krista ihr erstes Auto ein, ein Vauxhall Victor, Baujahr 1965. Sie hatte weniger als die Hälfte der Summe für den ganzen Wagen hingelegt, verdammt noch mal!
Sie waren immer noch drei Stunden von Boston entfernt, zweieinhalb, wenn sie viel Gas gab. Danach würde sie noch den Flughafen Logan International suchen müssen, eine Aussicht, die sie nach all dem, was an diesem Tag sowieso schon passiert war, nicht gerade in Hochstimmung versetzte. Am frühen Nachmittag hatte sie Caroline angerufen, um sie vorzuwarnen, dass sie frühestens gegen Mitternacht mit ihnen rechnen könne, da sie Scott noch vom Flughafen abholen müsse. Anschließend hatten Kath und sie sich eine Frühvorstellung in Fryeburgs einzigem Kino, der Zauberlaterne, angesehen, eine Wiederaufführung von Spielbergs Gremlins. Obwohl Krista anfangs skeptisch gewesen war, hatte ihr der Film schließlich doch Spaß gemacht. Nach der Hitze des Augusttages, bei der alles an einem zu kleben schien, war die
Klimaanlage des Kinos ein wahrer Segen, und der Film brachte genau die richtige Mischung aus Witzigem und Blutrünstigem, um sowohl den hysterischen Aspekten ihres Frustes als auch ihren Mordgelüsten entgegenzuwirken.
Als sie die Interstate 95, die nach Süden führte, erreicht hatten, dämmerte es bereits. Während Kath ein Nickerchen machte, hielt sich Krista ständig links, als habe sie diese Fahrspur ganz allein für sich gepachtet, und fuhr im angenehmen, wenn auch überhöhten Tempo von hundertzwanzig Stundenkilometern dahin.
Als es dunkel wurde und die ärgerlichen Einzelheiten der letzten beiden Tage langsam verblassten, fiel Krista Scotts seltsame Bitte wieder ein, die Bitte, die er an diesem Morgen am Telefon geäußert hatte: »Bitte fahr nicht nach Einbruch der Dunkelheit.«
Noch deutlicher als an die Worte erinnerte sie sich an den Ton, in dem er es gesagt hatte. Er hatte sie fast angefleht -nicht offen, aber sie hatte es dennoch gespürt. Seine Stimme hatte dabei leicht geschwankt: Er hatte sich zwar alle Mühe gegeben, seine Sorge zu verbergen, aber regelrecht gebettelt
Warum nur?, fragte sie sich, während die Mittellinie sich endlos weit vor ihr erstreckte. Am liebsten hätte sie es Scotts Charakter zugeschrieben - er neigte dazu, sich Sorgen um sie zu machen - oder ihrer eigenen Fantasie, aber es gelang ihr nicht
Nun ja, jetzt blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als bei Dunkelheit zu fahren, oder? Entweder fuhr sie die ganze Strecke durch, oder sie würde in einem weiteren Nomad's Notch landen. Und eine solche Scheiße wollte sie auf keinen Fall noch einmal erleben, vielen Dank auch.
Sie legte eine Hand auf Kaths Oberschenkel, machte es sich im Sitz bequem und beschleunigte auf hundertdreißig.
Und wieder begann die Temperaturanzeige aufzuleuchten, anfangs nur schwach und mit gelegentlichem Blinken, bald
darauf mit demselben anhaltenden Rot wie beim letzten Mal. Nach zwei, drei Kilometern tauchte ein Schild auf, das eine Autowerkstatt an der Ausfahrt Byfield ankündigte. Zu erschöpft, um sich auch nur irgendwie zu ärgern, bremste Krista ab und nahm die Ausfahrt. Nach Byfield waren es noch fünf Kilometer.
Der ölverschmierte Blödmann in der Werkstatt sah Ernie Thurston verdächtig ähnlich, nur war er jünger. Es hat etwas mit seinem Blick zu tun, dachte Krista, während sie dem Automechaniker, der gar nicht richtig zuhörte, von den Ärgernissen des heutigen Tages erzählte. Als sie den Kühler erwähnte, kam es ihr so vor, als leuchteten seine Augen genauso auf wie Ernies.
»Wenn heut ein neuer Kühlblock eingebaut wurde, dann hat sich wahrscheinlich bloß 'ne Klemme gelöst«, bemerkte er nur halb bei der Sache. Mit einem Auge fixierte er den tragbaren Farbfernseher auf dem Schreibtisch vor sich, der lautstark ein Spiel der Red Sox übertrug. »Ham Se stark aufs Gas gedrückt?«, fragte er nach einem Blick auf den dampfenden Volvo.
»Ziemlich«, räumte Krista ein. »Ich bin ein bisschen in Eile.«
Sie folgte dem Blick des Mannes und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das vordere Fenster, das mit toten Insekten übersät war. Draußen konnte sie Kath sehen, die ihr verschlafenes Gesicht der Werkstatt zugewandt hatte. Als sie Kath betrachtete, überkam Krista plötzlich heftige, fast Schwindel erregende Liebe für ihr Kind.
»Tja«, bemerkte der Mechaniker selbstzufrieden, nachdem die Diagnose so schnell erledigt war. Bei dieser Art von Reparatur würde er nicht viel von dem Spiel verpassen müssen. »Fahrn Se den Wagen zur ersten Nische da drüben, dann schaun wa mal nach.«
Während der Mechaniker unter der Motorhaube herumwerkelte, ging Krista auf die Toilette, da sie dringend pinkeln musste. Danach schlenderte sie draußen herum. Es war eine
sternenklare Nacht und Vollmond. Der Augustmond hatte einen seltsamen Kupferton, wie ein glänzender, neuer Penny. Krista fiel auf, dass neben Schmieröl und Benzin auch der schwach faulige Gestank eines Sumpfes zu riechen war, den sie von hier aus nicht sehen konnte. Die Bewohner der Lüfte machten sich mit lautstarkem Gezwitscher bemerkbar.
Plötzlich fröstelnd und mit einem seltsamen Übelkeitsgefühl im Magen, das der schwache Verwesungsgestank ausgelöst hatte, eilte Krista in die Werkstatt zurück und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Während sie dem Automechaniker zusah, dachte sie über die Schicksalsschläge der letzten vierundzwanzig Stunden nach. Irgendetwas an diesem ganzen traurigen Desaster machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte es zwar nicht genau benennen, aber es beunruhigte sie. Es war das absurde Gefühl, ein Gefühl aus dem Bauch heraus, dass jemand sie von außen gesteuert hatte und immer noch steuerte. Natürlich war das Unsinn und lag sicher an der Erschöpfung, die an ihren Nerven zerrte.
Aber...
Aber was hatte sie dazu gebracht, dort drüben in New Hampshire die falsche Straße zu nehmen?
War sie nicht einfach einer spontanen Eingebung gefolgt?
Ja, einer plötzlichen Eingebung, und das sah ihr selbst gar nicht ähnlich.
Oder steckte mehr dahinter ...?
(biege hier ab)
Eine innere Stimme? Ein innerer Befehl?
(bieg ab)
Und hatte es nicht wie die Stimme eines anderen geklungen?
(hier!)
Ach du lieber Herrgott, nein, dachte Krista und verwarf gleich darauf diesen offensichtlich verrückten Gedanken. Das ist Blödsinn, Kindchen. Es ist nichts anderes gewesen als dein ganz normaler Wahnsinn: eine alltägliche Situation, die du gründlich vermasselt hast.
Das Krachen der zuschlagenden Motorhaube brachte sie sofort zurück in die graue Wirklichkeit der Autowerkstatt. Im Hintergrund waren die lauten, hektischen Töne der Baseball-Übertragung zu hören, das Spiel steuerte auf einen Höhepunkt zu. Kath, die immer noch im Wagen saß, fuhr zusammen und wachte auf. Mit halb geschlossenen Lidern blickte sie sich in der trübe beleuchteten Nische um, igelte sich aber gleich darauf wieder ein, um weiterzuschlafen.
»Klemme war locker, genau wie ich dachte«, bemerkte der Mechaniker, wahrend er zurück ins Büro eilte. Sofort schoss sein Blick wieder zum Fernsehschirm hinüber. Die Stimme des Sportreporters überschlug sich fast vor Begeisterung über den Spielverlauf. »Allerdings müsste noch Frostschutzmittel nachgefüllt werden.«
»Tun Sie alles, was nötig ist«, erwiderte Krista. »Wenn ich nur fahren kann.«
Fünf Minuten später waren sie wieder auf der Straße. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett blieb dunkel und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Gemäß den Instruktionen des Automechanikers schlug Krista die südliche Richtung ein, anstatt den Rückweg nach Norden anzutreten, um von dort aus nach Osten, auf die Interstate 95, abzubiegen. Er hatte gesagt, sie werde etwa fünf Kilometer von der Tankstelle entfernt einen Zubringer zur Interstate finden - und jetzt tauchte auch schon das Schild auf.
Die linke Abfahrt führte zu einer wenig befahrenen Landstraße, die sie an jene erinnerte, die sie am Vortag in New Hampshire entlanggefahren waren. Plötzlich war die Landschaft in eine fast unheimliche Dunkelheit gehüllt. Die Scheinwerfer des Fernlichts reflektierten die Schwärze so, als sei sie eine feste Masse. Hier und da drang schwacher, gelblicher Lichtschein durch die pechschwarze Nacht: Es waren die erleuchteten Fenster von Bauernhäusern, die ein gutes Stück von der Straße entfernt standen. Sie begegneten keinem anderen Fahrzeug. »Sind wir schon da?«
In ihre eigenen Gedanken vertieft, fuhr Krista zusammen, als Kath sich plötzlich meldete. »Bald, Liebes, ist nicht mehr weit. Warum schläfst du nicht noch ein bisschen?«
»Bin nicht mehr müde.«
Krista wurde bewusst, dass sich Kath die ganze Zeit über, die ganze verflixte Odyssee hindurch, wie ein wahrer Schatz verhalten hatte. Schließlich hätte sie ja auch Theater machen, herumjammern und damit die Sache noch viel schlimmer machen können, als sie ohnehin schon war. Aber nein. Da zeigte sich wieder mal, wie reif Kath für ihr Alter war. Dabei hätte ein kleiner Wutanfall vielleicht sogar gut getan, vor allem, wenn sie beide gleichzeitig getobt hätten.
Nahe an der gespenstisch wirkenden weißen Mittellinie lag ein totes Murmeltier. Ein großer schwarzer Vogel - eine Krähe oder ein Rabe — zog ein letztes Mal hastig an einem Strang von Gedärmen, ehe er sich in die Lüfte schwang und verschwand. Krista hatte angenommen, dass alle Vögel nachts schlafen. Der Kadaver des Murmeltiers leuchtete im Scheinwerferlicht kurz auf und tauchte gleich darauf hinter dem Wagen ins Dunkel.
»Armes altes Murmeltier«, sagte Kath in einer recht gelungenen Imitation von Mr. Rogers und verrenkte den Hals, um es in der Nacht verschwinden zu sehen. (Anm. d. U.: Mr. Rogers bezieht sich auf die Kindersendung »Mr. Roger's Neighbourhood« im amerikanischen Fernsehen, eine Serie im Kinderprogramm von PBS. Ihr Protagonist ist Fred Rogers, der kleine Geschichten erzählt und Lieder singt.)
Nach einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett klemmte Krista den Fuß noch fester aufs Gaspedal. Vor ihnen bog die Straße scharf nach links.
Einen Moment lang steuerten sie auf den dunklen Abgrund des Straßengrabens zu, aber gleich darauf brachte Krista den Wagen wieder auf Spur.
»Grrr-roße, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen ...«, sang Kath in schrillsten Tönen.
»Kath!«, sagte Krista lachend. »Das gehört sich nicht.« Es war ein Lied, das sie selbst als Mädchen gesungen hatte. Kaths schräger Gesang weckte bei ihr Erinnerungen an Lagerfeuer und nächtliche Gespenstergeschichten.
»Ich weiß«, kicherte Kath. »Komm schon, Mom, sing mit Grrrrroße...«
Krista stimmte in den Refrain ein: »... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot...«
Der Wagen schoss über eines jener Schlaglöcher hinweg, die einem den Magen umdrehen können. »Huiiii!«, schrie Krista und beschleunigte im Rhythmus des Refrains. Die Straße, die mittlerweile aufwärts führte, fiel nach links steil ab.
»... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot, alles eingewickelt zum Erwärmen, und mir fehlt der Löffel, welche Not...«
Hinter dem Buckel führte die Straße in einer Zickzack-Kurve scharf nach rechts, schärfer, als Krista erwartet hatte. Sie fuhr viel zu schnell, um das Tempo noch angemesssen zu drosseln.
Kath, die erst nach und nach begriff, was Kristas veränderter Gesichtsausdruck bedeutete, ließ das Lied mit leicht kabarettistischer Pointe ausklingen: »Doch mir fällt sogleich was ein, ich zieh's mit dem Strohhalm rein ... Schlüüürrrff!« Gleich darauf wandte sie den Blick, um durch die Windschutzscheibe zu spähen.
Irgendjemand stand mitten auf der Straße und schwankte wie ein Betrunkener hin und her.
