11

»Ich will allein sein, Diane.«

»Tut mir sehr leid, Richter Higgins, aber das darf ich nicht zulassen.« Die Krankenschwester klappte geräuschlos ihren Roman zu und trat durch das Büro auf ihn zu. »Die ärztlichen Anweisungen sind klar und deutlich. Ich versichere Ihnen, es macht mir überhaupt nichts aus, hier zu sitzen, während Sie Ihre Büroarbeiten erledigen.« Sie lächelte milde. »Ich kann auch meinen männlichen Kollegen holen, wenn Sie mal zur Toilette müssen.«

»Ich wünsche, in meinem Büro für mich zu sein.« Er setzte ein pseudofreundliches Grinsen auf und ging im Geiste durch, was er über Diane erfahren hatte, seit sie zusammen mit dem übrigen Pflegepersonal zum Babysitten hier eingetroffen war.

Sie war Anfang, Mitte vierzig. Sie hatte einen Sohn im Teenageralter, mit dem sie am Telefon gezankt hatte, als sie sich ungestört wähnte. Sie war alleinerziehend. Und sie riss sich wahrscheinlich beide Beine aus bei dem Versuch, alles unter einen Hut zu bringen. Und sicher sorgte sie sich um ihren Jungen, der daheim saß, während sie hier ihrem Job nachging.

Es gab also nur zwei Möglichkeiten, um die Frau rumzukriegen: Entweder wollte sie mehr Zeit für ihren Sohn oder mehr Geld.

Was auch immer es war, Higgie würde ihren schwachen Punkt schon herausfinden und ausnutzen. Mit dieser Methode hatte er bislang immer bekommen, was er wollte.

»Diane, ich möchte Sie bitten, in diesem Raum zu bleiben, während ich mich für eine halbe Stunde nach hinten zurückziehe.«

»Tut mir leid. Ich kann gerne dafür sorgen, dass eine Kollegin kommt, oder auch Ihre Frau rufen, aber ich werde Sie nicht allein lassen. So sind die ärztlichen Anordnungen.«

Seine Frau war der letzte Mensch, den er um sich haben wollte.

»Was verdienen Sie, Diane?«

Sie lächelte verkniffen, mit wahrscheinlich dem gleichen Ich-weiß-genau-auf-was-du-aus-bist-Ausdruck, den sie auch bei ihrem Sohn benutzte. »Nicht genug, aber ich werde trotzdem nichts annehmen, um Sie allein zu lassen.«

Er tat beleidigt. »Ich wollte Ihnen nur ein Empfehlungsschreiben anbieten. Ein Schreiben, verfasst und unterzeichnet von mir persönlich, in dem ich Ihre außerordentlichen Leistungen unter schwierigen Umständen lobe. Ein Schreiben, das in Ihre Akte eingehen würde und Ihnen Ihre Stelle sichern oder sogar neue berufliche Perspektiven ermöglichen würde, falls Sie auf der Suche sind.«

»Ich weiß genau, was Sie vorhaben.«

Er beugte sich vor und maß sie mit stechendem Blick. »Ich könnte genauso gut einen Brief schreiben, in dem ich das Gegenteil behaupte. Dann wären Sie wahrscheinlich rasch wieder zu Hause bei … wie heißt Ihr Sohn noch gleich?«

»Tyler.« Sie sah ihn mit einem Ausdruck der Überraschung an, der dann Enttäuschung wich. Gott, wie er diesen Ausdruck hasste! Dieser Moment, wenn wieder einmal jemanden die Erkenntnis traf, dass er, Higgie, kein Heiliger war. Doch auf den einen Menschen, der seine dunkle Seite erlebt hatte, kamen zehn Millionen, die sie nicht kannten. Die paar wenigen ließen sich verschmerzen.

