Das flüsternde Haus

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L'écrit d'une existence déchue.

Adéma

 

 

An einem erdrückend heißen Junitag begab ich mich in den mit Menschen vollen Waggon einer Schnellbahn, die mich von Hoheneichen nach Barmbek brachte, und noch vor meiner Ankunft erblickte ich durch ein Fenster das alte Warenhaus, dessen verwahrloste Fassade mich erschaudern ließ. Mag es der Schmutz gewesen sein, der jedem Regenschauer standgehalten hatte, oder seine erdüsterte Umgebung, die sich grotesk vom blauen Himmel absetzte, mir war unwohl und kein Haus in der Nähe vermochte jene vollkommene Tristesse zu brechen. Diese Seite des Bahnhofs war durch jahrelange Vernachlässigung in einen Zustand geraten, der nur durch das Wort desolat treffend beschrieben werden kann. Schon zu Zeiten, als das Geschäft florierte, Kunden auch aus benachbarten Stadtteilen vorbeischauten, um Haushaltswaren, Tonträger oder Kleidung zu erwerben, besaß das in seiner Symmetrie gebrochene Äußere des Warenhauses einen ausladenden Charakter. Seine drei Stockwerke waren nicht untereinander abgestimmt. Die oberen Plattformen verschoben sich ohne einem ersichtlichen, architektonischen Grund über die unterste Etage, sodass sich drei Meter ihres Bodens über den Eingang schoben und jedem Sonnenlicht stahlen, der sich näherte. Des Gebäudes Fenster waren sich genau so uneins im Erscheinungsbild, unten lang und breit, ganz oben schmal und kurz. Dazu bildete die Front der mittleren Etage mit ihren gitterartigen, weißen Latten vor dem Glas eine beängstigend eigene Wesenheit, die allen anderen Bestandteilen in ihrer Optik die Kraft raubte. Das war, was mich schaudern ließ und warum ich nach meiner Ankunft auf dem Bahnsteig verharrte, mich fragte, ob ich wieder umkehren sollte. Das Warenhaus atmete die Präsenz eines Gefängnisses, aus dem nicht zu entkommen war. Doch ich schalt mich einen Narren, denn hier hatte ich meine Kindheit verbracht, behütete und glückliche Jahre, und das Warenhaus war trotz allem ihr Zentrum gewesen. Dort hatte auch ich meine Waren erworben, ordentlich mit Taschengeld bezahlt, blieb Stunden in Abteilungen, versteckte mich und erlebte meine kindischen Abenteuer. Ich lachte in die von Schwüle feuchte Luft und neuen Mut fassend schritt ich die Treppen hinab, tiefer in den Bauch des Bahnhofs und noch tiefer hinaus zum alten Busbahnhof, der ungenutzt war wie das Warenhaus, das keine fünfzehn Schritte entfernt lag. Hier mochte ich vielleicht einen anderen Eindruck gewinnen, der die zutiefst deprimierende Atmosphäre wenn nicht tilgen so doch mildern konnte. Mit erneutem, noch stärkerem Schaudern stellte ich fest, dass dort nichts mehr war hinter einem Bauzaun, wo gepflasterte Haltestellen, eine Überdachung oder Fensterfassaden auf mich warten sollten. Nur eine öde, eine verwaiste Baustelle, als seien Arbeiter von ihr geflohen, was ich ihnen bei Gott nicht verdenken konnte. Als meine Gedanken die Menschen streiften, wurde ich auch gewahr, dass ich als Einziger hierher geschritten war, und ich fragte mich, wie lange sie schon diesen Ort mieden und ob es von einer instinktiven Abwehr herrührte. Niemand geriet schließlich freiwillig in die Nähe eines Gefängnisses.

Trotz alledem sollte ich mich zu dieser Stunde hier einfinden und nirgendwo anders, hatte mir von meiner Arbeit freigenommen, denn mein alter Jugendfreund Dennis Roder, mit dem ich so manche Tage im Warenhaus verbracht hatte, schickte mir nur wenige Stunden zuvor eine Nachricht, die in ihrer Dringlichkeit und der den Worten innewohnenden Schwermut einer persönlichen Antwort bedurfte. Ich war ratlos, weshalb mein alter Freund mich in dieser Einöde empfangen wollte, wohnte er doch unweit davon entfernt – in einer geräumigen Wohnung, geräumiger als hier, dem dunkelsten Schandfleck bestimmt der ganzen Stadt – doch ich vermutete nur, wie er lebte, waren wir uns vor Jahren das letzte Mal begegnet, als er ein Zimmer im Haus seiner Eltern bewohnt hatte. Auch wenn wir uns seitdem über elektronischen Postverkehr austauschten, war Dennis mir im Grunde fremd. Selbst als wir Kinder waren, blieben mir seine Absichten und Gedanken zumeist verborgen. Nur seine abenteuerlichen Handlungen, ein Kaufhausdiebstahl mit anschließender Flucht als Beispiel genannt, ließen seinen Charakter für mich greifbarer werden – dies und der Hang zu Künsten, der ihm schon im Elternhaus begegnete, Malerei und Tonverarbeitung und eine nicht ungefährliche Nähe zu gedichteten Wortfantasien. Ich musste zugeben, dass ich zudem wenig von ihm wusste und in seinen Nachrichten wirkte der Zauber seiner Sätze nur, weil noch etwas anderes hinter ihnen lauerte – etwas, das in seiner Bitte um mein Erscheinen nun hervorgetreten war und mir unmöglich machte, nicht unverzüglich in diesen Bezirk zu reisen.

Auch wenn ich mich fragte, wie ich jemanden wie Dennis Roder noch heute meinen Freund nennen konnte, traf mich die Nachricht vom Tode seiner Frau tief. So, dass ich glaubte, ihn erst gestern gesehen zu haben, was nicht unmöglich gewesen wäre, wohnten wir doch in derselben Stadt. Seine Trauer entflammte eine tiefe Verbundenheit zu ihm, die ich mir nun, bei Licht betrachtet, niemals zugetraut hätte, war Dennis doch für Jahre kein wesentlicher Bestandteil meines Lebens mehr gewesen. Ja, seine höchst unregelmäßigen Nachrichten an mich befremdeten viele Male mein Gemüt und häufiger, ich gebe es zu, war ich versucht gewesen, meinen Kontakt mit ihm abzubrechen. All das geriet jedoch in den Teich des Vergessens mit der Nachricht um den Tod seiner Frau. Es beschämte mich, nicht zu wissen, wie ihr Name war, und es verwunderte mich zugleich, dass ich aber um seine Hochzeit wusste, weil ich mich nicht erinnern konnte, wann er mir dies denn mitgeteilt hatte. Ich wusste nur, dass ich nichts von ihr wusste. Warum traf es mich so tief, während der Tod seiner Eltern, schon drei Jahre zurück liegend, mich kaum berührt hatte? – das Geheimnis lag allein in seinen Worten, die er wählte, um mich mit dieser oder jener traurigen Nachricht bekannt zu machen. Und in Dennis Roder klang die Liebe zu seiner Frau ungleich stärker als die zu seinen Eltern je geklungen hatte. In seiner letzten Nachricht sprach er über den Verlust so stark wie ein körperliches Leiden – mich interessierte, ob ich in seiner Handschrift mehr hätte deuten können, eine Zittrigkeit vielleicht, die das nervöse, körperliche Unbehagen unterstrichen hätte. So aber war ich wie jeder in unserer ach so modernen Welt den leblosen weil identischen Buchstaben auf einem Bildschirm ausgesetzt. Nahezu unwissend also über das, was mich erwarten sollte außer dem trauernden Ehemann, fand ich mich an jenem unwillkommenen Ort ein, der in seiner Ödnis sehr an das Gemüt meines Freundes erinnerte.