Im Bruchteil der Sekunde vor dem unvermeidlichen Zusammenprall schossen Krista verschiedene Gedanken durch den Kopf, aber keiner hatte damit zu tun, dass ihr bisheriges Leben an ihr vorbeigezogen wäre. Während dieser kurzen, surrealen Zeitspanne kam ihr gar nicht der Gedanke, dass Kath oder ihr selbst etwas passieren könne. Vielmehr fragte sie sich, was ein Betrunkener mitten in der Nacht, mitten im Nirgendwo, mitten auf der Straße zu suchen habe. Ein Teil ihres Hirns kam in recht kühler Überlegung zu dem Schluss, dass sie auf keinen Fall in den Straßengraben und damit den Wagen zu Schrott fahren würde, nur um diesem Freak auszuweichen (wahrscheinlich war er geistig zurückgeblieben, als Folge ländlicher Inzucht...)
(Was ist mit seinem Gesicht los?)
Auf keinen Fall würde sie das lieben ihrer Tochter aufs
Spiel setzen ...
(Was hat er für seltsame Klamotten an?)
... und ihr eigenes auch nicht Flüchtig registrierte sie, dass Kath angeschnallt war, sie selbst aber nicht Gleichzeitig fragte sie sich, wie viel (zusätzlicher) Schaden am Wagen entstehen, ob der Mann beim Zusammenprall sterben und was Scott zu all dem sagen würde.
(Grinst der Mann ?)
Ob Instinkt, Reflex oder schlichte Menschlichkeit: Jedenfalls übernahm jetzt irgendetwas die Herrschaft über Kristas Hände, so dass sie das Lenkrad nach rechts riss und versuchte, diesem todgeweihten Mann auf der Straße auszuweichen ...
(Ist das etwa ein Kind?)
Wie ein benommenes Tier wankte und stolperte die Gestalt direkt auf das Auto zu. Krista riss das Lenkrad hart nach rechts.
Kath schrie auf.
Was folgte, war ein grobes Knirschen von Metall - dann zersplitterte die Windschutzscheibe und verwandelte sich in ein Mosaik herumfliegender, stechender Scherben. Die Gestalt wurde mit dem Kopf voran durch die Scheibe geschleudert und landete direkt vor Kath. Für den Bruchteil einer Sekunde - die Zeitspanne eines aufflackernden Blitzlichts - konnte Krista das Gesicht im Schein des Armaturenbrettes sehen. Ein Großteil der einen Gesichtshälfte war wie weggeblasen; der Kiefer hing lose herunter, da die Bänder gerissen waren; aus dem Mund, der weit offen stand, sickerte schwärzliches Blut
Dann türmte sich irgendetwas Massives vor ihnen auf, leuchtete auf — und Krista wurde aus dem Sitz geschleudert. Als sie mit dem Schädel gegen das Wagendach prallte, kämpfte sie trotz ihrer Benommenheit mit der makabren Vorstellung - der völlig irren Vorstellung —, dass das Gesicht, das soeben durch die Windschutzscheibe gekracht war, einem längst
Verstorbenen gehören müsse. Und diese Vorstellung verfolgte sie immer noch, als sie den Weg durch den Tunnel antrat in dem der Atem für immer stockt. Und der in eine Dunkelheit führt, die keine Umkehr zulässt.
An einer niedrigen Mauer aus Feldsteinen kam der Wagen plötzlich zum Halt. Aus der eingedrückten Motorhaube wich Dampf. Die eingeklemmte Hupe erwachte zum Leben. Ihr durchdringendes Klagegeheul drang durch die Nacht, die unaufhaltsam auf den Morgen zuging, als sei nichts geschehen. Nichts rührte sich.
21
Scott beschloss, sich den Drink nun doch zu genehmigen, und bat die Stewardess, ihm etwas Starkes zu mixen. Während er trank, zwang er sich, an positivere Dinge zu denken.
Seine Frauen würden dort sein, alle beide. Entweder würden sie oben in der Ankunftshalle oder an den Gepäckbändern stehen. Bowmans Harem, nahe beieinander, mit allen Anzeichen freudiger Erwartung, bereit, ihn in die Arme zu schließen, die Gesichter ein einziges Lächeln. Sicher, heute war Vollmond — er hatte in seinem Taschenkalender nachgesehen aber das war nur ein belangloses Detail, das nun mal zur Szenerie eines Horror-Comics gehörte. Jede gute Friedhofsszene brauchte einen Vollmond, das war ein MUSS. Krista und Kath waren in Boston, sie mussten einfach in Boston sein. Wahrscheinlich waren sie schon vormittags angekommen. Sie würden am Flughafen auf ihn warten, er würde sie dort begrüßen. Und Krista dabei so nahe an sich heranziehen und so fest umarmen, dass ihre Rippen knackten. Kath würde ihm einen Kuss geben, seinen Daumen mit ihrer Hand umschließen und seinen Arm schwenken, während sie nach draußen zum Wagen gingen. Bestimmt würde Krista ihm die ganze traurige Geschichte noch einmal von vorn bis hinten erzählen. Und da sie in Neufundland aufgewachsen war, würde sie auf
keinen Fall den Teil auslassen wollen, in dem der Kuhfladen auf der Motorhaube gelandet war.
Alles wurde wieder in bester Ordnung sein.
Diese Gedanken verfolgten ihn, bis er in einen unruhigen Schlaf der Benommenheit fiel - die Folge von Erschöpfung, zu viel Alkohol und der Angst, die nicht zu besänftigen war und immer noch an ihm nagte.
Sofort begann der Traum.
Durch den Bodennebel, der über einem Friedhof waberte, war ein Grabstein mit merkwürdiger Form zu erkennen: Er ähnelte dem Stumpf eines amputierten Beins. Der Traum war so realistisch, dass Scott sogar die gotischen Buchstaben der Inschrift ausmachen konnte. Allerdings war er nicht so nahe am Grab, dass er die Worte hätte entziffern können. Plötzlich drang aus dem Boden vor der Gedenktafel ein Geräusch, als reiße die feuchte Erde auf. Von der Verwesung gezeichnete, schwärzliche Finger streckten sich in die frostige Nachtluft. Gleich darauf folgte ein Kopf mit leeren Augenhöhlen. Die schwarze Zunge baumelte auf grässliche Weise heraus, die gelblichen Zähne funkelten im Mondlicht. Danach waren die gebeugten Schultern zu sehen, die in ihren Gelenken knirschten, als sie sich nach und nach mit einem widerwärtig schmatzenden Geräusch aus dem Grab lösten ...
Scott wachte schweißgebadet auf. Über ihn gebeugt stand eine Stewardess neben seinem Sitz. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. Das Lächeln war aus ihrem hübschen Gesicht verschwunden.
Der Platz neben ihm war leer. Das Flugzeug war bereits auf dem Rollfeld vor dem Logan International gelandet. Scott griff nach seinem Gepäck und eilte den Gang entlang zum Ausgang.
Oben in der Ankunftshalle wartete niemand auf ihn, keine seiner beiden Frauen. Und auch an der Gepäckausgabe war niemand.
Ein Gewicht wie Blei senkte sich auf Scotts Schultern. Von einer öffentlichen Telefonzelle aus rief er Caroline an.
»Nein, immer noch nicht, Scott. Krista hat heute Nachmittag angerufen und mir erzählt, sie hätten irgendwelche Probleme mit dem Auto. Ein Loch im Kühlergrill, glaube ich. Sie hat gesagt, dass sie dich am Flughafen abholt, ehe sie hierher kommt«
Das bereits vertraute Gefühl böser Vorahnung, inzwischen sein ständiger Begleiter, verdoppelte die Last auf Scotts Schultern. Den Hörer ans Ohr gepresst, blieb er hilflos stehen.
»Soll ich kommen und dich abholen?«, fragte Caroline, als Scotts Schweigen sich in die Länge zog.
»Nein«, erwiderte Scott mit fast versagender Stimme. »Du bleibst besser da für den Fall, dass sie anruft oder auftaucht Ich warte hier. Von meinem Standort aus kann ich die Ankunftshalle sehen. Hol dir was zu schreiben, dann gebe ich dir die Nummer dieser Telefonzelle durch. Ruf mich an, wenn du irgendwas hörst«
Scott las ihr die sieben Zahlen vor und legte auf. Dann nahm er in dem Liegesessel am Telefon Platz und begann zu warten - unfähig, die schreckliche Gewissheit, die immer mehr Besitz von ihm ergriff, aus seinem Herzen zu verbannen. Die folgenden vierzig Minuten verbrachte er damit, jedes Gesicht von Menschen, die an ihm vorbeikamen, zu mustern. Einmal fuhr er regelrecht aus dem Sessel hoch, drängte sich unter verärgerten Blicken durch die Menschenmenge und stürzte auf eine Frau mit kastanienbraunem Haar in blauer Windjacke los, die ein Kind dabei hatte. Aber die Frau war höchstens zwanzig und das Kind ein Junge.
Als das Telefon vierzig Minuten später läutete und Caroline ihm schluchzend mitteilte, Krista sei tot, schloss Scott die Augen und brach, völlig am Ende, ohnmächtig auf dem Fußboden der Halle zusammen. Sofort senkte sich Dunkelheit über ihn wie bei einem plötzlichen Gewitter. Als sein Kopf auf die Steinplatten schlug, zog er sich am Schädel eine mehr als zentimeterbreite Platzwunde zu. Zwei Dinge verfolgten ihn bis in die Ohnmacht hinein, der Gedanke: Was ist mit Kath?
Und eine Stimme, Carolines Stimme, die mit hohem, kindlichen Singsang lauter und lauter die höhnischen Worte intonierte: Krista ist to-ot, Krista ist to-ot, Krista ist tot...! KRISTA IST TOT!!«
An die folgenden Stunden sollte Scott sich später kaum noch erinnern. Eine halbe Ewigkeit - jedenfalls kam es ihm so vor -blieb er auf dem Fußboden der Halle liegen. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er den Telefonhörer vom Ende der Schnur herunterbaumeln. Niemand hatte Scott hinfallen sehen, und jetzt schlugen die Menschen einen Bogen um ihn, als hätten sie es mit einem Betrunkenen zu tun. Gegen einen erneuten Schwindelanfall ankämpfend, rappelte sich Scott hoch, ließ sich schwerfällig in den Liegesessel sinken und angelte nach dem Hörer. Er konnte spüren, wie sich an seinem Hinterkopf warmes Blut den Weg durchs Haar bahnte.
»Hallo?«, quäkte es wiederholt aus dem Apparat. Inzwischen war ein Mann dran. »Hallo?«
Als er die männliche Stimme hörte, klammerte sich Scott an die vage Hoffnung, jemand habe ihm vielleicht einen widerlichen Streich gespielt... Aber als er sich meldete, stellte sich der Mann am anderen Ende der Leitung als Beamter der Straßenpolizei vor.
»Mit Ihnen alles in Ordnung, Dr. Bowman?« Im Hintergrund konnte Scott jemanden schluchzen hören ... Caroline.
»Nein,« erwiderte er, »mir geht es nicht gut. Ist es ...?«
»Ja, Sir. Ich fürchte, es ist wahr. Es tut mir Leid, dass ich es Ihnen über Telefon mitteilen muss, ich hätte es lieber persönlich getan. Aber Miss Patterson hier ist sofort ans Telefon geeilt, als ich ihr von dem Unfall erzählt habe. Zu diesem
Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung von den näheren Umständen und wusste nicht, wen sie benachrichtigen wollte
»Wo ... wo ...«, stammelte Scott und fugte, fast brüllend, hinzu: »Was ist mit Kath? Was ist mit meiner Tochter?«
»Ihre Tochter ist im Krankenhaus«, erklärte die Stimme. Scott spürte, dass sie etwas zurückhielt, und das machte ihm noch mehr Angst. »Ihr Zustand gilt als kritisch. Tut mir Leid, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Schaffen Sie es allein zum Allgemeinen Krankenhaus in Danvers? Falls nein, kann ich Sie in etwa zwanzig Minuten abholen lassen ...«
»Nein ... Ich nehme mir ein Taxi.« Er hörte sich die Worte, sagen, ohne ihre Bedeutung zu begreifen. »Wie weit ist es?«
»Mit dem Auto eine halbe Stunde, direkt nördlich vom Flughafen. Der Taxifahrer kennt's bestimmt. Schaffen Sie's auch wirklich?« »Wie kommt Caroline hin?« »Ich nehme sie in meinem Wagen mit.« Scott legte auf.
Sobald die Verbindung abgebrochen war, wurde ihm bewusst, dass nichts von allem real sein konnte. Es war ein Traum. Und falls kein Traum, dann eine vom Alkohol hervorgerufene Halluzination. Aber es konnte unmöglich real sein. Nein, es war nicht wirklich passiert.
Es ist eine Art Schock, hörte er sich selbst zu einem vom Kummer niedergedrückten Patienten sagen, zu einem älteren Herrn, dessen Ehefrau - sie waren dreißig Jahre verheiratet gewesen - gerade gestorben war. Das war erst ein paar Tage her. Scott hatte mit bewusst verhaltener Stimme, wie es sein Beruf verlangte, gesagt: Es ist wie eine Gehirnerschütterung, wie der Schock beim Einschlag einer Granate, wenn man so will Es trübt die Sicht, verzerrt die Wirklichkeit. Aber das geht vorbei, hatte er dem weinenden alten Mann versichert. Es geht vorbei und dann folgt eine Zeit der Trauer. Und später werden Sie Ihr Leben weiterleben ...