Er zog seine Schublade auf und nahm ein Blatt cremefarbenes Pergamentpapier heraus. Dann griff er zu dem Montblanc-Füller, den ihm der letzte US-Präsident geschenkt hatte. »Welchen Brief soll ich schreiben?«

Langsam stand sie auf. »Sieht so aus, als wäre ich schachmatt.«

Er nickte. »Das ist das Schöne daran, wenn man Richter ist. Man darf die Spielregeln selbst bestimmen. Also, wenn wir hier zu einer Einigung kommen, meine Teuerste, können Sie sich auf einen angenehmen und lohnenden Aufenthalt in Willow Marsh freuen – und auf eine gute Ausgangsposition, wenn es das nächste Mal um eine Gehaltserhöhung geht. Oder …« Er hob vielsagend die Hände. »Ab nach Hause zu Tyler.«

Sie schnaubte resigniert. »Soll ich Sie in das Hinterzimmer schieben, Sir?«

»Das wird nicht nötig sein. Ich kann selbst mit diesem Ding umgehen.«

»Ach?«

Natürlich musste sie das überraschen, denn er hatte sich bislang immer von den Krankenschwestern herumschieben lassen. Musste ja niemand wissen, dass er längst daran arbeitete, wieder selbstständig mobil zu sein.

»Sie verlassen diesen Raum nicht«, sagte er warnend. Denn sobald sie in den Flur trat, würde eine der Überwachungskameras sie erfassen und unweigerlich einer von Lucys allgegenwärtigen Wachhunden auftauchen.

»Machen Sie mir die Tür auf.« Er nickte in Richtung des Ausgangs, der zu seinen Privaträumen führte. »Und warten Sie dann hier auf mich.«

Sie gehorchte und öffnete einen der beiden Türflügel, sodass er hindurchrollen konnte. Im Vorbeifahren blickte er sie noch einmal an. »Ich werde es bemerken, falls Sie sich entfernen oder nach Hilfe rufen.«

Sie nickte nur und schloss hinter ihm die Tür. Er verriegelte das Schloss und manövrierte seinen Hightech-Rollstuhl an Badezimmer und Fitnessraum vorbei in das Schlafzimmer, das er immer aufsuchte, wenn er abends noch arbeitete. Oder Marilee nicht um sich haben wollte.

Der Clou an dem Raum war der Teppich.

Er musste sichergehen, dass niemand herumgeschnüffelt hatte, während er in der Klinik war.

Am Fußende des Bettes angekommen, versuchte er, den Teppich mit dem Fuß wegzuschieben, was nichts weiter zur Folge hatte, als dass sein Bein höllisch schmerzte. Fluchend sah er sich im Raum nach einem geeigneten Werkzeug um, bis sein Blick auf die längliche Metallfigur eines Ibisses fiel, die über dem Bett hing. Damit würde es gehen, vorausgesetzt, er schaffte es, sie von der Decke zu holen.

Er fuhr näher heran und holte aus, um die Figur aus ihrer Halterung zu schlagen, woraufhin sie scheppernd gegen das Kopfende des Bettes knallte.

»Richter Higgins!«, rief Diana mit einen Anflug von Panik in der Stimme. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Mir geht’s bestens«, rief er zurück und bemühte sich mit zusammengebissenen Zähnen, die Figur abzuhängen. Schließlich landete sie mit einem gedämpften Poff auf dem Bett.

Er hob eine Ecke der Brücke an, doch sie entglitt ihm sogleich wieder. Mit einem unterdrückten Fluch umwickelte er den langen spitzen Ibisschnabel mit einigen Teppichfransen und fuhr dann den Rollstuhl rückwärts, um den Teppich mit Motorkraft wegzuziehen, was bestens funktionierte.

Darunter zu sehen war nichts weiter als die gleichen breiten, dunklen Holzdielen, die im ganzen Haus verlegt waren. Jedenfalls für nichts ahnende Beobachter.

Marilee hatte Hunderttausende Dollar in ein unterirdisches Klimatisierungs- und Bewässerungssystem für ihren heiligen Garten investiert. Es war ein Leichtes für ihn gewesen, das Ganze für seine Zwecke anzupassen und auszubauen. Und da sie während der Bauzeit den ganzen Sommer in Europa verbracht hatte, wussten nur er und die Baufirma von dieser ganz privaten Zuflucht.

Es war das perfekte Versteck, der sicherste Bunker, den man sich vorstellen konnte – und dazu ein Fluchtweg, durch den er vollkommen unbemerkt entkommen konnte.

Es würde nicht leicht werden, den Code einzutippen, aber mit Hilfe des Ibisses gelang es ihm, die Zahlen zu drücken, die die Klappe öffneten. Solange er im Rollstuhl sitzen musste, konnte er ohnehin nicht hinuntergehen. Trotzdem wollte er sich unbedingt vergewissern, dass niemand sein Geheimnis gelüftet hatte. Und das würde er sofort wissen.