Ich sagte, mein naives Unterfangen, nämlich zu der Baustelle mich wenden, diente einzig und allein, mich noch unwohler zu fühlen an einem Ort, den ich dereinst so lieb gewonnen hatte. Zweifellos trug das Wissen um die ebenso verwahrloste wie abgerissene Bushaltestelle zu meiner Empfindung bei, die ich nur als Aberglaube bezeichnen kann. Und dieser, so lässt sich vielerorts feststellen, ist der beste Nährboden der Angst, weil er sich nicht vernünftig begründen lässt. Dieses Schaudern, dies Kribbeln auf meiner Haut und das leichte Zittern in meinen Gebeinen mögen auch Ursache dafür gewesen sein, dass sich, als ich mich vom Zaun entfernte und weiter zum Warenhaus wanderte, eine gar seltsame Vorstellung meiner bemächtigte – eine geradezu lächerliche Vorstellung, in der die Schatten aus den oberen Stockwerken sich in die unteren Mauern gefressen hatten. Ja, es schien mir, die gläsernen Türen des Eingangs waren mit einem dunklen, schmierigen Film überzogen und der Unrat, der sich vor den bemalten Wänden aufdringlich verteilt hatte, war aus ebendiesen Schatten geboren worden. Meine Einbildungskraft war derart überreizt, dass ich glaubte, in ungleich kältere Gefilde zu gelangen, war ich aus der Hitze des Tages unter das Vordach des Warenhauses gedrungen. Ich wünschte mir eine Jacke, noch mehr, da ein leichter doch ergreifend kalter Hauch dort wehte. So schalt ich mich ein zweites Mal einen Narren, dem seine Fantasie gar unglaubliche Eindrücke vortäuschte, die jeder andere in Unkenntnis über die Nachrichten meines Jugendfreundes augenblicklich vergessen hätte. So erklärte ich es mir und trotzdem es mich fröstelte wanderte ich weiter an der Fassade entlang zum Ort, an dem Dennis mich zu treffen gedachte.

Was mir wie ein Traum erschienen war, diesen Ort als verwunschen zu erspüren, schüttelte ich von mir ab und zwang mich, die Wände, die Fenster, das Warenhaus im Allgemeinen so zu betrachten, wie sie wirklich waren. Verwahrlost wirkte es hier vor allem wegen des Gekritzels, das sich, von unzähligen Schmierfinken zu unterschiedlichen Zeiten verfasst, über die angegilbte Weiße der Wände ergoss – unleserlich, so kaum zu entziffern, und jene Buchstaben, die mir bekannt waren, entzogen sich ohne Kontext jedem Sinn; das Gekritzel gescheiterter Existenzen, mehr war es nicht. Meinen Blick nach links gerichtet, auf das bunte Graffiti-Treiben, bemerkte ich erst nicht, dass ich zur Hauptstraße gelangt war, an die sich das Warenhaus presste, als wollte es über den Gehweg auf die andere Seite flüchten. Auch dort, nach der Ecke war seine Fassade ausladend und unrein, Fenster angebrochen, besudelt mit Unrat, bepinkelte Stufen, die zum Haupteingang führten. Am Vordach entlang zog sich ein feiner doch wahrnehmbarer Riss, der sich im Zickzack über ein Wandteil der Fassade schlich und im Bürgersteig verlor. Dort war es dann, als ich wieder aufblickte und meinen Freund bemerkte, der schon während meines gedankentrunkenen Wanderns weiter vorn gestanden haben musste – fürwahr, sein Äußeres bescheinigte mir, wie recht ich hatte, er gehörte hierhin.

Mein Freund hatte mich früher gesehen als ich ihn, das wurde mir deutlich, weil er mich sogleich mit einem gehobenen Arm grüßte, kaum war er mir aufgefallen. Seine Bewegungen wirkten träge, eines Somnambulen gleich, der in seinem Schlaf einfachste Gesten ausführte – und trotzdem, neben diesem Erscheinen äußerte sich eine Angespanntheit im aufgerichteten Rücken und der seltsam steifen Position der Beine. Ich brauchte kaum zehn Schritte, um ihn zu erreichen, doch er verharrte dort, bis ich in Hörweite war, und begrüßte mich mit warmen Worten der Wiedersehensfreude. Dies nun glaubte ich ihm nicht, vermutete ein Schauspiel, als er mir kurz darauf die Arme auf meine Schultern legte und ein Lächeln offenbarte, das zugleich von Freude und Trauer sprach. Freude über mein Erscheinen, doch Trauer über all das, was sich in den letzten Wochen, gar Monaten in sein Gemüt gefressen hatte. Seine Erscheinung hatte sich in den, was mögen sie mehr sein als zwei Jahrzehnte so furchtbar verändert, dass ich mich scheute, ihm länger in die Augen zu sehen – Augen, deren Glanz getrübt war und die von Falten ringsum gealtert wurden. Sein Haar, einst strahlend und voll, nun ausgezehrt und wirr, wie Stroh, das durch die Kraft der Sonne bald zu brechen drohte. Die leichenhafte Blässe seines Gesichts schluckte seine sonst so attraktiven Züge – die gerade Nase und die schmalen doch schön geschwungenen Lippen, und seine markanten Wangenknochen, die ihm jenen besonderen Ausdruck verliehen, dass man sein Antlitz nicht vergessen konnte. All das nun litt unter dieser Blässe, die seine Haut beinah durchscheinend machte und so das noch hellere Weiß der Knochen darunter offenbarte. Dazu wirkte seine schmächtige Gestalt als hämische Ergänzung für den trauernden und zurückgezogen lebenden Witwer. Unter dem Schatten des Vordachs war Dennis ein Gespenst, das sich nur kurz aus seinem Gemäuer wagte, aus jenem Warenhaus, auf das er zeigte, kaum war unsere Begrüßung abgetan. Seine Gestalt hatte mich so abgelenkt, dass ich erst spät erkannte, wir trafen uns vor einer weiteren Tür, die ins Warenhaus führte, jedoch nicht zur Verkaufsfläche, stand auf dem Glase doch Personaleingang. Die letzten fünf Minuten war ich mir derart fremd vorgekommen, als Marionette meiner Umwelt, die meine Wahrnehmung zu filtern und damit zu kontrollieren schien.

Mein Freund griff mit der rechten Hand in seine Hosentasche – die Kleidung im Übrigen blieb das Einzige, das von seinem bedächtigen und früher so aufgeräumten Charakter zeugte; ein letztes Detail, das mich wenig beruhigte – und förderte ein Schlüsselbund zu Tage, dabei schritt er die erste Stufe zu den Türen empor.

„Lass uns zunächst hinein gehen“, sagte er beiläufig, „danach können wir alles weitere bereden.“

„Wie, du willst dort hinein?“

Dennis hielt auf der zweiten Stufe inne, drehte sich zu mir und ich sah mich bestätigt, was ich über seine Handschrift vermutet hatte. So hätte sein Brief ausgesehen – zittrig wie seine Hand und ihre dünnen, blassen Finger, die den Schlüsselbund umkrallten, während er mit leichten Schlägen gegen den Oberschenkel versuchte, einer übermäßig nervösen Erregung Herr zu werden. In seinem Benehmen fiel mir das Unstete auf, zu dem er früher nicht geneigt war. In einem Moment dieses apathisch Somnambule, im anderen der jetzt auch leicht schwankende Mensch. Ja, trunken wirkte er und sein Sprechen, seine Stimme und Betonung erinnerte an jenes bleierne, kehlige Raunen, zu dem nur Berauschte fähig waren.

„Ach, das hatte ich dir nicht geschrieben? Es mag nun ein halbes Jahr her sein, seit ich zum Verwalter dieses Gebäudes wurde. Ich nutze es seitdem zum Arbeiten.“

Nun, den Aberglauben vermochte ich von mir zu schütteln, aber das tiefe Unbehagen in meiner Seele wollte nicht weichen, auch wenn ich mich gezwungen sah, der Aufforderung meines Freundes zu folgen. Ich behauptete damals, ich täte es aus Mitleid, aber jetzt kann ich umso ehrlicher sein – mehr als alles andere war ich von der verwahrlosten Düsternis fasziniert, eine morbide Faszination zweifellos, doch ich glaubte an ein Geheimnis, das es zu lüften galt, in demselben Maße, wie ich das Lauernde hinter den Worten meines Freundes vermutete. So erwähnte ich nichts von meinen ersten Eindrücken und gab mich ganz der Neugier hin, was mich im Inneren des Warenhauses erwarten mochte, und ich hütete mich, Dennis mit Fragen zu belästigen, denn es würde die Zeit kommen, in der er reden musste. Zunächst genügte das Erkennen, er und das Haus waren sich so nahe, wie ich den Eindruck bekommen hatte.