Das waren Worte, die er irgendwo gelesen hatte. Jetzt waren sie nichts als leere Phrasen.
Die Riemen der TWA-Flugtasche umklammernd, verließ Scott seinen Platz am Telefon. In der Halle blieb er mitten im Strom der Passanten stehen ... inmitten all dieser zielbewussten Menschen, lächelnden Menschen, Menschen, die genau wussten, wohin sie wollten ... ach ja ... auch er musste ja zu einem bestimmten Ort, den man ihm genannt hatte ...
Scott verließ die Flughafenhalle mit ihren grellbunten Fähnchen und den aufdringlichen geometrischen Deckenmustern und trat in die äußere Wartezone hinaus. Sein übriges Gepäck hatte er völlig vergessen. Ein Schwarzer in einer burgunderfarbenen Uniform führte ihn zu einem Taxi und half ihm hinein. »Zum Krankenhaus in Danvers«, sagte Scott Der Taxifahrer schaltete den Zähler ein. »Das für Allgemeinmedizin?«
Als Scott nickte, fuhr das Taxi mit quietschenden Reifen los. Vom Rücksitz aus starrte Scott aus dem Fenster, auf die blinkenden Lichter der Stadt So viele Lichter...
Das Krankenhaus für Allgemeinmedizin in Danvers, ein weitläufiger Flachbau, setzte sich aus alten Gebäudetrakten und später hinzugefügten Anbauten zusammen. Ein wortkarger alter Mann, der zum Aufsichtspersonal gehörte, geleitete Scott vom Foyer aus durch mehrere klinisch sabbere Gänge zur Notaufnahme. Dort erwartete ihn ein müde wirkender grauhaariger Mann in Anzug und Weste, der sich als Jim Holley vorstellte. Als richterlicher Beamter des Bezirks war der Mediziner in Fällen unnatürlichen Todes für die Klärung der Ursachen zuständig. Anfangs dachte Scott, der Beamte werde sich gleich bei ihm entschuldigen und ihm mitteilen, es sei alles ein großes, unverzeihliches Missverständnis, bedauerlicherweise habe man die Personen verwechselt: Tut uns Leid, Sir, wenn wir Ihnen durch diesen Schnitzer unnötig Kummer bereitet haben.
Aber nein, der hohläugige Beamte fragte ihn, ob er es verkraften könne, sich jetzt den Leichnam anzusehen und gegebenenfalls zu identifizieren.
Was für einen Leichnam? begehrte Scott innerlich auf, aber er schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte zu meiner Tochter.« Im hinteren Bereich der Station fiel ihm eine Nische auf, die durch einen Vorhang abgeteilt war. Ob Krista dahinter lag? »Ich will zu meiner Tochter«, wiederholte er.
Holley nickte und legte Scott eine Hand auf die Schulter. »Das würde mir auch so gehen«, bemerkte er, die Gesichter seiner drei Töchter vor Augen. »Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«
Die Intensivstation lag auf dem selbem Stockwerk wie die Notaufnahme. Am Eingang vertraute Holley Scott der zuständigen Krankenschwester an, die sie bereits erwartete. Die Schwester griff nach Scotts Hand und nahm ihn mit. Die Intensivstation verfügte über zwölf Betten, die sternförmig angeordnet waren. In ihrer Mitte stand eine L-förmige Steuer- und Überwachungsapparatur mit blinkenden Lämpchen und piepsenden Monitoren. Hier wurden alle Lebenszeichen, mochten sie noch so schwach sein, verfolgt und aufgezeichnet. Über ein Krankenblatt gebeugt, saß dort ein junger Arzt, aus dessen Kitteltasche sich ein Stethoskop wand. Als Scott vorbeiging, sah er nur flüchtig auf und beschäftigte sich sofort wieder mit dem Krankenblatt. Von irgendwoher war das Zischen eines Beatmungsgerätes zu hören.
Die Schwester blieb vor einer abgeteilten Nische stehen, nickte und ließ ihn dort ohne weitere Worte allein. Scott ging auf die Nische zu, verharrte jedoch am Eingang. Durch einen Spalt im fast blickdicht zugezogenen bunten Vorhang konnte er das Fußende eines Einzelbetts erkennen. Und dahinter Caroline, Kristas ältere Halbschwester, die Universitätsprofessorin.
Über das Bett gebeugt, die Hände vor der Brust gefaltet, saß sie da, ohne sich zu rühren. Scotts Anwesenheit hatte sie in ihrer Verzweiflung noch gar nicht bemerkt, so dass er einen
Augenblick lang das schreckliche Gefühl hatte, gar nicht zu existieren.
Gleich darauf trat er vorsichtig näher.
Beim Anblick des Kinderarms, der schlaff auf dem Bett ruhte, blieb er erneut stehen. Ihm schoss die Erinnerung an den Vorabend durch den Kopf. Es war erst gestern gewesen, dass er in einem anderen Krankenhaus mit böser Vorahnung am Eingang eines Zimmers stehen geblieben war - mit einer Vorahnung, die ihn völlig gelähmt hatte.
Als er laut und mühsam Luft holte, drehte sich Caroline um, erkannte Scott und verzog vor Kummer das Gesicht.
»Oh, lieber Gott«, murmelte sie und stand unsicher auf. »Krista ...« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Scott, der immer noch wie erstarrt am Eingang stand, sah erneut zu dem Arm auf dem Bett hinüber. Auf dem Handrücken war mit Pflastern eine Kanüle befestigt ... War das Kaths Hand?
Fassungslos ließ er die Flugtasche fallen und trat noch einen Schritt näher.
Da erkannte er das silberne Armband.
Mit den Tränen kämpfend, zog Scott den Vorhang zur Seite.
Kaths Kopf wurde von einem Kissen gestützt. Starr, steif und zerbrechlich lag sie da, trotz der sommerlichen Bräune bleich. Ihre Arme, die irgendwie kindlicher als sonst wirkten, rahmten den Körper unter der Bettdecke wie schlaffe Teigrollen ein. Ein Mullverband, ähnlich dem um Scotts Bein, verhüllte das obere Drittel ihres rechten Arms. Er konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb unter der Bettdecke hob und senkte. Abgesehen von ihrem Arm schien sie unversehrt zu sein.
Aber ihr Gesicht ... Die schreckliche Maske, zu der das Gesicht seiner kleinen Tochter verzerrt war, sollte Scott nicht so bald wieder vergessen.
Kaths Mund stand offen, erinnerte aber in keiner Weise an das lebendige, im Schlummer leicht geöffnete Oval, das er am Morgen seines Geburtstages so liebevoll betrachtet hatte.
Ihre Lippen waren wie zu einem lautlosen Schrei aufgerissen so dass die winzigen weißen Perlzahne zu sehen waren. Mitten auf ihrer sonst so glatten, glänzenden Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet - Kaths Sorgenfalte, nur war sie jetzt tiefer und entstellte das Gesicht geradezu. An einem Nasenloch klebte blutiger Schorf; außerdem hatte sie am Hals und auf der rechten Wange zwei, drei kleine Schnittwunden, die jemand mit ganz gewöhnlichen Pflastern verarztet hatte. Ihre Augen ... Oh Gott, ihre Augen ...
Scott wurde plötzlich so schwindelig, dass er sich auf den Bettrand setzen musste. Als er mit beiden Händen Kaths Hand, in der die Kanüle steckte, umschloss, zitterte er. Nicht nur deswegen, weil diese Hand so wachsweich und kalt wirkte, sondern vor allem wegen ihrer Augen.
Sie standen offen, so weit offen, als bemühe sie sich mit aller Kraft, sie aus den Höhlen treten zu lassen. Wie die Augen einer Puppe starrten sie ins Leere.
Wie Scott verblüfft bemerkte, drückten sich in ihrem Gesicht nicht Schock oder Schmerzen aus, vielmehr wirkte es völlig künstlich, unnatürlich. So wie eine aus Elfenbein geschnitzte Maske, die äußerste Angst symbolisieren sollte. Es juckte ihn in den Fingern, die Hand auszustrecken und Kath die Augen zu schließen. Doch sofort schoss ihm ein schlimmer Gedanke durch den Kopf, der ihn bis ins Innerste traf und daran hinderte: So etwas darf man nur bei Verstorbenen tun, das darf ich nur bei Krista tun. »Kath«, flüsterte er, »Kath, ich bin's, Daddy. Bitte ...« »Scott...«
Caroline. Wie leise, wie vom Kummer niedergedrückt ihre Stimme klang. Scott wollte ihr den Kopf zuwenden, aber er gehorchte ihm nicht. Diese Augen... »Dr. Bowman?«
Scott ließ Kaths Hand los und drehte sich zu der unbekannten Stimme um. Es war der junge Arzt, der über dem
Krankenblatt gebrütet hatte, als Scott auf die Station gekommen war. Er bedachte den Mann mit einem kaum merklichen Nicken, um sich gleich darauf wieder Kath zuzuwenden.
»Ich bin Dr. Cunningham«, sagte der Mann mit starkem irischen Akzent. »Ich habe Ihre kleine Tochter hier aufgenommen.«
Innnerlich murmelte Scott ein »Danke«, aber er brachte kein Wort heraus.
Cunningham ließ sich davon nicht beirren. »Abgesehen von einer bösen Schnittwunde an ihrem Arm, die wir in der Notaufnahme genäht haben, hat sie keine weiteren Verletzungen, soweit wir diagnostizieren konnten. Sofort nach ihrer Ankunft haben wir eine Computertomographie durchgeführt, aber nichts von Bedeutung finden können. Sie hat sich weder einen Schädelbasisbruch noch Hirnquetschungen zugezogen. Vielleicht hat sie eine Gehirnerschütterung, aber ich bin mir da nicht sicher. Wegen der Schnittwunde am Arm hat sie recht viel Blut verloren, allerdings nicht so viel, dass sie eine Transfusion gebraucht hat.« Er deutete auf den Monitor über dem Bett. Ein Kardiogramm, das Rhythmus und Intensität von Kaths Herzschlägen aufzeichnete, lief stumm als grüne Linie mit Kurven und Zacken über den Bildschirm. »Ihr Herzschlag ist stabil.«
(das ist alles ein Irrtum ... bin nicht wirklich hier... das passiert nicht wirklich)
Scotts Hand tastete nach der empfindlichen Schwellung an seinem Hinterkopf, die inzwischen so groß wie ein Gänseei war. Bewusst drückte er so heftig auf die Beule, dass ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Das zumindest war real.
Es ist wie eine Gehirnerschütterung...
»Eindeutig so ein Fall, bei dem der Sicherheitsgurt lebensrettend war«, erklärte der Arzt. »Allerdings hat ihr letztendlich wohl der Bursche, der sie gefunden hat, das Leben gerettet. Er hat ihr die Wunde am Arm verbunden. Andernfalls hätte sie wohl so viel Blut verloren, fürchte ich, dass es kritisch geworden wäre.«
»Was ist denn eigentlich mit ihr los?«, fragte Scott, dessen Gesicht höchste Verwirrung ausdruckte, in seiner Hilflosigkeit. »Warum ist sie ... so?«
»Ich halte es für eine Art von Katatonie als Reaktion auf die Ereignisse. Das würde auch die abgeschwächten, ansonsten aber normalen neurologischen Werte und den gegenwärtigen Zustand innerer Abwesenheit erklären.« Mit offener Handfläche deutete er auf Caroline. »Caroline hat mir erzählt, dass Sie Psychiater sind. Halten Sie Katatonie für eine annehmbare Diagnose?«
Für einen winzigen Moment wurde Scott wieder zum Psychiater (gleich darauf wäre er kaum fähig gewesen, den Begriff zu definieren, schon gar nicht, eine Diagnose vorzunehmen), und in dieser Rolle musste er dem Assistenzarzt mit den wachen Augen Recht geben. Es war genau die Art von Erklärung, die er im Fall eines fremden Kindes angeboten hätte. Als Experte wusste er, dass traumatische Situationen recht oft Zustände zeitweiliger Lösung aus der Realität erzeugten, deren Grad variieren konnte. Sie reichten vom bewussten Abschalten bis zur völlig unfreiwilligen und weit reichenden Abkapselung von der Umwelt.
Aber sofort regten sich erneut Zweifel in ihm, die ihn mit Angst erfüllten und das Schlimmste befürchten ließen, so dass es ihn wieder in den Fingern juckte, Kaths Augen zu schließen. Warum mussten ihre Augen auf diese Weise offen stehen? Warum waren sie nur halb geöffnet und blinzelten? Warum wirkten die Augäpfel wie Glasmurmeln und erinnerten eher an die Requisiten eines Tierpräparators als an etwas Lebendiges? Warum schlossen sie sich nicht einfach? Dann hätte er sich vormachen können, Kath schlafe nur.
»Wir behalten sie zur Beobachtung da«, erklärte Cunningham. »Zumindest über Nacht. So können wir eher ausschließen, dass sie irgendwelche nicht erkannten inneren Verletzungen hat«
Warum redet der Kerl so mit mir, als sei ich nur irgendein Kollege ? Warum lässt er uns nicht in Ruhe ?