Die Klappe glitt lautlos über Metallschienen und offenbarte ein dunkles Loch mit einer eisernen Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Higgie spähte über den Rand in die Dunkelheit. Auf der sechsten Stufe musste eine Feder liegen …

Von dem verdammten Rollstuhl aus war nichts zu erkennen. Dennoch musste er sichergehen, dass in der Zwischenzeit niemand da unten gewesen war. Er stützte sich auf dem Ibis ab und beugte sich so weit wie möglich vor, konnte aber immer noch nichts sehen.

War die Feder noch da? Er wagte sich noch ein Stück vor, als unvermittelt ein Rad über die Kante rutschte und den Rollstuhl in eine gefährliche Schieflage brachte. Instinktiv rammte er den Ibis ins Holz, gerade noch rechtzeitig, um nicht mitsamt dem Rollstuhl in die Tiefe zu stürzen.

Wie gelähmt harrte er aus. Eine falsche Bewegung könnte ihn das Leben kosten. Sollte er die Krankenschwester rufen? Die verriegelte Tür ließ sich aufbrechen, aber dann wäre sein Geheimnis dahin.

Nein, er würde es schaffen. Ohne Hilfe.

Mit einem tiefen Grollen bohrte er den Metallschnabel tiefer ins Holz und versuchte mit aller Kraft, den Stuhl wieder gerade zu richten. Wenn er nur das Rad über die Kante heben könnte …

Schweiß stach ihn im Nacken und rann ihm über den Rücken. Er biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. Er trieb den Vogel fester in den Boden, bis sich das Metall unter dem Druck bog. Seine Arme begannen zu zittern, und schon öffnete er den Mund, um nach Diane zu rufen, doch da endlich hob sich das Rad über die Kante. Der Ruck schlug ihm den Ibis aus seiner bebenden Hand und ließ ihn über die gewundenen Stufen abwärtshüpfen, bis er mit einem lauten Scheppern auf dem Boden auftraf.

Wo er selbst gelandet wäre, wenn ihm das verdammte Ding nicht das Leben gerettet hätte.

Er atmete erleichtert auf.

Die Kratzer, die er auf dem Boden hinterlassen hatte, würde der Teppich überdecken. Sobald Marilee wieder auf Reisen ging, würde er die Dielen reparieren lassen. Mit einem zittrigen Tastendruck brachte er sich von der Luke weg, schloss die Klappe und zog den Teppich wieder zurück an seinen Platz.

Sollte jemals irgendjemand hinter sein Versteck kommen, würde er ihn zum Schweigen bringen. Er war zu allem fähig.

Hatte er nicht gerade eben dem Tod erneut ein Schnippchen geschlagen?

Lucy gönnte sich nicht die geringste Pause nach ihrer Nahtoderfahrung. Sie duschte noch nicht einmal. In den folgenden Stunden saß sie mit überkreuzten Beinen auf Jacks ungemachtem Bett und telefonierte – mit seinem Handy, bis sie von Avery ein neues bekam –, erteilte Anweisungen, durchforstete die Datenbank und löcherte Jack mit Fragen.

Am späten Nachmittag hatte sie die komplette Bullet-Catcher-Maschinerie angeworfen, um Theo Carpenter nach allen Regeln der Kunst zu durchleuchten, und zwar noch bevor sie zum Abendessen nach Willow Marsh fuhren.

Doch dann rief Marilee an und sagte das Essen ab, mit der Begründung, dass sich der Richter nicht wohlfühle.

»Mir auch recht«, sagte Lucy, nachdem sie Marilees Nachricht an Jack weitergegeben hatte. »Dann bleibt uns mehr Zeit für das hier.«

»Oder wir machen einen kleinen Ausflug zwischendurch.« Er stand auf und nahm das rußgeschwärzte Jackett, das sie auf einen Stuhl geworfen hatte. »Komm, lass uns gehen!«

»Wohin?« Lucy machte sich daran, vom Bett zu klettern.

