Auf dem Grund angekommen, tauchte er mit den Füßen voran in eine Lache schwarzen Wassers. Aber es war gar kein Wasser, sondern Treibsand, ein modriger, klebriger Morast, in dem er jetzt schon bis zur Taille steckte und von Sekunde zu Sekunde schneller versank. Um ihn herum breitete sich eine formlose, graugrüne Masse aus, ein Nebel, der so dick war, dass er wie flüssig wirkte.

Jetzt durchbrachen Schritte die Stille - gemächliche, lockere Schritte, die einen bestimmten Takt einhielten. Scott brüllte etwas durch den flüssigen Nebel, doch aus seiner Kehle drang kein Laut, nur ein großer Luftstrom, der hoch in die Dunkelheit blubberte. Vergeudeter Sauerstoff.

Die Schritte verwandelten sich in ein gespenstisch blasses Gesicht mit blutroten Augen, das körperlos im trüben Licht zu schweben schien. Das koboldhafte Grinsen dieses Gesichtes wirkte irgendwie vertraut. Es trieb auf ihn zu, schien durch irgendeine Schutzschicht aus Schlamm zu dringen ... und wurde zu Kaths Gesicht, das übermütig grinste.

Aber ihre Augen waren immer noch rot... rot, stumpf und voller Hass.

Als er blinzelte, war es wieder seine Kath, die wunderbare Kath mit den blauen Augen, die ihren orangeweiß gestreiften Badeanzug trug. Sie bewegte sich auf den Morast zu, beugte sich herausfordernd zu ihm herüber und lächelte.

»Hallo, Daddy«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht ihr gehörte. »Du wirst da drin sterben

Von Kaths Hand baumelte die gelbe Minolta. Lachend hielt sie ihm die Kamera vor die Augen. Als gleich darauf das Blitzlicht aufflammte, war weit über ihm die Unterseite des Landestegs in jeder Einzelheit zu erkennen.

»Hilf mir, mein Liebling«, sagte Scott, während grelle Punkte auf seiner Netzhaut tanzten. »Um Himmels willen, hilf mir

Aber Kath grinste nur, beugte sich noch weiter über das morastige Loch und reichte ihm die Kamera. »Hier, Daddy. Jetzt kannst du mich fotografieren

Scott spuckte Treibsand aus. Er spürte, wie er zwischen seinen Zähnen knirschte. Ihm war klar, dass der Treibsand ihn bald verschlingen würde.

Doch er nahm die Kamera und hielt sie sich vor die Augen.

Und als das Blitzlicht durch den Dunstschleier drang, sah er durch den Sucher, dass es nicht seine Tochter war, die er fotografierte, sondern irgendetwas anderes. Etwas mit blutleerer weißer Haut, silbernem Haar... und hasserfüllten roten Augen. Er kannte diese Augen. Sie wirkten wie die eines Tieres, das wie gebannt im grellen Scheinwerferlicht eines näher kommenden Wagens sitzen bleibt.

Als sich der kühle Treibsand bis in seine Nasenlöcher vortastete, ließ er die Kamera fallen. Sie trieb davon, in die graugrüne Masse über seinem Kopf. Da er kaum noch Luft bekam, hob er das Kinn aus dem Morast, der mittlerweile schon in seine Ohren drang.

Kaths Gesicht hatte sich wieder vom Körper gelöst. Jetzt verschwamm es vor seinen Augen, verzerrte sich, fiel auseinander, verspritzte Blut...

Aber es konnte ihm nichts mehr anhaben. Nein. Denn jetzt legte sich der Treibsand auch über seine Augen. Und er ertrank darin, sank tiefer und tiefer und tiefer ...

Scotts Schrei erschreckte Krista so, dass sie selbst aufschrie und davon aufwachte. Als sie ihre Augen aufschlug, stellte sie fest, dass sich Scott bei dem Versuch, sich im Bett hinzuknien, in die Laken verwickelt hatte.

»Scott«, rief sie und griff nach seinem völlig erstarrten Arm. »Scott, was ist los

Schweißnass und wie eine Maschine keuchend, öffnete Scott die Augen. Als er die vom Wind aufgebauschten Gardinen, die vertrauten Umrisse des Schlafzimmermobiliars und Krista entdeckte, ließ er sich gegen die Kopfstütze fallen.

Krista zog ihn hinunter, küsste ihn und kuschelte sich in Löffelstellung eng an seinen Rücken. Leise und beruhigend sprach sie auf ihn ein, während draußen der Wind ums Fenster strich.

Ehe er wieder einschlief, bat Scott sie noch, das Fenster zu schließen.

Sie tat es, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Als sie zurück ins Bett kam, fiel Scott auf, dass die hauchdünnen Gardinen am Fenster jetzt ganz leblos herunterhingen.

Nachdem das Fenster geschlossen war, fühlte er sich wohler. Jetzt konnte er die Wellen nicht mehr hören.

Er sank in tiefen und diesmal traumlosen Schlaf.

Als die Morgendämmerung ihr bleiches Licht über den Himmel ergoss, eilte Krista ins Zimmer ihrer Tochter, um sie zu trösten. Auch Kath hatte schlimme Träume gehabt.

Aber Scott merkte nicht einmal, dass Krista nicht mehr bei ihm war.

8

Nachdem sie Kath beruhigt hatte, ging Krista wieder ins Bett. Eine Stunde lang döste sie und warf sich unruhig hin und her, dann stand sie auf. Obwohl sie so schlecht geschlafen hatte, konnte sie es im Bett nicht länger aushalten.

Im trüben Licht des anbrechenden Morgens blieb sie nackt im Zimmer stehen und sah lange auf ihren Mann herunter. Er lag auf der Seite, hatte die Knie angezogen, einen Arm locker um sein Kopfkissen geschlungen und atmete tief. Seine Mundwinkel zuckten wie die eines scheuenden Pferdes. Krista fiel auf, dass seine Augen unter den Lidern unruhig hin und her huschten. Sie fragte sich, was er wohl träume.

Auf einen Schlag wurde ihr klar, dass sie heute Morgen beim Erwachen das Bett auch hätte leer finden können - und jeden Morgen für den Rest ihres Lebens. Noch ein, zwei Minuten dort unten auf dem Seegrund, und sie hätten mit dem Schleppnetz nach dem Leichnam ihres Mannes gesucht, anstatt ihn lebendig an die Oberfläche zu zerren, wo er heftig nach Luft geschnappt und um sich geschlagen hatte.

Bei dem Gedanken bekam Krista eine Gänsehaut, all ihre Härchen stellten sich auf. Sie griff nach ihrem Morgenmantel und streifte ihn über.

Plötzlich wollte sie ihn wecken, plötzlich beunruhigte es sie, dass er so still dalag. Ihre Sorge um ihn war so stark, beängstigend und irrational, dass sie selbst merkte, wie unsinnig sie

sich verhielt. Dennoch konnte sie dem Drang, ihn aufzuwecken, in die Arme zu nehmen und seine Stimme zu hören, kaum widerstehen.

Während sie sich vorbeugte, um ihn zu wecken, warf sie einen Blick auf die Digitaluhr am Bett, zögerte kurz und beschloss dann, ihn schlafen zu lassen. Schließlich war es erst Viertel nach sechs.

Als spüre er Kristas innere Unruhe in den tiefen Traumgefilden seines Schlafes, seufzte Scott und drehte sich mitsamt dem Kopfkissen auf den Rücken. Immer noch zitterig, aber erleichtert, überließ Krista ihn dem heilsamen Schlaf.

Sie war nicht überrascht, als sie Kaths Daunendecke zurückgeschlagen und das Bett leer fand. Sie trat ins Zimmer, strich über die Kuhle, die Kaths Körper im Bett hinterlassen hatte, und stellte fest, dass sie bereits ausgekühlt war. Besorgt hastete sie ins Erdgeschoss und suchte ein Zimmer nach dem anderen nach Kath ab.

Aber nirgendwo waren Spuren von ihr zu finden, sie hatte nicht einmal die übliche Schüssel mit Schokoladenflocken gegessen. Langsam, aber sicher, bekam Krista regelrecht Angst. Sie trat auf die Terrasse hinaus und blickte durch den feinen Morgennebel zum See.

Einsam und allein saß Kath draußen auf dem Landesteg; sie wirkte wie irgendeine liebreizende Gestalt auf einem Ölgemälde.

Krista wickelte sich fester in den Morgenmantel, ging barfuß durch den Tau auf ihre Tochter zu, die völlig in Gedanken versunken war, und setzte sich neben sie. Der Bowman-Harem, wie Scott seine beiden Frauen gern nannte, war beisammen. Kaths Füße baumelten im Wasser; sie sah einem Vogeltrio, Seetauchern, zu.

»Toll, wie die das machen, was, Mom, sagte sie, als die Vögel ohne jeden Laut nacheinander ins Wasser eintauchten. Kaths Stimme klang apathisch und flach.

Krista fand den Tonfall ihrer Tochter so alarmierend, dass ihr Kopf momentan ganz leer war und ihr keine Antwort

darauf einfiel. »Tja«, erwiderte sie schließlich, »jedenfalls können sie ihren Atem lange anhalten. Mal sehen, wie lange sie ...«

»Was ist gestern mit Dad passiert, Mom

Krista wandte das Gesicht ihrem Kind zu, das im schwachen Licht der Morgendämmerung so zart und verletzlich wirkte. »Es war genau so, wie er es gestern im Fernsehzimmer erzählt hat, Liebes. Dein Daddy ist da unten in den Felsen stecken geblieben und konnte sich nicht mehr befreien

Zwischen Kaths müden Augen bildete sich eine steile Falte. Mit einem der sonnengebräunten Füße schlug sie so heftig auf das Wasser, als wolle sie es bestrafen. Gleich darauf sah sie ihre Mutter offen an und hielt deren Blick so fest, wie es nur Kinderaugen vermögen. Bei der nächsten Frage schienen ihre Lippen zu zittern. Es war eine Frage, die sie schon seit gestern Morgen beschäftigte. »Hätte er ertrinken können, wirklich ertrinken

Auf diese Frage gab es nur eine einzige Antwort, eine Antwort, die Krista ganz und gar widerstrebte. Einen Augenblick lang fühlte sie sich feige und überlegte, ob sie Kath eine Lüge auftischen und ihr erzählen sollte, dass ihr Vater ein oder zwei Minuten später auch aus eigener Kraft davongekommen wäre. Aber sie verwarf den Gedanken, Kath etwas vorzumachen, genauso schnell, wie er ihr gekommen war. Hier verbot sich jede Lüge, denn später würde Kath ihr das ewig nachtragen.

Die Antwort bestand zwar nur aus einer einzigen Silbe schlichter Bestätigung, aber sie würde der Vorstellung, die allen Kindern eigen ist - meinen Eltern wird niemals etwas geschehen -, den Boden entziehen.

»Ja, mein Liebes«, erwiderte Krista, »er hätte ertrinken können

Kath sagte nichts, aber ihre Augen nahmen weder den glasigen, leeren Ausdruck an, den sie auch gestern Morgen im Fernsehzimmer gehabt hatten. Gleich daraufstand sie auf.

»Ich möchte nachsehen, ob's ihm gut geht«, erklärte sie leise.

Krista griff nach ihrer Hand. »Jetzt nicht, mein Liebling. Er schläft noch, lass ihn schlafen. Es geht ihm gut, du kannst später zu ihm

Zögernd blickte Kath zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern hinauf. Dann setzte sie sich wieder und plantschte mit den Füßen gedankenversunken im Wasser. Nach einer Weile ging sie schwimmen.

An diesem sonnigen Sonntagmorgen rappelte sich Scott gegen neun Uhr mühsam hoch und setzte sich auf den Bettrand. Sein erster Gedanke war, dass er sich noch nie so zerschlagen gefühlt hatte ... Selbst gestern war es nicht derart schlimm gewesen. Und jetzt machte ihm auch noch sein Kopf zu schaffen. Er fühlte sich so, als habe er gerade eine wochenlange Zechtour hinter sich.

Das Valium, dachte er, als er mit wackeligen Beinen aufstand. Das Valium hat mich geschafft Während er wie betrunken hin und her schwankte, tat er unsicher einen Schritt nach vorn. Um das Gleichgewicht zu bewahren, musste er sich am Nachttisch abstützen. Er wartete, bis sein Kopf etwas klarer wurde, und schlurfte dann vorsichtig ins Badezimmer. Am liebsten hätte er geduscht, doch als er daran dachte, dass er dabei zehn oder mehr Minuten stehen musste, entschied er sich stattdessen für ein Bad. Ein ausgedehntes Bad in einer Wanne mit heißem Wasser würde seinen lädierten Muskeln sowieso mehr nützen.

Während er auf der Toilette saß und ewig lange pinkelte, platzte Krista herein und ließ ihm das Badewasser ein. Genauso plötzlich verschwand sie auch wieder, um bald darauf mit einem Tablett zurückzukehren, auf dem ein Becher mit heißem Kaffee und mit Ei überbackene Toastscheiben standen. Sie half ihm ins Wasser, dessen Hitze gerade noch erträglich war, und stellte das Tablett am Wannenrand ab.

»Wund, fragte sie und zauste mit den Fingern an seinen Brusthaaren.

Scott nickte, wahrend er den Toast gierig verschlang. Plötzlich hatte er einen Bärenhunger. »Und das ist noch untertrieben«, fügte er hinzu, nachdem er das Brot mit Kaffee hinuntergespült hatte.

Krista begann, die Wadenmuskeln an Scotts rechtem Bein durchzukneten. Er genoss es so, dass er die Augenlider auf Halbmast sinken ließ. Hastig brachte er sein Frühstück hinter sich und streckte sich danach so aus, dass das Wasser ihm bis zum Kinn reichte.

»Gestern Nacht hast du mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Lieber«, sagte Krista, wahrend sie sich einen riesengroßen Badehandschuh überstreifte und die Muskeln an seinem Oberschenkel zu bearbeiten begann.

Fragend sah er sie an. »Was meinst du damit

»Erzähl mir bloß nicht, dass du dich nicht daran erinnern kannst. An den Albtraum? Du hast dich im Bett aufgesetzt, bist fast aufgestanden und hast mich dann gebeten, das Fenster zu schließen

Scott schüttelte den Kopf. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war Kristas Anruf bei Caroline in Boston, und selbst davon wusste er nur noch Bruchstücke. Das Valium, dachte er wieder, kramte in seinem Gedächtnis und versuchte, sich irgendetwas von dem, was nach dem Anruf geschehen war, vor Augen zu rufen. »Ich kann mich nicht daran erinnern

»Kaum zu glauben Krista unterbrach ihre Massage kurz. »Ich meine, immerhin hast du doch im Bett gekniet und mich direkt angesehen, als du mich gebeten hast, das Fenster zuzumachen

Scott erklärte ihr, die Amnesie sei eine der Nebenwirkungen von Valium, insbesondere, wenn man es in einer Stress-Situation einnehme. Vor allem deswegen sei Valium auch ein beliebtes Beruhigungsmittel vor Narkosen und Operationen. Krista nickte geduldig, aber ohne sonderliches Interesse.

»Und wie steht's mit deiner Reise nach Boston, fragte Scott gleich darauf.

»Ich weiß noch immer nicht, ob ich überhaupt fahren soll

Krista blickte auf ihre angewinkelten Knie. »Es wäre schrecklich, wenn dir hier irgendetwas zustoßen würde, während du ganz allein bist. Du könntest hinfallen oder ...«

»Oder was, fragte Scott, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. »Hör mal, ich mach dir ein Angebot: Falls du fahren möchtest, kannst du den Volvo nehmen

Kristas Gesicht strahlte so auf wie das eines Kindes am Weihnachtsmorgen, verdüsterte sich aber genauso schnell wieder. »Versuchst du etwa, mich loszuwerden, Scott Bowman? Hast du eine Affäre

Eine Sekunde lang dachte Scott, sie meine es ernst. Er wollte ihr gerade sagen, wie lächerlich er die Frage fand, als Krista kicherte und ihn nass spritzte. »Ist das mit dem Volvo wirklich dein Ernst, fragte sie mit sonnigem Lächeln.

»Würde ich je spaßen, wenn's um den Volvo geht? Jedenfalls gefallt es mir gar nicht, wenn ich mir vorstelle, dass du die ganze weite Strecke mit dem Chevette fährst, ob neu oder nicht. Falls du mit der verdammten Karre einen Unfall hättest ...« Er beugte sich hinüber, um sie zu küssen, wobei Badewasser auf ihre Hose spritzte. »Einverstanden? Ich möchte, dass du fährst

Das war eine glatte Lüge. Er freute sich überhaupt nicht darauf, allein zu Hause zu bleiben; es würde das erste Mal seit ihrem Einzug sein. Nicht, dass er Angst oder so etwas hatte ... Er war einfach höchst ungern allein, das war seine ganz persönliche Neurose.

Dennoch fuhr er mit den Verhandlungen fort: »Die Reise wird euch beiden gut tun. Falls ich irgendetwas brauche, ruf ich Gerry an. Und die Andersons sind ja auch nur fünf Minuten entfernt. Heute geht's mir sowieso schon viel besser

Krista zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

»Abgemacht, fragte Scott locker.

»Abgemacht«, erwiderte Krista, nachdem sie ein Weilchen überlegt hatte. »Ich fahre

Inzwischen war es Mittag geworden. Sie standen bei dem voll geladenen Volvo, Scott im Bademantel, Krista in Shorts und kurzem, gelben Trägerhemdchen. Ebenso belustigt wie verblüfft stellte Scott fest, dass seine beiden Frauen so viele Klamotten und weiß Gott was eingepackt hatten, dass sie damit wohl bis ins nächste Jahrhundert auskommen würden. Es war ein klarer, heißer Tag, ideal für die Fahrt in einem klimatisierten Sportwagen.