Als habe er Scotts Gedanken gelesen, wandte sich der Assistenzarzt zur offenen Tür. »Ich bin gleich nebenan, Doktor ... wenn Sie später wieder zurück zur Notaufnahme möchten.« Mit wehendem Kittel verließ er den Raum.
Caroline griff nach Scotts Hand und drückte sie. Nach kurzem Zögern stand Scott auf und nahm Caroline in die Arme. Mit zuckenden Schultern presste sie ihr Gesicht gegen Scotts Brust und weinte. Scotts Augen blieben trocken. Er empfand nichts als eine innere Leere, da er die ganze Situation schlicht nicht fassen konnte. Als er zu schlucken versuchte, fehlte ihm jeder Speichel. Irgendetwas drückte bedenklich auf seine Magengrube: Er hatte Flugzeuge im Bauch, eine schreckliche innere Unruhe machte ihm zu schaffen.
Nachdem er wieder zu Dr. Holley, dem Untersuchungsbeamten, gestoßen war, hielt er sich nahe hinter ihm - wie ein Hund, der seinem Herrchen bei Fuß folgt In der Stille der Nacht hallten ihre Schritte auf dem Gang der Klinik wider. Scott kam das Geräusch allzu laut vor, wie von einem Verstärker verzerrt. Als sie um die Ecke zur Notaufnahme bogen und Holley den Vorhang, der die Nische abteilte, aufzog, erinnerte sich Scott an die erste und einzige Narkose, die er im Leben bekommen hatte. Ihm fiel ein, wie ihm die Geräusche - die Stimmen der Arzte und Schwestern, das Klirren und Klappern des Operationsbestecks, das Zischen kondensierter Gase - beim freien Fall ins Leere unnatürlich laut vorgekommen waren. Was er jetzt erlebte, war ähnlich: Aufgrund seines erhöhten Wahrnehmungsvermögens empfand er alles als real und gleichzeitig irreal.
Von der Decke strahlte ein Neonleuchtkörper; eine Röhre flackerte und würde bald ihren Geist aufgeben. An der Wand hing eine Manschette zum Blutdruckmessen, in einer Ecke stand ein verstellbarer Hocker und in der Raummitte eine
Bahre, auf der ein in Laken gehüllter Leichnam lag. Vom Körper waren nur die wächsernen, von der Todesstarre steifen Füße zu sehen.
Scott, oder irgendeinem Teil von ihm, der sämtliches Denken und alle Empfindungen ausgeschaltet hatte, war durchaus klar, dass es Kristas Leichnam war. Wer sonst würde Nagellack in knalligem Lila auftragen? Die Umrisse ihrer schlanken Figur hätte er überall wiedererkannt, unter hundert verhüllenden Laken. Wie oft hatte er sie so gesehen, unter einer seidenen Tagesdecke, wenn ihr warmer Körper darauf gewartet hatte, dass er ...
Womöglich ist sie jetzt genau dort, schoss es ihm durch den Kopf, zu Hause im Bett, schlummert fest und friedlich an meiner Seite und ahnt gar nichts von diesem düsteren, schrecklichen Albtraum.
Als Scott sich der Bahre näherte, musste er gewaltsam gegen den Drang zur Flucht ankämpfen. Er ging wie auf Watte. Dieser Geruch ... Was ist das für ein Geruch? Holley schlug das Laken zurück und enthüllte Kristas zerschmetterten Körper. Riecht so der Tod?
Scotts Augen konzentrierten sich auf einen imaginären Punkt zwischen ihm und dem Leichnam auf der Bahre. Die immer noch viel zu lauten Geräusche um ihn herum verschmolzen nach und nach zu einem Summen tief in seinem Schädel, das so wie das Sirren von Hochspannungsleitungen bei starkem Wind klang.
Bedächtig wie ein Bergsteiger, der nach einem schlaffen Seil greift und es sorgfältig spannt, nahm er das Bild ins Visier. Es Kristallisierte sich heraus, wurde unscharf und gleich darauf wieder deutlich.
Scott Bowman sah auf den Leichnam seiner Frau herab: auf die tödlich verletzte, eingedrückte Stirn; auf das angeschwollene, gerötete Gesicht; auf die blutverschmierten Augenlider und die Nase; auf das zerschmetterte Gebiss; auf die dünnen, zurückgezogenen Lippen, die ihn an das letzte
Zähnefletschen eines tödlich verwundeten Tieres am Straßenrand erinnerten. Aber was er wahrnahm, war nur irgendein Leichnam in einem Labor der Anatomie.
Genau wie damals, während des Medizinstudiums, dachte er und wusste gleichzeitig, dass der Gedanke völlig verrückt war.
Als Holley den Leichnam wieder bedecken wollte, hinderte Scott ihn daran und zog stattdessen das Laken noch weiter herunter.
Da waren ihre Brüste, seltsam flach und dort, wo das Lenkrad sie gequetscht hatte, mit einem rötlichen Bogen überzogen; dort ihr auf Melonengröße angeschwollener, angespannter, mit blauen Flecken übersäter Bauch. Scott war klar, dass sich an dieser Stelle ihr ganzes Blut gestaut haben musste. Ein Riss in der Milz. Ja, bestimmt hatte es ihre Milz erwischt.
Ihre Hände jedoch ... ihre Hände waren völlig unversehrt.
Kristas Hände.
Oh Gott, wie bleich sie waren.
Scott ließ das Laken sinken, um Kristas linke Hand in seine zu nehmen (nimm diesen Ring als Zeichen meiner ehelichen Liebe und Treue) und küsste die eiskalten Fingerknöchel.
Warum lässt sich ihr Ellbogen nicht biegen ?
Er hielt ihre Hand. Umfasste sie. Versuchte sie zu wärmen. Durch den Tränenschleier hindurch erkannte er ihre Ringe. Da war der kleine Diamantring, den er ihr in jener Nacht auf dem Bootssteg übergestreift hatte. Und daneben der schlichte Goldreif, den er ihr bei der Trauung im Büro des Friedensrichters überreicht hatte.
»Ist sie's?« Holleys Stimme war nur ein fernes Flüstern. »Ist das Ihre Frau?«
Aber nein ... Ihre Hände waren ja gar nicht unversehrt, sie waren geschwollen. Scott merkte es, als er versuchte, ihr die Ringe abzuziehen. Er konnte sie nicht über die unteren Fingerknöchel streifen. Als er daran zerrte, wurde ihm ein zischendes Geräusch bewusst: sein eigener Atem, wie er merkte, ein angestrengtes Ein- und Ausatmen zwischen
zusammengepressten Zähnen. Es kam ihm so vor, als dringe die Kälte des toten Körpers seiner Frau in ihn ein, als ströme sie wie Eiswasser, das in offene Adern gepumpt wird, auf sein lebendiges Herz zu.
Als er die Ringe von den Fingern gelöst hatte, ließ er Kristas Hand fallen. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, glaubte aber, ein schwaches Knacken von Sehnen gehört zu haben. Er griff nach dem Laken, um sie wieder zu bedecken, doch Dr. Holley tat es an seiner Stelle.
Wie ein angerostetes mechanisches Spielzeug, das man aufgezogen hat, stolperte Scott aus dem Raum und ging in Richtung eines Lagerraums der Notaufnahme davon. Gleich darauf holte Holley ihn ein und führte ihn hinaus.
Sie saßen in einem kleinen, düsteren Büro, Holley hinter einem mit Papierstapeln übersäten Schreibtisch, Scott, den Kopf in die Hände gestützt, ihm gegenüber. Holley zündete seine Pfeife an, inhalierte tief und stieß eine bläuliche Rauchwolke aus. Als er sich vorbeugte, wirkte sein scharfes Gesicht geradezu unheimlich, da das schwache Licht der Schreibtischlampe es von unten anstrahlte. Er sprach Scott sein wenig tröstliches Beileid aus.
»Tut mir Leid, Dr. Bowman. Ist bestimmt ein furchtbarer Schock. Ein furchtbarer Schock.«
Scott hörte den Untersuchungsbeamten gar nicht, zumindest gab er in keiner Weise zu erkennen, dass er die Worte aufgenommen hatte. Er registrierte lediglich einen Schmerz in seiner Faust, wo sich Kristas Ringe ins Fleisch gegraben hatten (er spürte dort etwas Heißes, Feuchtes: Schweiß, vielleicht auch Blut), und das ständige Summen in seinem Kopf, das ihn verrückt machte. Sein Hirn war ein Wirrwarr unterschiedlicher Gleise, die sich ohne jedes System kreuz und quer überschnitten, ein einziges Chaos bildeten. Und auf diesen Gleisen rasten die Gedanken wie Dampflokomotiven dahin und drohten ständig, aus der Spur zu geraten. In seinem Kopf
passierte alles gleichzeitig: Er stand an der Bahre in der Notaufnahme, sah Kaths angsterfülltes Gesicht und hatte die Zeichnungen und den unheimlichen Alten vor Augen, der, tausend Meilen von ihm entfernt, festgebunden im Rottstuhl saß.
Ihm kam es so vor, als werde sein Kopf gleich platzen. »Wie ist es passiert?«, flüsterte er und hielt sich an Kristas Ringen fest.
Holley zog sich aus dem Schein der Schreibtischlampe zurück, so dass er sich fast im Schatten verlor. Er hatte den Raum bewusst dunkel gelassen, da er das Gefühl hatte, es könne ein wenig beruhigen und dazu beitragen, den Schock des plötzlichen Verlustes zu mildern. Leider war es eine Szenerie, in der er schon allzu oft hatte agieren müssen. Ehe er antwortete, zog er nochmals an der Pfeife.
»Man hat den Wagen an einer niedrigen Steinmauer etwa fünfunddreißig Kilometer von der Stadt entfernt gefunden. Ein Bauer hat den Unfall gemeldet. Was die Ursache betrifft, kann ich nur spekulieren. Offenbar waren keine weiteren Fahrzeuge in den Unfall verwickelt. Ich nehme an, Ihre Frau hat aus irgendeinem Grund die Herrschaft über den Wagen verloren. Vielleicht war sie übermüdet oder ist zu schnell gefahren. Diese Landstraßen sind schmal und haben viele Kurven, oft sind sie auch schlecht markiert. Gut möglich, dass...«
»Landstraße?«, fragte Scott und hob den Kopf. Sein Gesicht wirkte völlig ausgezehrt.
Holley tauchte zurück in den Lichtkegel über dem Schreibtisch. »Ja, eine von mehreren Nebenstraßen, die kleinere Orte mit der Interstate verbinden. Der Polizeibeamte, der den Unfall untersucht, hat berichtet, dass er über der Sonnenblende die Quittung einer Reparaturwerkstatt nahe Byfield gefunden hat. Probleme mit dem Kühler, hat er, glaube ich, gesagt. Sie war auf dem Rückweg zur Hauptverkehrsstraße, als es passiert ist.«
Das Summen in Scotts Schädel verstärkte sich. Unsichtbare Ameisen schwärmten über seinen Körper. Er sog den Atem ein, hatte dabei aber ein Gefühl, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Plötzlich drohte ihm der Gestank von Holleys Pfeife den Magen umzudrehen. Benommen und unruhig hin und her rutschend, schloss er die Augen.
Er sah den Volvo auf der Zeichnung vor sich, der eingedrückt an einer niedrigen Steinmauer stand, während aus dem Kühler Dampf entwich. Das Wageninnere war dunkel und verriet nichts. »Sie haben eine Steinmauer erwähnt.« Für Scott waren die ' Worte so bitter wie Galle.
»Ja.« Holley zog sich wieder in den Schatten zurück, so dass seine Stimme wie die eines Geistes wirkte. »Sie sind gegen die Steinmauer geprallt, die den Friedhof von Hampton Meadow umschließt.«
Als Scott ein Kind von sechs oder sieben Jahren gewesen war, hatte ein Spielgefährte ihm irgendwann einen Basketball zugeschleudert, der ihn so heftig in den Solarplexus getroffen hatte, dass ihm die Luft aus den Lungenflügeln gepresst wurde. Sein Brustkorb, aus dem jede Luft entwich, war gleichsam erstarrt Es war ihm so vorgekommen, als habe er minutenlang nicht mehr Atem holen können. In dieser Zeitspanne hatte sich sein Bewusstsein getrübt. Hinter seinen Augenlidern waren winzige bunte Sternchen aufgeblitzt, während seine Finger zu kribbeln begannen. Genauso fühlte er sich jetzt: so atemlos, als habe ihm jemand gewaltsam alle Luft aus der Lunge gepumpt. Oder so, als habe ein unerwartet heftiger Stromschlag den Mechanismus in seinem Brustkorb außer Kraft gesetzt, der den Atemfluss regulierte, und ihm damit auch die Fähigkeit zu denken und zu abstrahieren genommen.
Auch diesmal bemerkte ihn Caroline zunächst gar nicht, als er Kaths Zimmer auf der Intensivstation betrat - und wieder hatte Scott das Gefühl, es sei nichts real. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass sich ein Geist so fühlen mochte: zwar durchaus imstande, alles zu beobachten, aber zu seiner Verzweiflung völlig unfähig, Kontakt mit der Umwelt herzustellen und sich in das Leben ringsum einzumischen.