»Columbia. Das sind nur knapp zwei Fahrstunden von hier, und wenn wir uns beeilen, erwischen wir Eileen zwischen Abendessen und Schlafen.«

»Ich will da nicht hin.«

»Nein? Nach allem, was du getan hast, willst du die Frau nicht einmal kennenlernen? Warum nicht?«

Zehn verschiedene Gründe schossen ihr auf einmal durch den Kopf. »Wir haben noch so viel zu tun.«

»Telefonieren kannst du im Auto.«

»Wir sollten uns hier nicht wegbewegen, falls wir nach Willow Marsh gerufen werden.«

»Du hast dein Spezialistenteam vor Ort. Du kannst ruhig mal für ein paar Stunden verschwinden.«

Lucy atmete geräuschvoll aus. »Sie trauert, Jack. Sie hat gerade erst erfahren, dass ihre Tochter tot ist. Sie möchte allein sein.«

Das brachte ihr einen ungläubigen Blick von Jack ein. »Sie war dreißig Jahre lang allein.«

Als Lucy sich nicht rührte, warf er das Jackett auf das Bett. »Du brauchst nicht mitzukommen. Aber ich muss mit Eileen über Kristens Besuch bei ihr reden.«

Er hing also immer noch dieser Wahnvorstellung nach. »Jack, ich habe dir doch gesagt …«

»Außerdem ist sie gestern wieder in die Krankenstation des Gefängnisses zurückverlegt worden, und ich habe erfahren, dass die leitende Stationsschwester gekündigt hat. Wenn ich nicht hingehe und den Vollidioten sage, dass sie gegen Erdbeeren allergisch ist, wird sie spätestens nächste Woche voller Pusteln sein.«

Lucy ließ unwillkürlich ihr Kinn ein Stück sinken. »Du machst dir wirklich Sorgen um sie.«

»Stell dir vor, in meiner behaarten Brust schlägt ein menschliches Herz.« Er suchte seine Sachen zusammen und strebte zur Tür, ehe er sich noch einmal zu ihr umwandte. »Wirst du hier sein, wenn ich zurückkomme?«

Sie zögerte eine Sekunde. Es kam fast nie vor, dass sie ihre Meinung änderte. Aber jetzt war so ein Moment. »Warte, ich komme doch mit. Aber auf der Fahrt musst du mir erklären, warum.«

»Warum was?«

»Warum dir diese Frau so viel bedeutet.«

Er lächelte. »Okay, Luce. Dann lass uns gehen.«

Eine Stunde lang sagte er gar nichts. Der Highway zog sich schnurgerade und monoton quer durch den Staat. Lucy sah zu, wie die Sonne hinter den Bergen unterging, und nickte immer wieder beinahe ein.

Offenbar hatte sie tatsächlich etwas geschlafen, denn irgendwann spürte sie seine Hand auf ihrer. »Kennst du eigentlich Fletchs Geschichte?«

Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Was meinst du?«

»Seine Kindheit.«

»Ein bisschen. Ich weiß, dass sein Vater ihn misshandelt hat und dass er als Teenager ausgerissen ist, um bei den Aborigines im Busch zu leben. Warum?«

»Es ist etwas, das uns verbindet. Als ich Fletch damals bei dem Auftrag in Sydney kennenlernte, haben wir uns einmal zusammen ordentlich die Kante gegeben und uns gegenseitig unser Herz ausgeschüttet.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil du wissen sollst, dass das, was jetzt kommt, etwas ist, das ich normalerweise niemandem erzähle … wenn ich nüchtern bin.«

Sie verschränkte ihre Finger in seine und wartete schweigend.

»Und ich werde mich kurzfassen«, fügte er hinzu.

»Okay.« Offenbar wollte er sich größere emotionale Offenbarungen ersparen.

»Mein Vater hat meine Mutter verprügelt, und das vor meinen Augen.«

»Oh!«

»Er hat sie totgeschlagen.«

»Oh.« Sie drückte seine Hand. »Jack.«

Er blickte starr geradeaus, und einzig eine pulsierende Ader an seinem Hals deutete an, dass in ihm wahrscheinlich ein Sturm tobte.

»Wie alt warst du da?«

»Zehn. Alt genug, um mich am liebsten auf ihn zu stürzen, aber noch zu jung, um es wirklich zu wagen. Er ist wegen eines Verfahrensfehlers ungeschoren davongekommen.« Jack schnaubte leise. »Da hat unser grandioses Justizsystem mal wieder gezeigt, was es kann.«

»Und bei Eileen versuchst du nun was? Alles wiedergutzumachen?«

Er warf ihr einen schneidenden Blick zu. »Ja, vielleicht. Ich will diesen Scheißkerl erst im Knast verrotten und dann auf dem Stuhl grillen sehen. Ich will Gerechtigkeit.«

»Du willst Rache.«

»Spitzfindigkeiten, meine Süße.« Er nahm die Hand weg, um an dem Lenkrad zu drehen.

