Mesmers Fluch

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Ich bin nicht responsiv und damit weder für Hypnose noch für ähnlich geartete Manipulationen durch andere zugänglich. Allein meinem rationalen Vorgehen und Betrachten ist dies zu verdanken, denn so bin ich um ein Vielfaches willensstärker als die gemeine Person. Damit möchte ich mich keinesfalls über andere erheben, ich weise lediglich auf meine Gabe hin, weil sie erneut verlässlich sein muss – für mein jetziges Unterfangen gar sehr, begebe ich mich doch in ein gefährliches Zwischenreich, wo ich sonst meiner Profession vom Schreibtisch aus folge. Mir bleibt heute nichts anderes, als diesen zu verlassen und jene Person aufzusuchen, die ich zu entlarven trachte.

Dougan Hall ist jemand, den man gemeinhin als Mentalisten bezeichnen kann; ein Illusionist, der mit akribisch geplanten Täuschungen den Eindruck erweckt, Gedanken zu lesen und in die Zukunft zu schauen; jemand, der um die Geheimnisse des Unbewussten weiß und dadurch andere zu manipulieren vermag; ein nach außen hin englischer Gentleman, der durch sein bilinguales Heranwachsen seit Jahren auch in Deutschland auftritt und auf eine Vielzahl von faszinierten Zuschauern zählen kann. Ein harmloser Bühnen-Spaß ist es für die meisten – im Falle von Dougan Halls Kollegen wie Criss Angel oder Derren Brown mag dies sehrwohl zutreffen – hier aber gestaltet sich seine Popularität anders, wird sie doch von einer Reihe unheimlicher Ereignisse überschattet. Mein Problem ist, jener Zusammenhang, den ich gleich offenbaren möchte, ist niemandem bisher aufgefallen – ja, er würde sich bei jemand anderem als mir gar nicht erst zusammen setzen.

Wenn ich darauf hinweise, dass ich nicht responsiv sei, so lässt sich folgerichtig feststellen, andere sind es ganz bestimmt – jene Individuen, die sich Dougan Hall aus seinem Publikum zu suchen weiß, um mit ihnen seine in der Tat verblüffenden Tricks vorzuführen. Dafür bittet er stets sieben willkürlich gewählte Personen zu sich, lässt jeden zu seinen Instruktionen pendeln, und jener, der Dougan Halls Worten unbewusst doch harmonierend synchron zu folgen versteht, wird zum willenlosen Probanden, der unter Hypnose Zahlen vergisst oder keine Schmerzen spürt oder anderes für den Unwissenden tatsächlich Phantastisches, um dessen Aufzählung ich mich nicht weiter bemühe, weil derartiges zu zahlreich ist.

Niemand mag mehr bezweifeln, dass die durch Mesmer beeinflusste praktische Hypnose nichts weiter als Selbst-Suggestion ist, die nur funktioniert, wenn der zu Hypnotisierende daran glaubt und so seiner eigenen Responsivität anheim fällt. Und man kann sagen, der ursprüngliche Magnetismus und seine Folge-Erscheinungen dienen heutigentags hauptsächlich dem esoterischen Geschäft, nicht mehr dem Erkenntnisstreben des Einzelnen. Verdammt sind die Gläubigen, die sich Gurus und ähnlich düsteren Gestalten ausliefern, wie es das Publikum an den Mentalisten tut. Letzterer besitzt aber das moralische Gewissen, auf das Berechnende seiner Techniken hinzuweisen – wenn auch ohne sie zu entlarven – kurz: der Mentalist missbraucht seine Macht über responsive Menschen nicht. Wenn das so ist, zählt Dougan Hall ohne Zweifel zu den düsteren Gestalten, die soziale Grenzen ignorieren und sich anscheinend dem Gedanken hingeben, Schicksal zu sein, mit Worten als Gift für Ohr und Hirn.

Ich mag diesen Mentalisten also nicht und das hat einen verständlichen Grund: er ist ein Mörder. Auch wenn er nicht selbst Hand anlegte, so plante er doch vorsetzlich und skrupellos das Dahinscheiden von mehr als einem Dutzend unschuldiger Personen. Ich brauchte Jahre, um sein System zu durchschauen, ihm zunächst auf die Spur zu kommen – jetzt bin ich sicher und heute will ich ihn mit dem Ergebnis meiner Recherchen konfrontieren.