Gleich darauf fiel ihm auf, dass Carolines Gesicht wachsbleich, schweißnass und vor Angst verzerrt war und sie mit ihren Fäusten an den Mundwinkeln zerrte. Als sie sich, während ihr Gesicht noch eine Spur bleicher wurde, umwandte und ihm zwischen heftigen Schluchzern mitteilte, Kath habe gerade eben gesprochen, spürte Scott, wie sich in seiner Brust alles verkrampfte. Im nächsten Augenblick hörte er es selbst, vernahm Kaths Stimme, die so hohl klang, als dringe sie aus großer Tiefe zu ihm herauf. Tot war das Einzige, was sie sagte, ehe sie von Krämpfen geschüttelt wurde.
Es begann langsam, fast unmerklich: Ihr leidgeprüftes Gesicht erschlaffte, der Hals blähte sich leicht auf, die Glieder begannen sachte zu zittern - und dann erfasste das Beben ihren ganzen Körper, als sei eine Sicherung in ihrem Nervensystem durchgebrannt. Während ihre Arme und Beine einen wilden Rhythmus auf die Matratze trommelten, krümmte sich ihr Rückgrat, bis es knackte.
Ehe Scott sich rührte, ehe sich seine medizinische Ausbildung schließlich durchsetzte und er das Offensichtliche diagnostizierte - einen epilepsieähnlichen, komatösen Anfall —, empfand er ganz kurz eine irrationale Abscheu vor seinem Kind. Während er zusah, wie sich Kath mit Zischlauten hin und her warf, ihre Augen aus den Höhlen traten, der Mund schäumte und Urin die Vorderseite ihres Nachthemdes befleckte, traf ihn eiskalt eine plötzliche, furchtbare Erkenntnis: Irgendetwas Pechschwarzes, Mächtiges, Altersloses sickerte in schmierigen Tropfen - Tropfen, die er fast riechen konnte -aus dem Körper seines Kindes heraus. Und dieses Etwas war das Böse.
Noch ehe Caroline aufschrie und Pflegepersonal ins Zimmer eilte, schwand das Gefühl wieder. An seine Stelle trat
eine rationale Stimme in Scotts Kopf, die ihm die schlichte Wahrheit verkündete: Es ist ein Schüttelkrampf, nichts -weiter als ein Schüttelkrampf Allerdings glaubte er jetzt zu verstehen warum gottesfürchtige Menschen früherer Epochen angenommen hatten, Satan der Leibhaftige sei in den Körper jener gefahren, die sich in Krämpfen wanden. Denn außer einer vagen körperlichen Ähnlichkeit hatte das, was sich da in Zuckungen auf dem Bett wand, nichts mehr mit seiner Tochter gemein.
Scott taumelte vorwärts, um nach Kath zu greifen, aber der Arm eines Krankenpflegers hinderte ihn daran und geleitete ihn weg vom Bett, in dem Kath schreckliche Grunzlaute von sich gab, hin und her rollte und sich besudelte. Er konnte nur noch flüchtig einen letzten Blick auf ihr verzerrtes Gesicht werfen, ehe die schrecklich grellen Vorhänge in Regenbogenfarben zugezogen wurden und das Bett aus dem Blickfeld verschwand. Aber dieses Bild brannte sich ihm ins Gedächtnis.
Er wusste genau, was sie tun würden, um Kaths Anfall zum Stillstand zu bringen: Man würde ihr einen Beißschutz zwischen die Zähne zwängen; eine Schwester, vielleicht unterstützt von einem Pfleger, würde die zuckenden Glieder mit ihrem gesamten Gewicht niederdrücken; der Assistenzarzt würde ein paar Milligramm Valium in den Tropf geben, damit sich der Krampf legte. Auf diese Weise würden sie Kath so weit sedieren, dass sie für mehrere Stunden ruhig gestellt war.
Aber das war nur ein Bruchteil dessen, was Scott durch den Kopf ging, während er, Caroline an die Brust gedrückt, vor Kaths Krankenzimmer stand und hörte, wie hinter ihm die Überwachungsgeräte verrückt spielten. In seinem Inneren bäumte sich ein Dämon auf, ein tolldreistes, klumpfüßiges Etwas, das Dr. Holleys Gesicht trug. Und dieser Dämon behauptete, es sei seine eigene Frau, die er in der Notaufnahme steif und entstellt auf der Bahre hatte liegen sehen.
Er versuchte ihm einzureden, der Leichnam auf dieser Bahre sei die tote Hülle der Frau, die er vor zehn Jahren geheiratet hatte, die Hülle seiner vor ein paar Stunden noch lebendigen Ehefrau, seiner warmen Insel aus Fleisch und Blut.
Doch von solch unverschämten Behauptungen wollte Scott nichts wissen. In Gedanken fuhr er dem Dämon an die Kehle, zerrte alle schmutzigen Worte aus ihm heraus, erstickte seine Lügen in einem Schwall aus Knorpel und Blut, während er sich selbst dabei zusah ... Und dann sah er, wie sie alle drei - Krista, Kath und er selbst - unter zwei Scheinwerfern, die Regenschirmen ähnelten, Arm in Arm dastanden und lächelten. Sie posierten für das Familienporträt, das er in seinem Büro auf das Regal hinter dem Schreibtisch gestellt hatte. Es war das Foto, das ihm irgendwann vor tausend Jahren, als er noch geglaubt hatte, etwas vom Leben zu verstehen, abhanden gekommen war. Als Nächstes sprangen seine Gedanken zur Anlegestelle, zu Krista und Kath, die über ihm knieten, während sich sein Brustkorb hob und senkte und er das Wasser des Sees aus seinen Lungen spuckte. Ihm fiel ein, wie ihn trotz aller Angst schon der Gedanke, dass sie bei ihm waren und ihn liebten, getröstet hatte. Und dann kam er wieder an den Ausgangspunkt zurück, zu Dr. Holley (sie sind gegen die Steinmauer geprallt, die den Friedhof von Hampton Meadow umschließt) und zu den Zeichnungen, die all das vorhergesagt hatten.
Nach und nach wurde ihm Carolines Anwesenheit bewusst. Als er merkte, dass sie immer noch schluchzte und in ihrer Verwirrung und Verzweiflung Trost brauchte, nahm er sie fester in die Arme. Gemeinsam warteten sie darauf, dass irgendjemand den Vorhang zur Seite ziehen würde.
Der Assistenzarzt, der benommen und erschöpft wirkte, kam als Erster heraus und teilte Scott mit, sie hätten Kaths Anfall in den Griff bekommen, sie schlafe jetzt friedlich. Er werde den zuständigen Chefarzt informieren. Am kommenden
Morgen werde als Erstes ein Neurologe nach ihr sehen und sie untersuchen. Danach bot er Scott und Caroline an, sie zu einem Angehörigenzimmer auf dem Stockwerk zu bringen wo sie sich hinlegen und vielleicht auch ein wenig Schlaf finden könnten.
Scott lehnte ab, drängte Caroline aber dazu, das Angebot anzunehmen. Zögernd folgte sie dem Assistenzarzt. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, sie wirkte völlig geschafft
Nachdem Scott in Kaths Zimmer zurückgekehrt war, zeigte ihm eine Krankenschwester, wie er den großen Sessel am Fenster zu einer Liege ausklappen konnte. Ein Weilchen später streckte er sich darauf aus und versuchte, sich auszuruhen. Doch wieder und wieder schlug er die Augen auf, um auf Kaths Gesicht nach Anzeichen dafür zu suchen, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Glücklicherweise hatte sich ihr starrer Gesichtsausdruck gelockert; sie blickte nicht mehr ins Leere, ihre Augen hatten sich endlich geschlossen. Scott nahm an, dass das Valium seine Wirkung tat. Sie schien friedlich zu schlummern, genau wie der Assistenzarzt gesagt hatte.
Irgendwann fiel Scott Jinnie ein. Er stand auf, um die Stoffpuppe zu holen. Als er sie aus der Flugtasche kramte und dabei auf die Zeichnungen stieß, zerrte er sie ebenfalls heraus. Nachdem er die Puppe Kath aufs Kopfkissen gelegt hatte, zog er sich wieder auf die Liege zurück. Im fahlen, gelbrötlichen Lichtschein der Gangbeleuchtung faltete Scott die Zeichnungen auseinander und ging sie Bild für Bild durch, bis er innerlich erschauerte und es nicht länger ertrug. Mit Tränen in den Augen, die sein Blickfeld trübten, faltete er die Skizzen wieder zusammen und verstaute sie in seiner Hemdtasche.
Und genau in dem Moment, als er dachte, er werde nie wieder Schlaf finden, auf immer und ewig erschöpft, aber hellwach daliegen, die Bilder seiner von Krämpfen geschüttelten Tochter und des entstellten Leichnams seiner Ehefrau vor Augen, kam der Schlaf schließlich doch. Der Schockzustand und die Erschöpfung der letzten vier Tage wirkten so heftig zusammen, als habe er eine Überdosis von Beruhigungsmitteln geschluckt. Er fiel in einen Schlaf voller Albträume, in denen tote Männer herumspazierten. Sein einziger Gefährte war der Kummer.
Als Dr. Holley am Mittwochmorgen auf die Intensivstation kam, fand er Scott zusammengerollt auf dem Liegesessel vor. Mit leerem Blick starrte er auf sein Kind, das noch nicht wieder bei Bewusstsein war. Es war ihm anzusehen, dass er kaum geschlafen hatte. So behutsam wie möglich wies der Untersuchungsbeamte Scott auf die unangenehmen Pflichten hin, um die er sich würde kümmern müssen, da sie keinen Aufschub duldeten.
»Sie werden entscheiden müssen, was mit dem Leichnam geschehen soll«, sagte er in einem Ton, den Scott sofort einordnen konnte. Dr. Holley und seine Kollegen wandten diesen Ton gegenüber den verlorenen Seelen an, die man gemeinhin als die trauernden Hinterbliebenen bezeichnete.
»Normalerweise kümmert sich das Beerdigungsinstitut um alle Formalitäten, die Abholung des Leichnams, die Überführung und all das. Sie müssen dort nur anrufen und Bescheid sagen. Außerdem müssen Sie sowohl für Ihre Frau als auch für Ihre Tochter einige Formulare ausfüllen und das Auto abholen oder abholen lassen. Soweit ich weiß, hat es den Wagen zwar ziemlich erwischt, aber es ist keineswegs ein Totalschaden.« Holley seufzte. »Haben Sie schon irgendwelche Verwandten benachrichtigt?«
Scott schüttelte den Kopf. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, irgendwo anzurufen. Klara würde er als Erstes benachrichtigen müssen, danach Kristas Mutter... Vielleicht konnte er das aber auch Klara überlassen ... Ja, das würde das Beste sein. Er sollte auch Gerry anrufen ... und einige der anderen engsten Freunde, aber das konnte warten.
Holley stand auf. »Die Schwestern haben alle Formulare, die Sie brauchen.« Er deutete auf die Computerkonsole hinter der seitlichen Wand aus Plexiglas. »Sie können sie ausfüllen, sobald Sie sich dem gewachsen fühlen.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich habe hier noch etwa eine Stunde zu tun, dann muss ich in die Stadt. Wenn Sie möchten kann ich Sie bei der Werkstatt absetzen, wo die Polizei Ihr Auto abgestellt hat. Inzwischen müssten die uns auch mitteilen können, ob möglicherweise irgendwelche technischen Probleme den Unfall verursacht haben. Sie können dann gemeinsam mit denen entscheiden, was mit dem Wagen am besten geschehen soll.«
Scott setzte sich auf und rutschte zum Rand des Liegesessels. Während er sich mit kraftlosen Händen das Gesicht rieb, spähte er durch die Finger auf Kath, deren Augen halb offen standen und hoffnungslos leer wirkten. Vage merkte er, was Holley gerade tat: Ebenso behutsam wie bestimmt versuchte der Untersuchungsbeamte, ihn dazu zu bewegen, sich mit den Realitäten zu befassen - vielleicht weil ihm klar war, dass Scott nahe dran war, jeden Bezug dazu zu verlieren.
»Ich weiß nicht, ob ich meine Tochter allein lassen soll«, erwiderte Scott. In seinem Kopf hatte es schmerzhaft zu pochen begonnen, und es schien schlimmer zu werden, nachdem er sich aufgesetzt hatte. »Vielleicht sollte ich noch eine Weile hier bleiben.« Er massierte seine Schläfen. Im Mund hatte er einen widerlichen Geschmack, außerdem war sein Gaumen wie ausgedörrt. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, ihm werde sich gleich der Magen umdrehen, aber es ging vorbei.
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Holley tippte auf den Funkrufempfänger, der an seinem Gürtel klemmte. »Ich habe einen Beeper mit großer Reichweite dabei und werde dafür sorgen, dass man uns benachrichtigt, falls sich am Zustand Ihrer Tochter irgendetwas ändert.« Holleys sachtes Drängen nahm mehr und mehr einen vorsichtigen Befehlston an. »Wie wär's, wenn Sie sich ein bisschen frisch machen, duschen, vielleicht auch Kaffee trinken? Ich bin in einer Stunde
zurück. Dann können Sie damit anfangen, einige der nötigen Dinge hinter sich zu bringen, einverstanden?«
Unsicher nickend, wandte sich Scott wieder seiner Tochter zu.