Als wir in das enge Treppenhaus gelangten, die Glastür lautlos zugegangen war, kroch das Abfallen der Temperatur in meine Kleidung, dass ich fröstelte. Nichts erinnerte mehr an den Sommer, der unsere Stadt seit Wochen gefangen genommen hatte – zwei Welten, dachte ich, ein Drinnen gegen das Draußen, nie war mir die Bedeutung dieses Gegensatzes klarer gewesen. Ich folgte meinem Freunde die Stufen hinauf, unter nervösem Geklapper, denn seine Hand schlug weiter gegen den Oberschenkel bei jedem Schritt, und je höher wir kamen, desto dunkler wurde es um uns – keine Fenster zu erblicken, so wusste ich, wir waren hinter der Fassade der ersten Etage, dort, wo mein Eindruck des Gefängnisses herrührte. Mein Freund schnaufte wie unter einer schweren Last, dabei trug ich doch meine Reisetasche, die ich am Morgen mit dem Nötigsten gepackt hatte. Überdies war aber nichts Ungewöhnliches auszumachen und bis auf die Kälte war mir das Treppenhaus so ordinär wie jedes andere, ja, nach den ersten Minuten meiner Ankunft hatte ich wesentlich Ungeheuerliches erwartet, nicht diese Profanität. Dies änderte sich, als mein Freund die nächste Tür aufschloss, die uns wahrlich ins Innere entließ, tiefer in den Bauch des verwahrlosten Gebäudes.

Unter seiner Bemerkung, dass an diesem Ort der Strom abgestellt sei, führte Dennis mich durch eine lange, ausladende Leere, ein Stockwerk, in dem nichts mehr war und damit wie eine Lagerhalle anmutete. Hier trug nun, ich weiß nicht wie, vieles dazu bei, meine unbestimmten Empfindungen wieder zu vertiefen, das gänzlich Normale eines Treppenhauses vergessen zu machen. Licht war hier kaum noch, nur genug Dämmern, dass ich die Umrisse meines Freundes vor mir erkennen konnte, meinen einzigen Punkt der Orientierung. Die Weite des Raumes wurde von Säulen gehalten, die wohl zur Stütze des obersten Stockwerkes dienten, doch in dieser Düsternis wirkten sie wie schmale Monolithen, die sich in der Schwärze der Decke verloren und so unendlich gen Himmel reichen konnten, und auch das Unreine des Bodens war mir mit fortschreitender Dauer, in der sich meine Augen an das mangelnde Licht gewöhnten, möglich zu erkennen. Dunkle Flecken breiteten sich als glanzlose Pfützen aus, wo auch immer ich hinblickte, und auch hier Unrat wie Dosen, Papier oder nicht genauer definierbare Formen. In dieser Düsternis nahm die Nervosität meines Freundes entgegen jedweder Erwartungen nicht zu, sondern verlor sich in einer gleich viel lockeren Gangart, und als ich darauf achtete, war das Klimpern der Schlüssel vergangen. Als gehörte Dennis hierhin, bewegte er sich zum ersten Mal so frei, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Das Gespenst war in sein Gemäuer zurück gekehrt.

Wir gelangten an eine dritte Türe und in seinen mir nun schon vertrauten langsamen Bewegungen schloss er auf – warum es hier verschlossen war, blieb sein Geheimnis, wer mochte schon in diese Leere einen Fuß setzen können? – einige Fenster, erinnerte ich, waren von außen gar mit Holzlatten vernagelt worden. So konnte sich nur jemand gewaltsam und unter Lärm Einlass verschaffen, was gewiss Ordnungshüter in diesen Bezirk gerufen hätte. Dennis verschloss die inneren Türen demnach aus einem anderen Grunde und mir war, als wollte er seine eigenen Dämonen nach draußen verbannen. Einmal den schmalen Flur dahinter betreten – auch hier nicht mehr als ein ersterbendes Lichtschimmern – schloss er sogleich wieder ab, kommentarlos, als bedurfte diese übermäßige und befremdende Sorgsamkeit keiner Erklärung. Durch den Flur führte er mich an zwei Türen vorbei – Küche und Toilette, wie er anmerkte – hinein in einen kaum mehr lebenswerten Raum, der außer Tisch und Stuhl nur ein wandhohes Regal voll Bücher und einer Matratze davor beherbergte. Meine Augen bemühten sich vergebens, in den dunklen Winkeln, die nahezu alles zu meiner rechten Seite aus dem Blick verschlangen, noch anderes Mobiliar auszumachen. Umso mehr erkannte ich die Kerzenhalter auf dem Tisch, die mein Freund sogleich entzündete, und Stapel von Papieren, beschriebene und leere Seiten, aufgeschlagene Bücher, Notizhefte, Stifte. Trotz der Unruhe auf dem Tische, der Kleidung, die ich im Lichte der Kerzen nun gewahr wurde und des Sofas, das sich aus den Schatten hob an jener Wand, die zuvor in vollendeter Dunkelheit verschwunden war, blieb das Zimmer seltsam leblos und strahlte jene kummervolle Atmosphäre aus, die mein Freund trotz seiner wiedergewonnenen Lebendigkeit in jeder Geste atmete.

Dennis forderte mich auf zu setzen, deutete dabei auf das Sofa und fragte, ganz der Höflichkeit eines Gastgebers verschrieben, ob ich etwas trinken wollte – er hätte Mineralwasser, das einzige Getränk neben dem Whiskey, das er ungekühlt seiner Kehle zumuten konnte. Sogleich erzählte er, wie er unter einer krankhaften Verfeinerung aller Sinne litt und ihm schon der Sommer vor der Tür, wenn auch nur unter dem Vordach und für wenige Minuten ausgesetzt, schwer zu schaffen gemacht hatte. Ihm war nicht mehr möglich, Musik zu lauschen oder etwas anderes zu sich zu nehmen als Brot mit ungesalzener Butter. Darum bedurfte er keinen Strom hier, sagte mein Freund, diese Künstlichkeit würde ihn nur weiter in seinen Zustand vertiefen – dies und die Geräusche der Nachbarn waren dafür verantwortlich, dass er nurmehr seit Lindas Tod im Warenhaus verweilte – Linda war ihr Name also, doch ich erinnerte mich nicht, ihn je vernommen zu haben.

Bis zu diesem Moment war mir noch unklar, warum ich mich hier einfinden sollte. Nur die Zeit mit einem trauenden Freund zu verbringen, ihn vielleicht an helleren Gedanken teilhaben lassen, erschien mir wenig. Dann gab Dennis Preis, an welch außergewöhnlichem Schrecken er zu alledem litt, dass ich um seine geistige Gesundheit, mehr noch als zuvor, wahrlich besorgt wurde.

„Ich werde zugrunde gehen“, sagte er, „nach allem, was war und wie ich jetzt lebe, muss ich zugrunde gehen. Das Verständnis für meinen Zustand mag dir vielleicht fehlen, mein Freund, aber wie der Tod eines Nahestehenden dein Herz zermalmen kann, das ist dir, so denke ich, wohlbekannt. Mit Lindas Ende aber fand ich mich schon ab, ja, es mag nur Wochen her sein, doch dass sie nicht mehr ist, kann als erlösend bezeichnet werden für meine arme Frau, die umso mehr gelitten hatte als ich es jetzt tue. Du magst dich fragen, wie sie denn verstorben sei. Nun lass es mich so umschreiben, ich warte darauf, von demselben heimgesucht zu werden – Tag um Tag, von Sekunde zu Sekunde fürchte ich derweil die Folgen der Zukunft mehr als was Vergangenes gelauert haben mochte. Ich schaudere bei dem Gedanken an den nichtigsten Vorfall und nur unter zehrender Kraftanwendung war es mir möglich, dir am Morgen im Internet-Café gegenüber eine elektronische Nachricht zu senden und dich eben vor der Türe zu empfangen. Ich bin nicht um die Gefahr selbst doch ihre Auswirkung so schwer besorgt, ihre unvermeidlichen Folgen für mein erbärmliches Leben, und mir graust, bald wieder die fünfzig Schritte zum Supermarkt zu gehen, um mich mit dem Nötigsten versorgen zu können. Früher oder später wird die Zeit kommen, da ich alles an mir loslassen muss im Kampfe mit dem Phantom der Angst. Und ausgerechnet hier, in den Räumen, wo alles seinen Anfang nahm, bin ich noch sicher genug, an meinem Schreiben zu arbeiten. Als seien diese Wände in mein Innerstes gedrungen und haben mich durch sich ersetzt.“ 