Ich stieß mehr zufällig als willentlich auf Dougan Halls ungeheuerliche Taten. Es mag schon zehn Jahre her sein, als mir die erste Anomalie in den charakterlichen Dispositionen einer jener traurigen Gestalten unterkam, die Selbstmörder genannt werden. Doch ich tat diese Erscheinung als die berühmte Ausnahme von der Regal ab. Er blieb nurmehr ein Faszinosum, der sich ohne jeglichen äußeren oder inneren Druck von all den anderen untersuchten Fällen unterschied – für eine kurze Zeit befürchtete ich gar, auf einen neuen Typus von Selbstmördern gestoßen zu sein, was ich Monate später in einem weiteren Fall zunächst bestätigt sah. Mit den Jahren häuften sich diese Anomalien und bald füllte ich eine Akte über jene, bis dahin neun Menschen, die ohne ersichtlichem Grund zu Tode stürzten – so viel hatten sie nämlich gemeinsam, nicht nur eine Abgrenzung von den typisierten Freitoden, sondern auch die Wahl der Methode: der Sprung von einem hohen Haus. Ein Kollege mit einer ähnlichen, soziologischen Profession wie die meine riet mir, diese Fälle genauer zu untersuchen, und so brach ich zu einer Reise quer durch Deutschland auf, von der ich einer weiteren Gemeinsamkeit habhaft werden konnte, die in den Worten einer Hinterbliebenen wieder gegeben kann, weil sie treffend zusammen fassen, was ich allerorts erfuhr:

„Ich verstehe es bis heute nicht. Noch am Abend, bevor er sich das Leben nahm, war er in einer Show dieses Mentalisten Dougan Hall gewesen, so begeistert und lebensfroh, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, etwas stimmte nicht. Seine gute Laune steckte an und er plauderte vergnügt darüber, was er in den nächsten Monaten alles vorhätte.“

Es sollten drei weitere Jahre vergehen, bis ich mir sicher wurde, dass Dougan Hall mit den Selbstmorden direkt zu tun hatte – in der Zeit geschahen vier weitere, die in ihrer Anomalie aber auch im Abend vor der Tat den anderen geradezu glichen. Heute also bin ich gewiss, jeder dieser Selbstmörder besuchte Dougan Halls Show und sobald ich über Hypnose, Responsivität und Mesmers Lehren Kenntnis hatte, blieb eine einfache Gleichung zu lösen. Da ich aber in des Gesetzes Augen über nicht mehr als Mutmaßungen verfüge, bleibt mir nur, ein Geständnis zu erzwingen.

Um dieses Unterfangen den Toten würdig umzusetzen, bedarf es mehr als auf einen weiteren Auftritt des Mentalisten Dougan Hall zu warten und ihn um eine Privataudienz zu bitten. Denn als Wissenschaftler, ebenfalls von keinem geringfügigen Ruf, war es mir ein Leichtes, ein Treffen zu arrangieren – Dougan Hall mag gar Kenntnis haben, wer ich bin – was ich dafür am dringendsten benötige, ist eine Strategie, ein kommunikatives Set der Verteidigung, denn mein Gegenüber entspringt nach allem, was ich nun weiß, einem dämonischen Verlangen nach allumfassender Kontrolle jedweder Situation, die er ums Verderb nicht aufgeben wird. So eignete ich mir in den letzten Monaten selbst die Methoden jener Schule an, die auf Suggestion basiert.

Ich möchte ihn jedoch nicht mit den eigenen Waffen schlagen – nein, dieser Weg wäre gefährlich und plump – ich möchte vielmehr mein Wissen verbergen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Denn es heißt, der fähige Falke versteckt seine Krallen so lange, bis ihm der Zeitpunkt richtig erscheint. Dies nun kann ich gleich testen, denn seine Show ist soeben vorbei und ich warte seit fünfzehn Minuten in einem kleinen Raum hinter der Bühne, in dem Früchte und andere Speisen sowie Getränke aufgebahrt sind. Ich fühle mich entspannt, werde ich ihm stets den entscheidenden Schritt voraus sein, ist er doch unwissend über mein eigentliches Anliegen. Kurz nur bin ich versucht, mir von den Speisen zu nehmen, aber nein, es käme dem Entweihen der Toten gleich, sollte ich etwas von dieser Person annehmen oder was für ihn bestimmt ist selbst nutzen.