Die Hügellandschaft um die Camille-Griffin-Graham-Strafvollzugsanstalt – bis vor einigen Jahren ein staatliches Zuchthaus – war viel zu schön und idyllisch für einen Gefängnisstandort.

Jack hatte im Vorhinein dafür gesorgt, dass sie schnell durch den Sicherheitscheck kamen. Er bewegte sich an diesem Ort wie ein Stammgast. Mit einigen der Angestellten war er sogar per Du.

Am Empfangsschalter der Krankenstation saßen eine Krankenschwester und eine stämmige Aufseherin. Das Personalaufgebot ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich in einem Gefängnis befanden.

»Ich habe gehört, Risa hat sich aus dem Staub gemacht«, sagte er zu der Krankenschwester.«

»Das stimmt«, erwiderte sie. »Vor ein paar Wochen, ziemlich unerwartet.«

»Aha? Ich dachte immer, sie würden das alte Schlachtross eines Tages mit den Füßen voran hier raustragen.«

Sie sah ihn mit einem verkniffenen Lächeln an. »Nun, ich bin das neue Schlachtross, und ich lass mich nicht so leicht um den Finger wickeln wie meine Vorgängerin.« Sie blickte prüfend auf ein Formular und reichte es der Aufseherin, ehe sie Jack aus kalten Augen ansah. »Insassin 604 353 befindet sich hinter der dritten Tür links. Sie haben fünfzehn Minuten.«

»Ich dachte, wir könnten vielleicht …«

»Ab jetzt.«

Jack schloss den Mund und nickte. Während er Lucy weiterführte, sagte er: »Risa war zumindest menschlich.«

»Sprich, sie hat mit dir geflirtet.«

»Nein, sprich, sie war freundlich zu den Patienten. Das ist genau der Grund, warum ich Eileen hier rausholen will.«

»Jack, sie sind eben in erster Linie Gefängnisinsassen und erst in zweiter Linie Patienten.«

Im angewiesenen Zimmer standen zwei Betten, eines davon war leer. Im anderen schlief eine winzige, kahlköpfige Frau, deren Haut im Neonlicht des fensterlosen Raums gelblich schimmerte. Jack trat um ihr Bett herum und blieb eine Minute lang neben ihr stehen, um sie zu betrachten, ehe er sich zu ihr hinunterbeugte.

»Hey, schöne Frau«, flüsterte er, »ich habe jemanden mitgebracht.«

Wer hätte gedacht, dass Jack Culver so sanft sein konnte? Lucy riss ihren Blick von seinem Gesicht und sah die Frau an, die es irgendwie geschafft hatte, eine Saite in ihm zum Klingen zu bringen, die Lucy ihm niemals zugetraut hätte.

Ihre wimpernlosen Augen flatterten, und der Hauch eines Lächelns huschte über ihre ausgetrockneten, aufgeplatzten Lippen. Sie war erst sechsundfünfzig, doch das Leben hinter Gittern und der Krebs hatten ihren Tribut gefordert.

»Jack … ist das mein Engel?«

Lucy blickte über das Bett, und Jack zwinkerte ihr zu, offenbar nicht im Geringsten irritiert von ihrer Frage. »Leibhaftig.«

»Wen hast du da mitgebracht?« Eileen neigte ihren Kopf leicht nach rechts, um Lucy anzusehen. Ihre Augen weiteten sich, als sie sie erkannte. »Oh, ich habe viel von Ihnen gehört. Sie sind Lucy.«

Zum dritten Mal binnen einer Minute war Lucy fassungslos. »Ja«, sagte sie. »Und ich habe viel von Ihnen gehört, Eileen.«

»Sie haben geholfen, meine Töchter zu finden«, sagte sie. »Danke dafür.«

Lucy legte ihre Hand auf Eileens. »Dass meine Firma geholfen hat, geht allein auf Jacks Initiative zurück; hinzu kommt, dass sich Miranda und Vanessa in die Jungs verliebt haben, die für mich arbeiten. Sie gehören jetzt gewissermaßen zur Familie.«