»Sie kommt schon wieder hin«, bemerkte Holley und bediente sich dabei erneut aus dem Repertoire wohltönender Floskeln, zu denen Mediziner in solchen Situationen greifen. »Sie werden's bald merken.« Gleich darauf verschwand er.
Zwar hatte Scott sich seit vierundzwanzig Stunden nicht rasiert, auch nicht geduscht oder die Kleidung gewechselt, dennoch verzichtete er aufs Frischmachen. Er lehnte auch den Kaffee ab, den eine Krankenschwester ihm anbot. Stattdessen blieb er am Bett der kleinen Gestalt sitzen, die sich nicht rührte, während sein eigener Körper jede Verbindung zur Realität verlor und sein Gehirn auf Leerlauf schaltete.
Ehe er eine Stunde später mit Holley aufbrach, sah er noch bei Caroline herein, die immer noch schlief, dabei etwas murmelte und sich unruhig hin und her warf.
Der Ort, an dem sein Wagen auf Veranlassung der Polizei sichergestellt war, entpuppte sich als Texaco-Werkstatt mit zwei Parkplätzen im Süden der Stadt. Der Volvo stand seitlich der Werkstatt neben einem lädierten Duster und sah von hinten völlig unversehrt aus. Holley parkte seinen silbernen Mercedes am zugemüllten Vordereingang. Während er ausstieg, winkte er einen Automechaniker herbei, der unter einem gelben Honda gelegen und gerade einen Wagenheber angesetzt hatte. Scott wartete im Auto, vermied bewusst jeden Blick auf den Volvo und sah stattdessen zu Holley und dem Mechaniker hinüber. Der Mann musterte Scott mit zusammengekniffenen Augen, sagte kurz irgendetwas und zuckte danach mit den Achseln. Schließlich gingen er und Holley in die Werkstatt.
Verstohlen, als sei es etwas Verbotenes, warf Scott einen Blick auf den Volvo. Von seinem Platz aus konnte er sehen, dass der Wagen vorne böse eingedrückt war, deshalb wandte er den Blick gleich wieder ab.
Wie hatte das passieren können? Unweigerlich drängte sich ihm die Frage auf: Lag es an irgendeinem technischen Versagen? Caroline hatte ihm am Telefon erzählt, Krista habe irgendwelche Probleme mit dem Wagen gehabt. Hatte der Automechaniker in der Werkstatt, die Holley erwähnt hatte, Mist gebaut? Der Volvo war ein ausländisches Fabrikat mit Turboantrieb. Automechaniker ohne spezielle Ausbildung kannten sich damit normalerweise nicht aus. Hatte der Drecksack irgendwie herumgepfuscht, weil die Reparatur über seinen Horizont ging? Hatte er irgendeinen katastrophalen Fehler gemacht?
Scott dachte daran, auszusteigen. Er würde diese Leute selbst fragen, wenn Holley so ewig lange brauchte ...
Gleich darauf trat der Untersuchungsbeamte wieder aus der Werkstatt, ging hastig auf den Mercedes zu, kam zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. Scott stieg aus und folgte ihm zu dem Platz, wo der Volvo abgestellt war.
Auf dem Weg dorthin war Scott nur vage bewusst, dass Holley mit ihm sprach. Wie er sagte, hatten die Mechaniker den Volvo zwar peinlich genau untersucht, aber keine Anzeichen für irgendwelche technischen Probleme gefunden, die als Unfallursache in Frage kamen. In Scotts Kopf wurde das alles von dem hohen Summton überlagert, der im Leichenzimmer der Notaufnahme eingesetzt hatte und ihn seitdem langsam verrückt machte. Während er, innerlich widerstrebend, auf den Wagen zuging, verstärkte sich der Summton noch und füllte seinen Schädel mit weißem Rauschen.
Scott biss sich auf die Lippen und zwang sich, das in Augenschein zu nehmen, was seine Familie zerstört hatte - den Beweis für die Katastrophe. Zwar kämpften seine Augen verzweifelt dagegen an, aber er überwand seinen Widerwillen, hinzusehen. Er inspizierte zunächst das Heck, wo der Wagen
immer noch heil und ganz war. Für den Augenblick konnte er so tun, als sei gar nichts passiert. Als er merkte, dass die Fahrertür eingedrückt war, zögerte er kurz, während er sich sagte: Ist doch gar nicht so schlimm ... Das kann man doch durchaus überleben ...
Vorsichtig ging er weiter, blieb aber gleich darauf neben dem unversehrten Seitenspiegel stehen. Von hier aus konnte er sehen, dass die Motorhaube aufgesprungen und die Windschutzscheibe zerschellt war. Das erklärte die kleinen Schnittverletzungen, die Kath im Gesicht und am Hals hatte. Unbewusst rieb er sich über die alte Narbe am Kinn.
Als er am Armaturenbrett oberhalb des Lenkrads eine Pfütze eingetrockneten Blutes entdeckte, wandte er den Blick sofort ab. Das Atmen fiel ihm so schwer, als steche ihn ein Eispickel in die Kehle. Mit wackligen Beinen ging er weiter, zur Vorderseite des Wagens, und stolperte dabei über einen losen Asphaltbrocken. Hier war der Schaden am schlimmsten, wie deutlich zu sehen war.
Der Kühlergrill war völlig zersplittert, die Motorhaube hochgeklappt. Die Kotflügel hatten sich um mindestens sechzig Zentimeter verzogen und wie bei einer Ziehharmonika aufgerollt. Als Scott durch das gähnende Maul der Haube ins Innere spähte, sah er, dass sich der Motor aus der Aufhängung gelöst hatte und unter das Fahrgestell gerutscht war. Ihm fiel ein, wie der Verkäufer seinerzeit die besondere Sicherheit der Aufhängung gepriesen hatte (»Bei einer Frontalkollision landet der Motor garantiert nicht auf Ihrem Schoß.«) Damals hatte er gedacht: Ist ja alles gut und schön, aber so weit wird es bei mir nie kommen. Doch nicht bei mir ... doch nicht bei uns.
Immer noch versuchte Scott nach Kräften, die ganze Sache zu leugnen. Er klammerte sich an die illusorische Hoffnung, der Wagen könne jemand anderem gehören ... Aber als er sich durch das offene Seitenfenster beugte, entdeckte er seitlich auf der Fußmatte einen von Kaths Plastikslippern (Glibberschuhe hatte sie die genannt). Und da war auch der V-förmige Riss im Polster: Er stammte von dem Profilmesser
für Reifen, den Krista bei Canadian Tire erworben hatte. Mein Gott, was hatte sich Krista damals über die eigene Ungeschicklichkeit aufgeregt...
Zweifellos war das sein eigener Wagen.
Wie ein Schlafwandler kehrte Scott zur Fahrerseite zurück und zerrte an der eingedrückten Tür, deren lädierte Scharniere knirschten. Als er sich setzte, ächzte die Federung unter ihm. Der Fahrersitz rutschte um eine Kerbe zurück, ehe er einrastete. Er legte die Hände aufs Lenkrad und merkte, dass es schräg stand.
Danach schnüffelte er in der Luft herum, spähte unter das Armaturenbrett, auf den Beifahrersitz, auf den Rücksitz. Neben den Eigengerüchen des Wagens, der immer noch neu roch, war noch etwas anderes auszumachen, ein Gestank nach Moder und Feuchtigkeit. Der üble Geruch erinnerte ihn daran, wie er zu Hause einmal eine tote Maus hinter der Waschmaschine im Keller gefunden hatte.
Es stank nach Verwesung und Schimmel, vermischt mit Feuchtigkeit und Moder. Konnte das derselbe Geruch sein, der ihm in der Umgebung des Leichnams auf der Bahre aufgefallen war, in der Notaufnahme? War das der Hauch des Todes?
Gleich darauf entdeckte er den Deckel der Kühlbox, der sich durch die Wucht des Aufpralls vom Behälter gelöst hatte. Er griff nach hinten, um ihn ganz herunterzuschieben. In der Box schwamm ein angebissenes, mit Käse, Schinken, Tomaten und Salat belegtes Sandwich in einer trüben Brühe. Es roch ranzig.
Nachdem Scott den Deckel wieder zugedrückt hatte, stieg er aus dem Wagen. Sicher, man konnte den Volvo noch reparieren, aber ihm war klar, dass er ihn nie wieder fahren würde. Nach dem heutigen Tag wollte er ihn für immer aus den Augen haben. Er würde dem Automechaniker sagen, er solle den Volvo abschleppen und dorthin bringen lassen, wo man ihn entweder zum Ausschlachten verkaufen oder verschrotten konnte.
Er wandte sich wieder Holley zu, der geduldig wartend an seinem Mercedes lehnte. Doch dann fiel ihm plötzlich eine Sache ein, die ihn dazu brachte, sich durch die offene Tür zu beugen. Er musste etwas überprüfen.
Tatsächlich, der Rücksitz war mit funkelnden Glasscherben übersät.
Als Scott den Kopf hastig zurückzog, stieß er sich am Türrahmen. Wie konnte Glas auf dem Rücksitz liegen? Holley hatte gesagt, der Wagen sei außer Kontrolle geraten, herumgeschleudert und gegen eine Steinmauer geprallt. Wenn es so gewesen wäre, hätte die Windschutzscheibe - sofern sie überhaupt beschädigt worden wäre - nach außen zerschellen müssen, nicht nach innen.
Es sei denn, sie sind auf etwas geprallt, das sich bewegt hat, dachte er, während seine Finger wieder einmal die Narbe am Kinn betasteten. Es sei denn, irgendetwas ist von außen durch die Windschutzscheibe gebrochen.
Holleys Beeper meldete sich. Die von der Funkverbindung verzerrte Stimme war zwar nur schwach zu verstehen, aber Scott war sicher, dass die Nachricht durchgegeben wurde, unverzüglich das Krankenhaus anzurufen. Gleich darauf entschuldigte sich Holley und eilte in die Werkstatt.
Scotts Magen zog sich vor Angst zusammen. Ging es um Kath? Hatte sich ihr Zustand verschlechtert?
Fast krank vor böser Vorahnung stolperte er Holley hinterher und betrat die Werkstatt. Der hagere Mediziner stand in einem kleinen, schlecht beleuchteten Büro und telefonierte. Kurz darauf reichte er Scott den Hörer: »Ist für Sie.«
Mit weichen Knien machte Scott einen Schritt vorwärts. Holleys Augen verrieten ihm nichts. Während er den Hörer entgegennahm, kämpfte er gegen eine pessimistische Stimme in seinem Kopf an, die sich weigerte, Ruhe zu geben: Tut mir Leid, sagte sie, aber Kath hat wieder Krämpfe und es sieht gar nicht gut aus ... überhaupt nicht gut.
»Hallo?«
Stille. Dann ein ersticktes Schluchzen.
»Was ist los?« Scott stellten sich die Nackenhärchen auf »Was ist passiert?«
Erneutes Schweigen, diesmal kürzer. Und dann war Caroline am Apparat Als Scott hörte, dass sie weinte, drohten seine Knie nachzugeben. Kath hat wieder Krämpfe...
»Scott?« Carolines Schluchzer gingen in ein lautes, hysterisches Lachen über. »Sie ist aufgewacht! Sie ist wach und fragt nach dir. Bitte komm, Scott ... Komm schnell! Ich bringe es einfach nicht fertig, ihr das alles zu sagen.«
Das Gefühl von Erleichterung, das Scott spürte, war einfach überwältigend. Als er sich Holley zuwandte, ließ er seinen Tränen freien Lauf, ohne sich dafür zu schämen. »Gib mir zehn Minuten. Oh Gott... Sie ist wirklich wach?« »Ja, und es scheint ihr recht gut zu gehen ... Sie ist nur ein bisschen erschöpft.«
»Zehn Minuten«, wiederholte Scott und legte auf. »Können Sie mich zurück zum Krankenhaus fahren?«, fragte er Holley fast brüllend.
Holley willigte ein. Schließlich war ihm klar, mit wem er es zu tun hatte: mit einem Mann, der ihn um Haupteslänge überragte, dessen Gesicht derzeit alle Anzeichen des Wahnsinns trug und der ihn im Fall der Ablehnung wahrscheinlich auch bedenkenlos zu Boden geschlagen hätte, um an den Wagen zu kommen.
Sie stiegen in den Mercedes und fuhren mit quietschenden Reifen davon.
Zehn Minuten später hielt der Mercedes mit aufkreischenden Bremsen in der Feuerwehrspur vor dem Krankenhaus. Scott sprang heraus, eilte die Treppe hinauf und drängte sich rücksichtslos durch die Menschenmenge im Foyer. Eine ehren-amtliche Schwesternhelferin setzte zur Frage an, ob sie ihm irgendwie behilflich sein könne, aber Scott stürmte achtlos an ihr vorbei, schwenkte nach links um und rannte den Gang zur Intensivstation hinunter, wo er schließlich die Türen aufwarf und zu den Innenräumen hastete.