Die Tür geht auf und mein Abend teilt sich in ein Davor und ein Danach. Mit Dougan Halls plötzlichem Erscheinen wird mir bewusst, dass ich mein Vorhaben in eine Tat umzusetzen habe – als Narr fühle ich mich nicht, nur leicht überrumpelt. Ich gebe dem Impuls, meine sitzende Position zu verändern, nicht nach und nutze die wenigen Sekunden, bis er mich ansprechen wird, für nähere Betrachtungen.

Dougan Hall trägt nach wie vor seinen schwarz-seidenen Anzug, dem ungewöhnlich für einen Illusionisten der Schlips fehlt. Galant bleiben die oberen zwei Knöpfe des weißen Hemdes geöffnet und verleihen ihrem Träger den Eindruck, sich soeben von einer Dinner-Party ins Private zurück gezogen zu haben. Er trägt das dunkle Haar kurz; die Figur schmal doch nicht schmächtig, vermutlich gut trainiert; das Gesicht glatt und glänzend; seine blauen Augen die eisigen Verräter seiner Intentionen. Als er sich nähert, mich flüchtig begrüßt und zu den Speisen langt, um sich einen Apfel zu greifen, rieche ich seine Essenz, so erscheint es mir, Minze und Rauch – das eine um das andere zu verbergen, was ihm nicht gelingt, ein Spiegel seines Wesens.

Ich schaudere, als er mir eine Hand auf die Schulter legt, dem Vertraulichen unter Freunden ähnlich, und mir feste in die Augen starrt, während er seine ersten, wohl artikulierten Worte an mich richtet. Seine Stimme ist wie das Rauschen des Meeres, beruhigend, und lässt jede Gemeinheit oder Hinterhältigkeit vermissen. Er scheint ehrlich um meine Meinung bemüht, als er wissen möchte, wie mir sein Auftritt denn gefallen habe, und ich antworte ebenso ehrlich, beeindruckt zu sein – seine Vorhersagungen und die Hypnosen seien von vortrefflicher Art, ohne der Möglichkeit zu erahnen, wie dies überhaupt geschehen könne – übersinnlich begabt müsse er sein, anders ist es kaum zu erklären. Daraufhin erfüllt ein fröhliches Lachen den Raum um mich, der doch zuvor so still war und meinen Gedanken Zeit gab, sich zu entwickeln. Nun bleibe ich augenblicklich auf der Hut und lasse ihn im Glauben, sein süßes Gift wirkte schon.

„Einen guten Mentalisten zeichnet aus“, sagt er, „dass jeder von ihm annimmt, er besitze tatsächlich magische Kräfte, obwohl er zuvor darauf hinwies, eben diese nicht zu haben und stattdessen jeden Effekt allein aufgrund seiner ach so menschlichen Fähigkeiten erzielt.“

Dougan Hall dankt mir gar, dass ich ihn heute treffe, ist er doch stets an neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert, kann er mit ihnen womöglich seine Tricks verfeinern, neue entwickeln oder sich einfach inspirieren lassen für Geschichten, die zu erzählen ein wichtiger Bestandteil seiner Show ist. So stellt er mir gleich eine nächste Frage, bevor ich überhaupt ansetzen kann. Das spontane Reagieren ist, wie mir scheint, zwar diffiziler doch umso wirkungsvoller als eine zurecht gelegte Strategie. Er fragt mich nun nach meiner Profession – nein, nein, nach der Spezialisierung meiner Profession, denn jeder Wissenschaftler sei doch heutzutage auf wenige bis einen Bereich fest gelegt, um es zur Expertenschaft zu bringen.