Trotz des Schmerzes auf ihrem Gesicht gelang Eileen ein warmes Lächeln. »Sind sie nicht alle wunderschön?«

»Das sind sie«, stimmte Lucy zu. »Und dazu tatkräftig und intelligent.«

»Wie geht’s dir, Eileen?«, fragte Jack. »Wie war die Fahrt vom Krankenhaus hierher?«

»Okay. Aber Risa ist nicht mehr da.«

»Ich weiß.«

»Ich mag die Neue nicht«, flüsterte sie kaum hörbar. »Sie ist eine Kratzbürste.«

»Ich weiß«, flüsterte Jack zurück.

Irgendetwas ging vor zwischen den beiden, eine stumme Form der Verständigung, die Bände über ihr Verhältnis sprach. Etwas so Starkes, dass Lucy unwillkürlich Zweifel kamen. Wenn ihre Verbundenheit so tief war, warum hatte Eileen ihm dann immer noch nicht die ganze Wahrheit erzählt? Ließ er sich von ihr an der Nase herumführen?

»Hey, ich habe gehört, du hast meinen Kumpel Fletch kennengelernt«, sagte Jack, zog einen Stuhl für sich heran und bedeutete Lucy, das Gleiche zu tun.

»Der mit dem Akzent.«

»Genau.« Jack rückte näher. »Er hat mir erzählt, du hattest eine ganz besondere Besucherin hier.«

Eileen presste sofort die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

»Sie war hier, nicht wahr? Hast du ihr etwas erzählt, das du noch nicht einmal mir erzählt hast?«

Eileens ohnehin totenbleiche Haut wurde noch weißer. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlucken.

»Jack«, sagte Lucy leise, »hör auf!« Er hatte keine Ahnung, in was für einen finsteren Abgrund diese arme Frau gestürzt war. Es ließ sich mit Worten nicht beschreiben.

Allein bei dem Gedanken daran tat sich auch Lucys eigener Abgrund wieder vor ihr auf, und sie spürte den vertrauten Schmerz in ihrem Bauch.

Eileen warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ich kann noch nicht über sie sprechen«, flüsterte sie.

»Ich weiß«, sagte Lucy und nahm ihre Hand. Nur eine Frau, die ihr Kind verloren hatte, konnte diesen Schmerz ermessen. Selbst wenn sie dieses Kind nie kennengelernt hatte.

»Oh doch«, beharrte Jack. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Und, Eileen … sie ist …«

»Jack!« Lucy funkelte ihn an. »Komm bitte eine Sekunde mit mir nach draußen.«

Er sah sie an, als wollte er widersprechen, doch irgendetwas in ihren Augen ließ ihn stumm bleiben und ihr nach draußen folgen.

»Lucy, ich muss wissen, wer bei ihr war und wann sie hier war …«

»Wage es nicht, dieser Frau falsche Hoffnungen zu machen«, zischte Lucy. »Wenn die Wahrheit herauskommt, stürzt sie das wieder in tiefste Verzweiflung. Begreifst du das denn nicht? Es könnte sie umbringen.«

»Und was, wenn ich recht habe, Lucy? Ich weiß, dass du es für schlichtweg unmöglich hältst, dass jemand mehr wissen kann als du – aber was, wenn ich recht habe?«

»Dann kannst du es ihr sagen, sobald du Gewissheit hast – ohne Gefahr zu laufen, sie vorher damit kaputtzumachen.«

Er musterte ihr Gesicht lange und streng, während er über ihre Worte nachdachte. Seufzend sagte er schließlich: »Okay, gut. Ich werde mit der Schwester reden und mit der Aufseherin. Hoffentlich lassen sie mich einen Blick auf die Besucherliste aus dem Krankenhaus werfen. Geh du derweil zu ihr rein.«

Lucy sah ihm nach, wie er sich durch den Flur entfernte, und ging dann mit klopfendem Herzen zurück in das Krankenzimmer.

Sie hasste dieses Thema, diesen Schmerz, diese Erinnerungen.

»Jack will mit der neuen Schwester sprechen«, sagte Lucy.