In diesen Rätseln, die mein Unbehagen steigerten – doch dadurch unbedingt verweilen lassen wollten – sprach er die nächsten Stunden seit meiner Ankunft. Nur wenn es mir möglich war, ein Thema unserer Vergangenheit anzureißen, die so unbeschwerten Jahre im geschäftigen Leben des Warenhauses – ein anderes Leben, sagte er dann, und sein mir bald vertrautes dunkles Lächeln zierte sein Gesicht – vermochte Dennis sich klar und ungebrochen zu artikulieren. Ich wagte nicht, ihn direkt nach meinem Aufenthalt zu befragen, wie es vermutlich ein anderer getan hätte, stattdessen bot ich an, für die Zeit, die ich dort verbringen würde, die Angelegenheiten der Außenwelt zu übernehmen. Dankbar doch mit unübersehbarer Scham nahm er an. Mein Schlafplatz war bald auch geklärte Sache, nämlich das Sofa, und so verbrachten wir unsere erste gemeinsame Nacht wie früher als wir Knaben waren und der eine bei dem anderen geschlafen hatte. Unter Kerzenschein lasen wir uns aus Jack Londons Werk vor, auch wie früher, und verloren uns kurze Zeit, so auch er, wie ich hoffte, in Abenteuern einer anderen Welt.

Ich hoffte, sobald unsere Annäherung vonstatten war, würde er den Mut aufbringen, mir tiefer gehende Details über Lindas Tod zu offenbaren. Darüber nachsinnend muss es ihr Mysterium gewesen sein, das zudem Dennis erst geschaffen hatte, welches mich im Schlund des verwahrlosten Ortes hielt. Niemand mag einem solchen Geheimnis widerstehen, wenn sich vor ihm die Chance auftut, es lüften zu können. Geduldig also war ich, und da ich ihn in keinster Weise spüren ließ, wie sehr es mich verlangte mehr zu erfahren, war es schon am nächsten Tag, bei der Betrachtung einiger Bilder seiner Frau, dass er sprach.

Ein jedes Bild von ihr, das er mir zeigte – dabei ein Zittern offenbarend, das jenseits seines Willens lag; partout wollte er nämlich keins aus der Hand geben – präsentierte eine junge Frau, deren Augen von Lebensfreude sprachen.

„Alle entstanden vor der Zeit als Verwalter des Warenhauses“, sagte mein Freund, „und ich bin erleichtert, dir ihren Verfall ersparen zu können – solch einen rapiden Verfall der körperlichen Fähigkeiten, dass die Krankheit meiner Frau viele Ärzte narrte und vor ein Rätsel stellte, das sie schließlich außerstande waren zu lösen. Wenn ich dir jetzt davon berichte, dann wisse sogleich, es war die Furcht, die ihren Körper fraß, und es ist ein wirrer Widerspruch, nun in ebenjenem Gemäuer festzusitzen, in dem es seinen Anfang nahm. Diese Verwunschenheit des Ortes, die sich bis zur Baustelle erstreckt und die dir, mein treuer Freund, bestimmt schon ins Gemüt geschlichen kam – ich hab's bei deiner Ankunft gesehen, du kannst mich nicht täuschen – sie schlich auch sogleich in die Seele meiner Frau. Für mich, der ich ein Liebhaber der Schwarzen Romantik bin und mein Schaffen derselbigen verschrieben habe, war sie aber willkommen. So treu war Linda mir ergeben, hielt sich mit Bemerkungen zurück, doch ich sah es in ihren Augen, die nie wieder jenen unbefangenen Eindruck machten wie auf diesen Bildern, und ich ertastete es auf ihrem Körper, die Haut vor Kälte verzogen, die Muskeln angespannt. Während ich also in meinem Schreiben vorzüglich weiter kam – du musst zugeben, dieser Ort ist ein Quell der Inspiration für Schauerliteratur – zog meine Frau sich mehr und mehr zurück, ließ sich keine drei Wochen nach unserem Einzug krankschreiben und verbrachte bald die Tage nur im Bett, in jenem, das du vor meinem Regale erblickst. Ich gebe zu und bereue mitleidig, wie ich zunächst nicht erkannte, wie wenig sie zu sich nahm. Im zweiten Monat war sie sichtbar abgemagert, dass ich die Knochen unter ihrer Haut erspürte, so schmal und blass wie ich jetzt anmuten muss.

An einem stürmischen Frühlingsabend erzählte sie mir vom Flüstern. Ganz dem Wetter gleich wurde ich verstört, zerrüttet, was denn in den Kopf meiner Frau gekrochen war. Sie sagte, sie vernahm seit einigen Nächten ein wohl artikuliertes doch in seiner Bedeutung umso erschreckenderes Flüstern, welches sie aus dem Schlafe riss. Als ich sie bat mir mitzuteilen, was dieses Flüstern ihr denn sagte, brach sie in mein Herz erweichende Tränen aus. Dies war Grund genug für mich, sie um Besuch bei einem Arzt zu bitten, denn ihr Weinen löste sich nicht auf, nein, es schüttelte ihren Körper und klang bald nach Flehen um Erlösung, ohne Hoffnung, endgültig. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass die Ärzte Lindas Zustand bedenklich fanden aber zu keiner Therapie fähig waren, die eine Linderung verschafft hätte. So wie ich jetzt war sie trotz des unleugbaren Einflusses des Warenhauses nicht mehr gewillt, in unsere Wohnung zurück zu kehren, und entwickelte über die folgenden Wochen abergläubische Vermutungen und Rituale, mit denen sie das Flüstern zu bannen versuchte. Sie fühlte sich dem nahe, das ihren Untergang bedeutete, als wollte sie nicht länger dem Schicksal ausweichen, das ihr seit Anbeginn zuteil geworden war. In der Nacht, bevor ich neben ihrem zu Tode erstarrten Körper erwachte, offenbarte sie mir endlich die doch so bedeutenden Worte der flüsternden Stimmen – Stimmen, denn es waren mehrere, die sprachen, sagte sie, Hunderte. Da verstand ich ihre Krankheit, leider viel zu spät, obwohl ich nichts gegen ihren Untergang hätte tun können, so wie meiner jetzt unausweichlich ist.“

„Was sagten sie, die Stimmen?“

In jenem unsäglichen Augenblick, da ich diese Worte sprach, wurde mir dieselbe Neugier bewusst, die meinen Freund dazu bewogen hatte, seine Frau zu fragen, was in ihrem nervösen Zustand einem Drängen ähnlich gewesen sein musste. So wendete Dennis den Blick von mir ab, als hätte er mich nicht gehört, und starrte auf den Tisch vor sich – es hatte sich ergeben, dass ich nun stets auf dem Sofa saß und er auf dem Stuhl an seinem Arbeitsplatz, während wir uns unterhielten oder gegenseitig vorlasen. Ich hatte mich seit meiner Ankunft bemüht, die Schwermut meines Freundes aufzulichten, und ich glaubte ja, dies war mir mit Jack London kurz geglückt. In diesem Moment aber, als meine Frage unheilsschwanger im Raume verklang, erkannte ich, wie aussichtslos es war, diese ihm inne wohnende Dunkelheit zu vertreiben, mehr noch, weil sie sich auf ihre Umgebung ergoss und ansteckte wie ein Virus, auch mich, der sich sogleich entschuldigte, gedrängt zu haben.