„So ist es wohl“, sage ich, „mein Metier ist die Devianz und auch dort, zur weiteren Unterscheidung, ist es nur ein kleiner Bereich, dem ich mich seit Jahren widme.“

Einem Kinde gleich klatscht Dougan Hall mit seinen Händen, sagt, er habe es gewusst und dieser sei gewiss der Grund, der mich heute zu ihm treibe. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass er nun sitzt. Dies trifft mich nur so tief, weil ich nicht erinnere, wann er sich denn setzte, geschweige denn einen zweiten Stuhl in diesem Raum bemerkt zu haben – doch dies ist nicht alles: in seiner Haltung imitiert er meine eigene; das linke Bein über das rechte gewinkelt; den rechten Ellenbogen auf die Armlehne gestützt, die linke Hand ruht auf dem Oberschenkel. Mich erschreckt, dass er Rapport erzwingt als wäre ich sein Proband. In Imitation versucht so einer nämlich, zu einer gleich sehr intimen Atmosphäre zu gelangen, in der das Opfer – ja, so nenne ich mich grad – sich wohl und verstanden fühlt, damit aber lediglich gefügig gemacht wird. Als ich meinen Schock überwinde, ihm mag er sehrwohl aufgefallen sein, spreche ich den Rapport an, nicht pikiert, aus Amüsiertheit, wie ich spiele.

„Verzeihen Sie“, sagt er, „eine Berufskrankheit.“ Und verändert Haltung an Armen und Beinen. Ein erster, kleiner Sieg, denke ich. Es obliegt meinen nächsten Worten, die gezielt zu treffen mein Wunsch ist, auf jenes Thema zu kommen, das mich zu ihm führte, und dabei zu wirken, als sei ich um seinen Rat bemüht. Er fragte mich nach Profession, warum also sollte ich nicht gleich beginnen? Während er die Reste seines Apfels auf einen Teller legt, sich Wasser in ein Glas schenkt, hebe ich an:

„Sehen Sie, mich führt heute ein besonderer Fall zu Ihnen, um deren Aufklärung ich bemüht bin. Sie mögen selbst von Koinzidenz und Kausalitäten Kenntnis besitzen und so bitte ich Sie, meine Hypothese, dem nötigen Ernst entsprechend, eingehend zu prüfen, ob ich nicht dem Holzwege folge. Ihre Fähigkeiten sind es, die mich annehmen lassen, dass Sie mir helfen können.“

Wieder klatscht er in die Hände und imitiert damit, erschreckend real, wie ich finde, einen Menschen des Frohsinns und der Neugier. So gekonnt verbirgt jemand sein inneres Monster nur, wenn er zur unangenehmsten Sorte von Verbrechern gehört, zu denjenigen, die auf ihren Verstand hören bei Taten, die aus niedersten Emotionen entstehen.

„Oho“, sagt er, „Sie schmeicheln mir und behandeln mich vom Rang eines Auguste Dupin. Doch bin ich nur ein Entertainer. Bitte erzählen Sie, ich will mir Mühe geben zu folgen.“

Ich erzähle ihm all das, was ich vorhin schon sagte; wie ich auf die Anomalien stieß, zu welchen Ergebnissen mich meine Reise durch Deutschland brachte und schließlich die entscheidende Hypothese. Doch mit einem Unterschied gebe ich nun mein Wissen Preis, ich benenne den Mentalisten nicht, und komme so zu der Frage, ob dieser Zusammenhang, Hypnose zum Freitod, überhaupt möglich sei. Bei all dem halte ich Dougan Hall im Blick, suche nach minimalen Veränderungen seiner Mimik, um seine Reaktion auf mein Erzählen zu deuten. Er ist von solcher Perfektion, dass ich nichts anderes erkenne als Neugier und, so erdreistet sich dieser skrupellose Mann, auch Überraschung, als würde er dies alles zum ersten Mal vernehmen. Erst als ich an ein Ende komme, ändert sich der Ausdruck in seinem Gesicht, verdüstert sich zu nachdenklicher Gram.

„In der Tat“, sagt er und nickt, „es ist gut möglich. Wie Sie in Erfahrung brachten, können responsive Menschen unter Hypnose zu den absurdesten Handlungen geleitet werden, die sie bei wachem Verstande nie unternehmen würden. Warum also nicht zum Freitod? Ich möchte meinen, eine vorzügliche Konklusion ist Ihnen da gelungen. Dazu will ich gratulieren. Doch verraten Sie mir endlich, wer ist der Schänder unschuldiger Menschen?“

Diese Frage erwartete ich wohl. Da ich den Namen ausließ, sollte seine Neugier, die er so gut spielt, siegen, und ich meine, in dem Wesen seines Blickes eine weitere Veränderung zu bemerken – als lauere er nun. Noch mehr muss ich meine Worte abwägen und sage:

„Er wird Ihnen wohlbekannt sein, doch seinen Namen mag ich nicht nennen. Sollte ich mich täuschen, käme dies einem Rufmord gleich. Gleichwohl will ich Ihnen mit Hinweisen dienen, denn sollten Sie ihn benennen, käme der Name nur über Ihre Lippen.