»Und vergiss nicht...«, sagte Scott, während Krista sich zum Rücksitz beugte, um die Kühltasche sicher zu verstauen, »dass du beim Tanken ...«

»... nur Super nehmen darfst«, ergänzte Krista. Bereits zum dritten Mal ging Scott mit ihr sein Zwanzig-Punkte-Programm für Pflege und Wartung des Volvo durch. Wenn es um den Wagen ging, verhielt sich Scott wirklich wie ein altes Waschweib.

»Ich werd schon gut für dein Baby sorgen«, sagte Krista. »Okay?«

Scott gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Er fühlte sich schon viel besser, das Bad hatte Wunder gewirkt und ihn gelockert. »Wo ist denn Kath

Kristas Lächeln schwand. Auf ihrer Stirn tauchte dieselbe steile Falte auf, die auch Kath verunzierte, wenn sie sich Sorgen machte. »Unten am Anlegesteg. Sie verhält sich immer noch ein bisschen ... komisch, weißt du. Ich glaube, dein Unfall ist ihr ziemlich nahe gegangen. Ich geh sie holen

»Nein, lass mich gehen

Als er zu ihr stieß, saß sie mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt, auf dem Anlegesteg. Sie trug eine hübsche, bräunliche Kombination aus Shorts und einem kurzärmeligen Hemd. Und sie weinte.

Scott spürte, wie etwas in seiner Brust ihm zu schaffen machte. Er setzte sich neben sie, nahm sie in die Arme und wiegte sie hin und her. »Was ist los, mein Flickenpüppchen

Kath sah mit nassen Augen zu ihm empor, lächelte schwach und brach in ein tränen- und spuckefeuchtes Kichern aus.

Seit ihrem fünften Lebensjahr hatte niemand mehr Flickenpüppchen zu ihr gesagt.

»Weißt du noch, warum ich dich früher so genannt hab

»Weil ich mir ständig die Klamotten zerrissen hab und Mom sie dauernd flicken musste

»Genau.« Er drückte sie fest an sich. »Also, Frau Doktor, was ist los

Nachdem sie einen Augenblick still nachgedacht hatte, als fürchte sie, der nächste Satz könne irgendwie peinlich sein, sprach Kath ihre Frage schließlich aus: »Kommst du auch klar, Daddy? Ich meine, wenn wir weg sind

»Aber natürlich, Liebes. Mir geht's wieder gut. Es ist alles ausgestanden, mein Liebling

»Versprichst du mir, nicht schwimmen zu gehen, bis ich wieder da bin

Kaths liebevolle Worte lösten in seinem Inneren Bilder aus, bei denen es ihn eiskalt überlief, so dass er unwillkürlich schwieg. Eigentlich hatte Scott seine Tochter beruhigen, ihr die kindlichen Ängste nehmen wollen. Doch das sanfte Schaukeln des Anlegestegs brachte ihn aus dem Gleichgewicht und schlug ihm so auf den Magen, dass er nervös zuckte. Als er über das Wasser blickte, glaubte er da draußen irgendetwas auszumachen, das sich bewegte. Etwas Dunkles, Unförmiges. So plötzlich, als habe jemand ein Streichholz entzündet, flackerte furchtbare Angst in ihm auf.

Doch es war nur eine vereinzelte Regenwolke, die langsam am Himmel dahinsegelte und sich als dunkler Schatten im See spiegelte.

»Ich geh auf keinen Fall schwimmen, Kindchen. Schwimmen ist für deinen alten Herrn ab sofort verboten. So lange, bis seine kleine Rettungsschwimmerin wieder da ist Oder auch auf immer und ewig, dachte er mit morbidem Pessimismus. »Also, los geht's, auf nach oben. Deine Mutter wartet schon ... Und ich glaube, sie will dir bei dieser Reise das Steuer überlassen

Kaths Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich hab dich lieb, alter Kumpel Energisch wischte sie sich die Tranen von den Wangen.

»Und ich dich.«

Als Scott vom Anlegesteg auf festen Boden trat, war ihm wohler. Lächelnd griff er nach der Hand seiner Tochter. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Haus. Kath gab sich größte Mühe, den humpelnden Scott zu stützen.

»Macht es dir auch wirklich nichts aus, dass ich den Volvo nehme In Kristas Freude - sie liebte den Volvo - schwang ein leichtes Schuldgefühl mit

»Nein, überhaupt nicht«, schwindelte Scott. Er warf einen Blick auf das düstere Innere der Garage und den staubigen, zweifarbigen Chevette, der ihm den Volvo bis zu Kristas Rückkehr ersetzen musste. »Rufst du mich an, wenn du bei deiner Schwester bist

»Genau das hatte ich eigentlich vor, Monsieur Krista verdrehte die Augen. Klara, ihre ältere Schwester, wohnte mit ihrem Mann am nördlichen Ufer des Saint Lawrence. Von Klara aus war man mit dem Auto in zehn Minuten in Prescott, an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Das Verhältnis zwischen Krista und ihrer einzigen hundertprozentig blutsverwandten Schwester - Caroline war ja ihre Halbschwester -war, milde ausgedrückt, gespannt.

Im besten Fall konnte man ihre Stippvisite bei Klara als Pflichtbesuch bezeichnen. »Ich hoffe, sie ist nicht gerade wieder in ihrer alkoholischen Phase

»Hat sie denn auch andere, fragte Scott. Er beugte sich ins Fahrerfenster, um Krista zum Abschied zu küssen, und humpelte gleich darauf zum Beifahrerfenster hinüber, um auch seiner Tochter einen Kuss zu geben. »Amüsiert euch, ihr zwei Er kehrte zu Krista zurück. »Und ruf mich an

»Mach ich

Krista winkte ihm zu, legte schwungvoll einen Gang ein und bretterte den Hügel hinauf. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Zurück blieb nur eine grauweiße Staubwolke über den Baumkronen.

9

Als das Brummen des Motors nur noch so leise wie das Summen irgendeines Insekts zu hören war, ging Scott quer durchs Haus zur Terrasse hinüber und ließ sich in einen Liegestuhl sinken. Zwar gab es Dinge, die er drinnen hätte erledigen können, aber ihm war noch nicht danach, durch das jetzt leere Haus zu streifen.

Seine beiden Frauen fehlten ihm bereits.

Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, welch herrliches Sommerwetter heute war. Ein heißer, diesiger Tag, dessen Ruhe und Frieden fast hypnotisch wirkten. Nicht einmal irgendein Motorboot oder Flugzeug störte die Stille. Die einzigen wahrnehmbaren Geräusche waren die der Natur ringsum: das Zirpen einer einsamen Zikade, das träge Tschirpen von Singvögeln, das leise Säuseln einer leichten Brise in den Pinien. Nur der See lag kühl und ruhig da und hielt seine Geheimnisse unter der wie Quecksilber schimmernden Oberfläche verborgen.

Wie nicht anders zu erwarten, wanderten Scotts Gedanken erneut zum Seegrund hinunter. Als er jetzt daran zurückdachte, wurde ihm klar, dass sein Hirn bereits damit begonnen hatte, das Erlebnis einzukapseln, wie es in seiner Fachsprache hieß - dass eine Art Verdrängungsprozess eingesetzt hatte. Denn als er versuchte, sich die näheren Umstände des Geschehens vor Augen zu führen, musste er feststellen, dass es ihm nicht gelang. Dagegen konnte er sich mühelos ins Gedächtnis rufen, wie Krista ihre Aerobic-Übungen vollführt hatte oder Kath ihm auf dem Weg zum See entgegengerannt war, um ihn zu begrüßen. Die Erinnerung an seinen Kampf unter Wasser war bereits so durchlässig wie die an irgendeinen Traum.

Als Psychiater war Scott klar, dass er es hier mit einer Art eingebauter Sicherheitsvorrichtung der Psyche zu tun hatte. Jedem Input, den das Hirn als unerträglich einschätzte, verweigerte es schlicht und einfach den Zutritt, leugnete die

Erfahrung - oder milderte sie, wie in diesem Fall, zumindest so weit ab, dass sie als gar nicht wirklich geschehen abgespeichert wurde. Selbstverständlich hatte er das verzweifelte Gefühl zu ersticken nicht vergessen, genauso wenig wie das alles beherrschende, wahnsinnige Entsetzen, das ihn gepackt hatte, als er zu sterben glaubte. Aber die schneidend scharfen Ecken und Kanten waren inzwischen geglättet und die Erfahrungen nicht mehr unmittelbar präsent, sondern in der Erinnerung auf barmherzige Weise eingetrübt - so, als sei das alles schon Jahre her oder nur ein Traum.

Von dieser schlauen Sicherheitsvorrichtung im Hirn sprangen seine Gedanken als Nächstes zu Delia Horners Brief und zu den davon ausgelösten düsteren Erinnerungen - Erinnerungen an Geschehnisse, die Jahrzehnte zurücklagen. Dass das Gedächtnis in diesem Fall funktionierte, war zwar eine weitere erstaunliche Fähigkeit des Geistes, aber eine, die keineswegs dem Selbstschutz diente. Scott hielt diese Fähigkeit sogar für so schädlich und selbstzerstörerisch, dass sie das Hirn im schlimmsten Fall in eine nutzlose, breiige Masse verwandeln konnte. Diese Fähigkeit machte es möglich, sich bestimmte Ereignisse blitzschnell ins Gedächtnis zurückzurufen und all die Schrecken, die das Hirn so mühsam verdrängt hatte, sofort und akkurat mit allen grässlichen Einzelheiten ins Bewusstsein zurückzuholen.

Gestern Abend hatte er beim Lesen von Delia Horners Brief jenen Sommermorgen längst vergangener Tage noch einmal so durchlebt, als sei er unmittelbar gewärtig. Diese wenigen Sekunden, die sich bis in alle Ewigkeit gedehnt hatten, waren mit so scharfen, erschütternden Details vor seinem geistigen Auge aufgeblitzt, dass er einen Moment lang gefürchtet hatte, überzuschnappen und fortan empfindungslos und innerlich leer dahinzuvegetieren.

Er lehnte sich im Liegestuhl zurück und erlaubte seinem Hirn, das alles nochmals zu verarbeiten. Er hätte es auch gar nicht verhindern können, selbst wenn er gewollt hätte.

In all diesen Jahren - sechzehn waren es inzwischen - hatte sich das Schamgefühl als das Schlimmste und Hartnäckigste erwiesen. Es sah so aus, als werde er es niemals loswerden. Und selbst jetzt, während er allein auf der Terrasse saß, war er der Scham wie einer Krankheit ausgesetzt, wie einer nässenden, elenden Beulenpest. Er konnte sie fast riechen. Seine Muskeln waren angespannt, die Handflächen feucht vor Schweiß, während sein Hirn ihn zwang, durch mühsam errichtete Schichten der Verdrängung zu stoßen, zurück zu dem voll gestopften Volkswagen und jener dunklen, gewundenen Straße.

Du bist weggerannt, höhnte eine fast vergessene Stimme. Du hast dich aus dem Staub gemacht!

Diese Feststellung, an der nicht zu rütteln war, fuhr sengend heiß wie ein Stromschlag durch seinen Körper.

An jenem Morgen war es noch dunkel gewesen. Und still... Es war während dieser kurzen, fast mystischen Zeitspanne geschehen, in der die Nacht dem Tag weicht. Scott hatte über dem toten Kind gekniet, während sein Verstand gefährlich nah an einen inneren Abgrund geriet, von dessen Existenz er bislang gar nichts gewusst hatte. Und dann hatte er nach oben geblickt, direkt in Jakes Augen, und hatte gewusst, was sein Freund gerade dachte. Es hatte nichts mit übernatürlichen Dingen wie Telepathie zu tun gehabt, sondern nur daran gelegen, dass sie alle drei im selben Moment dasselbe gedacht hatten.

Wir müssen abhauen!

Sie hatten sich verfahren, waren völlig betrunken und meilenweit von den heimatlichen Gefilden entfernt. Als Scott scharf auf die Bremse getreten war, hatte Lakings Beutel mit Marihuana seinen Inhalt über den ganzen Rücksitz verteilt ... Und das Kind war tot, daran war nichts mehr zu ändern.

Ohne dass auch nur ein Wort gewechselt wurde, war allen eine Sache sofort klar gewesen: Falls sie an Ort und Stelle blieben und sich zu ihrer Tat bekannten, waren sie geliefert.

Also hatten sie sich in den Käfer gequetscht und aus dem

Staub gemacht. Aufgrund ihres Schocks und der Angst waren sie aufs Geratewohl gefahren und ständig von einer Straße auf die nächste abgebogen. Da sie sich auf der Flucht befanden, war es ihnen völlig gleichgültig gewesen, wo sie landen würden. Das Einzige, was zählte, war, möglichst schnell und möglichst weit vom Tatort wegzukommen. Sie wollten nichts anderes, als Abstand zu dem entsetzlichen Erlebnis am frühen Morgen gewinnen - ein Erlebnis, das sich ihnen für immer ins Gedächtnis brennen sollte.

Auf der Terrasse seines Hauses in Gatineau Hills rückte Scott im Liegestuhl vor und verschränkte die Arme vor dem Körper, als bereite er sich auf einen Flugzeugabsturz vor. Seine Augen waren zwar auf den See gerichtet, aber von einem Schleier überzogen. Er nahm nichts wahr. Niemals hatte er an Gott geglaubt - zumindest nicht an einen Gott im herkömmlichen Sinne -, aber jetzt spürte er das Auge der Gerechtigkeit auf sich. Genau wie damals, vor all den Jahren.

Später an jenem Morgen hatte es geregnet. Es war ein plötzlicher, reinigender Schauer gewesen, der die Blutspuren vom Wagen tilgte. Am Stadtrand von Boston hatten sie aufgetankt und waren mit der Füllung bis nach Springfield in Vermont gekommen. Dort hatten sie an einer Waschanlage mit Selbstbedienung gehalten und mit dem Staubsauger Jakes Marihuana vom Rücksitz entfernt. Danach hatten sie ihr gesamtes Geld zusammengelegt und eine neue Windschutzscheibe für den VW besorgt. Wie es der Zufall wollte, hatte die Autoglaserei in Springfield sogar eine passende Scheibe vorrätig gehabt und Zeit, sie zu montieren, da keine anderen Kunden warteten. Schon eine Stunde später waren sie wieder auf der Straße gewesen. Sie hatten sich achtsam an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten und nicht ein Wort miteinander gewechselt.

Vier Stunden später waren sie an der Grenze nach Ontario. Nach den üblichen Fragen hatte der Zollbeamte sie einfach durchgewinkt. Keine Spur von Verdacht. Erst danach hatte sich die von Angst gespeiste Energie, die sie die ganze Zeit

über am Laufen gehalten hatte, nach und nach verflüchtigt. Da war ihnen schließlich gedämmert, wie unsäglich widerlich sie sich verhalten hatten. Zwei oder drei Kilometer nördlich der Grenze hatte Scott den Wagen auf den Randstreifen gelenkt, sein Gesicht in den Händen vergraben und losgeheult Brian Horner - seit dem Unglück hatte er kein Wort mehr gesprochen - hatte ebenfalls geweint, so heftig, dass Wellen von Schluchzern den ganzen Körper erschütterten. Jake hatte hinten im Wagen nervös herumgezappelt und durch die neue Windschutzscheibe gestarrt. Es war ihm anzumerken, was er dachte: Wären wir drei uns doch niemals begegnet...

Sie waren eine Weile dort geblieben, jeder in seine eigenen trüben Gedanken verstrickt. Auf der Heimfahrt hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich auf irgendeine Geschichte zu einigen, um ihre vorzeitige Rückkehr - eine Woche früher als geplant — zu erklären.

Scott bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, was Jake als Letztes zu ihm gesagt hatte, während sie bei Nieselregen vor dem Haus von Jakes Eltern im südlichen Teil von Ottawa gehalten hatten: Falls du die Nerven verlierst, Bowman, falls du ausrastest und dich irgendwie über diese Sache auslässt, dann bring ich dich um, Mann. Dann bist du tot, das ist mein voller Ernst.

Die Nerven hatte Scott nicht verloren, wohl aber seinen Verstand, jedenfalls beinahe. In den ersten zwei Wochen hatte er überhaupt keinen Schlaf gefunden. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, tauchte die Kleine auf, krachte auf die Motorhaube, schlug gegen die Windschutzscheibe, blieb in der schnell wachsenden Pfütze ihres eigenen Blutes liegen. Scott wurde depressiv, verlor jeden Antrieb und Appetit. Schließlich verschlimmerte sich sein Zustand so, dass er ins Krankenhaus musste.

Anfangs hatten die Arzte angenommen, es könne das Pfeiffersche Drüsenfieber sein oder auch ein Magengeschwür. Später hatten sie auf einen Hirntumor und schließlich auf Krebs getippt. Als sie nichts finden konnten, um irgendeine dieser Diagnosen zu erhärten, hatten sie die psychiatrische Abteilung eingeschaltet. Scotts Psychotherapeut war ein großer Mann mit sanfter Stimme; später hatte Scott bei ihm studiert und ihn unter all seinen Professoren am höchsten geschätzt. Diesem Mann hätte er um ein Haar alles erzählt. Beinahe hätte er ihm die ganze Geschichte gebeichtet.

Aber letztendlich hatte er dann doch alles für sich behalten, wo es weiter an ihm nagte und ihn bis in die Träume hinein verfolgte.

In diesem ersten endlos langen Jahr war es ihm so vorgekommen, als breche sein Leben Stück für Stück auseinander. Wegen seines Klinikaufenthalts konnte er nicht rechtzeitig zu Semesterbeginn an der Medizinischen Hochschule erscheinen, was ihn fast den Studienplatz gekostet hätte. Während er sich von seinen Eltern und Freunden mehr und mehr zurückzog - Jake war in Harvard, Brian in Winnipeg vergrub er sich in die Lehrbücher. Dennoch war sein Notendurchschnitt an der untersten Grenze, so dass ihn seine Professoren mehr als einmal zu sich zitierten.