„Entschuldige dich nicht, mein Freund“, sagte er, „dich trifft am allerwenigsten die Schuld an meinem Zustand. Ich war es ganz selbst, der mir dieses Leid zufügte. Und so verwundert es mich nicht, dass ihre Worte, die das Flüstern betrafen, meinem Gedächtnis entschwanden. Ich erinnere nur, dass es zu grausam war und ich sie endlich verstand. In Worten kann verletzt werden und die Wunden der Seele heilen langsam, während sie stärker bluten als die körperlichen. Ich wünschte, ich würde nun das Flüstern vernehmen, dass es aus diesem Gemäuer käme, aber es ist still um mich in jeder Nacht. So muss ich annehmen, und dies trifft mich am meisten, Linda erlag ihrem Wahnsinn.“

Dies blieb das erste und einzige Mal, dass wir über Linda sprachen, denn bis zum bitteren Ende meines Aufenthalts wurde ihr Name weder von Dennis noch von mir erwähnt, und ihre Bilder verschwanden in einer Schublade, von der ich weiß, dass mein Freund sie ab und an öffnete, um allein mit den Erinnerungen zu sein, stets wenn er glaubte, ich sah oder hörte ihn nicht. Immer werde ich das mit mir herum tragen, was ich im alten Warenhaus erlebte – die vielen ernsten Stunden, das Schweigen bei der Arbeit an Texten, das nur scheinbar ziellose Umherirren meines Freundes in der großen Leere der ehemaligen Verkaufsfläche, wo er wieder und wieder im Kreise schritt, vor sich hin murmelnd doch im Geiste nur nach den richtigen Worten suchend.

Es war am vierten Tage meines Aufenthalts – ein Mal war ich im Supermarkt, um anderes einzuholen als Wasser und Brot – als ich mir anmaßte, in seinen Notizheften zu blättern, nach einem Hinweis womöglich, der mir Aufschluss geben mochte über die Stimmen. Ich war der fixen Idee aufgesessen, es gab eine Verbindung zwischen dem Gemäuer, den Stimmen und Dennis Roder – dass alle drei Faktoren, ob dinglich oder nicht, durch schauerliche Koinzidenz fähig geworden waren, einem zarten Wesen allein durch Suggestion das Leben zu rauben. Es mag morbide Faszination gewesen sein, die mich anheim fiel, doch ganz gleich, ich wünschte mir beinah, auch meinem Freunde ähnlich, das Flüstern zu vernehmen. Meine ständige, nervöse Erregung, die mich bald auch Zeit vergessen ließ, wurde noch mehr genährt durch ein Gedicht, das ich in seinen Aufzeichnungen fand. Es war datiert auf einen Tag, der Monate vor dem Verscheiden Lindas lag. Die Worte mögen nun hier wieder gegeben werden, um die Empfindungen zu verdeutlichen, denen ich mich in der folgenden Nacht ausgesetzt sah. Mir war es nicht möglich, auch nur ein Blatt mitzunehmen, darum lautete das Gedicht, das im Übrigen den Titel „Gemäuer“ trug, im Ungefähren so:

 

Böses greift nach meiner Seele Grund

Und nimmt mir dich

Wort um Wort genähert einem Schlund

Da ein Teufel sich einschlich

 

In meinem Herzen wirkt und werkte er

Fleißig Stund' um Stund'

An einem grauenhaften Gemäuer

Für dich gar ungesund

 

Es soll erst dann erneut hernieder fallen

Wenn du triffst auf den Vasallen

Der da trägt doch meinen Namen

Als wir ins Gemäuer kamen.

 

Je mehr ich darüber nachdenke, die Zeilen dieses Gedichtes musste mein Freund schon vor dem Einzug in das Warenhaus verfasst haben. In jener Nacht vermochte ich kaum zu schlafen, vor allem anderen, weil ich mich fragte, ob dieses Gedicht Linda bekannt gewesen war. Konnte es nicht sein, dass ihre Kenntnis den Lauf der Dinge geändert hätte? So sah ich mich selbst den ersten Zeichen eines Aberglaubens ausgesetzt und mein Unbehagen wuchs dem Gedichte gleich von Stund' zu Stund'.

Mir war heiß, einem Fieber ähnlich, obwohl das Warenhaus, wie ich zu Beginn feststellte und was mich nie los ließ, ein Ort der Kälte war. Ich bemühte mich, mir den Beginn einer Erkrankung auszureden und meine Empfindungen ganz und gar der beklemmenden Wirkung des Zimmers zuzuschreiben – ich vergaß, dass mir zuvor doch ruhigere Nächte dort beschieden waren. Aber meine Anstrengungen trieben keine Früchte. Im Fieberwahn glaubte ich mich, als es in meinen Ohren rauschte als sei ein Radio ohne Empfang, und ein nicht zu unterdrückendes Zittern befiel meinen Körper, allmählich doch ausreichend, einer mir grundlosen Furcht ausgeliefert zu werden. Atemlos und schwitzig richtete ich mich auf dem Sofa auf, spähte angespannt ins dichte Dunkel vor den Augen – ohne Kerzenschein und mit Nacht in der Stadt waren nicht einmal Konturen auszumachen – und ich lauschte auf das Rauschen, das doch nicht aus mir zu kommen schien. Eine innere Stimme nötigte mich aufzustehen, in meine Schuhe zu schlüpfen und indem ich nun eilig im Zimmer hin- und herging, versuchte ich, mich aus dem jämmerlichen Zustand, in den ich geraten war, herauszureißen. Doch ich bedurfte dafür größeren Raum – wo wir schliefen war es nicht mehr als eine Kammer – und ich war darauf bedacht, meinen Freund nicht aufzuwecken, den ich schlafend auf seinem Bette wähnte, wo ich ihn vor Stunden noch gesehen hatte, bevor die letzte Kerze erloschen war. So schritt ich hinaus, durch den kurzen Flur in die offene, gähnende Leere, dorthin, wo Dennis seinen Spaziergang pflegte. Trotz des schwachen Lichtes, das von Straßenlaternen ins Haus getragen wurde, blieb mir unwohl. Ja, erst hier erblühte mein Wahn in vollem Glanz, als mir die ersten artikulierten Laute ans Ohr drangen.

Des Splitters Glanz, hieß es, und wieder, des Splitters Glanz – nicht eine Stimme war es wohl, wie Linda Roder es umschrieben hatte, es klang nach einer Vielzahl von Wesen – im Schrecken erstarrt hoffte ich, dass ich es mir eingebildet hatte, als schon die nächste Phrase durch die Leere schlich. Durchdringen wir Mauern, sagte es, sagten sie, im Blute durchdringen wir Mauern – stets in flüsterndem Ton, kaum wahrnehmbar und zugleich so entsetzlich präsent. Wild nun blickte ich um mich, den oder die Sender dieser ominösen Botschaften zu finden – Eindringlinge mussten es sein, jemandem war es gelungen, aus dem Außen in unser Innerstes zu kommen. In einer lebendigen Welt, die des Todes bedarf. All diese Stimmen zur selben Zeit, doch asynchron, unmöglich zu erahnen, wo eine begann, die andere endete. Höhen und Tiefen in allen Facetten – es mochte jede je erdachte Stimme sein, die ich dort hörte. Dann erblickte ich eine schattenhafte Gestalt, die in einem mir wohl bekannten somnambulen Gang auf mich zu schritt – aus dem Schutz einer der Säulen mag sie gekommen sein – und dem Wesen des Schrittes gleich erklang das nächste Unfassbare dieses Flüsterns verwahrloster Existenzen. Du bist der Engel, der hängt, im drohenden Leid, abstürzend … bist du … im Blute … abstürzend … im Blute. Unendlich kam es mir vor, nicht wie der Augenblick, der er wohl war, da sich diese letzten Worte im Kreise wiederholten und in meine Gebeine fraßen, bis ich zitternd den Halt verlor und mich auf den Steinboden setzte – dann endlich erkannte ich in der schattenhaften Gestalt meinen Jugendfreund Dennis Roder und mir wurde leichter ums Herz. Endlich hatte auch er vernommen, was hier wütete. 