Man begrüßte ihn mit verständnisvollem Lächeln. Ohne darauf zu reagieren, lief er an der Reihe mit Überwachungsgeräten vorbei zu Kaths Nische. Mit der Schulter bahnte er sich den Weg durch die knallbunten Vorhänge, die jetzt zugezogen waren.
Caroline saß mit gekreuzten Beinen auf dem Fenstersims, während Kath an einem Berg von Kissen lehnte und mit einem Strohhalm Wasser aus einem Styroporbecher sog. Langsam wandte sie sich Scott zu. Ihre sonst so glänzenden Augen wirkten stumpf. Offenbar brauchte sie einen Moment, bis sie ihn erkannte. Es war ein Augenblick, der Scott quälend lange vorkam. »Daddy?«, fragte sie schließlich und streckte die winzigen Arme nach ihm aus.
Scott wollte sofort zu ihr stürzen, besann sich jedoch eines Besseren und trat langsam auf das Bett zu. Als er sich vorsichtig neben Kath niederließ, schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihn leicht.
»Du kratzt«, stellte sie fest, zog sich ein wenig zurück und fuhr ihm mit der Hand über die stoppelige Wange.
Caroline kicherte.
»Wie fühlst du dich, mein Kleines?« Vergeblich versuchte Scott, seine Tränen zurückzuhalten. Er wollte nicht, dass Kath es merkte, deshalb zog er sie ganz nah an sich heran.
»So, als wär ich betrunken, glaub ich«, erwiderte Kath und lächelte über Scotts Schulter hinweg ganz schwach Caroline zu.
»Tut dir irgendwas weh?«
»Nein, ich hab nur Durst.« Sie lehnte sich wieder zurück und suchte Scotts Blick. »Caroline sagt, wir hätten einen Unfall gehabt. Bist du böse wegen dem Auto?«
Scott musste daran denken, wie Krista sich am Telefon wegen des Wagens gesorgt hatte. Das war erst einen Tag her. Gestern war sie noch am Leben gewesen. »Vergiss das dumme, alte Auto, ja?« Er versuchte, sie wieder ganz nah an sich zu ziehen, aber sie wehrte sich dagegen.
»Wann kann ich Mom sehen?«
Er hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, hatte bei der endlosen Fahrt von der Texaco-Werkstatt bis zum Krankenhaus an nichts anderes gedacht. Dennoch warf ihn die Frage völlig aus dem Gleichgewicht.
Caroline vergrub das Gesicht in den Händen und brach in Tranen aus. Kath blickte nur auf ihren Vater, suchte in seinen Augen nach einer Antwort. Scott konnte nichts anderes tun, als ihren Blick zu erwidern. Sein Hirn - oder der Teil davon, der für das Nachdenken und vernünftige Erklärungen zuständig war - war plötzlich leer. Wie soll ich die Worte finden ? Was sind die richtigen Worte? Wie sagt man einem Kind, das seine Flickenpuppe liebt, an den Weihnachtsmann glaubt und McDonald's super findet, dass seine Mutter gestorben ist? Hatte er es denn bis zu diesem Moment selbst geglaubt? Wohl nicht. Denn genau diese unschuldige, schlichte Frage sorgte jetzt dafür, dass ihn die Wahrheit mit der Wucht einer Kanonenkugel traf. Wie finde ich die richtigen Worte?
Aber es waren gar keine Worte nötig. Kath lehnte sich kraftlos zurück, schmiegte sich in die Kissen und wandte ihren irgendwie verloren wirkenden Blick zum Fenster und zur grauen Welt da draußen.
»Sie ist tot«, sagte Kath. Eine nüchterne und unwiderlegbare Feststellung. »Ich wusste es, ich hab davon geträumt.«
Caroline floh tränenüberströmt aus dem Zimmer. Scott vergrub das Gesicht in Kaths Kopfkissen und vergoss die bittersten Tränen seines bisherigen Lebens. Nach einer Weile zog Kath ihn nah zu sich heran und sie weinten gemeinsam um Krista, die sie für immer verloren hatten.
Einige Zeit später verließ Scott völlig erschöpft und zutiefst deprimiert die Intensivstation. Irgendwann war Kath schließlich
in den Schlaf hinübergeglitten. Anfangs war Scott sehr beunruhigt gewesen, da er fürchtete, sie werde erneut ins Koma, in den Zustand der Katatonie, oder was immer es gewesen sein mochte, fallen. Aber als er feststellte, dass sie auf Reize mühelos reagierte, beschloss er, sie schlafen zu lassen. Zumindest für Kath gab es diese Fluchtmöglichkeit
Doch dann fiel ihm ein, dass sie das Schicksal ihrer Mutter im Traum vorhergesehen hatte, wie sie ihm erzählt hatte, und ihm wurde klar, dass keiner von ihnen der Wahrheit entkommen konnte. Sie würden sich Kristas Tod stellen müssen, genau wie dem eigenen.
Ja, Krista war tot, das begriff er jetzt. Und sprach es in der gottverlassenen Stille des Aufenthaltsraums auf der Intensivstation laut aus: »Krista ist tot.« Kaths Frage hatte ihm diese Tatsache auf brutale Weise deutlich gemacht und das Schutzschild der Leugnung, unter das er sich zurückgezogen hatte, so gewaltsam zertrümmert wie eine Spitzhacke, die Glas zerschlägt. Die Wahrheit traf ihn jetzt mit aller Schärfe, schnitt in sein Innerstes, aber er würde daran nicht sterben. Denn jetzt gab es Dinge, die er erledigen musste, Dinge, die rationale Überlegung und peinlich genaue Planung verlangten. All die Dinge, die Holley ihn am frühen Morgen zu erledigen gedrängt hatte. Die Pflichten, die ein Todesfall mit sich brachte.
Er würde sich um die Bestattung seiner Frau kümmern müssen. Gott ja, die Bestattung. Er würde damit ein Beerdigungsinstitut in Ottawa beauftragen müssen, das auch Einäscherungen veranlasste. Krista hatte sich eine Feuerbestattung gewünscht. Vor vielen Jahren hatte sie diesen Wunsch irgendwann nachts geäußert, ein, zwei Wochen nach der Beerdigung seiner Eltern. In jener Nacht war Scott wegen eines heftigen Sommergewitters aufgewacht und hatte Krista auf einem Stuhl am Fenster entdeckt, wo sie mit leerem Blick auf das Schauspiel am Himmel starrte. Damals hatte sie ihm von der Angst erzählt, die sie seit dem Tod ihres Vaters mit sich herumschleppte.
Ihr Vater war an Krebs gestorben, als sie noch ein kleines
Mädchen war. Während sie bei der Totenwache vor seinem Sarg kniete, hatte sich Krista gefragt, ob das Wesen ihres Vaters - seine Seele - immer noch in seinem Körper gefangen sei. »Wie soll sie da herauskommen?«, hatte sie Scott in jener Nacht im Schlafzimmer ihrer gemeinsamen Wohnung in der Frank Street gefragt, als habe sie das Dilemma des kleinen Mädchens noch immer nicht gelöst.
Beim Tod ihres Vaters war sie acht Jahre alt gewesen. Ihre kindliche Fantasie hatte sie auf den eigentlich ganz natürlichen Gedanken gebracht, ihr Daddy müsse wohl immer noch in seinem Körper stecken und alles mitbekommen, könne es aber niemandem erzählen, da dieser Körper ja tot war. Wie nur ein Kind es vermag, hatte sie sich ausgemalt, wie er nach dem Trauergottesdienst hilflos in dem mit Satin ausgekleideten Sarg liegen würde. Bestimmt würde er hören, wie der Deckel klickend einrastete, wenn der Leichenbestatter den Sarg zum letzten Mal verschloss, bestimmt würde er merken, wie ihn ewige Dunkelheit umfing. Sie stellte sich vor, wie ihn die Sargträger später auf die Schulter hieven und auf dem Weg zum Grab durchschütteln würden. Während sie den Sarg langsam in die Grube senkten, würde er gedämpft verschiedene Geräusche wahrnehmen: die Psalmen und Gebete des Gemeindepfarrers, das dumpfe Aufschlagen der Erde auf dem Sargdeckel, wenn der Totengräber mit dem Spaten kam. Nach und nach würden diese Geräusche verstummen ... Und schließlich würde Stille eintreten, ewige Stille. Nur das fast lautlose Werk der Zeit, die Verwesung mit sich brachte, würde diese Stille stören.
Als erwachsene Frau war Krista zu dem Schluss gekommen, dass sie anders von dieser Erde scheiden wollte. Lieber wollte sie, dass sich ihre Seele in einem alles vernichtenden Feuer aus dem Körper löste. Die Alternative kam ihr noch unheimlicher vor, denn dabei musste sie darauf vertrauen, dass Erde und Verwesung nach und nach ihr grausames Werk verrichten und die Seele freisetzen würden. (Falls es denn eine Seele gab; Krista war sich darüber nie ganz schlüssig geworden.)
So sehr Kristas unerwartete Auslassungen über den Tod Scott auch beunruhigt hatten - wie die meisten Menschen hatte er stets geglaubt, seiner Familie und ihm selbst könne niemals etwas zustoßen, wie ihm jetzt klar wurde -, hatte er eingewilligt: Sollte sie vor ihm sterben, würde er sie einäschern lassen. Es war ihm mehr darum gegangen, das Thema abzuschließen, als eine verbindliche Abmachung mit Krista zu treffen. Doch jetzt würde er sein Versprechen einlösen müssen.
»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte er eine der Krankenschwestern an den Überwachungsgeräten. »Ich muss einige Ferngespräche führen.«
Die Schwester nickte, wobei sich ihr Gesicht aufhellte. Scott kam es so vor, als sei sie irgendwie erleichtert, was er zunächst befremdlich fand. Doch gleich darauf glaubte er zu verstehen. Seine Erfahrung als Arzt sagte ihm, dass bei der Besprechung, die der Stationsübergabe bei Schichtwechsel vorherging, vermutlich sein Name gefallen war, weil sich das Personal Sorgen um ihn machte. Diese Mädchen hatten in ihrer Ausbildung gelernt, bei betroffenen Familienangehörigen darauf zu achten, ob sie Anzeichen für die Bewältigung der traumatischen Situation zeigten. Bestimmt war ihnen aufgefallen, dass Scott es bislang kaum geschafft hatte, die nötigen Dinge zu veranlassen. Dass er jetzt zu Hause anrufen wollte, war ein gutes Zeichen.
Die Schwester brachte ihn zu dem Angehörigenzimmer, in dem Caroline übernachtet hatte. Mit den Doppelbetten, der Kommode und dem Fernseher auf einer drehbaren Konsole wirkte es wie ein winziges Hotelzimmer.
Sharon McVee, so hieß sie laut Namensschild, deutete auf das elfenbeinfarbene Tastentelefon auf dem Nachttisch zwischen den Betten. »Wählen Sie einfach die Null«, sagte sie. »Und teilen Sie der Dame am Empfang mit, dass Sie am internen Anschluss zwei-fünf-null sind. Dann gibt Sie Ihnen eine Leitung nach draußen und Sie können direkt durchwählen. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern, das ist kostenfrei.« Sie lächelte mitfühlend und gleichzeitig distanziert.
»Danke.« Scott ließ sich auf einem der Betten nieder und sah zu, wie Sharon McVee aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Dabei musste er daran denken, dass er ihrsicher nie begegnet wäre, hätte sein Leben nicht gewaltsam diese Wendung genommen.
Plötzlich allein, hätte sich Scott am liebsten zurückgelehnt um zu schlafen. Die Normalität dieses Zimmers, an dem nichts bemerkenswert war, machte ihm bewusst, wie nah er einem Nervenzusammenbruch gewesen war, wie fragil die Wirklichkeit seit Carolines Anruf auf dem Flughafen geworden war. In jenem Moment, bevor er wie ein nasser Sack zu Boden gesunken war, hatte sich das nackte Entsetzen mit einem noch stärkeren Gefühl vermengt, in das er sich wie in eine wärmende schwarze Hülle geflüchtet hatte: Es war die dunkle Sehnsucht danach gewesen, allem ein Ende zu machen, alle Verbindungen zu kappen und seiner Frau ins Vergessen zu folgen. Wie hieß es doch gleich in dieser Country-Schnulze? Theregoes my reason for living... Kein Grund mehr weiterzuleben...
Doch es gab noch Gründe, andere Gründe, zum Weiterleben, oder nicht? Es musste so sein, denn er war immer noch da, atmete noch, empfand immer noch Kummer. Kath ist ein wesentlicher Grund, dachte er, während er innerlich Bilanz zog. Das war zwar makaber, aber er konnte nicht anders. Was sonst noch? Dein Berufsleben? Ha! Fünfzehn Jahre — und du kannst das Wissen, die Erfahrung nicht einmal dazu nutzen, deiner Familie oder dir selbst zu helfen. Er sah auf das Telefon, als sei es irgendein völlig fremdartiges Gerät. Und vergiss nicht, dass du Freunde hast ...
Und dann erfasste ihn eine Welle der Erleichterung, denn ihm wurde klar, wen er als Erstes anrufen würde. Seinen besten Freund, den Kumpel, mit dem er zusammen aufgewachsen war, den einzigen Mann auf dieser Welt, der sogar Schläge für ihn einstecken würde: Gerry St. Georges.