Doch mit der Zeit hatte das enorme Arbeitspensum, das er zu bewältigen hatte, wie Balsam gewirkt. Diese ersten vier Studienjahre vergingen wie im Fluge, vielleicht half auch das. Jedenfalls verwandelte sich die stets präsente Erinnerung an jenen tragischen Sommermorgen nach und nach in etwas, das nur noch undeutlich und unterbewusst vorhanden war, und das war eine Gnade für ihn.

Aber diese Erfahrung hatte ihn verändert. Verschwunden war der großspurige, selbstsichere junge Mann, der unbedingt Geburtshelfer hatte werden wollen. Verschwunden der Junge mit den wachen Augen, der geglaubt hatte, das Leben habe nur Gutes mit ihm vor. Wie sollte er seinen Facharzt in Geburtshilfe machen und Babys auf die Welt verhelfen, wenn er noch vor Studienbeginn einem Menschen auf brutale Weise, aus purer Unachtsamkeit das Leben geraubt hatte? Wie sollte die Zukunft irgendetwas anderes für ihn bereithalten als Schuld- und Schamgefühle?

Die Scham ... diese unaussprechliche Scham, die alles überdauerte, das Entsetzen und selbst das schlechte Gewissen. Sie verließ ihn nie, selbst als die Albträume nach und nach ausblieben.

Doch dann war er Krista begegnet, und selbst das Schamgefühl hatte sich mit der Zeit vermindert. Am Anfang ihrer Ehe hatte er eine Weile wieder Albträume gehabt, aber inzwischen hatte sich Scott noch mehr verändert, durch Kristas Liebe. Und durch ihr Kind. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich auch schon für sein Fachgebiet entschieden. Und als er sich zum Facharzt für Psychiatrie ausbilden ließ, was ihm dabei half, sein Inneres tiefer zu erforschen, waren die alten Wunden allmählich verheilt.

Irgendwann hatte er alles tief in seinem Inneren vergraben. Nicht vergessen, aber begraben.

Ehe sich Scott an diesem Abend auf einen schweren Kampf mit der Schlaflosigkeit einließ (den er schließlich gewann), rief er noch Vince Bateman unter dessen Privatnummer an. Er erzählte seinem Abteilungsleiter von dem schlimmen Erlebnis, bei dem er fast ertrunken wäre, und sagte, er werde sich den Montag freinehmen. Allerdings versprach er, an der jährlichen Budgetkonferenz der Abteilung am Montagabend teilzunehmen, wofür Bateman dankbar war, denn diesmal war Scott mit der Leitung dran.

Krista rief um zwanzig Uhr dreißig an und teilte ihm mit, es gehe ihnen gut. Klara sei so angetrunken und feindselig wie üblich und hacke wie immer auf ihrem grummelnden Schlappschwanz von Ehemann herum. Scott verbrachte eine ganze Weile damit, Krista zu versichern, er fühle sich schon viel besser und sei nur noch ein bisschen steif. Wohlweislich vermied er es, seine Hüfte zu erwähnen, die schrecklich pochte und Schuld daran war, dass er wie ein Krüppel humpelte. Danach kam Kath an den Apparat. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sie wieder viel normaler klang: fröhlich,

unerschrocken und aufgeregt wegen der Reise. »Ich hab dich Heb«, sagte sie und schickte ihm ein feuchtes Küsschen durch die Leitung. Als sie auflegte, tat Scott das Herz ein bisschen weh. Es wäre ihm am liebsten gewesen, hätte er die ganze Woche blaumachen und sich zu ihnen nach Boston verdrücken können.

Vielleicht lag es an der Schmerztablette, die er vor dem Zu-Bett-Gehen eingenommen hatte, jedenfalls gewann er irgendwann im Laufe der Nacht den Kampf gegen die Schlaflosigkeit und fiel in traumlosen Schlummer. Recht spät am nächsten Morgen genehmigte er sich nach einer entspannenden Dusche ein riesiges cholesterinreiches Frühstück und zog sich danach an. Ehe er das Haus verließ, holte er fast gedankenlos den Film aus der Minolta und steckte ihn ein. Als er in der Garage war und merkte, dass dort nur Kristas Chevette auf ihn wartete, bekam er einen leichten Schreck. Er hatte völlig vergessen, dass sie seinen Volvo genommen hatte.

Auf dem Weg in die Stadt drehte er das Radio fast auf volle Lautstärke, damit es das Geratter des Chevette übertönte. Es war ein grauer, trüber Tag. Und es sah ganz danach aus, als könne es bis in alle Ewigkeit so bleiben.

10

Wie der Verkäufer im Foto-Shop ihm mitteilte, würden die Abzüge in einer Stunde fertig sein, er könne, falls er wolle, darauf warten. »Vielleicht möchten Sie in der Zwischenzeit auf einen Kaffee und Donuts ins Dunkin gehen? Ist gleich nebenan

Das war ihm recht. Der Kaffee ging ihm herunter wie süße, warme Medizin.

Während er auf die Fotos wartete, war er seltsam aufgeregt. Unmittelbar nach dem Erlebnis, bei dem er fast ertrunken

wäre, hatte er den alten Künstler und die eigenartige Zeichnung, die etwas tief in seinem Gedächtnis Vergrabenes geweckt hatte, beinahe vergessen. Seine durch und durch rationale Einstellung dazu hatte sich in der Zwischenzeit nicht geändert: Sicher würde sich alles als völlig belanglos erweisen.

Und dennoch ...

Er trank den Kaffee aus und verließ das Dunkin'Donuts. Als er zum Foto-Shop zurückkehrte, liefen seine Abzüge gerade über das schmale Transportband; er konnte sie durch die Seitenwände aus Plexiglas erkennen.

Bei den ersten Fotos musste er lächeln: Es waren Schnappschüsse vom ersten Weihnachtsfest, das sie im neuen Haus gefeiert hatten.

Ganz oben lag eine Aufnahme von Kath, die vor dem mit Spielzeug und Lametta geschmückten Baum hockte und mit den schönsten ihrer zahlreichen Weihnachtsgeschenke angab. Dann folgte ein Bild von Krista und ihm, das Kath geknipst hatte, wobei sie einen Finger dilettantisch vor die Linse gehalten hatte. Krista, die vor Freude feuchte Augen hatte, umarmte ihn. Ihre neuen (und keineswegs billigen) Diamantohrringe funkelten prächtig im Schein des Blitzlichts. Und hier war noch eines von Kath, die eine neue blaue Skijacke über dem baumwollenen Schlafanzug mit Alf-Motiven trug. Auch die folgenden Bilder lösten allesamt schöne Erinnerungen aus.

Und dann kam langsam die algengrüne, unterbelichtete Aufnahme das Transportband hinunter, die er unter dem Anlegesteg geschossen hatte.

Scott schnappte mühsam Luft. Es war zwar ein lausiges Foto, würde aber seinen Zweck erfüllen. Er würde es mit der Zeichnung vergleichen können.

Auf den letzten beiden Abzügen war überhaupt nichts zu sehen.

Während sich seine Neugier mit jeder Minute verdreifachte, bezahlte er die Fotos und brach zur Klinik auf.

Er ging direkt ins Zimmer des Alten, fand dort aber keine Spur von ihm. Das Bett war ordentlich gemacht, der Rollstuhl fehlte. Als Nächstes sah Scott im Aufenthaltsraum nach. Nachdem er festgestellt hatte, dass dort niemand saß, trat er ins Schwesternzimmer nebenan.

»Entschuldigung«, sagte er zu der Dienst habenden Schwester, »wo ist der Patient aus 209 C

»Der Zeichner?« Die Schwester kicherte. »Der ist mit seinen Kumpels draußen, macht mit dem Bus ´nen Ausflug in den Sonnenschein. Ist vorgeschrieben, dass die Tattergreise einmal in der Woche an die Luft kommen, ob sie's mitkriegen oder nicht Sie kreuzte die fälligen Arme über der ausladenden Brust. »Warum? Haben Sie heute wieder Studenten da

»Nein, ist auch nicht so wichtig, danke. Ich sehe dann später nach ihm

Enttäuscht ging er zu einem Telefon, um eine Nachricht für Steve Franklin, den orthopädischen Chirurgen, durchzugeben. Doch während er den Hörer abnahm, kam ihm plötzlich eine Idee. Er legte wieder auf und kehrte hastig ins Zimmer des Alten zurück.

Nach kurzer Suche fand er die Künstlermappe, die jemand so, dass sie nicht zu sehen war, hinten im Schrank des Alten verstaut hatte. Außer ihm selbst befanden sich nur ein Patient und seine beiden Besucherinnen im Zimmer, die Scott kaum beachteten, während er die Mappe sorgfaltig durchging.

Als Scott das, wonach er suchte, gefunden hatte, wich alles Blut aus seinem Gesicht. Die einzige Zeichnung, die er am Freitag gesehen hatte, bildete jetzt nur noch den Auftakt einer unglaublichen Serie von Cartoons, die zwei Blätter ganz und gar füllten. Während er sie musterte, zitterten ihm die Finger.

Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, dass die Zeichnung seinen Landesteg darstellte, das erkannte er deutlich, ohne sie erst mit dem Foto vergleichen zu müssen. Die erste Skizze sah genau wie vorher aus: Sie zeigte die gerippten Fässer, die Ornamente mit der weißen Rose und die Latten aus Zedernholz aus verzerrter Perspektive von unten. Nur

spiegelte sich auf der geriffelten Wasseroberfläche jetzt die Silhouette eines Tauchers, der in vorgebeugter Haltung auf dem Landesteg stand. Auf der zweiten Abbildung, die das mittlere Drittel des Blattes einnahm, sprang der Taucher mit den Füßen voran ins Wasser. Auf der dritten Zeichnung war die Gestalt von kopfhohen Algen umzingelt. Während ein großer Strom von Luftblasen aus seinem Mund aufstieg, glotzte der Taucher entsetzt auf sein Bein, das im Felsgestein festklemmte.

Als er sich das nächste Blatt vornahm, standen Scott Schweißperlen auf der Stirn. Der Taucher sah ihm keineswegs ähnlich, natürlich nicht, es war ja nur ein Cartoon ... Aber Situation und Umgebung waren eindeutig wiederzuerkennen.

Die nächste Zeichnung zeigte, wie sich der Taucher hoffnungslos in den Algen verfangen hatte. Die leeren Augen, die denen einer Puppe ähnelten, waren so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Der Mund, in den jetzt Wasser eindrang, war zu einem Schrei des Entsetzens aufgerissen. Über der Gestalt zeichneten sich Rumpf und Kiel eines Bootes ab. Im Vordergrund hingen ein Tau und ein funkelnder Anker. Im Hintergrund waren zwei blutrote, dämonische Augen zu sehen, die boshaft aus den trüben Tiefen zum Taucher hinaufstarrten. Aus den Felsen ragte eine von Adern durchzogene, reptilienartige Klaue, die nach den Knöcheln des Tauchers griff.

Die letzte Zeichnung sah Scott wie durch einen Nebelschleier, der sich dichter und dichter um ihn legte. Es war die Nahaufnahme einer von Algen umschlungenen Hand, die sich vorstreckte, um das rettende Tau zu erreichen ...

Und es verfehlte.

»Mister, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ist Ihnen nicht gut

Scott spürte Gallenflüssigkeit in der Kehle. Irgendjemand drückte ihm eine Hand auf den nass geschwitzten Rücken. »He, Sie da, Sie setzen sich wohl besser hin. Sie sehen ganz blass um die Nase aus

Scott spürte, wie ihn Hände zum Bett des Zeichners geleiteten. »Betty«, murmelte eine andere Stimme, »hol eine Schwester Scott gehorchte ohne Widerstand. Immer noch hingen seine Augen an der letzten Abbildung.

Bateman saß vorgebeugt in seinem Chefsessel, die Zeichnungen hatte er vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet Seine lebhaften, haselnussbraunen Augen huschten interessiert von Bild zu Bild. Scott, der sich inzwischen besser fühlte, saß ihm gegenüber an dem imposanten Teakholz-Schreibtisch. Im Zimmer des Alten wäre er fast ohnmächtig geworden.

Umgeben von Ordnung und gesammeltem Wissen, war Bateman in seinem Büro ganz und gar in seinem Element. Auf seinem Schreibtisch, der auf jeder Seite von wahren Mauern aus Lehrbüchern und Publikationen flankiert wurde, befanden sich lediglich eine Schutzunterlage, eine ausziehbare Leselampe und ein leerer Ablagekorb für Postein- und -ausgange. Der Rest der riesigen, glänzenden Schreibtischplatte war leer.

Wie ein stummer Diener stand daneben eine kleine, schwarze Tafel, die makellos sauber gewischt war. Vom Platz an diesem Schreibtisch aus präsidierte Bateman wie ein Landesfürst über die Abteilung. Man hätte ihm glatt zugetraut, dass er eine funkelnagelneue Guillotine in petto habe.

So sehr Scott den Snobismus des Chefs der Psychiatrie im Umgang mit den Kollegen auch verabscheute, musste er doch einräumen, dass Bateman in seinem Beruf Hervorragendes leistete. Als Wunderkind, das mit cum laude in Harvard promoviert hatte, war er seinen Kollegen, was die klinische Psychiatrie betraf, tatsächlich haushoch überlegen. In dieser Hinsicht war er wirklich phänomenal. Außerdem hatte Bateman ein besonderes Interesse am Paranormalen, und das schloss ungewöhnliche Dinge, Ereignisse und Menschen ein.

Es war eine Nebenbeschäftigung, die er so gerissen in seine Forschung hineingeschmuggelt hatte, dass der Etat sie abdeckte. Seine Vorliebe für die Parapsychologie war einer

der Hauptgründe dafür, dass seine Kollegen ihn für ein wenig verschroben hielten. Auf einem Bücherregal über Batemans Kopf führten zwei einschlägige Werke die Reihe von zehn oder zwölf Abhandlungen an - allesamt in Leder gebunden - die Bateman auf diesem Gebiet verfasst hatte.

Scott hatte seinem Chef bereits von dem Vorfall im See berichtet und auch erwähnt, wie er darauf gekommen war eine Verbindung zwischen der ersten Zeichnung des Alten und der eigenen Person herzustellen.

»Da ist ja wirklich eine tolle Entdeckung«, stellte Bateman mit echter, fast jungenhafter Begeisterung fest. »In Anbetracht dessen, was Sie zweifelsfrei bestätigen können, haben wir hier einen Fall von echter Präkognition, der kaum zu widerlegen sein dürfte Er strich sich über den bleistiftdünnen Schnauzbart.

Scott schob ihm weitere Blätter zu, die er auf der Schreibtischunterlage ausbreitete. Ehe er sie betrachtete, richtete er Blatt für Blatt mit den perfekt manikürten Fingern so aus, dass die Zeichnungen eine gerade Reihe bildeten.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Scott und deutete auf den ersten Cartoon einer neuen Serie, »ist das hier das Flugzeug der Air Canada, das vor wenigen Wochen in Uplands verunglückt ist. Falls Sie sich erinnern: Es ist noch während des Starts am Ende der Rollbahn explodiert

»Ja, fürchterliche Katastrophe. Mehr als dreihundert Tote. Die Zeichnungen sind verblüffend

»Und das hier«, Scott deutete auf ein anderes Blatt, »ist das Restaurant am Sussex Drive. Erinnern Sie sich daran? An den Bombenanschlag der Terroristen im letzten Monat?«

»Ja, schrecklich.« Bateman nickte. »Der alte Junge hat also die ganze Zeit über versucht, uns etwas mitzuteilen

»Jedenfalls sieht es ganz danach aus Scott war die Ehrfurcht deutlich anzumerken. »Dabei hatten wir doch angenommen, dass er von all dem im Radio gehört und erst danach die Zeichnungen fabriziert hat. Fast unglaublich, dass er diese Katastrophen in Wirklichkeit vorhergesehen hat

Mein Gott, ich wünschte, das hätte ich schon vor meinem Tauchgang gewusst

Scott schwieg nachdenklich. Genau wie Krista war er ein realistischer Mensch. Was Dinge wie das Hellsehen, außersinnliche Wahrnehmungen, Telekinese und ähnlichen faulen Zauber betraf, war er stets ein Skeptiker gewesen. Aber das hier ... war allzu fantastisch, um es als belanglos abzutun. Erneut rief er sich die Begegnung mit dem Zeichner am Freitagnachmittag ins Gedächtnis. Als die Krankenschwester vorbeigekommen war, um Scott mitzuteilen, Krista sei am Apparat, hatte er offensichtlich ein schnelleres Tempo vorgelegt Der alte Kerl hatte tatsächlich versucht, ihn mit seinen Zeichnungen vor dem Tauchgang im See zu warnen.

Scott deutete auf den zweitletzten Cartoon der Serie, die sich auf sein Erlebnis auf dem Seegrund bezog. Darauf waren die bösartigen, roten Augen zu sehen, die von unten heraufspähten, und die Reptilienklaue, die nach dem Knöchel griff. »Und was ist damit, fragte er. »Warum, glauben Sie, will er uns weismachen, dass im See irgendein Ungeheuer haust

»Vielleicht hängt es mit dem zusammen, was Sie vorhin über diesen Mann gesagt haben, wenn es auch nur eine Hypothese ist. Vermutlich war er irgendwann einmal ein Profi-Zeichner. Ich könnte wetten, dass er für Horror-Comics oder irgendwelche Magazine gearbeitet hat Bateman strich sich über den Schnauzbart. »Falls das stimmt, dann ist die Idee, dass irgendein gewalttätiges Monster sein Unwesen in Ihrem See treibt, nur eine Ausschmückung. Sozusagen die Glasur, ein Überbleibsel aus seinem früheren Berufsleben als Comic-Zeichner. Die simple Botschaft, die er zu vermitteln versucht - he, Doktor, Sie werden da unten ertrinken —, hat er in die Theatralik eines Groschenhefts gekleidet, denn dafür hat er von jeher ein Gespür. Wenn Sie nach einer einfachen Botschaft suchen, müssen Sie nur hinter die Tünche des Horror-Comics blicken

Scott nickte. Wenn man das ungestüme Talent des Alten berücksichtigte, schien diese Deutung plausibel. »Sind Sie jemals auf Ähnliches gestoßen

»Es gibt jede Menge Literatur darüber«, erwiderte der ältere Psychiater und deutete mit großspuriger Geste auf die Bücherregale in seinem Rücken. »Zahllose Abhandlungen, über alles und jedes, deren Verfasser von der Existenz solcher Phänomene ausgehen. Das reicht von der Präkognition bis zu so verrückten und wunderbaren Dingen wie der Pyrokinese oder der Hirnkontrolle mittels Telepathie. Aber nein, persönlich habe ich so etwas wie das hier noch nie erlebt, nicht aus erster Hand.