„Mein Freund“, sagte ich gleich keuchend und schaute zu ihm hinauf, „mein Freund, du weißt nun, dass es dieses Flüstern tatsächlich gibt. Es war nicht nur in deiner Frau. Ist es nicht fürchterlich?“

Und darauf antwortete er: „Im Blute durchdringen wir Mauern.“

Aus der Vielzahl dieser Stimmen formte sich nun eine, seine, ebenso zum Flüstern gesenkt. Die wilden Auswüchse seiner überspannten und doch so eindringlichen Wahnvorstellungen, die er bisher nicht offen zugegeben hatte, mussten auch mich beschlichen haben und im Dunkel zu der gar lächerlichen Feststellung geleitet, es handelte sich um einen Chor von Stimmen, die dort in ihren morbiden Rätseln sprach. Doch es war nurmehr Dennis Roder, allein seine Stimme, die gesprochen hatte und auch jetzt artikulierte er eine weitere Phrase, die von ihrer unmittelbaren Unheimlichkeit nichts verlor, obwohl alles so vernünftig erklärbar war. Da ich nun den phantastischen Alp, dem ich aufgesessen war, in seiner Nacktheit entlarvt hatte, musste der Schrecken doch weichen. Aber was, frage ich heute, wär' mir denn lieber: ein durch die Wissenschaft nicht erleuchtbares Phänomen oder der dem Wahnsinn anheim gefallene Jugendfreund?

„Sonne schien einst, die Haut verbrannt“, flüsterte Dennis, „in der Sonne gewandert, vergessenen Schrittes.“ Er war nur kurz vor mir zum Halt gekommen, schritt schwankend an mir vorbei, hinein in unser Schlafgemach, das Flüstern zum Murmeln verkommend, bis es still ward um mich herum. Lange dann blieb ich dort im Dunkeln sitzen, fröstelnd und verstört, doch in meinem rationalen Geiste forschend, was zu tun sei, jetzt, da ich jenes Geheimnis dieser Mauern gelüftet und das Etwas hinter den Nachrichten meines Freundes kennengelernt hatte.

Ich blieb, bis es mich nach einer Decke verlangte und ich durch Nichts zum Sofa zurückkehrte. Im Nichts waren weder Laute noch Licht, ganz so, wie mir war in jener Nacht im alten Warenhaus. Als ich im schwachen Licht des Tages, das alles um mich in grauen Tönen erhellte, erwachte, war Dennis schon fort, gab sich wohl seiner Routine hin, im monotonen Schritte nach gelungenen Formulierungen zu suchen. Mir war sein Flüstern wie ein Traum, doch wusste mein Verstand um seine Echtheit. Nie hatte mein Freund erwähnt, aus welch genauem Grunde er mich hergebeten hatte, doch ich vermochte nun eine Antwort darauf zu geben – es oblag mir, ihm zu helfen bei einer Genesung, die einzig und allein geistiger Natur sein konnte, denn jedes ihn erschöpfende, körperliche Leiden erwuchs aus einem psychischen Zusammenhang. Niemand mag mehr bestreiten, dass unsere Moderne im Griff solcher Erkrankungen war und ist, und Ärzte mit meiner Art der Profession den meisten Patienten mehr imstande sind zu helfen als welche, die nur Körperlichkeit studierten. Mit den wichtigen Fakten nun vertraut blieb mir zu diagnostizieren. Dennis Roder war beileibe nicht einem unabwendbaren Schicksal ausgeliefert – solch Arten der Schizophrenie waren mir ein manches Mal untergekommen und ja, bei Tage betrachtet verlor dieses Haus zunehmend seine Schrecken, wie alles daran verliert, das im Lichte der Rationalität erleuchtet wird. Meine nächsten Schritte überdenkend zog ich mich an und unterwarf mich der dort allmorgendlich rudimentären Toilette, während mein Gemüt das erste Mal ob der Erwartungen an eine Therapie an Leichtigkeit gewann. Ich wollte warten, bis mein Freund zurückkehrte, um sich an seine Arbeit zu setzen, ihn noch nicht und auf keinen Fall bei seinen Routinen stören, die er doch so sehr bedurfte, damit sein Geist nicht vollends zusammenbrach, was seit gestern leider nur allzu möglich schien.

Da ich nur in der letzten Nacht keinen Schlaf gefunden hatte und davor sehrwohl Stunden im Schlummer verweilte, kam ich zu der Überzeugung, Dennis flüsterte ständig des nachts, während er in der Verkaufsfläche umherirrte, womöglich seit er hier eingezogen war – ein unheimlicher Schlafwandler, dem sich Linda einmal gewahr nicht mehr entziehen konnte. Ob sie erkrankte, weil sie um die Taten ihres Ehemannes wusste oder sie sich tatsächlich einer irrationalen Macht ausgeliefert wähnte, war für mein Vorhaben unerheblich. Ich nahm an, Dennis Roder mit seinem nächtlichen Ich konfrontieren zu müssen – einmal den Schrecken beim Namen genannt, sollte er an seiner Kraft verlieren. Dies war eine gängige Therapie für Angstpatienten, warum also sollte sie ihre Wirkung bei meinem Freund verfehlen?

Wie ich vermutete, setzte er sich, von seinem Spaziergang recht bald zurückgekehrt, sogleich an seinen Arbeitsplatz, mich nur mit einem flüchtigen Gruß zum Morgen bedacht, und schrieb. Ich tat es ihm gleich und begann schon dort jene Geschichte, die zu dieser Schrift wurde, unter den Vorzeichen, dass es mir möglich schien, jenen kraftvoll dunklen Zauber dieses Ortes zu entlarven. Das stundenlange Schweigen zwischen uns nun gewöhnt wartete ich auf unser eigenes Ritual, das wir recht schnell entwickelt hatten. Unter der Einnahme des spärlichen Mahls, auch daran hatte ich mich gewöhnt, besprachen wir, welch Werk wir uns bis zum Schlaf vorlesen wollten. Die Bücher, die ich in seinem Regale fand, standen, wie sich denken lässt, nahezu gänzlich im Einklang mit Dennis' Vorstellungswelt. Neben den „Arabesken und Grotesken“ von E.A. Poe und „Der große Gott Pan“ von A. Machen, fanden sich auch „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A. Hoffmann, der vollständige „Cthulhu“-Mythos nach H.P. Lovecraft und selbst die exotischen Kurzgeschichten eines Akutagawa Ryûnosuke. Alles Werke, die in ihrem Kern besitzen, „was die moderne Schauerliteratur so kläglich vermissen lässt“, sagte mein Freund. Nichts von alledem schien mir erträglich für mein Unterfangen, ihn in geistige Ruhe zu versetzen, so wendete ich mich erneut Jack London zu, welcher neben Robert Holberg einen positiven Misston in dieser Sammlung gab.

Auch wenn ich bald schläfrig wurde, hielt mich meine Aufgabe wach, nachdem mein Freund in eine, so hoffte ich, alles vergessen machende Dunkelheit gefallen war. Nun war es an der Zeit, meinen Gehilfen aus der Reisetasche zu nehmen, ein Diktiergerät, das ich stets für Notizen benutzte, finde ich manches Mal keinen Platz, um auf Blättern zu notieren. Ich sorgte dafür, dass eine Kerze brennend blieb, damit ich des Schlafwandlers erste Regungen wahrnehmen konnte, setzte mich auf Dennis Roders Stuhl und sah auf seine blasse, schlafende Gestalt hinab. Auf den Lippen trug er ein trügerisch verweilendes Lächeln, das sonst nur Toten eigen ist. In Erwartung des Flüsterns schauderte es mich, obwohl ich doch so rational tätig war. Es begann in den frühen Morgenstunden, so müde war ich, dass meine Augen sich jede paar Sekunden von selber schlossen, als die Lippen meines Freundes zu beben anhoben – ein allzu leises Murmeln, das sich alsbald in das mir bekannte, artikulierte Flüstern steigerte. Von diesem Moment an über sein apathisches Aufrichten im Bett bis zum Spaziergang durch die große Leere und zurück, nahm ich jedes Wort aus seinem Munde auf. Wieder auf dem Sofa gebettet, schlief ich mit dem Gedanken ein, von allem das Richtige getan zu haben.

Als ich nicht viele Stunden später wieder erwachte, ich mag beinah freudig erregt ob meines Plans gewesen sein, und meinen Freund in seiner üblichen Haltung am Tische erblickte, zeigte sich in seinen Äußerungen der seelischen Verrückung eine unscheinbare doch merkliche Veränderung – sein gewohntes, somnambules und abwechselnd nervöses Gebaren hatte sich verloren, er war nurmehr einer erstarrten Ruhe ausgeliefert, die ihn den Stift zwar in seinen Fingern halten aber nicht führen ließ. Wie um die Erwartung meines Erwachens drehte er schwach den Kopf zu mir, um mich in einem Tonfall zum Morgen zu grüßen, den ich bisher nicht vernommen hatte. Hoch klang sein Entsetzen darin, dass Dennis zu nichts mehr fähig war, und sogleich sprach er ebendiesen Zustand selber aus.