In einer Minute, dachte er, ließ sich zurücksinken und schloss die Augen. In einer Minute rufe ich Gerry an. Ohne selbst daran zu glauben, schlief er ein.
Er schlief zwei Stunden, bis er, ein Traumbild von Krista vor Augen, schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte. Er hatte sie kalt und steif in der Leichenkammer des Allgemeinen Krankenhauses von Danvers liegen sehen, wo man sie in eine tiefgekühlte, herausziehbare Box verfrachtet hatte.
Als er schließlich bei Gerry zu Hause anrief, nahm niemand ab. Danach versuchte er es bei dessen Dienststelle, wo man ihm mitteilte, Gerry habe die nächsten Tage freigenommen. Die Nächste, die er anrief, war Klara. Als sie sich mit betrunkenem Lallen meldete, hätte er am liebsten sofort wieder aufgelegt und sie zum Teufel geschickt. Aber Schnapsdrossel hin oder her: Schließlich war sie Kristas Schwester und hatte ein Anrecht darauf, zu erfahren, was passiert war.
»Klara, hier ist Scott.« Seine Stimme zitterte stark. »Leider habe ich schlechte Nachrichten.«
Klara gab keine Antwort, allerdings stockte ihr pfeifender Atem plötzlich. In dem erwartungsvollen Schweigen, das darauf folgte, hörte Scott das Echo seiner eigenen Worte wie in einem Tunnel. Diese Worte kamen ihm dermaßen absurd vor, dass er den perversen Drang zu kichern kaum unterdrücken konnte. Scott Benjamin Bowman - der neue Meister der Untertreibung, schoss ihm als verrückter Gedanke durchs Hirn. »Es geht um Krista, sie hat einen Unfall gehabt«, sagte er in die Stille hinein, in der nur ein leises Summen zu hören war. »Sie ist... tot.«
Da waren sie wieder, diese Worte - die Worte, die er im Aufenthaltsraum der Intensivstation leise vor sich hin gemurmelt hatte. Es wurde einfacher, wenn man sie wiederholte. Sie kamen ihm schon nicht mehr so bedeutungsschwer vor wie beim ersten Mal.
Jetzt konnte er Klara wieder atmen hören. Zuerst seufzte sie, dann holte sie tief und zischend Luft, offensichtlich überwältigt von Fassungslosigkeit und Hysterie. Er bekam mit, dass sie am Telefon, das in ihrem Wohnzimmer an der viel frequentierten Hausbar stand, nach Worten suchte, aber es drangen nur unverständliche Grunzlaute heraus.
»Klara«, sagte Scott, »ich brauche jetzt deine Hilfe, allein schaffe ich das nicht.«
Klara blieb stumm, aber im Hintergrund hörte Scott ihren Mann Joe, der sich erkundigte, was es für Probleme gebe
»Reich mir das Telefon.« Joes Stimme klang jetzt näher Scott fiel auf (und unter diesen Umständen war das schon seltsam), dass er zum ersten Mal hörte, wie sich Joe Harper gegenüber seiner Frau behauptete. Gleich darauf war Joe am Apparat. »Wer ist dran?«, fragte er mit besorgter, hoher Stimme.
»Joe, ich bin's, Scott. Hör zu ...«
Als er die bedeutungsschweren Worte erneut aussprach, gingen sie ihm sogar noch leichter von der Zunge und klangen noch nichts sagender. Joes Schockreaktion war echt, aber beherrschter als Klaras, so dass Scott ihm das Wesentliche mitteilen konnte, ohne sich auch noch die Trauer eines weiteren Familienmitglieds aufbürden zu müssen. Joe versicherte ihm, er werde es übernehmen, ihre Schwiegermutter in Sandy Point zu benachrichtigen. Außerdem fragte er Scott, ob er damit einverstanden sei, die Flugkosten für die alte Dame zu übernehmen, damit sie an Kristas Beerdigung teilnehmen könne. Scott versprach es. Zu seiner Erleichterung bot Joe auch an, sich um Kristas Überführung von Danvers zu einem Bestattungsinstitut in Ottawa zu kümmern.
Mehr als erschöpft rief Scott schließlich auch noch Dr. Bateman im Health Sciences Center, dem Klinikum von Ottawa, an.
»Mein Gott, Scott, das ist ja furchtbar.« Bateman war unfähig, mehr als professionelle Anteilnahme in seine Worte zu legen. »Ich werde alle hier informieren. Wir erwarten Sie erst zurück, wenn Sie selbst so weit sind. Wenn Sie da sind, sind Sie da. Machen Sie sich in dieser Hinsicht keinerlei Sorgen.«
»Danke, Vince. Auf Wiederhören.«
»Scott«, sagte Bateman, ehe Scott auflegen konnte. »Hat es sich tatsächlich so abgespielt wie auf den Zeichnungen?«
Hätte Scott vor dem Anruf bei Bateman genauer nachgedacht, wäre er darauf gefasst gewesen, dass dessen wissenschaftliches Interesse über jedes Taktgefühl ging. Zu kaputt, um seinem Arger Luft zu machen, erwiderte er: »Ja, Vince, sogar Zeitpunkt und Ort haben gestimmt.«
»Und wie ist es zu dem Unfall gekommen?«
Ja, fragte sich Scott bitter, wie ist es zu dem Unfall gekommen?
»Wiederhören, Vince.«
Er legte auf.
28
Der Rest dieses langen, konturenlosen Tages verging ohne jeden weiteren Zwischenfall. Doch am Abend packte Scott nochmals für kurze Zeit das Entsetzen.
Nachdem er mit Bateman gesprochen hatte, trat er nach draußen, um Luft zu schnappen. Als er Caroline entdeckte, die draußen herumschlenderte, schloss er sich ihr ein Weilchen an. Keiner von beiden redete besonders viel. Später kehrte er allein zu Kaths Zimmer auf der Intensivstation zurück. Kath schlief fest, bis um drei Uhr nachmittags ein Neurologe mit schütterem Haar namens Franklin hereinkam, um sie zu untersuchen.
»Merkwürdig«, sagte der Arzt, nachdem er Kath wachgerüttelt, mit einem kleinen Leuchtstab ihre Augen untersucht und ihre Reflexe getestet hatte. »Der seltsamste Verlauf einer Gehirnerschütterung, der mir je untergekommen ist - falls es wirklich eine Gehirnerschütterung war.« Franklins Diagnose stand in offensichtlichem Widerspruch zu der des Assistenzarztes Dr. Cunningham, der Kath auf die Station aufgenommen hatte. »Nach ihrem anfänglichen Zustand hätte ich eigentlich auf eine längere Genesungsphase getippt.« In diesen Worten Franklins schwang etwas mit, das Scott als beruflichen Erklärungsnotstand einordnen konnte. »Aber ihre Tochter scheint sich völlig erholt zu haben. Eigentlich sehe
ich gar keinen Grund mehr, sie noch viel länger als morgen auf der Station zu behalten. Noch ein paar Tage in einem hübschen, ruhigen Zimmer, wo wir sie aus der Ferne überwachen können, und dann ...«
»Eigentlich hatte ich gehofft«, warf Scott ein, »dass ich sie hier herausholen und mit nach Hause nehmen könnte. Ich bin wirklich dankbar für alles, was Sie und Ihre Leute fürKath getan haben, aber wir sind ziemlich weit weg von zu Hause und ... ich muss mich um eine Bestattung kümmern.«
Der Neurologe wich seinem Blick aus. »Ich verstehe. Ja, Sie haben da schon irgendwie Recht.« Er sah Kath an, die seinen Blick ausdruckslos erwiderte. »Fliegen Sie nach Hause?« »Ja, so bald wir können.«
»Dann wäre das vielleicht auch das Beste. Ich werde mich um die Entlassung Ihrer Tochter und die Medikation kümmern. Sie soll weiter krampflösende Mittel einnehmen, damit wir irgendwelchen weiteren Anfällen vorbeugen ... Aber natürlich«, plötzlich war es Franklin wieder eingefallen, »Sie sind ja selbst Arzt. Dann ist sie ja in besten Händen.« Mit einem Nicken verschwand er.
Als er gegangen war, trat in Kaths winzigem Zimmer eine peinliche Stille ein. Scott fiel nichts ein, was er seiner Tochter sagen konnte, ihm kamen nur Belanglosigkeiten und Plattitüden in den Sinn. Es war ein so fremdes und schreckliches Gefühl von Hilflosigkeit, dass sich bald darauf sein Magen nervös verkrampfte. Kath lag nur da, hatte ihren Arm um Jinnie geschlungen, zupfte immer wieder am Kleid der Puppe und flüsterte ihr etwas in ihr ausgefranstes Ohr. Scott fielen die Symptome von Regression bei seiner Tochter zwar auf, aber sie beunruhigten ihn nicht. Es war einfach ein Hilfsmittel, um mit der Situation irgendwie fertig zu werden, ein Mittel, das er, wie er glaubte, vielleicht selbst noch anwenden würde, bis dieser Albtraum irgendwann verblasste und die Zeit der inneren Genesung begann.
Es war Kath, die schließlich das Schweigen brach. Plötzlich setzte sie sich aufrecht hin und fixierte Scott mit einem
Ausdruck purer Ratlosigkeit. »Daddy«, murmelte sie, »was sollen wir nur tun?«
Scott schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Weitermachen, Kleines. Wir werden weitermachen.«
»Aber sie fehlt mir so. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll, Daddy. Was kann ich tun?«
Scott beugte sich hinüber und hob seine Tochter - traurig überrascht über ihr kaum merkliches Gewicht - aus dem Bett. Kath hielt Jinnie an sich gepresst und schleifte den Tropf hinter sich her. Während sie sich zusammen auf den Liegesessel kuschelten, wiegte Scott seine kleine Tochter hin und her, wie zu den Zeiten, als sie noch Windeln getragen hatte. So blieben sie dort sitzen, bis Caroline etwa eine Stunde später zurückkehrte und eine Schwester mit dem auf Tabletts angerichteten Abendessen hereinkam.
Alle drei aßen mit Heißhunger. Caroline und Scott hatten seit vierundzwanzig Stunden keinen Bissen zu sich genommen, und bei Kath war es noch länger her. Im Unterschied zur üblichen Krankenhauskost war das Essen recht gut Es gab eine Scheibe schmackhaftes Roastbeef mit Sauce, Kartoffelbrei und Broccoli und als Nachtisch den unvermeidlichen gelben Wackelpudding.
Nach dem Essen begleitete Scott Caroline zurück ins Angehörigenzimmer. »Schlaf«, sagte er und küsste sie auf die Stirn, die so heiß war, als ob sie Fieber hätte. Caroline nahm dies alles sehr schwer und verschloss ihre Gefühle so fest in ihrem Inneren, dass es sie krank machte. Scott hoffte, dass er ihr bald würde helfen können. »Wir müssen da gemeinsam durch«, flüsterte er ihr zu. »Wir müssen einander da hindurchhelfen.«
Caroline nickte, legte sich aufs Bett und schlief auf der Stelle ein.
Während es dunkel wurde, verwandelten sich Formen in Schatten.
Kath lag auf der Seite, ihrem Vater zugewandt, der zusammengekauert auf einem Stuhl am Bett saß. Kaths blaue Augen waren von einem Schleier der Müdigkeit überzogen und zeigten, dass sie bald einschlafen würde.
»Danke, dass du Jinnie mitgebracht hast«, sagte sie und streichelte der Puppe über die pausbäckige Wange. Scott lächelte schwach. »Als ich im Auto aufgewacht bin und sie nicht da war, hat es mir eigentlich gar nicht so viel ausgemacht.« Sie drückte Jinnie an die Brust. »Aber jetzt bin ich froh, dass sie da ist. Wirklich froh.«
Scott rieb sich über die alte Narbe am Kinn, die aus irgendeinem Grund angefangen hatte, ihn zu nerven; ihm war so, als spüre er ein leichtes Brennen.
»Kannst du dich an den Unfall erinnern?« Er hatte die Worte ausgesprochen, ohne an die möglichen Folgen zu denken. »Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?«
Kaths Körper zuckte so, als habe sie ein Schlag getroffen. Sofort wurde Scott klar, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Das bisschen Farbe in ihrem Gesicht schwand sofort, und ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten. Ihre erschrockenen, weit aufgerissenen Augen schienen durch Scotts Brust zu starren - vielleicht, weil ihr inneres Auge noch einmal alles abspulte. Ihre Finger gruben sich in Jinnies Rumpf. Dabei stand Scott plötzlich lebhaft die Sinnestäuschung vor Augen, die ihn zu Hause während des Gewitters so erschreckt hatte: Er sah die Puppe auf der Tischplatte vor sich, ihr Grinsen während eines Blitzes, die Füllung, ein hässlicher, grauer Bausch, der aus ihr herausgequollen war.
»Versuch dich zu erinnern«, hörte er sich selbst sagen, obwohl ihm gleichzeitig klar war, dass er das Thema besser für immer begraben hätte. »Versuch nachzudenken, Liebes, es ist wichtig.«
Kath presste die Augen heftig zusammen, nur eine einzige Träne trat glitzernd heraus. »Ich kann's nicht«, erwiderte sie kaum vernehmbar. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«