Angesichts der psychischen Fähigkeiten, die Ihr Mann offensichtlich besitzt«, fuhr Bateman in dozierendem Ton fort, »macht die Tatsache, dass er im klinischen Sinne senil ist, das alles noch viel interessanter. In den Siebzigerjahren haben die Franzosen ein Experiment mit Ratten durchgeführt, denen sie Zahlen zuordneten. Per Computer wurden dann diejenigen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die geopfert werden sollten. Eine Ratte pro Tag. Die Wissenschaftler haben die überlebenden Ratten beobachtet und nach Anzeichen auffälligen Verhaltens gesucht. Sie konnten statistisch signifikant beweisen - außerdem war das Experiment jederzeit reproduzierbar dass kleinere Gruppen von Ratten, jeweils fünf oder sechs, tatsächlich auffällige Verhaltensmuster entwickelten. Und mehr als die Hälfte der Ratten, die mit dem Sterben als Nächste dran waren, gehörte zu der jeweiligen Kleingruppe.

Außerdem hat sich in den Siebzigern eine russische Forschungsgruppe mit Versuchen an Kaninchen befasst. Zu einem festgesetzten Zeitpunkt wurden kleine Kaninchen in einiger Entfernung zu ihren Eltern getötet. Auch bei diesem Experiment konnten die Forscher einen bestimmten Grad von psychischer Perzeption nachweisen. Denn unmittelbar vor oder zu dem Zeitpunkt der Tötung wurden viele Elterntiere auffällig unruhig.

Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Offenbar hat der Mensch größere Probleme als andere Lebewesen damit, an den Teil seines Hirns heranzukommen, der für die besondere

Wahrnehmungsfähigkeit zuständig ist Das liegt am Neocortex, dem phylogenetisch jüngsten Teil der Gehirnrinde« - er griff sich mit dem grazilen Finger an die Stirn - »der ein Skeptiker ist. Er weigert sich, bestimmte Botschaften aufzunehmen, die er von niedrigeren, tierischen Schichten empfangt, die in evolutionsbiologischer Hinsicht älter sind. Aber dieser Zeichner mit seiner geschrumpften, lädierten Großhirnrinde ... Möglich, dass er irgendwie auf ähnliche Weise reagiert wie die französischen Ratten und die russischen Kaninchen Bateman grinste weise.

Scott, dessen Blick immer noch auf den Zeichnungen ruhte, nickte zustimmend. Allerdings hatte er eigentlich gar kein Interesse an irgendwelchen Erklärungen. Schließlich hatte er Beweismaterial vorliegen, und das reichte ihm aus. »Und was sollen wir jetzt mit ihm machen

»Befassen Sie sich mit ihm, beobachten Sie ihn«, erwiderte Bateman, als habe er einen Trottel vor sich. »Isolieren Sie ihn. Morgen früh werde ich als Erstes dafür sorgen, dass er ein privates Einzelzimmer erhält. Außerdem werde ich eine Krankenschwester anweisen, ihn ständig zu überwachen Als Bateman grinste, flackerte etwas in seinen Augen auf, das Scott nicht sympathisch war. »Vielleicht haben wir jetzt einen kleinen Wahrsager vor Ort, der uns ganz persönlich zur Verfügung steht Batemans schmale Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Das wär doch was, oder? Wenn er durchhält, wird er im Herbst bei der Jahrestagung für Parapsychologie in New Orleans einen ausgezeichneten Fall für die Präsentation abgeben. Vielen Dank dafür, Scott, dass Sie mich einbezogen haben. Dafür schulde ich Ihnen etwas

Er stand auf.

»Keine Ursache«, entgegnete Scott. »Ich war nur schwer beeindruckt ... von diesen verdammten Zeichnungen Er zögerte und warf erneut einen Blick auf die bedrohlichen, roten Augen des Seeungeheuers. Dies war das einzige Blatt, auf dem Scott irgendeine Kolorierung entdeckt hatte. Er reichte es Bateman. »Welchen Färbstoff hat er Ihrer Meinung nach für die Augen verwendet

Bateman hielt das Blatt in den Lichtkegel der Schreibtischlampe und kratzte mit dem Daumennagel an der dünnen roten Farbschicht. Dann zuckte er die Achseln und gab Scott das Blatt zurück. »Sieht wie Blut aus

11

»Können Sie es herausbekommen

Der Laborant kratzte sich am bärtigen Kinn. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen, Dr. Bowman. Die Probe ist schrecklich klein

Nachdem Scott Batemans Büro verlassen hatte, war er direkt ins Labor der Hämatologie gegangen, das sich im Kellergeschoss der Klinik befand. Batemans Hypothese, es könne sich bei dem Farbstoff um Blut handeln, hatte bei Scott eine Gänsehaut ausgelöst Er wollte diese Sache geklärt wissen. Schließlich war es ja durchaus möglich, dass der Alte zu krankhaften Selbstverstümmelungen neigte, auch wenn die körperlichen Anzeichen dafür fehlten.

»Können Sie das nicht in irgendeiner Flüssigkeit oder so was auflösen? Die Sache ist wichtig

»Kann's versuchen Der Labortechniker kratzte den Farbstoff ab und trug ihn auf einer flachen, kleinen Platte auf. »Aber das wird ein bisschen dauern. Wo kann ich Sie erreichen

»Am besten, Sie piepsen mich über Funk an. Heute Nachmittag bin ich die meiste Zeit in der Klinik unterwegs

Anschließend ging Scott in sein Büro, teilte seiner Sekretärin im Vorzimmer mit, er sei jetzt für niemanden zu sprechen, und sperrte die Tür hinter sich ab. Während er die Beine auf einen Stuhl legte, ging er die Zeichnungen gründlich durch.

Als er die Skizzen im Zimmer des Alten zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm so vorgekommen, als müsse er die ganze Katastrophe noch einmal durchleben. Bei geschlossenen Augen hatte er tatsächlich spüren können, wie die Algen sich um seine Haut wanden und das Wasser ihm die Kehle zuschnürte. Mehrere Sekunden hatte er unter Schock gestanden, bis sich in seinem Kopf schließlich die einzige Schlussfolgerung durchsetzte, die wenigstens ansatzweise plausibel war. Zum selben Schluss war er auch am Morgen des Zwischenfalls unter dem Landesteg gekommen. Dies alles konnte nur an irgendeinem absonderlichen und höchst komplexen Zusammentreffen verschiedenster Umstände liegen. Es war bloßer Zufall.

Selbstverständlich hatte sein Verstand nach dieser Krücke gegriffen. Diese Erklärung erschien ihm immer noch recht verlockend, allein schon deswegen, weil sie so vernünftig klang.

Aber welcher enorme und völlig unwahrscheinliche Zufall sollte das gewesen sein?! Abgesehen von dem Seeungeheuer, lag der einzige Unterschied zwischen Zeichnungen und Wirklichkeit darin, dass die Hand auf dem Cartoon das rettende Tau nicht erreicht hatte.

Hatte sich der Alte in diesem Punkt geirrt? Inzwischen glaubte Scott seinen Prophezeiungen, obwohl ihm nichts lieber gewesen wäre, als die ganze Angelegenheit als völlig verrückt abzutun. Oder hatte er selbst es irgendwie geschafft, dem ihm vorherbestimmten Tod ein Schnippchen zu schlagen?

Er schüttelte den Kopf. Er watete hier durch einen ganzen Sumpf von Fragen, die jeder Vernunft spotteten.

Gleich darauf ließ er die Zeichnungen los, so dass sie ungehindert auf die Schreibtischplatte segelten. Wie so oft, wenn er im Büro eine ruhige Minute fand, wandte er sich dem gerahmten Familienfoto auf dem Regal hinter sich zu. Aber das Foto stand nicht am gewohnten Platz.

Scott sprang so hastig auf, dass er die verletzte Hüfte strapazierte. Nachdem er einen Augenblick lautlos vor sich hin geflucht hatte, durchsuchte er das ganze Büro nach dem Bild.

Schließlich meldete er sich über die Gegensprechanlage bei seiner Sekretärin.

»Ja, Dr. Bowman, war Claires Stimme zu hören.

»Aus meinem Büro ist ein Foto verschwunden, Claire, das Foto von meiner Familie. Vermissen Sie auch irgendetwas

»Nicht dass ich wüsste, Doktor, aber ich werd mal genauer nachsehen

»Ja bitte, wenn's nicht zu große Mühe macht. Noch etwas, Claire: Erkundigen Sie sich, wer hier sauber gemacht hat Kann ja sein, dass das Foto beim Putzen heruntergefallen und der Rahmen zerbrochen ist Und dann haben die aus Angst nichts gesagt. Aber an diesem Foto hab ich besonders gehangen, und ich kann es nicht wieder abziehen lassen, weil ich kein Negativ besitze

»Wird erledigt Claire schaltete die Sprechanlage aus.

Etwas durcheinander nahm Scott wieder Platz und fuhr sich mit den Händen unbewusst an die Hüfte. In letzter Zeit hatte es in der Klinik einige Probleme mit kleineren Diebstählen gegeben: Aus unbeaufsichtigten Handtaschen war Geld verschwunden, aus offenen Garderoben Kleidung entwendet worden. Das Klauen hatte so lange angehalten, bis man schließlich zwei Leute vom Putzpersonal dingfest gemacht hatte. Einige der vermissten Dinge waren in ihren Spinden wieder aufgetaucht. Allerdings begriff Scott nicht ganz, was irgendjemand mit einem Foto anfangen sollte - bis ihm wieder einfiel, dass der Messingrahmen eine Antiquität und kostbar war. Aber warum fehlte dann nichts anderes?

Mit einem letzten skeptischen Blick auf die Zeichnungen verstaute er sie in einer der oberen Schreibtischschubladen. Danach rief er bei Steve Franklin an.

12

Als Scott am späten Nachmittag die letzten der längst überfalligen therapeutischen Abschlussberichte diktierte - es hatte

sich jede Menge angesammelt meldete sich seine Vorzimmerdame über die Gegensprechanlage. »Ein Anruf für Sie, Doktor, die Hämatologie.« Ehe Scott den Anruf entgegennahm, ließ er sich einen Moment Zeit, weil er seine Beine in eine bequemere Position bringen wollte. Vorhin hatte Steve Franklin seine Hüfte geröntgt und untersucht und ihm mitgeteilt, die Gelenkkapsel sei im Kern geschädigt. Nichts Ernstes, aber, wie Scott schon vermutet hatte, eine Sache, die sich im Laufe der kommenden Jahre immer wieder bemerkbar machen würde - höchstwahrscheinlich sogar sein Leben lang. Steve hatte ihm einige starke Schmerztabletten und das Rezept für ein entzündungshemmendes Mittel mitgegeben, das Scott in der Klinikapotheke eingelöst hatte. Anschließend war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte sich darangemacht, einige der trockenen, langweiligen Dinge aufzuarbeiten, für die er unter der Woche normalerweise kaum Zeit fand. Meistens musste er einen Teil seiner Freizeit darauf verwenden.

Während er den Hörer abnahm und sich meldete, fischte er die Zeichnungen aus der Schublade und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus. An den Stellen, wo der Laborant den Farbstoff weggekratzt hatte, waren die bösartigen Augen des Ungeheuers auf dem Seegrund weiß und leer.

»Hallo, Dr. Bowman, Mike von der Hämatologie. Es ist tatsächlich Blut »Menschliches? «

»Ja, menschliches, Blutgruppe A negativ.« »Danke, ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen Während er auflegte, machte sein Herz einen Satz und klopfte unruhig. Der Alte hatte die Blutgruppe Null negativ, das hatte er seinem Krankenblatt entnommen, ehe er Steve Franklin konsultiert hatte. Wenn es nicht sein eigenes Blut ist, wessen dann ? Als Scott unwillkürlich die immer noch verbundene Kuppe seines rechten Zeigefingers berührte, wurde es ihm schlagartig klar.

Er griff in die Hüfttasche, kramte die Brieftasche hervor, ging die Plastikfächer durch, zog die Karten heraus und ließ sie eine nach der anderen auf die Schreibtischplatte fallen - die ärztliche Zulassung, den Mitgliedsausweis der kanadischen Ärztevereinigung, Visa, American Express. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: eine hellblaue Karte mit leichten Eselsohren. Die hatte er vom Roten Kreuz bekommen, als er einmal (und nie wieder) Blut gespendet hatte. Darauf waren Name, Adresse und Blutgruppe vermerkt: A negativ.

Es war verrückt - beinahe zu verrückt, um ernsthaft darüber nachzudenken aber nach kurzer Zeit glaubte Scott zu wissen, was geschehen war. Er hatte einiges über das Paranormale gelesen (selbstverständlich mit dem belustigten Interesse des Skeptikers, dennoch waren ihm ein paar Grundregeln bekannt) und zwei, drei der besseren Filme gesehen, die sich mit hellseherischen Gaben und ähnlichen Dingen befassten. In der Regel musste irgendein physischer Kontakt zwischen dem Medium und seiner Versuchsperson hergestellt werden. Häufig geschah das durch etwas so Einfaches wie das Berühren der Hände. Falls etwas daran war, würde Blut sicher dieselbe Wirkung erzielen, oder? Nachdem er sich den Finger an einem Blatt des Alten geschnitten hatte, war es dem Zeichner offenbar gelungen, sich etwas von diesem Blut zu sichern. Es hatte als Verbindung zwischen ihnen gedient. Und der Alte hatte damit die Augen auf der Skizze koloriert. Das Blut erklärte auch, warum er sich an diesem Tag nicht auf einen der Studenten, sondern auf Scott konzentriert hatte.

Während er am Schreibtisch saß und sich bemühte, der Sache auf den Grund zu gehen, merkte Scott mit leichtem Schrecken, dass er von jetzt auf nachher zu jemandem geworden war, der an Präkognition glaubte. Wenn er dieses Phänomen als gegeben nahm, musste er, was den Alten betraf, völlig umdenken. Als ihm das klar geworden war, ertappte er sich dabei, dass er in Gedanken alles, was er bislang als unstrittige Tatsachen betrachtet hatte, einer Prüfung unterzog. Er ging sogar so weit, seine ganze bisherige Vorstellung von Realität in Frage zu stellen. Wenn es so etwas wie Präkognition gab - und inzwischen war er davon fest überzeugt -, welche wunderbaren Dinge (oder Schrecken) mochten dann noch existieren, knapp außerhalb der Reichweite des normalen menschlichen Begriffsvermögens? Wie viele der zahllosen anderen Dinge, die er sein Leben lang mit einem Lachen abgetan hatte, waren womöglich ganz real? Das gab ihm ein seltsames Gefühl, irgendwie so, als sei er aus der Spur geraten, von der Weltkugel gepurzelt und auf einem fremden Planeten gelandet. Einem Planeten, der der Erde zwar in jeder Hinsicht glich, sich aber dennoch in tief greifender, grundlegender Weise davon unterschied.

Scott spürte, wie sich seine Kehle vor Panik verengte. Dass irgendein Tattergreis sein Blut dazu benutzte, in die Zukunft zu sehen, war ja schon schlimm genug. Aber warum war der Alte dann auch noch so pervers gewesen, das Blut für die Zeichnung zu verwenden? Dieser Aspekt war es, der ihm wirklich unter die Haut ging und ihm zu schaffen machte.

Allerdings war da, abgesehen von allem anderen, eine Frage, die ihn auch weiterhin brennend interessierte. War der Zeichner tatsächlich nur ein Tattergreis, der den Verstand verloren hatte? Falls er wirklich so altersdement war, wie er wirkte, wie konnte er dann irgendeinen psychischen Strom anzapfen und daraus seine Visionen beziehen? War es nicht durchaus möglich, dass man, sofern man sich ernsthaft bemühte, zu dem Alten durchdringen konnte, vielleicht mit der Hilfe von Hypnose? Soweit Scott wusste, hatte das bisher noch niemand versucht. Traurig, aber wahr: In der Medizin hängte man denjenigen, bei denen man Altersdemenz vermutete, schnell das entsprechende Etikett um. Und wenn das erst einmal geschehen war, schenkte man den Betroffenen kaum noch Beachtung.

Seltsam erregt, verstaute Scott die Zeichnungen wieder, stand vom Schreibtisch auf und humpelte durchs Zimmer. Er

würde versuchen, zu dem verrückten alten Zeichner durchzudringen, der Dinge sehen konnte, die eigentlich kein Mensch hätte sehen dürfen.

Er würde sich alle Mühe geben. Und falls er Erfolg hatte... dann gab es, bei Gott, einige Fragen, die nach Antworten verlangten.

Festgebunden am Rollstuhl, saß er ganz allein in dem schlecht beleuchteten Krankenzimmer, nahe am Fenster. Wie beim letzten Mal trug er ein Unterhemd und eine hellblaue Schlafanzughose - die typische Krankenhaustracht eines alten Mannes, die ihm jede Individualität zu nehmen schien. Seine Augen waren auf den Heizkörper gerichtet, während er das Klemmbrett auf den angewinkelten Knien balancierte.

Und er zeichnete. Scott konnte den Bleistift schon vom Gang aus hören: kratz, kratz ... kratz, kratz, kratz ...