»In der ersten Zeit im Gefängnis«, erwiderte Eileen und wandte Lucy ihren Blick zu, »hatte ich Fantasien. Jetzt habe ich Jack.«

Lucy lachte leise. »Er ist ziemlich gut geeignet für weibliche Fantasien, das kann ich Ihnen sagen.«

»Das meine ich nicht«, sagte Eileen. »Ich meine Fantasien vom … Freisein.«

»Eileen.« Lucy schloss ihre Finger um das Alu-Bettgestell und atmete durch. »Es tut mir so leid, das mit Kristen.«

Eileen zuckte zusammen.

»Wenn man ein Kind verliert«, fuhr Lucy leise fort, »ist es, als würde man amputiert.«

»Oder als würde einem jemand ein Organ herausschneiden«, sagte Eileen. »Das Herz herausreißen und … und …«

»Es bleibt nichts weiter als ein Vakuum.«

Eileen betrachtete Lucys Gesicht, und eine tiefe Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. »Sie haben es erlebt.«

Lucy nickte mit dem Kopf und schluckte. »Gegen das Vakuum kann man nichts machen.«

»Und der Schmerz? Geht er irgendwann weg? Wird er irgendwann … erträglich?«

»Nein«, sagte Lucy. »Aber man lernt, damit zu leben.«

»Oh Gott!« Eileens Stimme brach. »Ich kann das nicht. Dass ich ins Gefängnis musste, tat nicht so weh … auch nicht, dass ich sie … weggeben musste.«

»Weil da immer noch Hoffnung war«, sagte Lucy. »Sie hatten Ihre Fantasien und Träume. Die jetzt für immer begraben sind.«

»Seinetwegen«, sagte Eileen. »Wegen …«

»Richter Higgins?«

»Ja.« Eileen suchte verzweifelt Halt bei Lucy. »Ich habe Angst. Um die Mädchen … und um Jack. Wenn er davon erfährt, wird er alle töten. Ich mache mir solche Sorgen, es bringt mich fast um.«

»Sie sollten Ihre Kräfte nutzen, um gesund zu werden, Eileen. Miranda und Vanessa sind in sicheren Händen, und Jack ist klug und weiß sich selbst zu schützen.«

»Er braucht auch viel Schutz«, sagte Eileen. »Er hat ein weiches Herz, und es ist schon einmal gebrochen worden.«

Tatsächlich? Schon wieder eine Seite von Jack, von der sie nichts wusste. »Er empfindet große Zuneigung für Sie.«

»Und für Sie.«

Eileens Antwort war überraschend überschwänglich gewesen, doch Lucy war entschlossen, sich nicht vom Thema ablenken zu lassen. Vielleicht würde Eileen einer Leidensgenossin mehr anvertrauen.

»Was ist in der Nacht passiert, als Wanda getötet wurde?«, fragte Lucy.

Eileen wandte den Blick ab und sah zur Decke hoch. »Was ist mit Ihrem Kind passiert?«, fragte sie Lucy plötzlich.

Lucy schluckte, antwortete aber nicht darauf. »Haben Sie gesehen, wie er abgedrückt hat?«

»War es auch ein Mädchen? Ein Baby? Es muss noch klein gewesen sein, so jung wie Sie sind.« Eileen bohrte weiter.

»Hat er gewartet, bis sie tot war, oder ist er sofort geflohen, nachdem sie getroffen war?«, fragte Lucy unbeirrt.

»Haben Sie Ihr Baby je in den Armen gehalten?« Eileen griff wieder nach Lucys Hand. »Ich glaube, das macht es nur noch schlimmer.«

Oh ja. Viel schlimmer. »Die Waffe befand sich in Ihrem Auto, aber er ist in die entgegengesetzte Richtung geflohen. Halten Sie es für möglich, dass er einen Komplizen hatte?«

»Ist Ihr Baby eines natürlichen Todes gestorben?«

Sie ließen den Blick nicht voneinander, während die Fragen im Raum standen.

Lucy schloss die Augen und versuchte sich zu sammeln. »Nein. Und der einzige Moment, in dem ich seither wahren inneren Frieden empfunden habe, war der, als der Mann starb, der sie getötet hat.«

»Wie ist er gestorben?«

Lucy stand auf und sah auf Eileen herab. »Ich habe ihm ein Loch ins Herz geschossen, damit er meinen Schmerz nachempfinden konnte.«

Eileen verharrte ohne jede Regung. Ohne den geringsten Lidschlag.