„Etwas hat sich geändert“, sagte er, „hier im Warenhaus, die unsichtbaren Geister halten sich zurück. Ich bin umso mehr entsetzt, weil ich keinen Grund mehr sehe, entsetzt zu sein.“

Konnte sein dunkles Unbewusstes wahrgenommen haben, wie ich ihm folgte und nun vorhatte, es zu entlarven? Ich gab mir Mühe, mich wie in den letzten Tagen zu benehmen; anziehen, kurze Toilette, spärliches Frühstück; doch dies schien ihn noch weiter zu beunruhigen. Den Stift aus der Hand gelegt saß er mit erhobenen Haupte da, starrte in eine Leere vor sich, die Blässe seines Gesichts in einen noch geisterhafteren Ton gewandelt. Für solch ein Unterfangen wie dem meinen gab es keinen richtigen Augenblick, auf den ich zu warten hatte. Jetzt war genau so gut wie später und es drängte mich, ihm seine Stimme vorzuspielen, anhand seiner Reaktionen dann weitere Schritte zu überdenken. Doch etwas hielt mich zurück – ich vermute, es war dies Wandeln in seinem Wesen, das mich zurückschrecken ließ, und stets wenn ich fühlte, es war soweit, jetzt sollte ich es tun, dann verließ mich sogleich der Mut. Ich ließ Dennis Roder in seinem ahnungslosen Starren bis zum Abend, als die Kerzen brannten und ich nicht mehr warten wollte.

„Ich habe das Flüstern vernommen“, sagte ich, „seit zwei Nächten bringt es mich um den Schlaf.“

Nun reagierte mein Freund nicht wie ich erwartet hatte, mit geringer Teilnahme an dem, was ich offenbarte – Überraschung in seinem leichenblassen Gesicht vermochte ich nicht zu erkennen, doch ein leichtes Heben der Augenbrauen, das augenblicklich wieder wich, blieb als Antwort, dass er mir gelauscht hatte.

„Ich habe es auf Band“, fuhr ich fort, „ich musste es dorthin verbannen, damit wir beide womöglich diesem Rätsel auf die Schliche kommen und es mit plausiblem Wissen entzaubern vermögen. Magst du es hören?“

Tief aus seinem Inneren, des nächtlichen Flüsterns gleich, drang ein „Ja“ hervor, doch der Blick meines Freundes blieb in Leere verhaftet. Wusste er, was folgen sollte? Ich drückte die Taste zur Wiedergabe und nach kurzem Rauschen flüsterte es, seine Stimme, von Sonne und Splitter und Tod. Einem gar grauenhaften Gedichte gleich, rezitiert durch des Dämons Organ, beschwor die Aufnahme eine nächste Veränderung im Gesicht meines Freundes. Über seine Augen legte sich eine irre Heiterkeit, den Mund zum Grinsen verzogen, und indem er plötzlich aufsprang, offenbarte er eine Hysterie, die er zuvor noch mühsam versteckt hatte. Ich erhob mich ebenfalls und packte Dennis an den Schultern, während er sich an den Haaren zog, vereinzelt schon Büschel herausgerissen, die er nun mit den Fingern umkrallte.

„Beruhige dich, Dennis, um Gottes Willen!“

Da hielt er inne und blickte mir, dem Wahnsinn nun ausgeliefert, in meine Augen, bis zum Grunde meiner Seele, dorthin, wo dies Warenhaus und seine verwahrloste Unheimlichkeit mich getroffen hatten, wo jede meiner ersten Empfindungen über diesen Ort einer Intuition gleich bestätigt wurde. Auf solch kurze Distanz fuhr mir sein Schreien in die Gebeine, dass ich zitterte und mich mehr an seinen Schultern zum Schutze hielt als dass ich ihn packte.

„Ich war es nicht! Das ist nicht meine Stimme! Nie war sie es! Sie belügen dich! Ich war es nicht!“

Das Unumkehrbare meines Fehlers bemerkend brachte ich Dennis mit Ohrfeigen zum Schweigen. Ich hatte durch mein Handeln nur dem Ausgang gegeben, das schon immerdar in meinem Freund gelauert hatte, und er hätte noch länger geschrien, wenn meine Schläge nicht gewesen wären. So sank er in sich zusammen und stürzte zu Boden. Sein Körper war in der Tat abgemagert, dass es ein Leichtes war, ihn in sein Bett zu hieven – mir grauste es, wie aufdringlich seine Knochen unter der Kleidung zu spüren waren – als würde ich ein Skelett tragen. Liegend nun blieben seine Augen zwar geöffnet, aber ihre Starre war zu einem leeren, ausgehöhlten Blick verkommen. Dennis atmete schwach und der Eindruck, eine Leiche angehoben zu haben, verflüchtigte sich. In meinen Schrecken mischte sich tiefes Mitleid und ein Gefühl der Schuld – wie, so fragte ich mich, sollte ich dies Vergehen, leichtherzig ihm sein eigenes Flüstern vorzuspielen, wieder gutmachen? Wie war ihm denn zu helfen? Ein Schock nach der Konfrontation war nicht selten das Resultat einer Therapie, auf dem noch folgenden, langen Weg zu einer Rehabilitation, doch Dennis' Reaktion lag jenseits einer möglichen Diagnose. Mir blieb, so kam ich zu dem Schluss, nichts anderes, als meine Kollegen aus der Klinik herzubitten. Gleich am nächsten Tage wollte ich sie benachrichtigen und Dennis von dem Ort wegbringen, der ihn so zerstörte. Doch ich gab dem Ganzen eine letzte Nacht, in verzweifelter Hoffnung wohl, und setzte mich zu meinem Freunde, sagte: „Hier ist einer deiner Lieblingsromane. Ich möchte dir vorlesen, wenn du magst, wir hatten schon Aufregung genug – so wollen wir diese Nacht miteinander durchstehen.“

Das altmodische Buch, das ich zur Hand genommen hatte, blindlinks aus dem Regale, war Robert Holbergs „Verrückte Reise“; mehr im unsicheren Scherze hatte ich es Dennis' Lieblingsbuch genannt, in Wahrheit genügte die meist verworrene und vor literarischen Motiven überbordende Geschichte nicht den ästhetischen Vorstellungen meines Freundes. Es fand sich wohl nur dort, da es uns in der Kindheit manch belustigende Stunden beschert hatte und grad dadurch vielleicht das einzige Buch blieb, das seine Erregung zu einer Linderung verhelfen konnte. Die närrischen Abenteuer des Martinius ließen jedenfalls jede schattenhafte Tiefe der anderen Werke seiner Sammlung gänzlich missen. Und mir war, er lauschte meiner Erzählung recht lebhaft, nicht mehr so vergessenen Blickes.

Ich war an jener wohlbekannten Stelle angelangt, wo Martinius zur Felsenhöhle kam, um das gläserne Herz aufzusuchen. Hier lautet, wie man sich womöglich erinnern wird, der Text von „Verrückte Reise“ folgendermaßen:

„Und Martinius, ermutigt durch des Waldes Umgebung und erstarkt obendrein dank des Weines, den er getrunken, wartete nicht länger. Aus dem funkelnden Licht der Sonne trat er in den Schatten der Höhle und mit jedem Schritt fror sich Eis in seinen Körper, das ihn beinah zum Stehenbleiben zwang. So heiß wie Feuer brannte die Kälte auf und in ihm, dass er einen Schrei ausstieß, der tausendmal dort widerhallte.“

Am Ende des Satzes hielt ich inne und sah meinen Atem als kalten Nebel aus dem Mund treten. Ich sagte, im Warenhaus war es kalt gewesen, aber dieser Frost, der mich plötzlich umgab, konnte nicht natürlich sein. Meine erregte Phantasie ließ mich sogleich glauben, die Kälte jener Höhle kroch nun an und in mir, bis meine Haut schmerzte und die Brust sich zusammenpresste. Bevor ich einen Schrei ausstoßen konnte, der meinen Freund weiter verstört hätte, verjagte ein tiefes Grollen mein Unbehagen und über dem Haus ertönten die schweren, bedrohlichen Laute eines Sommergewitters. Ich wartete einen erneuten Donnerschlag, bis ich in meiner Erzählung fortfuhr:

„Doch der tapfere Martinius schritt weiter und alsbald verlor sich dies Phänomen. Wo vollkommene Dunkelheit herrschen sollte, leuchtete ein schwaches Licht, das seinen Ursprung am Ende des felsigen Ganges fand. Entschlossen und bereit erreichte der Abenteurer der Höhle Schlund, in dem das gläserne Herz in Helligkeit schlug, meterhoch zur Decke reichend, von Wand zu Wand; ein durchscheinendes Ungetüm, das sich arglistig als Unschuld tarnte.