Scott machte einen Schritt durch die Tür - und blieb wie angewurzelt stehen. Es war keine bewusste Handlung, er hatte seinem Körper nicht befohlen, innezuhalten, er hatte es einfach von sich aus getan. Eingerahmt von der Tür, blieb er stehen und gab dem Instinkt oder Reflex - was es auch gewesen sein mochte - nach, der ihn am Betreten des Zimmers gehindert hatte. All seine Sinne waren angespannt, wie er merkte. Er spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper schoss, so dass sich das Blut in seinem Hals staute und sein Atem sich heftig beschleunigte.

Seltsamerweise machte sich hier Scotts grundlegende physiologische Ausstattung bemerkbar. Was er gerade erlebte, war eine massive Reaktion auf die ganze Situation — etwas, das Laien als Flucht- oder Kampf-Instinkt bezeichnen. Es ist ein Instinkt, mit dem man völlig automatisch auf Gefahr oder Furcht reagiert, und er ist allen höheren Lebensformen eigen. Dieser Instinkt drängte ihn jetzt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder auf der Stelle wegzurennen.

Aber warum? Welche Gefahr sollte ihm hier drohen?

Mit leicht benebeltem Kopf lehnte sich Scott an den Türrahmen. Das nicht verbrauchte Adrenalin erzeugte ein Schwindelgefühl. Erneut blickte er zu dem alten Mann im Rollstuhl hinüber, taxierte ihn, versuchte ihn im Licht der Vernunft einzuschätzen.

Oh, heilige Vernunft, dachte er und spürte einen Anflug von Verrücktheit, du trügerischste aller menschlichen Gaben. Er ist doch nur ein Schwächling von nicht mal einem Zentner. Du könntest ihm genauso mühelos das Genick brechen, wie du seinen Bleistift knickst...

Jetzt bewegte sich der Bleistift schneller über das Blatt, genau wie beim letzten Mal, als Scott in der Nähe gestanden hatte. Es klang wie ein raues, abgehacktes Flüstern. Angespornt von dem Geräusch, tat Scott einen weiteren Schritt vorwärts und stürmte dann fast ins Zimmer. Während er bis zum Rollstuhl vordrang und sich darüber beugte, musterte er das Blatt auf dem Klemmbrett. Aber es war nichts Besonderes darauf zu sehen, nur zwei oder drei makaber wirkende Friedhofsszenen — ziemlich durchgeknallt, aber nichts sagend.

Scotts Körper entspannte sich vor Erleichterung. Seufzend zog er einen Stuhl heran, setzte sich zwischen den alten Mann und den Heizkörper und versuchte, sich in das Blickfeld des Zeichners zu schieben. Ohne auf Scott zu achten, fuhr dieser fort zu skizzieren, während das Radio neben ihm krächzte und dröhnte.

»Hallo«, sagte Scott, um eine beruhigende, gleichmütige Stimme bemüht. Aber sein Mund war heiß und trocken, so dass die Worte nur schwer herauskamen. »Können Sie mich hören

Als sich der Blick des Alten im Zwielicht der Dämmerung fast unmerklich verlagerte, zuckte Scott zusammen. Wieder ertappte er sich dabei, wie er den Mann taxierte, wie einen Gegner fixierte, mit dem eine körperliche Auseinandersetzung unvermeidlich schien.

In physischer Hinsicht konnte der Alte ihm nichts anhaben. Seine hellseherische Fähigkeit war zwar eine unheimliche Gabe, bot aber allenfalls einen schwachen Ausblick auf die

Zukunft, was ein ungewöhnliches, aber nicht unbekanntes Phänomen darstellte. Es war eine nicht kontrollierbare, nicht vorsätzliche Sache.

Warum dann diese blinde Angst? Warum hab ich dennoch das Gefühl, hier in größerer Gefahr zu schweben, als wenn ich die Eiger-Norwand ohne Seil erklimmen würde?

Scott versuchte es erneut: »Ich möchte, dass Sie mit dem Zeichnen aufhören und sich mit mir unterhalten«, sagte er so gelassen wie möglich. »Ich möchte, dass Sie mit mir reden. Ich weiß, dass Sie es können, das weiß ich wirklich. Warum hören Sie nicht mit dem Zeichnen auf und reden mit mir? Ich will Ihnen nichts Böses, Sie können mir vertrauen

Scott fuhr in diesem sanften, vortastenden, eintönigen Singsang fort, während er im Zwielicht das uralte Gesicht nach irgendeinem Zeichen des Begreifens absuchte - nach einem Blinzeln der Augenlider, einem verräterischen Zucken des Mundwinkels oder einer anderen, kaum wahrnehmbaren Veränderung, die zeigte, dass der Alte ihn verstand.

Oder aber verriet, dass der Zeichner ihm ganz bewusst etwas vormachte. Diese Möglichkeit versetzte Scott einen plötzlichen Schock. Seine Gedanken wanderten zum Abend seines Geburtstages zurück, zum Esstisch bei ihm zu Hause. Damals hatte er die Gesichter von Krista und Kath genauso forschend gemustert, allerdings nicht nach Zeichen des Verstehens, sondern der bewussten Täuschung gesucht.

War der Mann womöglich ein Simulant ? Es war eine verlockende, wenn auch nicht sonderlich plausible Erklärung für sein Verhalten, eine Möglichkeit, die er nicht allzu leichtfertig verwerfen durfte.

»Es gibt nichts, vor dem Sie Angst haben müssten«, sagte er leise, obwohl er bei diesem seltsamen kleinen Mann keine Angst spüren konnte, nicht die kleinste Spur von Angst. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wir Arzte und Schwestern hier sind alles Fachleute, die Ihnen helfen möchten. Aber dazu müssen Sie auch selbst mitarbeiten, mit uns reden, uns an Sie heranlassen

An diesem Punkt hörte Scott auf und schob seinen Stuhl zum Heizkörper zurück. Blonde Zwillingsmädchen, die vierzehn Jahre alt sein mochten, waren soeben in der Tür aufgetaucht. Sie kicherten und halfen einem o-beinigen alten Herrn, der sich auf eine Gehhilfe stützte, ins Zimmer. Eine von ihnen nannte ihn Großpapa. Als die andere die Lampe über seinem Bettgestell anknipste, fiel das schwache, gelbliche Licht bis zum Gesicht des Zeichners herüber.

Im jetzt helleren Zimmer sah Scott erneut zu dem Künstler, der immer noch zeichnete und dabei sabberte. Wie hatte er auch nur für einen Augenblick annehmen können, er sei ein Simulant? Wahrscheinlich hatte er Gespenster gesehen, während er allein mit ihm im fast dunklen Zimmer gesessen hatte. Als er ihn jetzt betrachtete, kam er zu dem Schluss, es müsse wohl leichter sein, einen von Kaths Goldfischen zum Reden zu bringen.

Als die Zwillinge ihrem Großvater ins Bett halfen und Scott den Rücken zuwandten, griff er, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach dem unentwegt kratzenden Bleistift. Er hoffte, den Künstler damit zu überrumpeln und vielleicht zum Reden zu bringen. Doch der Alte hielt mit überraschender Kraft am Bleistift fest, seine dürren Finger legten sich wie Stahlklammern um das Holz. Scott wusste zwar selbst nicht, warum, aber anstatt lockerzulassen, zerrte er daraufhin noch heftiger an dem Stift.

Die sonst so ziellos und leer blickenden Augen des Alten fixierten Scott mit jäher Wut. Seine Lippen zogen sich zurück, während tief aus seiner Brust ein dumpfes Grollen drang. Es klang wie das Knurren eines Raubtiers und bahnte sich seinen Weg nach oben, bis es drohend aus der Kehle kam.

Scott zog die Finger so schnell zurück, als habe er glühende Kohle angefasst. Seine Kehle war trocken, vergeblich versuchte er zu schlucken.

Jetzt war an dem Alten auch ein penetranter Geruch auszumachen, ein ätzender Gestank, der weit stärker war als der hier übliche. Scott war es gewohnt, dass es auf der Station für

chronisch Kranke stets schlimm nach Fäkalien und Ammoniak roch. Aber diesen Gestank kannte Scott bislang nur von rolligen Katern, die miteinander kämpften - es war ein wilder moschusartiger, urzeitlicher Geruch.

Leicht hin und her schwankend, rappelte Scott sich hoch. Inzwischen beobachteten die Zwillinge, die ihren Großvater in die Mitte genommen hatten, ihn ebenso verwundert wie schockiert. Auf dem Gang kam eine Krankenschwester vorbei und blieb sprachlos in der Tür stehen.

Wieder starrte der Alte auf den unsichtbaren Punkt zwischen Klemmbrett und Heizkörper. Und zeichnete weiter, als sei Scott gar nicht anwesend und niemals hier gewesen.

»Hallo, hier Doktor Bowman. Bitte verbinden Sie mich mit Doktor Bateman

Scott war ins Schwesternzimmer am Ende des Korridors gegangen, um im Besprechungszimmer der Psychiatrie anzurufen. Die für neunzehn Uhr angesetzte Konferenz sollte in zehn Minuten beginnen. Gleich darauf war Bateman am Apparat. »Vince, hier ist Scott. Hören Sie, es ist mir leider etwas dazwischengekommen. Ich werd's nicht zur Konferenz schaffen

»Wie bitte? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, Scott, schließlich leiten Sie die verdammte Sitzung. Lassen Sie mich jetzt nicht hängen

Scott spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Man würde von Bateman als Chef erwarten, dass er für Scott einsprang. Aber er handelte wie unter einem Zwang und wollte unbedingt weiter versuchen, zu dem Zeichner durchzudringen. Das Gerangel um den Bleistift hatte ihn nachhaltig beeindruckt: Der Mann war unglaublich stark. Noch vor kurzem hatte Scott Gewichte von mehr als neunzig Kilo gestemmt Und dennoch hatte er es nicht geschafft, dieser knotigen Faust den Bleistift zu entwinden.

Und dieses verzerrte Gesicht des Alten, dieses drohende Knurren ... Und die Augen ...

»Tut mir Leid, Vince, aber Sandra Dunphy von der Verwaltung wird ja sowieso die meiste Zeit reden. Ich hatte eigentlich nur vor, das Protokoll der letzten Sitzung durchzusprechen, und wollte den Rest ihr überlassen

Schweigen am anderen Ende der Leitung, danach ein tiefer Seufzer. »Ich hasse es, unvorbereitet zu sein, Bowman, kann so was wirklich nicht ausstehen Bateman legte auf.

Immer noch leicht benommen, kehrte Scott ins Zimmer des Alten zurück. Auf dem Gang begegnete er den Zwillingen, die gerade aufbrachen. Sie musterten ihn argwöhnisch.

Das alte Gespenst war inzwischen in seinem Rollstuhl eingeschlafen. Das Klemmbrett steckte zwischen den mageren Oberschenkeln. Der Bleistift, um den der Alte noch vor wenigen Minuten wie ein aufgebrachtes Kind gerangelt hatte, baumelte locker in der schlaffen Hand. Die Augen des Schlafenden lagen tief in den Höhlen, waren aber nur halb geschlossen. Im Zwielicht glänzte das, was von den Augäpfeln zu sehen war, wie Zinn. Sein Atem ging leise und stoßweise. Der Großvater auf der anderen Seite des Zimmers lag still und friedlich in seinem Bett und schnarchte zufrieden. Die anderen zwei Betten waren nicht belegt.

Als Scott diesmal das Zimmer betreten hatte, war seine instinktive Reaktion nicht stärker gewesen als bei simpler Neugier. Während er das Gesicht des Alten beobachtete, langte er nach dem Bleistift, darauf gefasst, dass sich die magere, skelettartige Hand erneut darum schließen würde. Aber sie rührte sich nicht.

Scott nahm seine Beute an sich und musterte sie mit gewisser Ehrfurcht, obwohl es nur ein ganz normaler Bleistift war: ein sechseckiger HB mit Radiergummi und der blauen Aufschrift Castell. Gleich darauf streckte er die Hände nach dem Klemmbrett aus. Diesmal zuckte der Alte zusammen, aber das war auch schon alles. Scott packte das Brett und trat einen Schritt zurück.

Der Künstler hatte seine jüngsten Werke unter einen Stoß leerer Blätter geklemmt. Nachdem Scott sie herausgezerrt hatte, steckte er dem Alten das Klemmbrett wieder zwischen die Schenkel und den Bleistift in die Hand. Die Zeichnungen nahm er mit, als er das Zimmer verließ. Noch auf dem Gang begann er damit, jeden Cartoon im flackernden Schein der Neonröhren sorgfältig zu inspizieren. Anfangs kam es ihm so vor, als hätten sie keinerlei realen Hintergrund.

Bis er sich die letzten Zeichnungen vornahm. Wie schon einmal, auf dem Seegrund, war es so, als greife eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Er war entsetzt.

Die ganze Serie bestand aus nächtlichen Szenen. Die erste Zeichnung zeigte die Gesamtansicht eines Friedhofs mit vielen Bäumen. Auf der zweiten fiel ein Grabstein auf: Zwei übereinander geschichtete Marmorquader stützten eine pyramidenförmige Stele, die von einem Kruzifix gekrönt wurde. Das Kreuz war beschädigt, ein Seitenarm sowie ein kleiner Teil des Kopfstücks fehlten. Die Inschrift, bis auf drei oder vier Buchstaben nicht lesbar, war in den unteren Marmorstein eingeritzt. Das Mondlicht fiel auf eine grässliche Hand im Vordergrund, eine verweste, gekrümmte Hand, die wie eine Klaue die flüchtig angedeutete Erde durchstieß. In der dritten Abbildung der Serie bahnte sich ein verrotteter, einäugiger Leichnam mit der Schulter den Weg aus der beengenden Grabstelle. Es war die klassische Horror-Szene eines Cartoons, allerdings so beängstigend realistisch gezeichnet, dass es Scott einen Moment lang so vorkam, als könne er den Gestank nach Moder und Verwesung riechen.

Die nächste Abbildung konfrontierte ihn mit einer weiteren unheimlichen Szene: Der Grabstein ragte darauf im Vordergrund auf; der Leichnam schlurfte auf eine niedrige Steinmauer zu, hinter der eine schmale Straße lag; auf einem Hügelkamm zeichnete sich ein knorriger, entlaubter Baum gegen einen übertrieben groß gemalten Mond ab; ganz links leuchteten auf der gewundenen Straße, noch recht weit entfernt, die Scheinwerfer eines Autos auf.

Die fünfte Abbildung zeigte den Leichnam, der die Arme wie Frankensteins Monster ausstreckte, mitten auf der von Mondlicht erhellten Straße. Von dem Wagen, der gerade die Steigung vor dem Friedhof erklomm, waren nur die runden Lichtkreise der Scheinwerfer zu sehen. Die folgende Zeichnung hatte eine ganz andere Perspektive: die vom Rücksitz des Wagens aus. Es waren zwei Köpfe von hinten zu erkennen - der Lockenkopf der Fahrerin und der des Kindes, vermutlich ein Mädchen, das neben ihr saß. Die Fahrerin hatte einen Arm vor ihr Gesicht gehoben. Direkt vor der Windschutzscheibe, von den grellen Scheinwerfern geblendet und wie erstarrt, stand der verweste Mann und winkte. Es war die Sekunde vor dem Zusammenstoß, der unvermeidlich erfolgen würde.

Die folgende Szene — sie vermittelte höchste Dramatik - war von einem Platz genau hinter der Fahrerin aus gezeichnet. Die Perspektive schloss den Beifahrersitz und die Windschutzscheibe mit ein. Jetzt krachte der Untote durch das Schutzglas, wobei ihm ein Teil des Kinns abgeschnitten wurde. Sein einziges totes Auge baumelte an der wurmzerfressenen Wange herunter. Das Kind, jetzt eindeutig als Mädchen zu erkennen, war außer sich vor Entsetzen und schrie. Der Mund war zu einem lautlosen Schrei aufgerissen, das Gesicht nur wenige Zentimeter von der toten Kreatur entfernt, die in einem Wirbel funkelnder Scherben durch die Frontscheibe brach.

Auf der letzten Zeichnung - sie traf Scott wie ein Schrapnell - stand der Wagen mit eingedrücktem Kühler an der Steinmauer. Im Hintergrund war zu sehen, wie sich der Untote in die Tiefen des Knochenackers zurückzog. Ein Arm hatte sich aus der Gelenkkapsel gelöst, so dass er in völlig unnatürlichem Winkel herunterhing. Das Wageninnere war pechschwarz, von seinen Insassen war nichts zu erkennen. Fast hörbar zischte Dampf auf und wich unter der Motorhaube hervor. Der Wagen war ein Volvo.

Mein Gott, nein, lass bitte nicht zu, dass es meine beiden sind! Bitte nicht meine beiden Frauen!

Scott streckte die Hände vor und fand schließlich die Wand, an der er sich abstützen konnte. Im Geiste hörte er wieder Batemans Worte: Wenn Sie nach einer einfachen Botschaft suchen, müssen Sie nur hinter die Tünche des Horror-Comics blicken ...

»Wachen Sie auf! Los, wachen Sie auf, Sie verdammter Mistkerl

Erneut stand er im Zimmer des Zeichners, schüttelte ihn und bemühte sich verzweifelt, ihn zu wecken. Aber der Alte hing weiter schlaff im Rollstuhl und reagierte nicht. Wären nicht die kaum hörbaren pfeifenden Atemgeräusche gewesen, hätte Scott ihn für tot gehalten.

»Kommen Sie schon«, flehte er. Sein beherrschtes Flüstern steigerte sich zum hysterischen Brüllen: »Los, los, machen Sie endlich die Augen auf

Er schüttelte den Mann noch heftiger und grub seine steifen Finger in dessen knochige Schultern. Doch der Kopf des Alten schwang nur locker hin und her, als sei sein Genick gebrochen.

»Reden Sie mit mir, schrie Scott ihn an. »Was hat das alles zu bedeuten? Ist das meine Frau? Meine Tochter? Was wird passieren

In diesem Moment eilte eine Krankenschwester ins Zimmer. Der Anblick, der sich ihr bot, konsternierte sie so, dass ihr Gesicht rot anlief. »Doktor Bowman, japste sie. »Was machen Sie denn da

Scott beachtete sie gar nicht. Inzwischen schüttelte er den Alten so heftig, dass die paar Zähne, die ihm verblieben waren, aufeinander schlugen.