»Ich habe Angst«, gab sie schließlich zu. »Er ist zu allem fähig.«

»Das bin ich auch.«

Eileen nickte bedächtig. »Das glaube ich Ihnen. Kein Wunder, dass Jack Sie liebt.«

Sie fantasiert, mahnte sich Lucy. »Was ist in der Nacht geschehen, Eileen? Hat er Sie in die Gasse bestellt? War es ein Hinterhalt?«

»Er hat mich angerufen. Ich weiß das noch so genau, weil ich gerade erst eines dieser sündhaft teuren Anrufbeantwortergeräte bekommen hatte, und seine Nachricht war die erste, die ich bekommen habe.«

»Haben Sie gesehen, wie er Wanda erschossen hat?«

»Ich hatte mich hinter der Mauer versteckt … Er hat sie geküsst, mit dem Rücken zu mir … dann …« Sie biss sich auf die Lippe. »Haben Sie wirklich den Mann erschossen, der Ihr Baby getötet hat? Sie ganz allein?«

»Ja.«

Zwei starke Hände senkten sich auf ihre Schultern, sodass sie erschrocken herumfuhr und in Jacks Gesicht sah, dessen Blick fest auf Eileen gerichtet war.

»Hast du gesehen, wie Spessard Higgins Wanda Sloane getötet hat, Eileen?«, wollte er wissen.

Wie viel hatte er mitgehört?

Eileen sah ihn nur stumm an, und in ihren Augen standen Tränen.

»Hat er geschossen, Eileen?« Jacks Hand legte sich enger um Lucys Schultern, und sein Ton wurde drängender.

»Ja.«

Er schob Lucy etwas zur Seite, damit er näher an das Bett herantreten konnte. »Kann ich das irgendwie beweisen?«

»Er hatte eine Affäre mit ihr. Sie hat ihm Briefe geschrieben. Ich hab sie gesehen.«

»Das ist noch kein Beweis für einen Mord«, bemerkte Lucy.

»Aber es gibt einen klaren Hinweis auf das Motiv«, erwiderte Jack. »Oder es könnte genügen, um den Mistkerl zu erpressen.«

»Oder sie erschießt ihn!« Eileen deutete auf Lucy. »Für mich.«

Jack warf Lucy einen Blick voll belustigter Neugier zu. »Das ist im Allgemeinen nicht ihr Stil, aber vielleicht können wir da etwas arrangieren. Für dich.«

Eileen blinzelte, und eine Träne rann über ihre Wange. »Ich habe immer geglaubt, dass mein Schutzengel eine Frau sein würde«, sagte sie zu Lucy. »Als Jack auftauchte, habe ich ihm erst einmal gar nicht getraut. Und jetzt weiß ich: Sie sind diejenige, auf die ich gewartet habe.«

Lucy nahm ihre Hand. »Wir wollen nur, dass Gerechtigkeit geübt wird.«

»Nein«, widersprach Eileen. »Sie werden ihn für mich töten.«

Lucy unterdrückte ein Lächeln. »Vielleicht können wir dafür sorgen, dass der wahre Mörder hinter Gitter kommt.«

»Das genügt nicht.« Ihre Fingernägel bohrten sich in Lucys Haut. »Sie wissen, dass das nicht genügt.«

Lucy hob Eileens Hand und küsste sie auf die Knöchel. »Es wird sich genauso gut anfühlen.« Das war gelogen, aber sie musste es sagen. »Und jetzt lass ich Sie mit Jack allein, damit Sie sich verabschieden können.«

Auf dem Weg in den Flur hörte sie Eileen sagen: »Oh, Jack, kein Wunder, dass du sie liebst!«

Lucy wartete nicht ab, was er darauf zu erwidern hatte; sie wollte nur noch weg. Einige Schritte von der Zimmertür entfernt, lehnte sie sich gegen die kühle Wand, schloss die Augen und versuchte durchzuatmen.

»Ich wusste ja gar nicht, dass eine einsame Rächerin in Ihnen schlummert, Ms Sharpe.«

»Ist ja auch nicht so.« Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. »Und ich wusste nicht, dass du mich liebst.«

Sie rechnete fest mit einem »Ist ja auch nicht so«-Echo, doch er zuckte nur lächelnd die Schultern.

»Früher oder später mussten wir ja hinter die Geheimnisse des anderen kommen.«