 

Zerschlage das Herz und sammle einen Splitter,

dann bleibst du kein Irrender und wirst zum Ritter,

 

erinnerte Martinius die Worte der Dorfbewohner, holte mit seinem Schwerte weit aus, traf das Herz an seinem Glas, das unter Tosen und Laute des Chaos zersprang.“

Hier hielt ich wiederum jäh inne, in Anwandlung wilder Bestürzung – es bestand kein Zweifel: während ich die letzten Worte gelesen hatte, hörte ich tatsächlich das ferne doch heftige Zerbersten von Fenstern, Dutzende mochten es gewesen sein. Das Gewitter über uns tobte weiter und im gleich bleibenden Abstande jagte ein Donner den nächsten.

Ich blickte zu Dennis, an dessen Gesichtsausdruck sich nichts geändert hatte. Ich war keineswegs sicher, ob auch er das fragliche Geräusch und die unnatürliche Kälte erlebt hatte – wenn nicht, dann spielte mir mein Hirn gar böse Streiche. Unsicher auch, ob ich in der Erzählung fortfahren sollte – wie war es denn am besten, das Gemüt meines Freundes ruhig zu halten? – hob sich in Dennis' Bette eine Hand, als Zeichen ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Ja, es war ihm möglich, sein Gesicht zu mir zu wenden und mit einem Ausdruck, den ich nie wieder auf eines Menschen Antlitz erblicken sollte, flüsterte er:

„Fahre fort, mein Freund. Bald haben wir es überstanden. Ich danke dir für den Besuch.“ Dann senkte er die Hand hinab, schloss die Augen und drehte sein Gesicht von mir, dass der Hinterkopf flach auf dem Kissen verweilte. Das gleichmäßige doch schwache Heben und Senken seiner Brust ermutigte mich, seine Worte nicht weiter zu bedenken und die „Verrückte Reise“ weiter zu lesen.

„Martinius, der Held, griff nach einem Splitter vor seinen Füßen. Es war unerheblich, welchen er nahm, sie glichen sich in Form und Größe und Schärfe des Randes, wie sonst nur Zwillinge sich zu gleichen vermochten. Mit diesem einen also nahm er die Essenz des Herzes in seinen Besitz, durchschritt mit Stolz geschwollener Brust die Kälteregion zum Einlass, der ihm jetzt als Ausgang diente. Doch das Betreten der von Sonne bestrahlten Weite des Waldes blieb nur für Sekunden ein Ort der Harmonie. Ein schweres Beben erschütterte die Erde unter Martinius' Füßen, dass dieser Mühe hatte, aufrecht stehen zu bleiben. Kaum war es vergangen, folgte ein nächstes und ein nächstes, in stets gleich bleibenden Abständen, die von Mal zu Mal an Heftigkeit gewannen, bis ein berghoher Schatten das Licht der Sonne verdeckte und Martinius den Riesen gewahr wurde, den Wächter des Herzes. In seiner Flucht nun erschütterte Schritt für Schritt das Beben den Wald.“

Kaum waren diese Worte über meine Lippen gekommen, vibrierte mein Körper, von dem ich zunächst annahm, es käme aus mir, Vorbote des Zitterns – als auch der Tisch und die Gegenstände auf ihm davon ergriffen wurden, wusste ich, dass es ein Beben war, den Schritten des Riesen gleich nun dies Warenhaus erschütternd. Kaum war es wieder ruhig und still und ich glaubte, meiner überreizten Einbildung ausgeliefert zu sein, begann es wieder, heftiger als zuvor, nun auch Regal und Sofa erfassend.

„Spürst du dies auch oder bin ich ein Narr?“ fragte ich behutsam, meinen Schrecken verbergend. Statt einer Antwort rüttelte es noch doller unter dem Getöse des Unwetters, das draußen wütete. Die Kerzenhalter auf dem Tische wurden umgerissen, mein Becher fiel zu Boden und zerplatzte – in plötzlicher Dunkelheit, als würde das Geschehen um uns pausieren, dies Nichts mehr, weder Laut noch Licht.

„Dennis“, sagte ich, „Dennis, mein Freund, so fürchte dich nicht. All das ist nur die Ausgeburt unserer Phantasie.“

Da flüsterte es in mir so vertrauten Phrasen: „Im Blute durchdringen wir Mauern.“ Dies grauenhafte Gedicht. Doch mit meinem Wissen um die Erklärung des Phänomens war es mir möglich, meine aufkeimende Panik zu ersticken und auf dem Tische neben mir nach den Streichhölzern zu tasten. Es gelang mir erst, als die Worte sich im Kreise wiederholten, und unter abstürzend … im Blute … abstürzend … entzündete ich eine Flamme, die mehr Schatten warf als tatsächlich den Raum erhellte. Auf dem Bette lag … in einer lebendigen Welt … mein Freund, dessen Augen ins Leere starrten … die des Todes bedarf … und dessen Lippen, mir schlich es so kalt über meine Glieder, sich nicht bewegten, während dies Flüstern … vergessenen Schrittes … fortwährend erklang. Ein weiteres Streichholz entzündet fühlte ich nach Dennis Roders Puls, der wie das Heben und Senken seiner Brust verschwunden war. Abstürzend ob seiner Last … sprang ich vom Stuhl auf. Unter Beben und Donnern und Grölen rannte ich durch den Flur, zur Tür hinaus in die große, weite Leere – dort das Flüstern noch lauter und drängender, die Vielzahl an Stimmen. Zwei Mal fiel ich bei meiner Flucht zu Boden, weil die Kraft des Erdbebens, dem Gewitter und dem Flüstern gleich, zunahm von Moment zu Moment. Verzehrende Panik peitschte mich voran, Treppen hinab, die mir zuvor nicht aufgefallen, ins untere Stockwerk, das genau so verwahrlost war. Dort wurde ich der zersprungenen Fenster und unzähligen Splitter gewahr, rannte durch einen der nun leeren Rahmen ins Freie, ins wütende Stürmen des Unwetters, in klatschenden Regen, hinaus aus dem Orte des Schreckens, weg auf die andere Straßenseite, entfernt vom Epizentrum des Erdbebens. 

Als ich mich umdrehte, sah ich das Chaos in seinem vollen Ausmaße: die Mauern des Warenhauses, vom Beben erfasst, zitterten und es lösten sich einige der gitterartigen, weißen Latten des ersten Stockwerks, donnerten auf die Straße, zersprangen in ihre Teile, zunehmend riss das Mauerwerk auf und jener Spalt, der mir bei meiner Ankunft so unscheinbar erschienen war, teilte nun die unterste Front. Über dem Haus, man mag mir glauben, ballten sich düsterste Wolken, aus denen ein Wirbelsturm sauste, in Blitz und Donner das Dach zerfetzte. Es war weiß Gott ein grausam schöner Anblick, in wilder Einzigartigkeit zerstörte das Unwetter das Anwesen, bis ein wütender Stoß des Wirbelsturms das einst so mächtige Gestein auseinander bersten ließ, und das Gebäude unter einem lang anhaltenden, lärmenden Tosen in sich zusammen brach, bis nicht mehr als eine Ruine davon übrig blieb. Dann wurde der Regen dichter und dichter, bis sich ein Vorhang aus Millionen von Tropfen um die Trümmer des flüsternden Hauses legte.