Die Schwester fiel ihm in den Arm: »Doktor Bowman!!!« Sie rief es nicht, sondern brüllte es heraus, so laut sie konnte.

Scott ließ den Zeichner, der noch immer keinen Laut von sich gegeben hatte, widerstrebend los und zog sich torkelnd zurück. Ihm war schwindelig. Erst jetzt dämmerte ihm, dass er den Alten beinahe umgebracht hätte.

Im hinteren Teil des Zimmers jammerte der Großvater der Zwillinge wie ein einsamer Wolf auf der Suche nach Gefährten.

Nachdem die Krankenschwester Scotts Arm freigegeben hatte, blieben beide nebeneinander stehen, schwiegen betroffen und starrten auf den alten Mann. Sein Kahlkopf, von dem sich die Haut schälte, hing schlaff nach vorne. Aus den Mundwinkeln rann Speichel, tropfte auf das Hosenbein des Schlafanzugs und bildete dort dunkle Flecken.

Fluchtartig verließ Scott das Zimmer, die Faust um die Zeichnungen gekrallt. Während er durch die Außentüren der Station stürmte, um in sein Büro im zweiten Stock zurückzukehren, verfolgte ihn das klägliche Gejammer des Großvaters.

13

Erst beim sechsten Läuten des Telefons nahm Kristas Schwester Klara ab. »Klara, hier ist Scott »Hi...«

»Hör mal, sind Krista und Kath schon weg Er wusste zwar, dass sie bereits losgefahren sein mussten, hoffte jedoch inständig, dass irgendetwas Unvorhergesehenes sie aufgehalten hatte. Nach der Digitaluhr auf seinem Schreibtisch war es jetzt 19:12.

»Ja, schon seit heute früh. Deine Frau war mal wieder so gereizt wie üblich. Hat sich so aufgeführt, als wüsste sie alles besser, die kleine Klugscheißerin. Stimmt was nicht? Du klingst ziemlich fertig

»Tut mir Leid, Klara, aber ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen

Er trennte die Verbindung und wählte gleich darauf

Carolines Nummer in Boston. Caroline nahm schon beim ersten Klingeln ab. »Scott? Hi!«

»Sind Sie schon da, platzte Scott ohne jede Einleitung heraus. »Krista und Kath?«

»Nein«, erwiderte Caroline knapp, da sie merkte, wie dringend Scott die Sache war. »Noch nicht. Was ist... »Scheiße

»Scott, was ist los? Ist bei dir alles in Ordnung Scott schwieg einen Augenblick, atmete schwer und versuchte sich zusammenzureißen. Er konnte Caroline unmöglich von der ganzen Sache erzählen - jedenfalls jetzt noch nicht. Es hatte keinen Sinn, sie noch weiter zu beunruhigen. Möglicherweise hatte das alles ja gar nichts mit seinen beiden Frauen zu tun, vielleicht hatte er einfach überreagiert. Sein Volvo war ja bei weitem nicht der Einzige im ganzen Land ...

Dennoch war ihm die Sache unheimlich. Mittlerweile fiel es ihm schwer, die Zeichnungen des Alten als bedeutungslos abzutun. Nach diesen Unterwasser-Szenen jetzt auch noch der Volvo auf dem Cartoon - das traf zu sehr ins Schwarze, als dass er es als puren Zufall hätte ansehen können. Das Problem lag darin, dass er zum Zeichner durchdringen musste, wenn er sich Klarheit verschaffen wollte. Und das hatte sich bislang als unmöglich erwiesen.

»Tut mir Leid«, sagte er schließlich. »Ja, ist alles bestens hier. Ich bin einfach nur ein bisschen nervös und hätte gern mit Krista gesprochen. Wir haben uns gekabbelt, ehe sie losfuhr. Wollte mich nur entschuldigen

»Machst du dir Sorgen, weil sie mit dem Wagen unterwegs sind

»Tja, ein bisschen schon

»Na ja, das brauchst du aber nicht. Krista ist eine gute Fahrerin. Wahrscheinlich haben sie den Nachmittag damit verbracht, in all diesen neuenglischen Antiquariaten herumzustöbern. Und selbst wenn sie durchgefahren sind, könnten sie jetzt noch gar nicht da sein. Sicher treffen sie hier bald ein

»Wahrscheinlich hast du Recht« Zwar klangen Carolines Worte einleuchtend und beruhigend und er hätte ihr gern geglaubt - konnte es aber nicht. »Danke«, sagte er. »Sag ihr bitte, dass sie mich gleich anrufen soll, wenn sie da ist, ja? Ich bin später zu Hause erreichbar

»Mach ich. Wie geht's dir denn überhaupt? Wie ich gehört hab, hast du deinen Frauen neulich Morgen einen ganz schönen Schrecken eingejagt

»Mir selbst auch. Aber jetzt geht's mir wieder gut. Tschüss, Caroline.« Er legte auf. Ihm war zwar klar, dass es unhöflich war, aber das war ihm in diesem Moment egal.

Er ließ den Blick wieder zu den Zeichnungen schweifen: zu der Frau und dem Kind im Auto; zum Gesicht des kleinen Mädchens, das zu einer übertrieben gezeichneten Maske des Entsetzens verzerrt war; zu dem verwesten Monster, das durch die Windschutzscheibe krachte; zu dem demolierten Wagen, dessen Inneres nichts verriet. Und dabei musste er an die eiskalte Strömung am Grunde des Sees denken und an die Algen, die ihn dort unten wie Leichentücher umfangen hatten - als sei er in Atlantis gelandet.

Gleich darauf griff er wieder zum Telefon und wählte die Auskunft in Massachusetts an, wo ein Mann mit scharfer, nasaler Stimme abnahm. »Auskunft, bitte nennen Sie mir den gewünschten Ort

»Boston. Die Polizei.«

»Die Bereitschaftspolizei?«

»Ja.«

Es summte kurz in der Leitung. Dann meldete sich eine Stimme vom Tonband, diesmal eine weibliche, und sagte die Nummer an. Als sie die Ansage wiederholte, legte Scott auf. Er hatte die Nummer der Polizei fast schon eingegeben, drückte jedoch kurz entschlossen auf die Trenntaste. Was, zum Teufel, sollte er diesen Leuten erzählen? Plötzlich kam er sich leicht verrückt vor.

Entschuldigen Sie, Herr Wachtmeister, aber ich bin ein Seelenklempner aus Kanada und weiß aus verlässlicher Quelle, dass meine

Frau und meine Tochter in Lebensgefahr sind. Aus welcher Quelle? Also gut: Um ehrlich zu sein, von diesem hundert Jahre alten Zeichner, denn er hat gewisse Bilder fabriziert, wissen Sie, und, na ja ... Vertrauen Sie mir einfach, ja? Die beiden sind in einem pechschwarzen Turbo der Marke Volvo unterwegs - netter Wagen, der wird Ihnen gefallen, wenn Sie ihn finden, und das hoffe ich doch. Sie müssen jetzt irgendwo in Neuengland sein.

Scott holte tief Luft und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was er der Polizei auch erzählte, es musste überzeugend klingen. Und so dringlich, dass es sie veranlasste, nach dem Wagen zu suchen. Vielleicht konnte er behaupten, das Auto sei ihm gestohlen worden ... Aber woher hätte er dann wissen sollen, wo die Diebe hingefahren waren? Oder er konnte sagen, die Fahrerin sei schwer psychotisch und aus einer Klinik abgehauen. Außerdem habe sie ein Kind entführt und sei jetzt auf dem Weg nach Boston, um dort eine reiche Tante umzubringen ...

Mein Gott, es war so schwer, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Das deutliche Bild zerschmetterter Körper und eingedrückten Metalls ließ bei ihm alle Sicherungen durchbrennen und hinderte ihn daran.

Er drehte die Zeichnungen um, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Gleich darauf beugte er sich wieder vor und griff erneut zum Telefon.

»Gerry«, sagte er laut in die Stille hinein, die in seinem Büro nach Dienstschluss herrschte. Er wählte die Nummer der Polizeidienststelle in Ottawa. Nach zweimaligem Läuten nahm jemand ab.

»Polizei Ottawa, Sergeant Gennings am Apparat.«

»Hier ist Doktor Bowman Scotts Stimme schwankte. »Können Sie mir sagen, ob Gerry St. Georges heute Abend Dienst hat

»Einen Augenblick, bitte

Scott fasste Hoffnung. Gerry war ein Freund, ein guter

Freund. Falles es irgendeine Möglichkeit gab, die Polizei in den Vereinigten Staaten einzuschalten und sich ihre Unterstützung zu sichern, würde Gerry es wissen - und nicht allzu viele Fragen stellen. Gegenwärtig fühlte sich Scott nicht in der Lage, seine Gründe irgendjemandem darzulegen, nicht einmal Gerry.

»St. Georges«, meldete sich Gerry laut und munter.

»Gerry, ich bin's, Scott

»Scott, du treulose Tomate, wo hast du denn gesteckt? Ich ...«

»Hör mal, Gerry, ich brauch deine Hilfe

»Klar doch, Mann. Um was geht's denn

»Krista und Kath sind irgendwo in Neuengland unterwegs, mit dem Volvo. Ich muss sie dringend erreichen. Ich glaube, sie sind in Gefahr, Gerry ... ernsthaft in Gefahr. Ich weiß nicht genau, wo sie jetzt stecken, aber sie fahren nach Boston, also müssten sie inzwischen zumindest schon in Maine sein. Besteht irgendwie die Möglichkeit, dass du die Polizei dort einschaltest, damit sie den Wagen sucht und anhält

»Meine Güte, ganz schön viel verlangt, Kumpel. Welche Gefahr besteht denn überhaupt

»Stell bitte keine Fragen, Gerry, verlass dich einfach auf mein Wort, ja

»In Ordnung«, erwiderte Gerry nach kurzem Zögern. »Werd sehen, was ich tun kann. Hast du irgendeine Idee, welche Straße sie genommen haben könnten

»Letztes Mal haben wir erst die 302 genommen und danach die Interstate 95 bis nach Boston

»Naja, wenn Krista sich an die Hauptverkehrsstraßen hält, müsste sie eigentlich leicht zu finden sein. Ist sie ein Gewohnheitstier

»Nein«, erklärte Scott ohne zu zögern.

»Soll ich dich zu Hause anrufen, fragte Gerry.

»Ja, ich fahr gleich heim Was sollte Scott auch anderes tun.

14

Auf der letzten Strecke vor dem Haus begann der Chevette zu stottern und zu spucken. Scott hatte den Wagen hart rangenommen und die Tacho-Nadel bei jedem Schalten ins rote Feld getrieben, so dass jetzt auch der Temperaturanzeiger gefährlich rot blinkte.

Ehe er die Klinik verlassen hatte, war er nochmals zu dem Alten ins Zimmer gegangen, aber der Künstler schlief immer noch fest in seinem Rollstuhl am Fenster. Als Scott sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte, waren ihm die Blicke der Krankenschwestern so gefolgt, als hätten sie es mit einem Aussätzigen zu tun. Wahrscheinlich hatten sie bereits von seiner Begegnung mit dem Alten gehört. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell über den Buschfunk der Klinik.

Er parkte vor dem Haus, sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Sein Bein beschwerte sich über die Belastung, doch Scott bemerkte es kaum. Auf dem Weg zum Haus zögerte er, denn es kam ihm so vor, als machten sich dessen leere Augen über ihn lustig. Ihm war innerlich kalt, und er fühlte sich wie ein Feigling. Ohne seine Familie wirkte das Haus nur wie eine Ansammlung von Steinen und Brettern; Echos spukten darin herum. Plötzlich konnte er den Gedanken, dort allein hineinzugehen, nicht ertragen.

Er blieb auf dem Weg stehen, vergrub die Hände in den Achselhöhlen und blickte zum stürmischen Himmel hinauf. Die Wolken da oben waren voller Leben, segelten in großen Flotten, die einander Schlachten lieferten, auf dem aufgewühlten Meer des Windes dahin. Der Mond - fast schon zum Vollmond gerundet - schien sich gegen die Flut zu stemmen. Eine feuchte Brise streifte Scotts Gesicht und kündigte Regen an. Von seinem Standort aus konnte er den See zwar nicht sehen, doch er wusste, dass auch das Wasser von Leben wimmelte. Er konnte hören, wie es dort unten, in der schwärzlichen Tiefe, herumkroch ...

Fröstelnd eilte er ins Haus.

Als ihn die Dunkelheit der Diele umfing, blieb er erneut stehen und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln, das ihm das Haus vermittelte. Der Gang vor ihm weitete sich zum Wohnzimmer, das nur als verschwommener Schatten auszumachen war. Im Dunkeln kam es ihm so vor, als sei es irgendwie verändert worden. Unvermittelt hatte er das beängstigende Gefühl, nicht allein im Haus zu sein.

Und da bemerkte er sie; eine kleine, schwarze Gestalt, die sich dunkel von ihrer Umgebung abhob und an der nahen Wand lehnte. Fast wäre er gleich wieder aus der Tür gerannt. Stattdessen griff er nach dem Lichtschalter und sorgte dafür, dass die Hundert-Watt-Birne die Diele erhellte.

Sofort verwandelte sich die Gestalt an der Wand in Jinnie, Kadis Flickenpuppe. Leicht hysterisch lachte Scott auf. Mit ihren Stummelhänden und dem ausgepolsterten Mondgesicht kam ihm Kaths Puppe wie eine deformierte Liliputanerin vor, die gerade die Agonie des Verstrahlungstodes erlitt. Er konnte sich nicht erklären, was Kinder an dieser Puppe fanden, aber in den letzten Jahren waren Flickenpuppen wie warme Semmeln weggegangen. Kath liebte ihre Puppe, tat so, als sei sie ihr eigenes kleines Kind, und nahm sie sogar mit ins Bett. Scott nahm an, dass Kath Jinnie am Sonntagmorgen gegen die Wand gelehnt und dort vergessen hatte, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie vorher hier gesehen zu haben. Er fragte sich, ob Kath sie vermisste.

Er hob die Puppe auf, klemmte sie sich unter den Arm und durchkämmte Zimmer für Zimmer, wobei er alle Lampen einschaltete, die er finden konnte. Heute Abend machte ihn die Dunkelheit nervös.

Schließlich setzte er sich, Kaths Puppe auf dem Schoß, auf einen Sessel am Mickymaus-Telefon im Fernsehzimmer und begann zu warten. Hin und wieder sah er durch die Schiebetür nach draußen, auf den See, in dem sich das Mondlicht spiegelte.

15

Kath war eingenickt. Das wunderte Krista, denn normalerweise musste Kath ihre Puppe Jinnie im Arm haben, ehe sie auch nur daran dachte, die Augen zu schließen. Lächelnd betrachtete Krista das Profil ihrer schlafenden Tochter. Mittlerweile häuften sich die unverkennbaren Anzeichen dafür dass Kath in die Pubertät kam. Dass sie ihre Puppe zu Hause vergessen hatte, war noch das mindeste. Meine Güte, sie entwickelte ja sogar schon Brüste und klagte über Krämpfe im Unterleib, die Krista daran erinnerten, dass sie selbst auch zu den Frühreifen gezählt hatte. Wenigsten war sie schon zwölf Jahre alt gewesen, als das alles losging - aber mit zehn?!

Kristas Laune wurde endlich wieder besser, wie sie selbst merkte. Am Vorabend, bei ihrer Schwester, war sie trübsinnig und unterschwellig auch wütend gewesen. Und diese Stimmung war heute am frühen Nachmittag in heftige Wut umgeschlagen, als sie gemerkt hatte, dass sie irgendwo in den Waldwegen der White Mountains gelandet waren und sich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg befanden. Sie hatte sich selbst versprochen, sich auf dieser Reise von Klara auf keinen Fall provozieren zu lassen, aber dieses Versprechen hatte sich als nutzlos erwiesen.

Wie ihre Mutter war Klara jemand, der über alles und jedes herzog. Mit dieser ablehnenden Haltung reagierte sie auf alles, was ihr begegnete. Und ein Lieblingsziel ihrer Angriffe war Scott, den sie bei jeder Gelegenheit nach Kräften schlecht machte. Krista war zwar klar, dass die Hasstiraden ihrer Schwester vor allem vom Alkohol beflügelt wurden, dennoch führten Klaras rohe und unbegründete Attacken unvermeidlich dazu, dass sie selbst in die Defensive geriet. Am Sonntagabend hatte Krista versucht, ihrer Schwester ausführlich davon zu erzählen, wie Scott beinahe ertrunken wäre. Hauptsächlich auch deshalb, um ein wenig von der Spannung abzubauen, die sich bei ihr selbst aufgrund dieses Erlebnisses angestaut hatte. Doch Klara war ihr schon nach wenigen Sekunden mit ätzenden Bemerkungen ins Wort gefallen.

»Willst du damit sagen, dass dieser Seelenklempner von Ehemann mit einem Kater tauchen gegangen ist? Mein Gott, was hast du doch für einen verantwortungslosen Mistkerl geheiratet. Und was erwartet er von dir und deinem Kind, während er auf dem Seegrund Entenmuscheln sammelt Wütend starrte sie Joe an. »Wenn mein Mann jemals Lust hätte, eine solche Nummer abzuziehen, würde ich ihn glatt umbringen

Krista, die angespannt und zornig war und gleichzeitig Mitleid mit ihrem Schlappschwanz von Schwager empfand, entschuldigte sich früh und ging zu Bett. Ruhelos warf sie sich die ganze Nacht hin und her und stand am Morgen schon eine Stunde vor dem Hahnenkrähen auf - ehe Klara Gelegenheit hatte, sie erneut in die Mangel zu nehmen. Flüsternd verabschiedete sie sich von Joe, ließ einen Zettel für ihre schnarchende Schwester da und scheuchte Kath hoch, noch ehe sie ihren Frühstückstoast aufgegessen hatte. Die Erleichterung darüber, dass ihre Flucht so glatt verlaufen war, und der viel versprechende blaue Himmel gaben ihr Hoffnung, dass ihre Reise trotz allem doch noch gut verlaufen würde.