Der Mann, von dem ich spreche, ist englischer Herkunft, doch genauso im Deutschen bewandert. Seine Mutter versorgte ihn mit dem notwendigen Vokabular, kommt sie doch ursprünglich von hier. Er feierte im letzten Jahr sein fünfundzwanzigstes Bühnenjubiläum und folgt dafür bis heute einer Show, die das Beste aus seinen Programmen zusammen fasst. Aufgrund seiner Herkunft befindet er sich seit vier Wochen nun in diesem Land und hatte just an diesem Abend seinen zehnten Auftritt.“

Erneut halte ich ihn starr im Blick und stelle bei meinen Worten fest, wie er des öfteren von mir wegschaut, neben mich oder, was mich sehr befriedigt, zu Boden. Jetzt greife ich mir einen Apfel und beiße wollüstig hinein, während sich Dougan Halls Miene weiter verdüstert. Dann schaut er mir eine Weile schweigend beim Essen zu. Unerwartet formt sich ein Lächeln auf seinem Mund, ein ratloses, ein amüsiertes. So gut spielt er seine Rolle, dass ich fast glaube, was er nun sagt:

„Sie sind ein Schelm. Sie sprechen doch von mir. Wie kommen Sie darauf, ich könnte zu solch ungeheuren Taten fähig sein, dass ich mit meinen harmlosen Tricks mir ergebene Zuschauer töte, nicht nur verletze, nein, töte? So frage ich Sie, was sollte da für mich sein bei dem Ganzen? Nein, so etwas Ungeheures hat mir noch keiner zugetraut.“ 

„Eben deshalb“, sage ich, „braucht es für einen perfekten Mord ein anderes Motiv als seine Perfektion selbst? Und ist die Macht über andere Menschen nicht das höchste zu erwerbende Gut einer Hypnose? Ja, reicht es nicht schon, kurz Gott zu sein, der gar mit Völkermorden ungestraft bleibt?“

Dougan Hall lacht wieder, aber es klingt nicht nach seinem ersten Lachen über meine Komplimente, es hallt verbittert und beleidigt in meinen Ohren. Plötzlich springt er auf, klatscht ein weiteres Mal in seine Hände, dass ich erschrecke, jetzt auch körperlich zusammen fahre.

„Bitte gehen Sie“, sagt er, „ich erhoffte ein tieferes Gespräch über soziale Interaktion und ihre Folgen, nicht solche schweren und geradezu lächerlichen Vorwürfe. Mag sein, dass Sie Koinzidenzen entdeckten, die mit meinen Auftritten zusammen hängen, aber nur ein närrischer Experte käme auf jene Schlussfolgerungen. Guten Abend.“

Nach diesen Worten dreht er sich von mir, schreitet zur Tür, und öffnet und schließt und verschwindet. Doch mit seinen Worten auf meinem Diktiergerät, das ich noch vor seinem Erscheinen einschaltete, habe ich nun einen ersten Beweis für seine Schuld – ein auffälliger Widerspruch in dem, was er sagte. Oder wie lässt sich erklären, dass er meiner Hypothese nur so lange zustimmte, bis ich sie auf seine Person anwendete? Mit diesem Geständnis zwischen den Zeilen verschwinde ich ebenfalls, hinaus in eine vom Winter noch frische Nacht. Eine erleichternde Fröhlichkeit begleitet mich, als ich einem Gedanken folge, der mir verlockend scheint: Ich töte mich.

Aber nein, was denke ich für einen Unsinn?

Drei Worte, die in ihrer grammatikalisch richtigen Reihenfolge für Erschrecken sorgen und die keinem rationalen Geist, über den ich wohl verfüge, je unterkommen würden. Doch in diesem kurzen Satz klingt noch anderes mit, das ich nur mit einem Ausdruck beschreiben kann, der mir als Wissenschaftler so viel bedeutet: Antworten. Erst durch eigene Erfahrung mag der letzte Sinn gefunden werden, eine subjektive Erkenntnis für ein objektives, soziales Phänomen, den Freitod. Sollte ich diesen letzten Schritt tatsächlich wagen, was bliebe mir dann von der Erkenntnis? Doch nur das Nichts.