Die Auseinandersetzung mit ihrer Schwester war schon schlimm genug gewesen, doch so zwangsläufig, als braue sich langsam ein Sturm zusammen, sollte es bald noch viel schlimmer kommen. Der Zollbeamte an der Grenze war offenbar mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden und ganz scharf darauf, sie zu drangsalieren. Eine gute halbe Stunde verbrachte er damit, sich über den geöffneten Kofferraum des Volvo zu beugen und jedes einzelne Gepäckstück zu durchwühlen, das er finden konnte. Zurück blieb ein wildes Durcheinander. Zehn Minuten, nachdem sie die Landesgrenze nach Vermont überquert hatten, hielt sie ein Polizist wegen Verstoßes gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung an und zwang sie, mit ihm zusammen mehr als zehn Kilometer zurück zur Polizeiwache irgendeiner kleinen Stadt zu fahren, damit sie dort die Geldbuße zahlte. Kurz vor Montpellier ging ihr das Benzin aus. Danach zeigte ihr ein erboster Tramper den Stinkefinger. Und auf der Terrasse vor dem McDonald's in Barre ging eine mordlustige Seemöwe im Sturzflug auf sie los.

Aber der Gipfel aller Katastrophen sollte erst noch kommen, nachdem sie die Stadtgrenze von Lincoln in New Hampshire passiert hatten.

»Eh, Mom, ich glaub, wir hätten da hinten rechts statt links abbiegen müssen«, meldete sich Kath. Es war eine Feststellung, in der ein vorwurfsvolles »Hab-ich's-dir-nicht-gleich-gesagt? mitschwang.

Kath, die auf die Straßenkarte des Automobilclubs gesehen hatte, hatte es ihr tatsächlich rechtzeitig gesagt. Trotzdem war Krista links abgebogen, eigentlich ohne jeden einleuchtenden Grund. Es war ihr einfach ... richtig vorgekommen, so, als habe es sich von selbst ergeben. Erst später war ihr aufgefallen, dass sie sich recht seltsam verhalten hatte. Denn von Natur aus war sie doch gar nicht so impulsiv, schon gar nicht, wenn sie ein bestimmtes Ziel hatte. Sicher, sie hatte den abrupten Wechsel des Straßenzustands bemerkt: Die Asphaltdecke wies hier alle möglichen Risse auf und sah verblichen aus. Dabei hatte sie an die von der Sonne verbrannten Lehmbrocken denken müssen, mit denen sie als Kind auf dem Kartoffelacker von Onkel Albert gespielt hatte. Und die Straßen wurden jetzt auch schmaler. Aber die Umgebung hatte so heimatlich gewirkt. Die peinlich sauberen Bauernhöfe und kultivierten Felder hatten sie an Neufundland erinnert, wo sie geboren war.

Doch nach fünfundzwanzig oder dreißig Kilometern hatte der Asphalt plötzlich aufgehört, einfach so. Die unbefestigte Landstraße, die hier begann, war nur noch am Rand betoniert Rechts wurde sie von Ansiedlungen gesäumt, links von einem Weg für Dinosaurier oder sonstige Urviecher. Nachdem sie eine halbe Stunde auf dieser Straße geblieben waren, hatte Kath vorgeschlagen, einfach umzudrehen. Aber Krista hatte wieder nicht auf sie gehört, sondern war weitergefahren. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte sich die Straße mehr als ein dutzend Mal geteilt, ohne dass an irgendeiner Abzweigung ein Hinweisschild aufgetaucht wäre - und das bedeutete, dass die Chance, bald wieder auf eine Stadt zu stoßen, gleich Null war. Zum anderen widersprach das Umkehren ihrem Naturell. So etwas hatte ihr noch nie gelegen. Manchmal war das auch gut so ... aber längst nicht immer.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie vierzig oder mehr Kilometer ins Nirgendwo zurückgelegt. Krista nahm an, dass sie sich irgendwo südlich von Mount Hancock befinden mussten, einem mehr als dreizehnhundert Meter hohen Berg, der auf der Straßenkarte nur als winziges Dreieck verzeichnet war. Mit knapp fünfundzwanzig Stundenkilometern krochen sie auf einem vom Rinnsalen und Schlaglöchern durchzogenen Feldweg dahin, der links und rechts von Bäumen gesäumt wurde. Bäume, nichts als Bäume, deren Kronen einander berührten, deren Laub sich miteinander verschränkte, so dass sie wie durch einen Tunnel fuhren. Auf beiden Seiten setzten sich die Baumreihen bis ins Endlose fort. An manchen Stellen sah es so aus, als könnten sie die Weiterfahrt blockieren. Hin und wieder brachen die Strahlen der Spätnachmittagssonne durch den Tunnel, aber alles in allem wirkte die Atmosphäre düster.

Sie hatten jede Orientierung verloren.

Allerdings ließ sich Kath davon nicht aus der Fassung bringen, das war nicht ihre Art. Genau wie ihr Vater sah sie fast jede Situation von der Sonnenseite her. Sie schob ein Band ins Kassettendeck: Thriller dröhnte los und machte der Stille ein Ende. Das Video in Kaths Kopf spulte die Szene ab, in der Michael Jackson über einen von Nebel verhangenen Friedhof stolziert und Vincent Price mit seinem legendären Bass Unheil und Verderben prophezeit. Kath, Zeit ihres jungen Lebens ein Jackson-Fan, ließ die Glieder zucken und vollführte einen Breakdance, wenn auch nur mit den Beinen.

Sie fuhren weiter und weiter, nie schneller als fünfzig. An manchen Stellen bremste Krista so scharf ab, dass die Reifen quietschten und der Volvo fast zum Stehen kam. Die laute Musik machte ihr nichts aus - sie dämpfte das metallische Scheppern und Knirschen des Fahrgestells.

Die Straße, sofern man überhaupt von einer Straße sprechen konnte, war wirklich schlimm.

Kath hielt nach Tieren Ausschau und ließ ihren Blick von einer Seite zur anderen schweifen. Vorhin hatte sie ein paar Kaninchen entdeckt, außerdem ein Rehkitz, das noch wacklig auf seinen Beinen stand.

»He, Mom, is' doch toll hier, nich', schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte.

Krista nickte und dachte bei sich: Tja, wirklich toll Völlig orientierungslos am Arsch der Welt. Müde und gerade dabei, den Wagen deines Vaters zu Schrott zu fahren. Wirklich zum Totlachen, Mädchen.

Nach weiteren zwanzig Minuten - sie hatten nicht einmal zehn Kilometer hinter sich gebracht - entdeckte Kath in einer sonnigen Lichtung einen Mann, der gerade frisch gefällte Baumstämme auf den Anhänger eines kleinen, roten Traktors lud. Auf einem der Kotflügel lag eine Kettensäge, die im Sonnenschein funkelte.

»Sieh mal, Mom, da drüben Kath deutete auf die Lichtung.

Krista bremste ruckartig ab und hielt sofort an, denn es kam ihr so vor, als habe sie gerade den letzten Überlebenden auf dem Planeten Erde gesichtet. Der Waldmensch richtete sich auf, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen seines Overalls ab und wandte sich der Straße zu. Gleich darauf stieg Krista aus und ging mit steifen Beinen zur anderen Wagenseite hinüber. Dabei stellte sie fest, dass der Autolack mit einer dicken, grauen Staubschicht überzogen war.

»Entschuldigen Sie«, rief sie ins Gehölz hinein und schwenkte die Hand über dem Kopf. Der Mann winkte zurück und stapfte durch das Unterholz auf sie zu. Plötzlich schüchterte seine enorme Größe Krista ein.

»Ja, Ma'am, fragte er fast unterwürfig, während er mit sicherem Schritt die Böschung erklomm. Sein Grinsen wirkte sympathisch und freundlich, außerdem war er jünger, als Krista ursprünglich gedacht hatte. Aus der Nähe betrachtet sah er nicht älter als achtzehn oder zwanzig aus. »Was kann ich für Sie tun Er zog ein blaues Halstuch aus der Hüfttasche, rieb sich damit über die Stirn und steckte es wieder weg. »Ham Se sich verfahr'n

»Tja, bin vorhin, nahe bei Lincoln, falsch abgebogen

Sein Mund verzog sich zu einem noch breiteren, wissenden Grinsen. »Passiert oft. Wohin woll'n Se denn

»Na ja, eigentlich nach Boston, aber im Augenblick wär ich schon froh, wieder auf die Hauptstraße zu kommen Über die Schulter sah sie zu dem Feldweg hinüber, auf dem sie zuletzt gefahren waren. »Oder überhaupt auf irgendeine richtige Straße.«

»Teufel noch mal, is' doch 'ne leichte Übung.« Er wandte sich halb um und deutete irgendwohin. Dabei nahm er sein Ziel so ins Visier, als sei der ausgestreckte Arm ein Gewehrlauf. »Fahrn Se einfach aufm Weg weiter, den Se gekommen sind. Nur müssen Se sich rechts halten, wo der sich gabelt. Dann sind Se in Null Komma nix wieder auf der gepflasterten Straße Immer noch grinsend trat er einen halben Schritt näher. »Sind Se aus Kanada

»Ja«, erwiderte Krista und wich zur Fahrerseite des Volvo zurück. »Stimmt genau

Als die solide Breite der Motorhaube zwischen ihnen lag, war ihr schon wohler. Jetzt grinste der Typ Kath an, die immer noch auf ihrem Sitz herumhopste. Das Fenster war geschlossen. Der Bursche wirkte zwar durchaus freundlich ... Aber er roch schlecht und war einen ganzen Kopf größer als Scott, der immerhin auch gut einen Meter fünfundachtzig maß. Und seine Augen wirkten irgendwie seltsam. Sie wanderten allzu häufig hin und her, und eines war so nach außen gedreht, als spähe er heimlich auf einen Punkt in ihrem Rücken. Kristas Fantasie neigte dazu, mit ihr durchzugehen.

Schließlich hatte sie den Film The Texas Chainsaw Massacre noch gut in Erinnerung. Falls sich dieser Bursche in den Kopf setzen sollte, sie beide in den Wald zu schleppen, würden sie kaum eine Chance zur Flucht haben - Aerobics hin oder her.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und ließ sich schnell auf den Fahrersitz gleiten. »Schönen Tag noch.« Insgeheim war ihr diese Phrase zwar zuwider, aber hier schien sie ihr angebracht.

Er kramte erneut das Halstuch hervor und wischte sich nochmals über die Stirn. »Wünsch ich Ihnen auch, Ma'am. Und denken Se dran: bei der Gabelung rechts halten

Während Krista losfuhr, beobachtete sie ihn im Rückspiegel. Er blieb noch einen Augenblick stehen, um ihnen nachzusehen, dann steckte er das Halstuch weg und machte sich auf den Rückweg zum Traktor.

Die Safari zu den baumreichen Ausläufern der White Mountains hatte sie gute drei Stunden gekostet. Um die Zeit wieder hereinzuholen, verzichteten sie darauf, zum Abendessen anzuhalten. Stattdessen knabberten sie beim Fahren ihre Brote, die mit Käse, Tomaten, Schinken und Salatblättern belegt waren.

Nach der Uhr am Armaturenbrett war es inzwischen 22.00 Uhr. Krista war klar, dass Caroline mittlerweile schon auf sie warten würde, aber sie waren immer noch auf der 122, gut vier Stunden von Boston entfernt. Sie hatte kurz überlegt, ob sie anhalten und nach einem Telefon suchen sollte, aber sie rechnete mit Carolines Verständnis, denn sie und ihre Halbschwester waren sich recht ähnlich.

Während sie durch die hereinbrechende Nacht fuhr und Kath leise neben ihr schnarchte, dachte sie voller Liebe an Scott. Nach dem Schrecken, den er ihr am Samstagmorgen eingejagt hatte, war ihr deutlich bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutete, wie sinnlos ihr Leben - abgesehen von ihrer Liebe zu Kath - ohne ihn wäre. Scott kannte seine Frau

in- und auswendig und liebte sie wahnsinnig, daran hegte sie keinerlei Zweifel. Die gesamten zehn Jahre ihrer Ehe hindurch hatte er sie sozusagen auf Händen getragen.

Allerdings hatte Krista mitunter das beunruhigende Gefühl, dass es irgendwo tief in seinem Inneren etwas nicht sonderlich Erfreuliches gab, das Scott ihr vorenthielt. Irgendein dunkles Geheimnis, was es auch sein mochte. Im Laufe der Jahre hatte sie es immer weniger gespürt, dennoch gab es Zeiten ...

Wie zum Beispiel am Freitagabend, am Abend seines Geburtstages. Was hatte in dem Brief gestanden, den er an diesem Tag erhalten hatte - in dem Brief mit der Nachricht, dass sein früherer Kommilitone gestorben war? Was hatte er ihr verschwiegen? In seinem Gesicht hatte sich pures Entsetzen gespiegelt. Selbst wenn sein bester Freund Gerry gestorben wäre, hätte sie ein solcher Gesichtsausdruck verblüfft. Warum hatte er den Brief so ins Feuer geschleudert, als müsse er sich von einer zappelnden Schlange befreien?

Vor Jahren, als sie frisch verheiratet gewesen waren, hatten ihm Träume, nächtliche Albträume, so zu schaffen gemacht, dass er oft schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf gefahren war. Und er hatte danach stets behauptet, er könne sich an den Inhalt dieser Träume überhaupt nicht erinnern. Und da waren noch andere Dinge gewesen, die ihr aufgefallen waren: Manchmal, wenn sie beide allein gewesen waren und Krista sich beim Fernsehen in seine Armbeuge geschmiegt hatte, war es ihr eindeutig so vorgekommen, als nehme er sie gar nicht wahr, als sei er der Wirklichkeit völlig entrückt. Das war ein recht unheimliches Gefühl gewesen.

Doch das war Schnee von gestern, wie sie sich selbst sagte. Inzwischen hatten sie ein wunderbares Familienleben, und auch die Zukunft sah rosig aus. Sie würden gemeinsam alt werden und Fett ansetzen. Scott fehlte ihr, wenn sie nicht beieinander waren, aber sie wusste auch, dass er solche Trennungen auf Zeit schwerer nahm als sie. Nach ein paar Tagen ließ er sich dann irgendwie gehen, trank zu viel, aß nichts Gescheites und vergaß auch, aufzuräumen oder sauber zu

machen. Obwohl er, wenn Krista zu Hause war, häufig kochte und putzte - es schien ihm wirklich Spaß zu machen. Er war nicht notorisch schlampig oder nachlässig, nur brauchte er seine Familie um sich herum. Sie war der Kitt, der ihn zusammenhielt. Auch das war für Krista ein beruhigendes Gefühl: Ihr Mann brauchte sie wirklich. Und sie machte kein Hehl daraus, dass sie dieses Gefühl genoss.

Jenseits des Horizonts flackerten am Himmel, der von Elektrizität aufgeladen war, die grellen Blitze eines Hitzegewitters auf. Es sah so aus, als explodierten dort Bomben. Im steten Licht der Scheinwerfer fielen Krista die Blätter der Bäume am Straßenrand auf: Windböen rüttelten sie so durch, dass ihre silbernen Unterseiten zu sehen waren. Kristas Mutter hatte immer behauptet, das sei ein sicheres Anzeichen für aufkommenden Sturm.

Verärgert von der Aussicht, dadurch womöglich noch später anzukommen, drückte Krista noch ein bisschen stärker aufs Gaspedal. Die Tachonadel zeigte jetzt auf hundertzehn. Im Volvo kam ihr das gar nicht so schnell vor, besonders jetzt nicht, denn auf der Strecke war buchstäblich nichts los. Der Wagen hatte eine ausgezeichnete Straßenlage, und Krista bremste nur ab, wenn sie durch kleine Städte oder Dörfer fuhr, was inzwischen kaum noch vorkam.

Plötzlich trat sie so scharf auf die Bremse, dass der Wagen mit knirschenden Reifen zum Stehen kam. Vor der Windschutzscheibe waren leuchtende, bernsteinfarbene Augen aufgetaucht, die, wie sich jetzt herausstellte, Waschbären gehörten. Es war eine ganze Bärenfamilie - eine Mutter mit zwei Kleinen -, die gemächlich und hintereinander über den Asphalt schlurfte. Nachdem sie, offenbar ohne sonderliches Interesse, kurz zum Wagen herübergeschaut hatten, verschwanden die drei jenseits des Seitenstreifens im hohen Gras.

Kath fuhr mit einem letzten Schnarcher hoch. »Was ist los

Krista fuhr wieder an. »Nichts, Kleines, nur eine Bärenfamilie.« Dennoch hatte ihr Herzschlag sich heftig beschleunigt.

Kath drehte sich im Sitz um und blinzelte durch das Heckfenster. »Schade, ich hab sie verpasst

»Ich auch, da haben sie noch mal Glück gehabt

Kath lächelte, um gleich darauf - wandlungsfähig wie ein Chamäleon - das Gesicht zur Schmollmiene zu verziehen. »Wo ist Jinnie

»Zu Hause, in deinem Zimmer, nehme ich an«, erwiderte Krista und dachte: Sie ist immer noch ein kleines Mädchen, zumindest wenn sie schläft.

»Ich hab sie vergessen ... ups Kath pupste - zwar leise, aber dennoch nicht zu überhören. »Hab gefurzt, kicherte sie.

Krista unterdrückte ein Lachen. »Sag nicht furzen, das ziemt sich nicht für eine Dame

»Hab doch gar nicht furzen gesagt, sondern ge-furzt

»Kath«, mahnte Krista mit gespielter Strenge.

»Was soll ich denn sonst sagen

»Gar nichts. Wenn du furzt, sagst du besser gar nichts und versuchst, es einem anderen in die Schuhe zu schieben

Kath lachte. »Sind wir bald da, fragte sie nach kurzer Pause.

»Ist nicht mehr weit. Bist du müde

»Hm Sie wischte sich etwas Feuchtes aus dem Augenwinkel. »Hoffentlich geht's Daddy gut

»Bestimmt, Liebes. Du hast doch gestern Abend selbst mit ihm gesprochen, am Telefon

Der Volvo schwenkte gerade in eine scharfe Kurve, die erst über einen Buckel und dann steil hinunter führte. Vorsichtig lenkte Krista den Wagen durch die Kehre und sah danach zu Kath hinüber.

»Tja«, sagte Kath ohne rechte Überzeugung. »Allerdings ... Mom!!«

Aus purem Instinkt heraus - ihr blieb nur noch Zeit, einen kurzen Blick auf den kommenden Straßenabschnitt zu werfen

- trat Krista mit voller Kraft auf die Bremse, so dass der Wagen wild herumschleuderte und sich drehte.

16

Die leichte Brise gewann schnell an Kraft, wurde zum tosenden Wind, der sich so schnell vorwärts zu bewegen schien, als laufe er vor irgendetwas - etwas Düsterem - davon. In der Ferne dröhnten Donnerschläge wie Fußtritte von Riesen. In scharfem Gegensatz zu diesen Geräuschen, die nur sporadisch zu hören waren, hatte sich eine unheimliche Stille, die Ruhe vor dem Sturm, über alles gelegt. Es war eine Stille, die einen verrückt machen konnte, eher trostlos als friedvoll, die Art von toter Stille, die einem düstere Gedanken eingibt.

Scott, der in dieser Stille einsam und allein dasaß, zog nur wenig Trost aus dem kalten Würfel des Lichts, mit dem ihn das Fernsehzimmer umgab. Die Nacht da draußen kam ihm fast flüssig vor, flüssig wie schwarzes Wasser, das sich an den Scheiben sammelte und nur darauf wartete, dass er die Lampen gedankenlos löschte, damit es hineinströmen und ihn verschlingen konnte. Als ihn ein Luftzug an seinem Platz neben dem Mickymaus-Telefon streifte, bekam er eine Gänsehaut, denn er trug nur ein kurzärmeliges Hemd. Schon seit zwei Stunden saß er mit Kaths Flickenpuppe im Schoß da.

Als er jetzt seine Position im Sessel verlagerte, war er dankbar dafür, dass das Quietschen die Stille unterbrach, die kurz zuvor noch so unantastbar gewirkt hatte. Er fühlte sich genauso steif wie an dem Tag, an dem er fast ertrunken wäre, deshalb stand er auf und ging zur Stereoanlage hinüber. Er wählte etwas, das er sich bisher nur ein einziges Mal angehört hatte: Bachs >Goldberg-Variationen<, gespielt von Glenn Gould. Die Anlage im Musik- und Fernsehzimmer war alt und ihre automatische Steuerung längst kaputt. Unbeholfen senkte Scott die Nadel auf die LP. Es gab ein raues, knirschendes Geräusch ... und dann füllten kühle, präzise Klavierakkorde den Raum. Er stellte die Lautstarke so ein, dass die Musik gerade noch zu hören war.

Danach ging er zu dem kleinen Kellerkühlschrank hinüber, fischte das letzte Sixpack Bier heraus und kehrte zu seinem Platz am Telefon zurück. Nachdem er eine Dose aufgerissen und sie mit einem einzigen wohltuenden Schluck geleert hatte, erfasste ihn unverzüglich ein leichtes Schwindelgefühl.

Es war noch nicht so spät, dass Krista nicht mehr hätte anrufen können. Es konnten hundert harmlose Dinge dazwischen gekommen sein und er wusste nur allzu gut, dass Krista sich von ihrem Ziel durch nichts abbringen ließ, wenn sie sich etwas Bestimmtes in den Kopf gesetzt hatte. Wenn sie jetzt mit ihrer Tochter nach Boston fuhr, dann tat sie genau das, mochte kommen, was da wolle. Und nichts, wenn nicht gerade ein Wirbelsturm oder eine nukleare Katastrophe, würde sie daran hindern.

Als er an Kristas - manchmal enorme - Willensstärke dachte, musste Scott trotz all seiner Sorgen und Ängste lächeln. Während der Jahre seiner Facharztausbildung war es Kristas Stärke gewesen, die ihn mehr als einmal davor bewahrt hatte, den ganzen verdammten Bettel einfach hinzuschmeißen. Krista war eine Kraft an sich; selbst in ihrer Abwesenheit ließ sich ihre Präsenz nicht leugnen. Das ganze Haus strahlte ihre Berührung, ihren Geschmack, ihr Wirken aus.

Während Scott die zweite Dose Bier aufriss, ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken unwillkürlich zu dem Tag zurückwanderten, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Er war damals seit genau drei Wochen in Sandy Point, Neufundland gewesen und hatte sich gerade erst in Doktor Friths Praxis für Allgemeinmedizin eingearbeitet. Scott war für Frith eingesprungen, nachdem der praktische Arzt einen zweiten Herzinfarkt erlitten hatte. Wie der erste Infarkt war auch der zweite recht glimpflich verlaufen, aber der alte Hausarzt hatte ihn als Warnzeichen betrachtet und sich dafür entschieden, sechs Monate zu pausieren. Scott, der darauf aus war, sich eine kleine finanzielle Reserve anzulegen, ehe er

sich spezialisierte, war im hinteren Teil einer Ärztezeitschrift, der Zeitschrift der Kanadischen Ärztevereinigung, auf Friths Anzeige gestoßen und hatte sich beworben. Wie sich herausstellte, war seine Bewerbung die einzige gewesen.

Frith führte seine Praxis nach einem einfachen System: Er hatte zwei Untersuchungs- und Behandlungsräume, zwischen denen er hin- und herpendelte. Seine Arzthelferin, eine Teutonin namens Eva Underhoffer, mit der nicht zu spaßen war, sorgte dafür, dass die Praxis wie eine gut geölte Maschinerie lief. Scott musste nur von einem Raum zum anderen wechseln, um dort einen neuen Patienten lächelnd und auf ihn wartend vorzufinden - das Wiegen und die Urinproben waren bereits erledigt.

An diesem Tag hatte die Arzthelferin, nachdem sie eine ältere Diabetikerin gewogen hatte, Scott beiseite genommen und ihn in ihrem schroffen, überheblichen Ton angekündigt, er werde seine nächste Patientin vielleicht als »ein wenig unangenehm« empfinden - wie die Underhoffer es in der ihr eigenen diskreten Terminologie auszudrücken beliebte. Es handle sich um ein junges Mädchen (einen »Hie-ppy«), das in »andere Umstände« geraten sei und jetzt nach einem Ausweg suche. Auf solche Ansinnen konnte die Underhoffer nur mit finsteren Blicken und eifernder Selbstgerechtigkeit reagieren.

Flankiert von der Arzthelferin, deren Waden ihn an Fässer erinnerten, hatte sich Scott in Raum 2 begeben und dort Krista Draper, damals noch Teenager, vorgefunden. In ein Laken gehüllt, hatte sie auf dem Untersuchungstisch gesessen und war bei seinem Anblick heftig errötet. In dieser Anfangszeit war Scott sowieso stets nervös gewesen, als Arzt noch ein Grünschnabel, der mit einem Kopf voll auswendig gelernter Fakten samt einer schwarzen Tasche voller Unerfahrenheit durch die Gegend taumelte. Aber irgendetwas an diesem Mädchen hatte ihn sofort umgehauen. Nichts, das er damals mit einem Namen hätte belegen können. Vielleicht war es etwas in diesen großen, gletscherblauen Augen, in ihrem

forschenden, aufgeweckten Blick. Was immer es auch war, jedenfalls ertappte er sich plötzlich dabei, dass er einen trockenen Mund hatte, stotterte und kaum in der Lage war, die Arzt-Patienten-Farce durchzuziehen. Wäre er impulsiver (und sehr viel weniger professionell) gewesen, hätte er vielleicht gesagt: »He, wie wär's, wenn wir beide in die Stadt gehen, uns ein Eis holen, ein bisschen auf der Mole entlangschlendern und diese ganze Sache mit der Abtreibung wie zwei vernünftige Erwachsene durchsprechen.« Stattdessen hatte er all die Fragen gestellt, die von ihm erwartet wurden, auf ihrer Karteikarte Notizen eingetragen (Frith hatte die Karte peinlich genau alle achtzehneinhalb Jahre ihres Lebens hindurch geführt) und sie anschließend untersucht.

Und dieses eine Mal war Scott tatsächlich froh gewesen, dass er Friths dicke, übereifrige Arzthelferin dabei hatte. Der stählerne Blick aus ihren nordischen Augen hatte dafür gesorgt, dass er sich überaus professionell verhielt. Dennoch hatte er Notiz von diesem Mädchen genommen, von ihrer glatten, olivbraunen Haut, von dem dichten Schamhaar, von der Wärme, in die seine behandschuhten Finger eintauchten. Später hatte er Ekel vor sich selbst... und dennoch eine seltsame Hochstimmung empfunden.

Als sie sich ein paar Tage später zufällig trafen, geisterten beide aus ganz unterschiedlichen Gründen abends auf der Mole herum: Scott sehnte sich nach einer Familie und seinem Zuhause und wägte das Für und Wider einer Zusatzausbildung zum Facharzt ab; Kristas Gedanken schwankten zwischen Abtreibung und Selbstmord hin und her. Bei der Vorstellung, dass Krista seine völlig unangemessene Erregung im Untersuchungszimmer der Frith'schen Praxis wahrscheinlich bemerkt hatte, war Scott vor Verlegenheit rot geworden. Aber Krista war in ihre eigenen turbulenten Gedanken versunken gewesen, fast hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt.

Als er auf Krista stieß, saß sie auf dem zerfallenden Ausläufer der Mole, hatte den Blick verträumt in die Ferne gerichtet und musste auf jeden, der sie dort sah, wie eine wunderliche

Gestalt aus vergangenen Jahrhunderten wirken, die darauf wartete, dass das Schiff ihres Geliebten in der Dünung auftauchte. An diesem Abend hatte sie sich mitten in einem qualvollen Übergangsstadium befunden. In den letzten Wochen war sie durch die harte Schule heftiger Nackenschläge gegangen und vom Mädchen zur erwachsenen Frau gereift. Schließlich endete es damit, dass Scott sie in die Arme nahm und tröstete. Als es später in Strömen regnete, küsste er sie, strich ihr über das nasse Haar und flüsterte, es werde schon alles gut werden. Noch ehe er die Mole verließ, war er bis über beide Ohren verknallt. Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte und zu seiner engen Koje in der Klinik zurückgekehrt war, hatte er stundenlang mit einer Art Phantomschmerz im Herzen wach gelegen.

Sieben Monate später, Kristas Bauch war inzwischen auf die Größe eines Basketballs angeschwollen, heirateten sie. Einen Monat später kam das Kind auf die Welt, das sie Kathleen Marie tauften.

Auch darüber hatte Scott seit Jahren nicht mehr bewusst nachgedacht: über die Tatsache, dass er nicht Kaths leiblicher Vater war. Anfangs, ehe Kath geboren war, hatte das an ihm genagt. Aber selbst damals war ihm klar gewesen, dass dieses Nagen vor allem mit seinem eigenen, ach-so-empflndlichen Ego zu tun hatte. Ein anderer Mann war mit dem Mädchen, das er liebte, zusammen gewesen, ein anderer Mann war in sie eingedrungen. Krista, die seine Empfindungen spürte, versicherte ihm, es sei nur eine einmalige Sache gewesen, mit einem Jungen, in den sie die ganzen letzten Schuljahre hindurch verschossen gewesen sei. »So was kann auch nur mir passieren«, hatte sie an jenem Abend auf der Mole gesagt. »Ich probier's ein einziges Mal - und schon bin ich schwanger

Aber als Kath erst einmal auf der Welt war und ihn mit ihrem niedlichen, runden Gesicht zu verzaubern begann, hatte er sich erneut bis über beide Ohren verknallt. Kath war ganz und gar seine Tochter. Wehe jedem Mann, der sich erdreisten sollte, das in Frage zu stellen.

Als das Telefon im Fernsehzimmer schrillte, fuhr Scott wie in einem Krampf zusammen. Kaths Puppe rollte von seinem Schoß auf den Fußboden, wo sie mit dem Kopf nach unten als formloses Stoffbündel landete. Mit einem Satz schnappte er sich den Hörer, der in der Hand der Mickymaus klemmte.

»Hallo?«

»Dr. Bowman?«

Es war Vince Bateman. Angesichts der Uhrzeit und der Situation war Scott über diesen Anruf ebenso erstaunt wie verärgert.

»Ich weiß, es ist schon spät«, sagte Bateman, ohne Scotts Antwort abzuwarten, »aber ich habe gerade ...«

»Hören Sie, Vince«, unterbrach ihn Scott, »ich verstehe ja, dass Sie wegen der Besprechung sauer sind. Tut mir Leid, aber ich kann mich im Augenblick nicht damit befassen. Ich erwarte nämlich einen wichtigen Anruf und muss die Leitung freihalten

»Um die Besprechung geht's aber gar nicht«, erwiderte Bateman. »Außerdem ist sie trotz Ihrer Abwesenheit bemerkenswert gut gelaufen. Ich rufe Sie in meiner Eigenschaft als Stationschef an, Scott. Was ich eigen dich sagen wollte, ist Folgendes: Gerade eben hat mich die Aufsicht auf der anderen Leitung informiert, dass Sie am frühen Abend eine ziemliche Szene hingelegt haben, eine Szene bei unserem medial veranlagten Patienten. Stimmt das

»Ja, aber ...«

»Was, zum Teufel, geht hier vor, Scott In Batemans Stimme schwang ein offener Vorwurf mit. »Nach dem, was die Schwester sagt, hätten Sie den alten Mann ernsthaft verletzen können. Ein solches Verhalten macht sich gar nicht gut, mein Freund. Was läuft da schief? Stehen Sie vielleicht unter übermäßigem Stress

Als er jetzt darüber nachdachte, musste Scott zugeben, dass es tatsächlich nach einer schlimmen Szene ausgesehen haben musste. Und es stimmte auch - er hatte es selbst gemerkt, als die Schwester ihn daran gehindert hatte, den Mann weiter zu schütteln dass er den Alten, gebrechlich wie er war, um ein Haar ernsthaft verletzt hätte.

Dennoch merkte Scott, wie ihn Batemans herablassender Unterton zur Weißglut brachte. Ganz abgesehen davon, dass er dieses Gespräch jetzt nicht führen wollte.

»Wir sprechen ein andermal darüber, einverstanden, Vince

»Ich hätte nicht angerufen, wenn ich die Sache nicht für wichtig gehalten hätte ...«

»Es geht um den Zeichner und einige seiner Skizzen«, erklärte Scott. »Ich fürchte, Krista und Kath sind in Gefahr, könnten einen Unfall mit dem Auto haben. Bitte verstehen Sie, dass ich die Leitung freihalten muss. Krista hätte längst anrufen müssen Als er seine Ängste in Worte fasste, wären Scott fast die Tränen gekommen. »Vielleicht versucht sie ja gerade, zu mir durchzukommen, während die Leitung durch unser Gespräch besetzt ist

»Oh.« Batemans ursprünglich heftiger Ton schwand. »Nun ja, vielleicht gibt es ja gar keinen Grund zur Sorge. Solche Leute können sich auch einmal irren, wissen Sie ...« »Auf Wiederhören, Vince

»Wiederhören«, sagte Bateman und fügte hastig hinzu: »Geben Sie mir Bescheid, falls ... Auf Wiederhören, Scott

Mit einem verzweifelten Seufzer hob Scott Kaths Puppe auf und setzte sie auf die Tischplatte. Ihr Kopf sackte schlaff nach vorn. Er warf einen Blick auf die Uhr. Als er sah, dass es bereits auf Mitternacht zuging, fuhr ihm die Angst so heftig in den Rücken, als habe ihn ein Skorpion gestochen. Sie hätte längst anrufen müssen. Sie hätte anrufen müssen ...

Als das Telefon eine halbe Stunde später erneut klingelte, schrie Scott erschrocken auf, während er den Hörer ans Ohr nahm. »Scott, hier ist Gerry

Scott sank das Herz in die Hose. Es hätte Krista sein müssen, dann hätte er diese ganze verdammte Angelegenheit vergessen können. Er hätte ihr sagen können, dass er sie liebte, wäre danach ins Bett gegangen und hätte die ganze Sache seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben. Aber es war Gerry, und das verschlug Scott die Sprache. Da er das Schlimmste befürchtete, wollte ein Teil seines Ichs gar nicht hören, was sein Freund ihm mitzuteilen hatte.

Gerry rief jedoch nur an, um ihm zu versichern, die Polizei von Maine und Massachusetts werde volle Amtshilfe leisten. Er hatte den Polizisten mitgeteilt, es gehe um einen Fall von Kindesentführung, sie aber davor gewarnt, Gewalt anzuwenden: Vermutlich handle es sich bei der Kidnapperin um die vom Kind getrennt lebende leibliche Mutter. Da sich die Strafvollzugsbehörden nur ungern in häusliche Streitigkeiten einmischten, hatte er außerdem erwähnt, Mutter und Kind seien in einem gestohlenen Wagen unterwegs.

Nachdem sich Scott bei seinem Freund bedankt und für seinen kurz angebundenen Ton entschuldigt hatte, klemmte er das Telefon wieder in die Hand der Mickymaus.

Er machte ein weiteres Bier auf und stürzte es in hastigen, durstigen Zügen hinunter. Müde und hungrig wie er war, machte das Bier ihn sofort betrunken. Seine Muskeln schmerzten, genau wie seine Hüfte, und jetzt tat ihm auch noch der Kopf weh.

Das Donnergrollen da draußen rückte ständig näher, hin und wieder flammten im Süden grelle Blitze auf.