Wissenschaftliche Erkenntnis bleibt nicht das Einzige, wonach ich strebe, wenn ich vor mich hin denke, weiter fröhlich, dass ich mich töten werde. In dieser Handlung steckt Freiheit, ein Ausbrechen aus der Gesellschaft, deren Devianz täglich vor meine Augen kommt, aus einer Welt, in der Menschen ihre letzte Möglichkeit im freiwilligen Dahinscheiden sehen, so zerbrochen sind sie. Ich würde mir das Leben aus einem Akt der Freude nehmen, ja, der Freitod ist ein Geschenk, das andere nicht begreifen, ehe sie an diesen Punkt in ihrem Leben gelangen. Womöglich gäbe es eine nicht mehr abreißende Folge von täglich Dutzenden Selbstmorden, wenn alle zu jener Epiphanie geführt werden, die mir soeben widerfuhr. Habe ich dies alles nicht meinem Vorhaben zu verdanken, heute Dougan Hall aufzusuchen?

Einen Moment bitte … Dougan Hall? … den ich des Mordes verdächtige? In welchem Labyrinth der Gedanken irre ich gerade? Freitod? Mag es sein, ja, besteht die minimale Wahrscheinlichkeit – mit seinem Klatschen und dem Lachen, dem Rapport, den Gaben auf dem Tisch, seinem plötzlichen Auftreten und Verschwinden – war dies alles inszeniert für mich? Wusste dieser abscheuliche Mensch gar, warum ich ihn heute aufsuchen würde?

Wenn ich meinen Gang verlangsame, vermag ich auch das Karussell in meinem Kopf zwar nicht anzuhalten doch zu entschleunigen – ein Karussell, in dem sich nur ein Satz dreht, drei Worte, in richtiger Folge, erleichternd, erlösend, ich töte mich. Oh, ich möchte es so sehr. Dieses leichte Flammen in mir ward stärker und stärker zum lodernden Feuer entfacht, das mich und mein Wesen zu verbrennen droht, wenn ich diesem Drang nicht nachkomme. Ich weiß, dass ich bis ans Ende meines Lebens daran denken werde, also warum sollte ich es nicht sofort tun? Mein Büro im Philosophen-Turm, der siebente Stock – es musste ein Turm sein, in dem ich arbeite … weil ich dort gleich sein werde … gleich, gleich.

Ich laufe nun die Straße entlang, keine Zeit mehr zu verlieren; die Tasche so schwer, ich werfe sie von der Schulter. Wo ich einkehre, brauche ich sie nicht mehr. Doch darin … das Diktiergerät … die Aufnahmen von Dougan Hall, sein Geständnis zwischen den Zeilen. Es ist mir gleich, ich bin der noch lebende Beweis seiner Taten.

Er ist gnädig, bringt er nicht den Tod, sondern ein neues, ein anderes Leben. Wer weiß, was danach ist? Ich kann es kaum erwarten zu erfahren und renne schneller, obgleich meine Glieder schmerzen; nun, Schmerzen, die sind gleich nicht mehr, ha! Noch um diese Ecke muss ich rennen, da erblicke ich den Turm, der schweigend und dunkel in den Himmel ragt. Keiner ist dort, um mich zu empfangen, aber ich besitze einen Schlüssel, schließlich bin ich Professor, habe die Ehre. Ha!

Ich erreiche die Türen; meine Hände zittern, als ich nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche greife, doch leicht, so leicht all das für mich; ich renne durch das Foyer, so nachtschwarz hier, aber ich kenne jeden Winkel, ein Leichtes, so leicht; dann stürze ich die Stufen im Treppenhaus hinauf und hinauf und hinauf in den Stock meines Büros; dort endlich, Ruhe in mir, Stille um mich, bis ich mich hinein lasse, das Fenster; ich töte mich, denke ich, jetzt, doch es sind nicht meine Worte; ich weiß das, oh ja, ganz genau weiß ich das, ich bin ja nicht responsiv, bin ich nicht, nein; ich öffne das Fenster, bitte sehr, treten Sie aus, der Herr, auf Wiedersehen.

Ich springe vom Sims in die frische Luft des Winters und schreie:

„Dougan Hall ist ein Mörder!“